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Wir haben uns daran gewöhnt, in den menschengemachten Katastrophen der Moderne ein blutiges Schlachtfeld zu sehen, das wir »bewältigen« müssen. Durch die Vergegenwärtigung der Geschichte setzen wir uns jedoch nicht bloß dem Trauma des Früheren aus, wir befragen unsere Gegenwart zugleich radikal auf ihre Sinnhaftigkeit. Die Vergangenheit ist damit immer schon doppelter Natur: Als unerträgliche Last eröffnet sie zugleich einen Möglichkeitsraum der Veränderung – ihre »Zukünftigkeit« ist die Potentialität der Geschichte, Vorschein des Besseren und Maßstab unseres Handelns im Hier und Jetzt. In Auseinandersetzung mit den derzeit bestimmenden Debatten der Philosophie und Kulturkritik wie mit den wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Literatur aus den USA, Israel und Deutschland entwirft Amir Eshel in »Zukünftigkeit« eine neue Ethik der Geschichts- und Literaturbetrachtung. Ihr Fluchtpunkt ist eine neue post-utopische Humanität im Eingedenken des Vergangenen.
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2012
Amir Eshel
Zukünftigkeit
Die zeitgenössische Literatur und die Vergangenheit
Aus dem Englischen von Irmgard Hölscher
Jüdischer Verlagim Suhrkamp Verlag
eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Berlin 2012
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eISBN 978-3-633-77990-1
www.suhrkamp.de
Einleitung: Was ist Zukünftigkeit?
Teil 1 Aufarbeitung der Zukunft. Deutsche Literatur auf der Suche nach der Vergangenheit
1. Zwischen Rückblick und Vorschau
Es geht um uns und unsere Zukunft – die Grass-Affäre von 2006
Literatur, Expansion und Werden
Symptomatisches Lesen und Moralismus
Zu einer praktischen Vergangenheit
2. Günter Grass: Nichts ist rein
»Es war einmal« als unmittelbare Gegenwart: Die Blechtrommel
»Doch selbst Seife wäscht nicht rein«: Hundejahre
Die vererbte Schuld: Im Krebsgang
Erinnerung als Versteckspiel: Beim Häuten der Zwiebel
3. Alexander Kluge: Literatur als Orientierung
»Worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen?«
»Zu nichts mehr nütze«: Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945
Zur Bedeutung der »Sorge« in dunklen Zeiten: Alexander Kluge, »Heidegger auf der Krim«
Literatur und die Fähigkeit zur Differenzierung
4. Martin Walser: Imagination und Dissenskultur
Widerstand gegen die Normen des öffentlichen Gedenkens: Martin Walser, Ein springender Brunnen
Dissens
»Ein gutes Gewissen ist keins«: die Walser-Bubis-Debatte neu betrachtet
5. Die Vergangenheit als Gabe
Eine neue Sprache für die Erinnerung
»Keine Vergangenheit mehr!« Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene und Menschenflug
Die Gabe der Geschichte: Norbert Gstrein, Die englischen Jahre
Der Vergangenheit neuen Sinn geben: Bernhard Schlink, Der Vorleser
Über das Geben: Katharina Hacker, Eine Art Liebe, und W. G. Sebald, Austerlitz
Die paradoxe Leistung
Teil 2 Schreiben über das Unausgesprochene. Flucht und Vertreibung der Palästinenser in der hebräischen Literatur
1. Das Unausgesprochene
Zeitschichten
Das Ungesagte
Staatstragende Literatur?
Wächter über das Haus Israel
2. Das Schweigen der Dörfer: S. Yishars frühe Kriegstexte
Die große jüdische Seele: S. Yishar, »Chirbet Chisa«
Die »Lastwagen der Verbannung«
Ein wiederkehrendes Licht des Schreckens fällt auf die nackten Tatsachen unseres Daseins
Falken über neuen Dörfern: S. Yishar, »Eine Geschichte, die noch nicht begonnen hat«
3. Und dann, ganz plötzlich, ein Feuer: Abraham B. Jehoschuas »Angesichts der Wälder«
Erkundung des Dunkels
Den eigenen Namen nicht vergessen
Tag des Gerichts
Das Nachleben des verbrannten Waldes
4. Zwischen Macht und Gerechtigkeit
Eine neue Generation
Etwas Schreckliches ist hier geschehen: David Schütz, Weiße Rose, rote Rose
Wir müssen ungeheuer stark sein: Jehoschua Kenaz, Infiltrierung
Der Kampf mit der Nazi-Bestie: David Grossman, Stichwort: Liebe
5. Die Fäden unserer Geschichte: Das »Unausgesprochene« in der neuen israelischen Prosa
Tor oder Abgrund? Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Um uns daran zu erinnern, was war. Um das Unrecht wiedergutzumachen: Yitzhak Laor, Ecce homo, Daniella Carmi, Einen Elefanten befreien, Eshkol Nevo, Vier Häuser und eine Sehnsucht und Alon Hilu, Das Haus der Rajanis
Ein vorläufiger Ort der Hoffnung: Michal Govrin, Hevzekim [Snapshots]
Teil 3 Zukünftigkeit und Handeln. Literatur und globale Wende 1989
1. Die Vergangenheit nach dem Ende der Geschichte
Lügnerische Zeit
Der Weg nach vorn
Hannah Arendt: Narrativ und Handeln
Das Gespenst einer ungewissen Welt
Von ganz unten anfangen
2. Das Anhalten der Zeit: W. G. Sebalds Austerlitz
Das Schauspiel der Geschichte
Was darunter liegt
Dinge, die man nie erwartet hätte
3. Handeln, Anfangen
Die unheilvolle Eigenschaft namens Utopia: Ian McEwan, Schwarze Hunde
Feste und weniger feste Ansichten: J. M. Coetzee, Tagebuch eines schlimmen Jahres
Die Schwierigkeit, »auf dieser Welt Gutes zu tun«: Kazuo Ishiguro, Als wir Waisen waren
4. Der Schrecken des Unvorhergesehenen
Was die Geschichtswissenschaft verbirgt: Philip Roth, Verschwörung gegen Amerika
Die Multivalenz der Wirklichkeit: Paul Auster, Mann im Dunkel, und Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben
5. Auf der Straße: Die unwahrscheinliche Zukunft
Das tote Kind oder das drohende Ende der Natalität
Das Ende der Menschheit: Paul Auster, Nacht des Orakels
Den Opfern des Zermalmungsprozesses wieder ein Gesicht geben
Was nicht zurückgeholt werden kann: Cormac McCarthy, Die Straße
Über die Möglichkeit, »Dinge in der Zukunft geschehen zu lassen«
Coda: Eine Hermeneutik der Zukünftigkeit
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Franz Kafka hat mit seiner Parabel »Kleine Fabel« ein unvergleichliches Bild des modernen Bewusstseins geschaffen, wie es sich im Ersten Weltkrieg auszubilden begann:
»›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.‹ – ›Du mußt nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.«1
Dieser kurze Text aus dem Jahr 1920 pointiert die Furcht, dass ein verlässlicher Zukunftshorizont für immer verloren sein könnte. Allegorisch gelesen, fasst der Text in seiner Kürze die conditio humana in der Moderne zusammen: »Am Anfang«, vor dem Aufkommen der Moderne, spiegelten sich die unabsehbaren Kräfte der Natur in großen Ängsten und »fernen Mauern« – Mythologien, die sie in Schach hielten. Diese Ängste schwanden durch die wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen des 18.und 19.Jahrhunderts. Mit der Moderne trat das Gefühl einer neuen, verheißungsvollen Zeit an die Stelle der alten Ängste, doch beispiellose Gewaltausbrüche, wie sie etwa im Ersten Weltkrieg zu Tage traten, ließen die Mauern plötzlich schnell »aufeinander zueilen«. So gelesen, zeigt Kafkas Fabel das Ende des verheißungsvollen Aufbruchs der Menschheit durch die Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Nach diesem folgenschweren Krieg schien es, als gäbe es keine Zukunft mehr, als könne die Menschheit bloß noch zwischen verschiedenen Formen des Endes wählen – zwischen der Falle oder der lauernden Katze. Allein das Ausmaß dieser Katastrophe ließ die Hoffnung, den Lauf der Geschichte durch einen Richtungswechsel beeinflussen zu können, trügerisch erscheinen.
Die Jahrzehnte nach 1920 haben diese Stimmung durch »modernistische Ereignisse«, wie Hayden White sie nennt, zunehmend verstärkt: durch den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den europäischen Juden, die Einführung von Massenvernichtungswaffen, durch Massenvertreibungen, irreparable Umweltschäden und scheinbar endlose regionale Krisen wie den Nahostkonflikt. Die Erschütterungen durch die beispiellosen Massenmorde, die mit Hilfe moderner Technologie ausgeführt wurden, überschreiten alles, was man sich in früheren Zeiten vorstellen konnte. Sie haben im kollektiven Bewusstsein eine ähnliche Funktion wie das Trauma in der individuellen Psyche. Der industrielle Mord in den Todeslagern und die Atombomben, die über Städten abgeworfen wurden, können, so White, ohne signifikante Folgen für unsere Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Gegenwart und zur Vorstellung einer Zukunft, »die frei von den erschöpfenden Wirkungen [dieser Ereignisse] ist«, weder vergessen noch angemessen erinnert, das heißt »in ihrer Bedeutung identifiziert und in der kollektiven Erinnerung kontextualisiert« werden.2
Der israelische Autor David Grossman sagte 2007 in einem Vortrag über das literarische Schreiben angesichts der »Katastrophe«, die israelische Juden, Palästinenser und alle Bewohner des Nahen Ostens seit mehr als hundert Jahren erleben: »Kafkas Maus hatte recht: die Welt wird tatsächlich jeden Tag kleiner und enger.«3 Mit Blick auf den brutalen, langwierigen und scheinbar unlösbaren israelisch-palästinensischen Konflikt identifiziert sich Grossman mit Kafkas verletzlicher Kreatur. Für ihn, der weniger als ein Jahr vor diesem Vortrag seinen Sohn Uri im so genannten zweiten Libanonkrieg verloren hat, berührt die gnadenlose Realität des Nahen Ostens jeden Aspekt des Lebens; sie schafft »eine Leere« zwischen dem Einzelnen und seiner Umgebung, einen Abgrund »voller Apathie, Zynismus und vor allem voll von der Verzweiflung [...], dass man es nie schaffen wird, die Situation zu verändern, zu versöhnen«. Je kleiner die Welt durch diese Wirklichkeit wird, desto stärker verschwindet auch die »Fähigkeit und Bereitschaft«, mit »anderen leidenden Menschen mitzufühlen. In einer Situation, in der man keine Möglichkeit sieht, »moralisch und praktisch« Einfluss zu nehmen, fällt die Aufgabe, »zu denken und zu handeln und moralische Normen zu setzen«, den vermeintlich »Eingeweihten« zu. »Kafkas Maus hatte recht«, wiederholt Grossman: »Wenn dein Feind immer näher kommt, wird die eigene Welt kleiner. Genauso wie die Sprache, die sie beschreibt.« Das Vokabular, mit dem »die Bewohner des Konflikts ihre Situation beschreiben, wird flacher und flacher, je länger der Konflikt anhält, und entwickelt sich allmählich zu einer Serie von Klischees und Schlagworten«.4 Das Gefühl, die Welt schnappe zu wie eine Falle, die Sprache verliere ihre Kraft, teilen, so Grossman, unzählige Menschen auf der Welt, deren Leben, Werte und Freiheiten bedroht sind. Diese Realität zieht sich durch die Literatur der Schriftsteller und Dichter, die heute in Israel, Palästina, Tschetschenien, im Sudan, in New York oder im Kongo schreiben. Angesichts ihrer traumatischen Vergangenheit und unsicheren Zukunft kämpfen sie gegen das Gefühl an, dass die Welt ihrer Zukunft beraubt sei. Schriftsteller wie er seien aber, fährt Grossman fort, an dem »eigentümlichen, grundlosen, wunderbaren Werk der Schöpfung« beteiligt, webten ein »formloses Netz, das dennoch die ungeheure Macht besitzt, eine Welt zu verändern und eine Welt zu schaffen, den Stummen Worte zu verleihen und im tiefsten, kabbalistischen Sinn des Wortes Tikkun – ›Verbesserung‹ – zu bewirken«.5 Beim Schreiben, so Grossman
»spüren wir die Welt im Fluss, elastisch, voller Möglichkeiten – aus der Erstarrung gelöst [...]. Ich schreibe, und die Welt beengt mich nicht. Sie wird nicht kleiner. Sie bewegt sich auf das hin, was offen, zukünftig, möglich ist. Ich phantasiere, und der Akt des Phantasierens belebt mich. Ich stehe nicht versteinert oder gelähmt vor den Verfolgern. Ich erfinde Charaktere. Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen aus dem Eis auszugraben, in das die Wirklichkeit sie eingeschlossen hat. Ich schreibe. Ich spüre die vielen Möglichkeiten, die es in jeder menschlichen Situation gibt, und ich spüre, dass ich unter ihnen wählen kann.«6
In ihrer Auseinandersetzung mit den menschengemachten Katastrophen der Moderne bewegt sich die zeitgenössische Literatur immer auch auf die Zukunft zu. Diese Bewegung ist das Hauptthema meines Buches. Die literarischen Werke, mit denen ich mich auf den folgenden Seiten beschäftige, sind nach 1945 entstanden – dem Jahr, das wie kaum ein anderes für unsere Zeit steht, deren Mauern uns und unsere Zukunft in der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Konzentrationslager einzuschließen drohen. Sie evozieren das Zeitalter nach 1945 aus der Perspektive modernistischer Ereignisse; zu nennen sind der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Kriege im Nahen Osten und die politischen Realitäten nach dem Ende des Kalten Kriegs und nach 9/11.Durch ihre je eigene Art, sich den Verheerungen der Moderne anzunähern, verweisen ihre Fiktionen auf die Zukunft, auf die Grossman anspielt.
Die poetische Bewegung Richtung Zukunft setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Zunächst ist die Tatsache hervorzuheben, dass die hier behandelten Werke ein Vokabular entwickeln, mit dem wir uns und unsere Wirklichkeit beschreiben, eine Sprache, die wir benutzen, wenn wir uns neu gestalten. Damit sorgen sie dafür, dass die Welt »voller Möglichkeiten« bleibt. Unter der Entwicklung eines »Vokabulars« oder einer »Sprache« verstehe ich nicht nur die Fähigkeit der Literatur, neue Wörter und Metaphern einzuführen, sondern auch die Schaffung neuer narrativer Abläufe, die wir zur Bildung individueller oder kollektiver Identitäten heranziehen können. Indem sie ethisch und politisch ambivalente Situationen verhandeln, tragen diese Bücher dazu bei, Möglichkeiten für die Zukunft offenzuhalten, weil sie uns auffordern, über die Ursachen vergangener Katastrophen zu diskutieren und danach zu fragen, was gegen mögliche Wiederholungen unternommen werden könnte. Mit ihren vielfältigen poetischen Mitteln loten sie die Probleme individueller und kollektiver Figuren aus, die Einfluss auf ihre historischen Bedingungen nehmen wollen. Sie sind nicht frei von Zweifel an der menschlichen Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten, fragen aber dennoch, wie man diese Zweifel handelnd überwinden könnte. In einer Ära, die nie gekannte Umwälzungen erlebt hat und schon den bloßen Gedanken in Frage stellt, man könne sich an der Gestaltung der Zukunft beteiligen, gibt uns die Literatur Hoffnung und zeigt, was »offen, zukünftig, möglich« ist.
Literatur erschafft das Offene, Zukünftige, Mögliche, indem sie unser Vokabular mit innovativen Konstruktionen und Metaphern erweitert, die menschliche Handlungsfähigkeit untersucht und gleichzeitig zu Reflexion und Debatten anregt. Diese Fähigkeit bezeichne ich als »Zukünftigkeit«. In diesem Buch untersuche ich, wie Literatur durch ihre figurative Sprache – Ironie und Allegorie, Geschichten und Figuren, schlichte Piktogramme oder elaborierte symbolische Konstruktionen – die Katastrophen der Vergangenheit nicht bloß beschreibt, sondern neu schreibt. Svetlana Boym weist in ihrer Studie über die Nostalgie darauf hin, dass es bei der Beschreibung der Vergangenheit nicht automatisch »um die Vergangenheit« gehe, weil die kreative Beschäftigung mit dem Vergangenen nicht nur »retrospektiv, sondern auch prospektiv« sei. Sie ist der Meinung, dass sich die »von den Bedürfnissen der Gegenwart geprägten Phantasien über die Vergangenheit« unmittelbar »auf die zukünftige Wirklichkeit« auswirken, und schließt: »Indem wir die Zukunft berücksichtigen, übernehmen wir die Verantwortung für unsere nostalgischen Erzählungen.«7 In den Werken, mit denen ich mich hier beschäftige, ist die Zukunft ebenfalls eine entscheidende Dimension der historischen Erzählungen: Durch ihre Verbindung zu den dunkelsten Augenblicken der Moderne machen sie uns bewusst, dass wir in der Geschichte unseres eigenen Lebens eine Rolle spielen.
Mit Zukünftigkeit ist nicht die kreative Hymne des Futurismus auf den technologischen Fortschritt der Moderne oder auf eine utopische Zukunft gemeint, in der alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontingenzen der Moderne endgültig aufgehoben wären. Vielmehr bezeichnet der Begriff das Potenzial der Literatur zur Erweiterung der Idiomatik, mit der wir Geschehenes begreifen und gleichzeitig imaginieren, wer wir werden können. Die Literatur über die Vergangenheit, mit der ich mich in diesem Buch beschäftige, ist den modernistischen Ereignissen unserer Zeit verpflichtet, die unsere Welt so gefährlich verengen, erschafft aber gleichzeitig Worte und Bilder, mit denen wir dem Labyrinth der Vergangenheit entkommen, uns durch politisches und ethisches Handeln mit unserer Wirklichkeit auseinandersetzen und vorwärtsgehen können.
Zukünftigkeit heißt in den hier behandelten Werken keineswegs das bedingungslose Versprechen einer besseren Zukunft. Nach meinem Verständnis propagiert sie eben nicht den kitschigen Glauben an den »unaufhaltsamen Fortschritt« oder »eine bessere Zukunft für die Menschheit«, sondern beschäftigt sich mit Verlässlichkeit und Verantwortung und berücksichtigt dabei eigenes wie fremdes Leid. Zukünftigkeit bezeichnet die Fähigkeit der Literatur, durch die fantasievolle Beschäftigung mit der Vergangenheit komplexe politische und ethische Probleme zu behandeln, die für die menschliche Zukunft ausschlaggebend sind. Gerade weil sie sich der Vergangenheit zuwenden, halten die hier vorgestellten Werke die Aussicht auf ein besseres Morgen offen.
Ein Roman wie W.G. Sebalds Austerlitz (2001) zum Beispiel, der sich der Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit von Veränderung stellt, erinnert an das Schicksal der in Theresienstadt, Auschwitz und andernorts ermordeten Juden. Erlösendes oder Erhebendes wird man in diesem Buch kaum finden, aber bei näherer Betrachtung beschränkt sich Austerlitz nicht auf die Trauer um eine menschengemachte moderne Katastrophe, sondern signalisiert durch flüchtige Augenblicke des Neubeginns Zukünftigkeit. Durch das eindrucksvolle Bild eines jüdischen Kindes, das durch den Kindertransport8 vor dem Holocaust gerettet werden konnte, erinnert der Roman an das wichtigste Trauma der Moderne und verweist gleichzeitig auf die den Menschen konstituierende Fähigkeit und Verantwortung zum Anfangen, zum Aufbrechen, zum Handeln.
Zukünftigkeit in der zeitgenössischen Literatur beruft sich auf eine philosophisch-ästhetische Tradition, die bis auf die Poetik des Aristoteles zurückreicht. Für Aristoteles steht der Dichter über dem Geschichtsschreiber, weil der Geschichtsschreiber das Vergangene so festhalten will, wie es geschehen ist, während der Dichter erzählt, »was geschehen könnte«. Der Dichter beschäftigt sich also mit dem Bereich des Möglichen. Für Aristoteles ist Dichtung damit philosophischer und ernsthafter als die Geschichtsschreibung und besitzt größere moralische Kraft. Während die Geschichtsschreibung »das Besondere« der Ereignisse mitteilt, geht es der Dichtung um »das Allgemeine«, das darin besteht, »daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut«.9
Diese These wurde von der europäischen Romantik aufgegriffen, vor allem von Percy Bysshe Shelley. In seinem Text »A Defence of Poetry« (1821, erschienen 1840) schreibt Shelley den »Dichtern« Eigenschaften zu, die im 19.und 20.Jahrhundert kennzeichnend für Schriftsteller werden sollten: die Fähigkeit, die Darstellung der Natur und die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu überschreiten. Poetische Sprache, so Shelley, biete völlig neue Wege, die Welt mit all ihren Möglichkeiten zu erleben und damit neu zu erschaffen. Für ihn sind Dichter
»die Hohen Priester furchtloser Inspiration, Spiegel des riesenhaften Schattens, den die Zukünftigkeit auf die Gegenwart wirft; in den Worten, die ausdrücken, was sie nicht begreifen, den Trompeten, die zur Schlacht blasen, ohne zu empfinden, was sie auslösen; der Macht, die bewegt, aber selbst unbewegt bleibt. Dichter sind die heimlichen Gesetzgeber der Welt.«10
Für Shelley verkörpert der Dichter das Gefühl einer menschlichen Zukunft, auf die wir uns tatsächlich beziehen können: Das Kommende ist kein Geheimnis, das unserem Einflussbereich entzogen ist, sondern ein Schatten, in den wir eintreten und den wir wieder verlassen, ein Gespenst, dessen Griff wir tatsächlich entkommen können. Dichtung drückt deshalb nicht das von äußeren Kräften »Bewegte«, sondern das potenziell selbst »Bewegende« aus und bewahrt dadurch, um mit Grossman zu sprechen, den Bereich der Zukunft vor der Erstarrung.
Shelleys Auffassung von der poetischen Sprache klingt am Ende des 19.und im 20.Jahrhundert immer wieder an. Nicholas Gaskill und Günter Leypoldt haben vor kurzem gezeigt, dass der amerikanische Pragmatismus, vor allem durch John Dewey und Charles S. Peirce, eine Beziehung zwischen der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens und metaphorischer Sprache und Kunst herstellt, die zeigt, dass poetische Sprache im weitesten Sinne Bilder und Symbole erzeugt, die unsere Welterfahrung nicht nur repräsentieren, sondern erweitern.11 In Erfahrung und Natur (1925) setzt Dewey »Wissen und Aussagen, die Produkte des Denkens sind«, mit »Kunstwerken« wie »Statuen und Symphonien« gleich, weil die Produktion des Wissens »wie jedes andere Kunstwerk Eigenschaften und Potentialitäten auf Dinge überträgt, zu denen sie vorher nicht gehörten«.12 Die Kunst erweitert also unser Vokabular in allen Lebensbereichen und bahnt Erfahrungen des Gegebenen neue Wege.13 Dewey betont, dass wir weniger auf das Kunstwerk selbst als auf die Erfahrung achten sollten, die Kunst erzeugt: Ein Kunstwerk sollte mit der Frage betrachtet werden, »was das Produkt mit und in der Erfahrung tut«.14 Insbesondere im Hinblick auf die Literatur unterstreicht Dewey die Fähigkeit der Worte, »die Werte all der vielfältigen Erfahrungen der Vergangenheit zu bewahren und zu berichten und [...] jeder veränderten Nuance in Gefühlen und Gedanken nachzugehen«. Er betont ihre Macht, »eine neue Erfahrung hervorzubringen, die oft [...] schärfer empfunden wird als die, die die Dinge selbst auslösen«.15
Die Betonung des zukünftigen Aspekts der poetischen Sprache im Sinne Shelleys ist im Neopragmatismus Richard Rortys noch deutlicher zu erkennen, der eine Verbindung zwischen Fortschritt und der Entwicklung neuer Metaphern herstellt. Die Bedeutung der metaphorischen Sprache für die Entfaltung unserer Wirklichkeit und Möglichkeit spielt auch im Denken Hannah Arendts eine wichtige Rolle. Für Rorty und Arendt können poetische Sprache und erzählende Literatur unsere Lebenswelt durch neue Ausdrucksformen für Leben und Interaktionen neu konfigurieren.16 Beide sehen in Metaphern und damit in der Literatur einen wesentlichen Beitrag zu unserem Verständnis der Wirklichkeit. Metaphern und Erzählungen versetzen uns in die Lage, Gewohnheiten, Gefühle, ja sogar soziale Beziehungen neu zu gestalten und durch imaginative Kraft zur Neukonstituierung einer Gemeinschaft beizutragen.17
Mit Blick auf die Fähigkeiten poetischer Sprache bestätigt Rorty wiederholt Shelleys Definition des Dichters, wobei er Shelleys Perspektive beträchtlich erweitert. Shelley habe behauptet, dass »Ideale überhaupt nicht entdeckt, sondern erfunden werden sollten; dass man sie nicht vorfindet, sondern erschafft, so wie die Kunst geschaffen wird«.18 Nach Ansicht Shelleys, so Rorty, »geht der Dichter nicht so vor, dass er vergangene Ereignisse zusammenfügt, um Zukunftslektionen zu erteilen, sondern indem er uns erschüttert, bringt er uns dazu, der Vergangenheit den Rücken zu kehren, und weckt die Hoffnung, die Zukunft werde anders und sie werde herrlich sein«.19 Anders ausgedrückt: Literatur muss nicht unbedingt Einsichten in die Bedingungen unserer Vergangenheit und Gegenwart geben, aber sie hat die Macht, unsere Hoffnungen und unser zukünftiges Handeln zu orientieren.
In Rortys Verbindung von Romantik und Pragmatismus ist die Fantasie nicht nur die unbestreitbare Fähigkeit des Schriftstellers, die Welt mimetisch in steter Entwicklung abzubilden und ästhetisches Vergnügen zu bereiten, sondern auch die »Fähigkeit, sozial nützliche Neuheiten ins Spiel zu bringen«.20 Während die Ästhetik in der Tradition Kants danach strebe, die Eigentümlichkeit des ästhetischen Objekts zu umreißen, seine Distanz von allen Bereichen des alltäglichen, praktischen Lebens, kreise die »neue Geschichte«, von der Romantiker und Pragmatiker erzählen, um ein Konzept des Dichters und Schriftstellers als Schöpfer einer völlig neuen Sprache für die Welt. Diese Geschichte »handelt davon, wie die Menschen ständig danach streben, ihre Vergangenheit zu überwinden, um eine bessere menschliche Zukunft zu schaffen«.21 Literatur ist damit der am stärksten vorwärts gerichtete Bereich menschlicher Sprache, nicht nur als bestes Medium der Repräsentation und des künstlerischen Ausdrucks, sondern als einzigartiges Instrument der sozialen Interaktion, der Möglichkeit, sich mit anderen zu verbinden.22 In seiner Diskussion über die Folgen des Pragmatismus für die Literaturwissenschaft meint Rorty, imaginative Werke oder die Praxis der Imagination seien geeignet, die Vorstellungen des Nützlichen zu erweitern.23
Entscheidend für Rortys Verständnis der literarischen Sprache in all ihren verschiedenen Manifestationen ist seine Lesart des Metaphernbegriffs von Donald Davidson. Demnach bahnen Metaphern neue Wege zur Betrachtung unserer natürlichen Bedingungen und sozialen Kommunikation und führen damit zu der Überlegung, wer und wie wir in der Zukunft sein wollen. Indem Davidson darauf beharrt, dass ein metaphorischer Satz keine andere Bedeutung als die buchstäbliche habe, lässt er sie uns, so Rorty,
»nach dem Modell unbekannter Ereignisse der natürlichen Welt sehen – als Ursachen der Veränderung von Überzeugungen und Wünschen – und nicht als bloße Repräsentationen ›symbolischer‹, nicht ›natürlicher‹ Welten. Er zeigt uns die Metaphern, die neue wissenschaftliche Theorien möglich machen, nicht als Ausdruck, sondern als Ursache der Fähigkeit, mehr über die Welt zu erfahren. Damit lassen sich auch andere Metaphern als Ursachen vieler anderer Fähigkeiten erkennen – wir können zum Beispiel zu gebildeteren und interessanteren Menschen werden, uns von Traditionen emanzipieren, Werte neu bewerten, Religionen annehmen oder aufgeben – die wir dann nicht mehr als Funktionen wachsender kognitiver Fähigkeit interpretieren müssen.«24
Metaphern und im weiteren Sinne alle starken poetischen Instrumente können so »unser Selbst und unsere Handlungsmuster verändern«, obwohl sie weder Glauben noch Wünsche formulieren.25 Anders ausgedrückt: Die »poetische« Sprache kann mit der ganzen Bandbreite an Instrumenten, die dieser Begriff in sich vereint – von einem einzigen Wort über rhetorische Figuren bis zu Handlungselementen und ganzen Geschichten – das Gefühl für das verändern, »was möglich und wichtig ist«.26 Sie kann völlig neue Formen der Betrachtung und Welterfahrung einführen. So bringt sie die Leser dazu, die Welt neu zu betrachten und durch innovative »Handlungsmuster«, die sie anregt, sogar zu verändern.
Rortys Behauptung, Literatur könne »neue Vokabularien« einführen, mit denen wir uns erneuern können, beschränkt sich nach meinem Verständnis nicht auf innovative Metaphern, sondern auch auf größere Textsequenzen bis hin zu ganzen Handlungssträngen. Wie Paul Ricœur und Hayden White gezeigt haben, wird eine bloße »Chronik der Ereignisse« durch die Verknüpfung einer »Aufeinanderfolge von Ereignissen in der Komposition der Fabel« in eine Erzählung umgewandelt.27 Mit anderen Worten, durch die Darstellung, Evozierung, aber auch Neuordnung eines bestimmten historischen Ereignisses kann uns das fiktionale Narrativ durch innovative Kompositionsformen einen anderen Blick auf die Vergangenheit bieten. Solche fiktionalen Erzählungen ermöglichen auch eine Neugestaltung unseres Selbstverständnisses im Verhältnis zur Vergangenheit. Darüber hinaus versetzen sie uns in die Lage, diese neue Beziehung zur Vergangenheit dazu zu nutzen, uns neu zu erschaffen. Fiktionale Narrative, die sich der katastrophischen Vergangenheit der Moderne zuwenden, produzieren andere Bedeutungen als Chroniken oder historische Narrative. Dieser »übertragene Sinn«, erläutert White mit Ricœur, wird »›vorgefunden‹ in der universellen menschlichen Erfahrung einer ›Erinnerung‹, die eine Zukunft verspricht, weil sie in jeder Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen ›Sinn‹ entdeckt«.28 Rortys Auffassung, die Literatur könne unsere Vokabularien (so umfassend, wie oben beschrieben) verändern und damit unsere Fähigkeit beeinflussen, etwas »zu tun«, hat nichts mit spezifischen politischen und moralischen Positionen zu tun. Sie beruht vielmehr auf den »welterschaffenden« Fähigkeiten des literarischen Werks, um Günter Leypoldts treffenden Ausdruck zu benutzen.29
S. Yishars klassische Novelle »Chirbet Chisa« (1949) zum Beispiel erzählt nicht nur von der Vertreibung der Palästinenser aus Dörfern wie dem fiktionalen Chirbet Chisa. Die Konstruktion einer bestimmten Ereignisfolge und die zutiefst verstörenden biblischen Anspielungen versetzen jüdische Soldaten hier in die Rolle von König Ahab aus der Geschichte von Nabots Weinberg (1. Könige 21) und die Palästinenser in die des getäuschten Nabot. So schafft die Novelle die Möglichkeit, den Krieg, der Israels Unabhängigkeit begründete, neu zu bewerten. Yishars Werk löst zudem Reflexionen über mögliche Zukünfte aus – man erinnere sich: Das Königreich Israel wurde nach dem Ende der Regierungszeit Ahabs bitter für die Untaten des Königs bestraft. Im zweiten Teil dieses Buches zeige ich, dass Yishars Geschichte im Kontext eines neuen Denkens unter israelischen Historikern, Soziologen und Politikern zu einem ausgewogeneren, für das Leid des palästinensischen »Anderen« empfänglicheren öffentlichen Diskurs beigetragen hat. Was mit Yishars Novelle als innovative künstlerische Arbeit begann, hat israelischen Lesern die Möglichkeit eröffnet, das palästinensische Leid anzuerkennen, das in »Chirbet Chisa« beschrieben wird.
Im meiner Diskussion über Werke wie »Chirbet Chisa« oder Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel stütze ich mich auf Rortys These, wonach die moderne erzählende Prosa die in der Romantik entstandene »neue Geschichte« formuliert. Rorty betont zu Recht, dass die philosophische Ästhetik in der Tradition Baumgartens und Kants die Fähigkeit des Romans, »Reflexion« zu erzeugen, völlig vernachlässigt.30 Die Fähigkeit des Romans, das Leben seiner Leser zu verändern, verdankt sich nicht formaler Perfektion oder sprachlicher Erhabenheit, sondern der Konfrontation mit den Bedürfnissen und Ansichten anderer – und damit mit dem »Egoismus« oder der »Selbstzufriedenheit« des Selbst. »Der Roman«, so Rorty, »ist jedoch die Gattung, die uns am meisten dazu verhilft, die Vielfalt menschlichen Lebens und die Kontingenz unseres eigenen moralischen Begriffsrepertoires zu begreifen.«31 Seine Metaphern, Ironien, Allegorien und innovativen Kompositionen repräsentieren Wirklichkeiten oder beständige moralische Überzeugungen und machen uns gleichzeitig mit der Vielfalt menschlichen Lebens und Handelns bekannt. Für Rorty erneuern sich Autoren und Leser durch »Neubeschreibung«, das heißt durch das Erzählen und Wiedererzählen von Geschichten, die davon handeln, woher sie kommen und wohin sie gehen, in einem Vokabular, das sich ständig verändert. Durch die Entwicklung und den Konsum neuer ästhetischer Ausdrucksformen können wir als Leser uns und die soziale Welt, die wir bewohnen, neu konstituieren.32
In den drei Teilen dieses Buches, in denen ich mich mit der literarischen Evozierung der schlimmsten Momente der neueren Geschichte beschäftige, liegt der Fokus entsprechend weniger auf der unbestreitbaren Fähigkeit der Literatur, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern auf ihrer Macht, Geschichte imaginativ neu zu beschreiben – auf ihrem Potenzial zur »Welterschaffung«. Ich untersuche, wie literarische Werke der »Ersten Welt« (wie ich sie in Ermangelung eines besseren Ausdrucks nenne) in den Jahrzehnten nach 1945 modernistische Ereignisse nicht nur erinnert, dargestellt und erklärt, sondern auch, wie sie die Sprache, in der wir über diese Ereignisse sprechen, erschaffen und erweitert haben.33 Ich will in den Blick nehmen, welche Wirkungen die zeitgenössische Literatur durch die Rückkehr zu Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg auf unser zukünftiges Leben auslösen kann.34
In seinem Aufsatz »Present, Future, and Past« sieht der britische Philosoph Michael Oakeshott die posthegelianische Geschichtsschreibung hauptsächlich mit »historischer« Untersuchung beschäftigt, das heißt mit der Frage nach der Art der Artefakte, Dokumente und Ruinen oder ihrer »Provenienz«, während die »praktische Vergangenheit« danach frage, was zur Vergangenheit »zu denken, zu sagen und zu tun ist«. Es gehe nicht darum, was ein Objekt oder eine Äußerung bedeutet habe, sondern um ihren »Nutzen« oder ihre »Bedeutung« in der »gegenwärtigen Zukunft des praktischen Engagements«.35 Viele der im Folgenden behandelten Werke untersuchen direkt oder indirekt den Nutzen der Vergangenheit – das, was sie uns in Hinblick auf unsere »gegenwärtige Zukunft«, das heißt auf die gegenwärtigen Anliegen, die das Kommende beeinflussen, zu bieten hat. Etwas anders formuliert, findet diese Literatur den Bereich des Praktischen in der Vergangenheit.
Die Entscheidung, mich in diesem Buch auf die deutsche, angloamerikanische und hebräische Literatur zu beschränken, ist von drei Prinzipien geleitet: von der Konzentration auf Fragen individueller und nationaler Verantwortung in Sprachen und Kulturen, die ich gut kenne, von der Beschäftigung mit bestimmten Vorwürfen gegen die Literatur und Kultur der Ersten Welt und schließlich von dem Wunsch, das Buch einigermaßen übersichtlich zu halten. Ich untersuche, wie sich Autoren aus nationalen Kollektiven, die sich mit Schuld, Scham und Verantwortung auseinandersetzen, mit diesen Emotionen beschäftigen und dadurch weitere, zukunftsbezogene ethische und politische Probleme aufwerfen. Deshalb verzichte ich im ersten Teil auch auf Werke deutsch-jüdischer Autoren, die nach 1945 entstanden sind,36 und konzentriere mich im zweiten Teil auf jüdisch-israelische Autoren, die vor dem Hintergrund der »gegenwärtigen Zukunft« des israelisch-palästinensischen Konflikts imaginativ den schwierigen Ursprung ihres Landes – das Schicksal der Palästinenser nach 1948 – beschreiben. Da mein Schwerpunkt auf der Frage liegt, wie deutsche und jüdisch-israelische Autoren durch die Rückkehr zur Vergangenheit ihre nationalen ethischen und politischen Probleme beschreiben, verzichte ich auf die Lyrik und Prosa der historischen Opfer und ihrer Nachkommen. So dringend nötig eine solche Untersuchung auch ist, sie würde den Rahmen dieses Buches überschreiten.37
Im dritten Teil untersuche ich Zukünftigkeit in Werken, die nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und unter dem Einfluss der intellektuellen Debatte über das angebliche »Ende der Geschichte« geschrieben wurden. In diesem Zusammenhang interessiert mich der Vorwurf, es habe in der westlichen Kultur der letzten Jahrzehnte »fast kein Denken der Zeit mehr« gegeben, wie es der französische Philosoph Alain Badiou formuliert.38 Die detaillierte Lektüre der hier untersuchten Werke wird zeigen, ob wir, wie Badiou und andere behaupten, tatsächlich »in eine atemporale, instantane Zeit eingetreten« sind.39
Der Vorwurf, der westlichen Kultur fehle ein »Denken der Zeit«, übersieht die zahlreichen Werke der zeitgenössischen Literatur, die sich sehr wohl für modernistische Ereignisse interessieren. Die Beschäftigung mit den menschengemachten Katastrophen der Moderne ist unlösbar mit dem breiteren Interesse an Gedächtnis und Geschichte in westlichen wie in nichtwestlichen Gesellschaften verbunden. Die Faszination, die die jüngste Vergangenheit der Moderne auf die Literatur ausübt, war auch für die Literaturkritik von großem Interesse. Viele Wissenschaftler haben in ihrer Auseinandersetzung mit Werken wie W.G. Sebalds Austerlitz und S. Yishars »Chirbet Chisa« den Fokus auf die Folgen der Vergangenheit für die Gegenwart und auf die Darstellung bzw. die Vermeidung der Darstellung von Trauma, Schuld und Scham gelegt. Zahllose Studien beschäftigen sich mit der (unbestrittenen) Fähigkeit der Literatur, in klar erkennbaren nationalen oder regionalen Kontexten die Spannung zwischen Erinnern und Vergessen, bewusstem »Durcharbeiten« und selbstvergessenem »Ausagieren« der durch signifikante Ereignisse der Vergangenheit aufgeworfenen Fragen darzustellen.
Bei der Untersuchung der deutschen Nachkriegsliteratur wird immer wieder die Frage nach der Angemessenheit der Auseinandersetzung des Werks oder des Autors mit den Verbrechen des Naziregimes gestellt. Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995) zum Beispiel hat viele Debatten über die »adäquate« Darstellung deutscher Schuld, jüdischer Charaktere und des Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland ausgelöst. Entsprechend ist auch die Diskussion über die Beschäftigung mit der hebräischen Literatur und ihrer Haltung zu den Ereignissen von 1948 oft von dem Bemühen geprägt, Symptome für die kulturelle und politische Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser zu finden. Manche Kritiker haben zum Beispiel in der Figur des Palästinensers aus Abraham B. Jehoschuas Novelle »Angesichts der Wälder« (1963, dt.: 1992), dem im Krieg von 1948 die Zunge abgeschnitten wurde, ein Zeichen dafür gesehen, dass »der Araber« in den Augen des israelischen Autors zu bedeutungsvoller Rede nicht fähig sei. In all diesen Fällen wird Literatur auf ihre Fähigkeit reduziert, durch Figuren, Handlung und symbolische Konstruktion Symptome der psychischen Befindlichkeit, des moralischen Versagens und des ideologischen Engagements des Autors und seiner Gemeinschaft abzubilden.
Natürlich hat die symptomatische Lesart der Literatur eine Tradition sehr produktiver Deutungen. Die Annahme, dass sie ideologische Überzeugungen fördern oder das »politische Unbewusste« reflektieren oder in Frage stellen kann, hat eine fruchtbare Rolle im Werk so herausragender Kritiker wie Georg Lukács und Fredric Jameson gespielt und unter dem Einfluss der Kulturwissenschaften beträchtlich an Aufmerksamkeit gewonnen.40 Aber die Beschränkung der Lektüre auf das Symptomatische kann auch die Einsicht verhindern, dass Literatur mehr zu bieten hat als Hinweise auf die Psyche des Autors und die gesellschaftlichen oder diskursiven Bedingungen. Unbemerkt bleibt oft vor allem die Fähigkeit figurativer Sprache zur Neubeschreibung unserer Lebensumstände. Meine Studie hingegen betont die Fähigkeit von Literatur, Debatten und Handeln anzustoßen.
In seiner bahnbrechenden Untersuchung Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization untersucht Michael Rothberg, wie »soziale Akteure multiple traumatische Vergangenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg in eine heterogene und sich verändernde Gegenwart einbringen«.41 Rothbergs Diskussion über nordamerikanische und französische Literatur, Filme und öffentliche Debatten über die jüngste Vergangenheit der Moderne löst sich von der Vorstellung, dass kollektive Erinnerung zu hermetischen kollektiven Identitäten führe. Gruppenerinnerungen schließen für Rothberg die Anerkennung der Erinnerungen »des Anderen« nicht notwendig aus. So sei zum Beispiel der Bau des Holocaust Memorial Museums in Washington nicht, wie manche Kritiker glaubten, zum Signal für eine Validierung der jüdischen auf Kosten der afroamerikanischen Erinnerung geworden, denn die Erinnerung an den Holocaust und das Gedächtnis an sich seien multidirektional: Erinnerung gründe in einer spezifischen traumatischen Erfahrung und sei stets im Dialog mit den Erinnerungen anderer.42
»Wenn die produktive, interkulturelle Dynamik der multidirektionalen Erinnerung explizit gefordert wird, hat sie das Potential, neue Formen der Solidarität und neue Visionen von Gerechtigkeit zu schaffen. [...] Tatsächlich ist die anachronistische Eigenschaft der Erinnerung – die Zusammenführung von jetzt und damals, hier und dort – die Quelle ihrer starken Kreativität, ihrer Fähigkeit, aus dem Stoff der alten Welt neue Welten aufzubauen.«43
Deshalb verschleiert auch die literarische Erinnerung an die deutsche Nazivergangenheit in so wichtigen Werken wie Die Blechtrommel von Günter Grass und aus jüngerer Zeit Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel (1998) mit der Erzählung der deutschen Geschichte keineswegs das Leiden der Juden, wie manche Kritiker behauptet haben. Diese Romane führen vielmehr ein multidirektionales Gedächtnis vor, das durch imaginative Beschäftigung mit der kollektiven deutschen Vergangenheit die Katastrophe der modernen jüdischen Geschichte thematisiert. Ähnlich vermitteln herausragende Werke der hebräischen Literatur in den Jahrzehnten nach dem Unabhängigkeitskrieg zwischen jüdisch-israelischen Erinnerungen an den Krieg und dem Wissen um das Schicksal der Palästinenser. In Deutschland wie in Israel haben die in diesem Buch besprochenen Werke eine wichtige Rolle bei der Gestaltung eines kulturpolitischen Diskurses gespielt, der die Erinnerungen und das Leid der jeweiligen »Anderen« anerkennt. So verschieden diese Fallstudien in vieler Hinsicht auch sein mögen, so lässt sich doch in beiden Fällen erkennen, dass die imaginative Neubeschreibung der Vergangenheit und die multidirektionale Erinnerung implizit eine Perspektive der Zukünftigkeit aufweisen: die poetische Untersuchung von Verantwortung, ethischem und politischem Handeln und Gerechtigkeitsvorstellungen.
Der dritte Teil, der auf der Diskussion der deutschen und hebräischen Literatur aufbaut, wendet sich einem globalen modernistischen Ereignis aus neuerer Zeit zu: der dramatischen politischen Umwälzung, die wir heute mit dem Kürzel »1989« bezeichnen. In diesem Teil lege ich den Schwerpunkt auf deutsche und angloamerikanische Werke, die nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind. Wie viele der im ersten und zweiten Teil behandelten Werke konzentrieren sich auch diese Romane auf neuere menschengemachte Katastrophen, reflektieren aber auch die entscheidenden politischen Veränderungen und intellektuellen Debatten, die nach 1989 über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft geführt wurden.
Durch den Krieg in Jugoslawien, den Völkermord in Ruanda, den 11.September und die Kriege in Afghanistan und im Irak hat sich in den Jahren nach 1989 erwiesen, wie hohl die Rede vom »Ende der Geschichte« ist.44 Zudem hat die Finanzkrise, die 2008 begann, gezeigt, dass die kapitalistische liberale Demokratie für den systemischen Zusammenbruch anfällig geblieben ist. Dennoch steht 1989 für Denker und Schriftsteller auf der ganzen Welt zu Recht dafür, dass sich das spekulative Denken über die Geschichte erschöpft hat. Metahistorische Narrative über den »Verlauf«, die »Gesetze«, die »Bahn« der Geschichte sind obsolet geworden. 1989 signalisierte das Ende des »Märchens von der Weltgeschichte«, um Richard Rortys prägnante Formulierung zu benutzen. Für Rorty hat die Geschichte nach 1989 schlicht ihre Nützlichkeit als »Objekt« verloren, um das wir »unsere Phantasien über das Schwinden des Elends« weben.45 Wir brauchen sie nicht länger, weder als Erklärungsinstrument noch als Vehikel für eine Debatte über Veränderung. Eine Tradition, die auf die Schriften von Hegel, Marx, Heidegger, Lenin und Kojève zurückgeht, durchdrungen von Bildern wie etwa Nietzsches »letztem Menschen« und einer tiefen Verachtung der »bürgerlichen Kultur«, die vor dem unmittelbar bevorstehenden, verdienten Untergang stehe, hat ihren Nutzen als Argument für gesellschaftliche und intellektuelle Zustände verloren, die sich von den unseren unterscheiden.46
Nach dem Verlust des Märchens von der Weltgeschichte haben verschiedene Denker das Verschwinden der »großen Utopien« des 20. Jahrhunderts konstatiert: Fantasien, die die Abschaffung aller gesellschaftlichen und politischen Kontingenzen, all der »üblen Elemente fordern, die den Weg zu einer besseren Zukunft versperren«.47 Wie Jay Winter sagt, brachten diese eschatologischen Ideologien »Berge von Opfern in einer Größenordnung [hervor], wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte«.48 »Das Ende des Kalten Krieges«, so Mark Lilla, »brachte die großartige historische Erzählung zum Abschluss, die Europas politisches Bewusstsein durch die Einteilung der Welt in revolutionäre und reaktionäre Kräfte zwei Jahrhunderte lang geprägt hat. Seitdem ist viel geschehen, aber es gibt kein neues Narrativ, das das alte ersetzen könnte.«49 Auch der politische Philosoph John N. Gray spricht vom »Tod der Utopie«: Das 20.Jahrhundert sei übersät mit Beispielen totalitärer Regime. In allen Fällen hätten diese »großen« utopischen Fantasien bewiesen, dass die von ihnen imaginierte bessere Zukunft für die menschliche Rasse gescheitert ist.50
Die Romane, die ich im dritten Teil des Buches untersuche, reflektieren das Ende des Märchens von der Weltgeschichte und das Verschwinden der eschatologischen Dimension der großen Utopien des 20.Jahrhunderts. Gleichzeitig beschäftigen sie sich aber weiterhin mit der Vergangenheit und stellen die Frage nach der Zukunft: »Wie sind wir bis hierher gekommen?« und: »Wie können wir das Gefühl einer ›offenen, möglichen‹ Zukunft aufrechterhalten?«
In den letzten Jahren ist viel über das Verschwinden des historischen Bewusstseins in der »spätkapitalistischen«, »spätmodernen« oder »postmodernen« westlichen Kultur geredet und geschrieben worden. Fredric Jameson und andere sehen in der Neuauflage des hegelschen Diskurses über das »Ende der Geschichte« ein »intellektuelles Symptom« des schwindenden faktischen Gefühls für die »historische Vergangenheit« und damit einen »Totalausverkauf der Zukünftigkeit«.51
Die Beschäftigung mit den Menschheitskatastrophen des 20.Jahrhunderts, die im Mittelpunkt zahlreicher literarischer Werke steht, lässt die Befürchtungen über den »Totalausverkauf der Zukünftigkeit« allerdings höchst zweifelhaft erscheinen. Betrachtet man die deutsche und hebräische Literatur, die ich im ersten und zweiten Teil dieses Buches bespreche, stellt man fest, dass die Vergangenheit hier eine zentrale Rolle spielt und oft als Prisma für die Reflexion über anhaltende ethische und politische Bedingungen eingesetzt wird. Das gilt auch, wenn wir das Spektrum um angloamerikanische Werke der letzten Jahrzehnte erweitern. Paul Austers Roman Nacht des Orakels zum Beispiel verbindet die schicksalhafte Entwürdigung von Menschen im 20.Jahrhundert mit den Ereignissen, die das gegenwärtige Jahrhundert seit dem 11.September 2001 bereits hervorgebracht hat. Wie wir sehen werden, verbindet der Roman die menschengemachten Katastrophen des 20.Jahrhunderts metaphorisch mit einem Blick auf die Gegenwart und die drohende Zukunft als das, was Menschen anderen Menschen angetan haben und noch antun werden.
Viele Romane zeigen, wie unsere kapitalistische, liberal-demokratische Kultur ein Gefühl der Zukunft bewahrt. Sie denken über die menschliche Fähigkeit nach, sich politisch motivierter Qual und Erniedrigung zu stellen, und über die Fähigkeit und Verantwortung, auf unsere individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen konkret Einfluss zu nehmen. Eine genauere Untersuchung unserer literarischen Kultur offenbart, dass die Ängste über das Verschwinden eines »Denkens der Zeit« geschichtlich als Symptome einer Krise des Utopismus betrachtet werden sollten, der auf eine völlig veränderte Gesellschaftsordnung hofft. Tatsächlich ist die einzige Zukunft, die uns zu fehlen scheint, diejenige, die von den großen sozialen Utopien des 19.und 20.Jahrhunderts imaginiert wurde. Aber die in diesem Buch untersuchten Werke strotzen geradezu vor Zukünftigkeit. Damit zeigen sie eindeutig, dass unsere Zeit die Notwendigkeit, drängende politische Fragen in Südafrika, Israel/Palästina und anderswo anzupacken, genauso wenig leugnet wie das Interesse an der Zukunft von Tokio oder New York.
In den Jahrzehnten nach 1989 haben sich zahlreiche Kritiker bei ihren Diskussionen über Antisemitismus, Menschenrechte und Staatsterrorismus auf Hannah Arendts Analyse totaler Herrschaft bezogen. In Reaktion auf die Ereignisse des 11.September 2001 hat sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf Hannah Arendts Feststellung bezogen, die Menschen in den nationalsozialistischen Todeslagern seien zu bloßen Gegenständen erniedrigt worden. Sein Konzept des »nackten Lebens« verweist auf Menschen, denen der politische Souverän alle Eigenschaften des Menschlichen raubt, bevor sie vom Angesicht der Erde getilgt werden.52 In neuerer Zeit hat Michael Rothberg auf Hannah Arendts wichtigen Beitrag für ein Verständnis der Beziehung zwischen Antisemitismus, Kolonialismus und totalitären Terrorsystemen hingewiesen.53
Meine eigene Beschäftigung mit Arendt geht auf ihre Reaktion auf die »finsteren Zeiten« und auf die Tatsache zurück, dass sie die Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft berücksichtigt, was sich schon im Titel eines ihrer spannendsten Werke abbildet: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. In der Einführung zu Menschen in finsteren Zeiten weist sie darauf hin, dass unsere modernen »finsteren Zeiten« »nicht nur nichts Neues in der Geschichte, sondern auch nichts Seltenes« sind.54 In auffallender Ähnlichkeit zu Grossmans Metaphorik von Licht und Dunkelheit in »Writing in the Dark« und Paul Austers Mann im Dunkel spricht sie von der »Überzeugung«, dass »wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden«.55 Kein anderer Denker unserer Zeit hat sich energischer als Hannah Arendt mit der Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft und der Fähigkeit »einige[r] Männer und Frauen« beschäftigt, sich durch ihr Leben und ihre kreativen Werke mit dieser Beziehung im Angesicht der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Hiroshimas und des sowjetischen Gulags auseinanderzusetzen. Wie viele Autoren der in diesem Buch behandelten Werke reflektiert auch Arendt »die Vergangenheit« – die menschengemachten Katastrophen der Moderne – und überlegt, wie sich ein Gefühl für die Zukunft als Bereich des Möglichen bewahren lässt, vor allem in einem Zeitalter, das – angesichts des Ausmaßes seiner Katastrophen – an der Hoffnung auf ein Morgen zweifeln lässt. Wie wir in allen drei Teilen dieses Buches sehen werden, widmen sich wichtige Werke der zeitgenössischen Literatur genauso wie Arendts Schriften der Frage der Zukunft, indem sie die Handlungsfähigkeit oder, mit Arendts Worten, die Fähigkeit des Menschen untersuchen, das »unendlich Unwahrscheinliche« zu tun.56 Ich folge Arendt bei meiner Untersuchung der Spielräume unserer Handlungsfreiheit und der Verantwortung für die Nutzung dieser Freiheit.
Arendt erweist sich darüber hinaus dort als bemerkenswert fruchtbar für unsere Diskussion, wo sie betrachtet, wie poetische Sprache, Erzählung und damit die Literatur selbst unbekannte Perspektiven eröffnen und in der Welt »etwas tun«. Die Metapher, so Arendt, ist nicht nur die »Analogie etwa zwischen dem Sonnenuntergang und dem Alter«.57 Vielmehr stellt die Metapher, so schreibt Arendt mit einem Zitat aus Shelleys »In Defence of Poetry«, »die bisher unbemerkten Beziehungen der Dinge heraus [...] und [verleiht] dieser Auffassung Dauer«.58 Mit anderen Worten: Metaphern ermöglichen uns, etwas zu erkennen, das wir vorher nie gesehen oder verstanden haben. Sobald wir uns das neue Verständnis angeeignet haben, verändert es das Denken, Sprechen und potenziell auch das Handeln. Diese beiden Aspekte in Arendts Denken – die Untersuchung der menschlichen Handlungsfähigkeit und die Betrachtung der poetischen Sprache als Ursache dieser Fähigkeit – werden uns das Buch hindurch als Leitmotive begleiten. Sie schließt ihr Meisterwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951, dt.: 1955) mit einer hoffnungsvollen Auseinandersetzung über die »Krise unserer Zeit«: »Initium ut esset, creatus est homo – ›damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‹, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt jedes Menschen.«59
An wichtigen Punkten ihrer Reflexionen wendet sich Arendt der Literatur zu, auch dem Werk Franz Kafkas. Beim Nachdenken über das Bindeglied zwischen den angeblich getrennten zeitlichen Bereichen des Gestern und des Morgen in Zwischen Vergangenheit und Zukunft bezieht sie sich zum Beispiel auf ein kurzes Prosastück mit dem Titel »Er«.60 Der rätselhafte Protagonist dieser im Präsens geschriebenen Geschichte steht metaphorisch für die moderne Menschheit.
»Er hat zwei Gegner: Der Erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der Zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen, und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampferfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.«61
Arendt erkennt in Kafkas Parabel die Überlegung, dass es die »Aufgabe des Geistes« sei, zu verstehen, was im Bereich des Menschlichen geschieht, »und dies Verstehen ist, nach Hegel, des Menschen Art und Weise, sich mit der Wirklichkeit zu versöhnen, [...] mit der Welt im Zustand des Friedens zu sein«.62 Arendt merkt an, dass hier nicht nur »die Welle der Zukunft« als »Kraft« gesehen wird, sondern auch die Vergangenheit.63 Tatsächlich wird die Vergangenheit nicht, »wie in nahezu allen unseren Metaphern, als eine Last [gesehen], die der Mensch zu schultern hat und deren totes Gewicht die Lebenden auf ihrem Weg in die Zukunft abwerfen können oder gar müssen«, sondern als Kraft, die vorwärts drückt. Im Grunde schreibt sie Kafkas kurzen Text zu einer arendtschen Geschichte um, in der sie den Protagonisten als »in die Zeit eingefügt« sieht: »[E]s ist dieses Eingefügtsein – der Anfang von einem Anfang, in Augustins Worten – das das Zeitkontinuum [...] aufteilt.«64 Arendt betont, dass Kafka das Bild eines »in eine Richtung gehenden« Flusses der Zeit präsentiert, dem »Er« unterworfen ist – eine Parabel, die Zeit als Bewegung aus der Vergangenheit in die Zukunft sieht. Damit versäumt es Kafka mit seinem gradlinigen Zeitbegriff, »die Einfügung des Menschen« anzuerkennen: die Tatsache, dass diese teleologische Bewegung mit jeder Geburt eines Menschen tatsächlich aufgebrochen wird.65
In Arendts eigenwillig-inspirierender Interpretation von Kafkas Parabel durchbricht »die Einfügung des Menschen« – die Geburt – das, was dem denkenden Menschen oft als »Kontinuum« erscheint. Es ist nicht so, dass sich die Zeit geradewegs von der Vergangenheit zu einer unbekannten Zukunft bewegt und wir Menschen uns »in der Zeit« bewegen, wenn wir gegen die Kräfte von Vergangenheit und Zukunft kämpfen. Stattdessen sorgt die »Einfügung« des Menschen bei der Geburt dafür, »daß die Kräfte von ihrer ursprünglichen Richtung, wie wenig auch immer, abweichen«. Mit jeder neuen Geburt beginnt eine neue Bahn. Das heißt, dass die Bewegung der Zeit multidirektional und unendlich und ihr Ergebnis unbekannt ist.66
Arendts Interpretation von »Er« verweist auf ihr 1958 erschienenes Werk Vita activa. Hier entwickelt sie den Begriff der »Einfügung« durch das Konzept der »Natalität« weiter, wenn sie sich fragt, wie man die Zukunft aus der Perspektive der »Erfahrungen und [...] Sorgen der gegenwärtigen Situation« durchdenkt.67
Als Reaktion auf die tiefreichende Wirkung der Brutalität des Totalitarismus und der Innovation der modernen Technologie definiert Arendt Natalität als die grundlegend menschliche Fähigkeit, sich in die Welt »einzuschalten« oder »einzufügen«:
»Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein [...] und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen. Aber wiewohl niemand sich diesem Minimum an Initiative ganz und gar entziehen kann, so wird sie doch nicht von irgendeiner Notwendigkeit erzwungen [...], und sie wird auch nicht aus uns gleichsam hervorgelockt durch [...] die Aussicht auf Nutzen. Die Anwesenheit von Anderen, denen wir uns zugesellen wollen, mag in jedem Einzelfall als ein Stimulans wirken, aber die Initiative selbst ist davon nicht bedingt; der Antrieb scheint vielmehr in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam und dem wir dadurch entsprechen, daß wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen.«68
Jede neue Geburt »ist wie eine Garantie des Heilens in der Welt, wie ein Versprechen der Erlösung für die, welche nicht mehr Anfang sind« – die Lebenden.69 Arendt schreibt die jüdisch-christliche messianische Tradition um, indem sie »Geburt« nicht als vergangene oder zukünftige Ankunft eines Messias, sondern als die Tatsache definiert, dass jeder einzelne Mensch die Wirklichkeit, die er betritt, die Umstände, mit denen er konfrontiert ist, neu gestaltet. Durch das Leben in einer von Pluralität definierten Welt ist jeder Mensch von Geburt an Teil eines Netzwerks aus anderen sprechenden und handelnden Menschen. Aus der Notwendigkeit, sich darin zu orientieren, entsteht Handeln und damit die ständige Entwicklung unserer Wirklichkeit.70
In Arendts Denken fungiert Literatur häufig als Modus der Natalität. So stellt sie dem Kapitel »Über das Handeln« in Vita activa ein Zitat von Isak Dinesen (Karen Blixen) als Motto voran: »All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them.«71 Durch diesen Hinweis auf den Aphorismus der dänischen Schriftstellerin behauptet sie, die Erzählung sei nicht bloß ein Mittel, um über die conditio humana zu berichten, sondern ermögliche es auch, unsere Lebensbedingungen zu ertragen. In einem anderen Aufsatz zitiert sie zustimmend Hermann Broch, der gesagt hat, die Aufgabe des Kunstwerks sei »die ständige Neuschöpfung der Welt«.72 Der moderne Roman dient ihrer Meinung nach nicht mehr der Unterhaltung und Belehrung; seine Autoren berichteten nicht länger vom ungewöhnlichen, unerhörten Ereignis oder erzählten eine Geschichte, die dem Leser Rat gebe, sondern konfrontierten ihn vielmehr mit Problemen und Rätseln, mit denen er sich selbst beschäftigen müsse, wenn er sie verstehen wolle.73
Arendt ermöglicht es uns, die Literatur unseres postkatastrophischen Zeitalters als Form der »Einfügung« und als eine Untersuchung von Handeln zu betrachten. Auf diesen Einsichten baue ich in diesem Buch auf, indem ich zeige, wie Literatur Denkprozesse über unsere Fähigkeit zur Gestaltung der Wirklichkeit anstoßen kann.
Dieses Buch soll einen Beitrag zu einer, wie Paul Rabinow es nennt, »Anthropologie des Zeitgenössischen« leisten.74 »Das Zeitgenössische«, so Rabinow, »ist eine bewegliche Ratio der Moderne, die sich durch die neuere Vergangenheit und nahe Zukunft in einem (nichtlinearen) Raum bewegt, in dem die Moderne ein bereits historisch werdendes Ethos ist.«75 Ich nähere mich dem Zeitgenössischen über die Literatur nach 1945, die sich mit den für die Gestaltung der »neueren Vergangenheit« wichtigen modernistischen Ereignissen beschäftigt. Wie Post 45 – die Gruppe amerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaftler, die sich vor dem Hintergrund spezifischer politisch-theoretischer Nachkriegs-Paradigmen und -Werte mit dem Werk von Don DeLillo, Frank O’Hara, Toni Morrison und anderen wichtigen Autoren beschäftigen – verorte ich Rabinows »neuere Vergangenheit« in der Ära, die um 1945 begann.76 Dieses Jahr markiert einen historischen Übergang, in dem die Erkenntnis entstand, dass modernistische Ereignisse die Debatten über die »politisch-theoretischen Paradigmen und Werte« prägen würden. Für mich wie für die Wissenschaftler von Post 45 stellt neben dem Wendepunkt von 1945 vor allem der Holocaust den literarischen Bezugspunkt dar, der verschiedene Narrative rund um den Globus in ihrem Wechsel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet.77
Der Fokus dieses Buchs auf Zukünftigkeit ist ein Beitrag zu einer umfassenderen Anthropologie des Zeitgenössischen, nicht zuletzt deshalb, weil ich in der Coda auf mögliche Verbindungen zwischen der Literatur und den bildenden Künsten hinweise. Die letzten Seiten dieser Studie gehen darauf ein, was Zukünftigkeit als hermeneutische Perspektive leistet, als nützliches heuristisches Instrument für die Diskussion eines Denkmals oder eines Bildwerks. Anhand des Holocaust-Mahnmals in Berlin und einer künstlerischen Installation in Wadi Nisnas in Haifa zeige ich, dass auch die bildenden Künste Vorstellungen evozieren, die zwischen der neueren Vergangenheit und der nahen Zukunft oszillieren. Ich zeige auch, dass wir mit Hilfe von Zukünftigkeit die Fähigkeit zeitgenössischer Kunst erkennen können, über die Darstellung von ideologischem Engagement oder Seelenzuständen hinauszugehen.
Damit entwickelt dieses Buches den Umriss einer Kultur- und Literaturkritik, die David Grossmans doppeltes Verständnis der Literatur, als Blick in den Abgrund der Moderne und als Welt voller Möglichkeiten, ergänzt. Als Kultur- und Literaturkritiker haben wir die Wahl, ob wir an einer distanzierten, analytischen Position festhalten, der es genügt, Kunstwerke nach ihren retrospektiven Verdiensten (oder deren Gegenteil) zu beurteilen, oder ob wir Bücher, Filme, Denkmäler und Gemälde nach ihrem Orientierungspotenzial für unser Leben befragen. Auf den folgenden Seiten reagiere ich auf Hannah Arendts provozierende Forderung, die Idee der Zeit als einen »in eine Richtung gehenden Fluss« aufzugeben und in der Beschäftigung der Kunst mit der jüngsten, tief verstörenden Vergangenheit der Moderne eine Möglichkeit zur Annahme unserer ungewissen Zukunft zu erkennen.
In seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel gestand Günter Grass 2006, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht, wie bislang behauptet, bei der Luftwaffe, sondern in der Waffen-SS-Division »Jörg von Frundsberg« gedient hatte. In der sich anschließenden Kontroverse wurde die wissenschaftliche und intellektuelle Übereinkunft deutlich, die auch den öffentlichen Diskurs nicht nur in Deutschland prägt: Man bescheinigte der deutschen Nachkriegsliteratur und -kultur, den Nationalsozialismus als »eine Last« verhandelt zu haben, »die der Mensch zu schultern hat und deren totes Gewicht die Lebenden auf ihrem Weg in die Zukunft abwerfen können oder gar müssen«, wie Hannah Arendt in Zwischen Vergangenheit und Zukunft bemerkte.1 In der Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit sei die Diskussion über den Nationalsozialismus und den Holocaust überwiegend von »Abwesenheit und Schweigen« gekennzeichnet, stellt Ernestine Schlant in ihrer Untersuchung zur literarischen Darstellung des Holocaust in der westdeutschen Literatur fest. Es handele sich zwar nicht um eine »einheitliche, monolithische Leerstelle«, aber dennoch lasse sich in der »Vielfalt narrativer Strategien« ein »Schweigen über das Schweigen« der deutschen Nachkriegskultur beim Thema Holocaust feststellen.2 Schlant stützt sich in ihrer Studie auf Alexander und Margarete Mitscherlichs psychohistorische Diagnose aus den späten 1960er Jahren, der zufolge die westdeutsche Gesellschaft unfähig sei, über den Verlust des Führers zu trauern. Abgesehen von Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau 1970 hatte kein öffentliches Ritual, so Schlant, »eine affektive Wirkung, die die ganze Persönlichkeit beteiligte und damit zu einem echten Ausdruck von Trauer führte«.3 Versteht man unter »Durcharbeiten die Möglichkeit eines ›argumentierenden, sich selbst befragenden und auf vermittelte Weise handlungsbezogenen Urteils‹, dann sind die Deutschen individuell und kollektiv unfähig, die begangenen Verbrechen durchzuarbeiten und über sie zu trauern«.4 Damit stellt sich Schlant in eine wissenschaftliche Tradition, die davon ausgeht, dass die Autoren der Nachkriegszeit keine ernsthafte »Trauerarbeit« geleistet und es vorgezogen hätten, isolierte historische Momente auf poetische Weise darzustellen. »Verdrängen und Schweigen« über die Verbrechen des Regimes »strukturierte die Literatur der Vergangenheitsbewältigung bis 1990«.5
Solche psychoanalytisch geprägten Beobachtungen können, so meine These, nur einen Teil zum Verständnis der literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 beitragen – sie vernachlässigen ihre prospektive Dimension. Meine Untersuchung verschiedener Texte der Nachkriegszeit setzt der Vorstellung, dass das literarische Interesse eines Autors an der Vergangenheit dessen ideologische Überzeugungen, Befindlichkeiten und moralische Haltungen widerspiegle, die Analyse eines neuen deutschen Vokabulars im Umgang mit dieser Vergangenheit entgegen.
Die im Folgenden behandelten Werke sind, so meine Annahme, nicht nur Ausdruck der Erinnerungen, Ideologien und Wahrnehmungen ihrer Autoren. Sie eröffnen dem Leser vielmehr neue Perspektiven bei der Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Sie setzen sich mit den Verbrechen auseinander, gestehen sie ein oder weichen ihnen aus, aber vor allem erfüllen sie die Aufgabe, die ich in der Einleitung als »Weltschöpfung« bezeichnet habe: die imaginative Neubeschreibung der Vergangenheit, die neue Denkhorizonte und Gefühle eröffnet. Zusammengenommen haben sie den zeitgenössischen kulturellen und politischen Diskurs erweitert – zunächst um die Integration des Holocaust als ein Kapitel der deutschen Geschichte, in den 1990er Jahren dann um die Rolle des historischen Gedenkens im wiedervereinigten Deutschland –, und sie haben auf diese Weise, wie Eva Menasse und Michael Kumpfmüller feststellen, einen anderen Weg in die »Zukunft« gewiesen.6
Die zeitgenössische deutsche Literatur greift entscheidende Momente in der Geschichte der Moderne auf und bringt uns, wie Richard Rorty bemerkt, durch Metaphern, Themen, Charaktere und Handlungen schlagartig dazu, »der Vergangenheit den Rücken zu kehren« und auf eine »wunderbar andere Zukunft« zu hoffen.7
Aufgewachsen in den 1970er und 1980er Jahren in Israel, näherte ich mich der deutschen Literatur zunächst in der Erwartung, durch ihre Bilder, Metaphern und Allegorien Deutschlands Fall in den faschistischen Abgrund, aber auch den Umgang der ost- und westdeutschen Nachkriegskultur mit der Zeit des Nationalsozialismus besser begreifen zu können. Als ich Ende der 1980er Jahre in die Bundesrepublik kam, erlebte ich die Anfänge der neuen Erinnerungskultur – ein beispielloses Interesse an Zeugnissen, Geschichtsschreibung, Theateraufführungen und öffentlichen Gedenkveranstaltungen über die Nazivergangenheit.8
Die 1980er Jahre waren der erste Höhepunkt in einer Entwicklung, die in den 1960er Jahren mit den ersten drei Frankfurter Auschwitzprozessen und den Studentenunruhen begonnen hatte und in deren Verlauf sich die (überwiegend) nach dem Krieg geborenen Deutschen der Vergangenheit ihrer Väter und Mütter stellten. Die westdeutsche Erinnerungskultur der 1980er Jahre war aber auch Ausdruck eines globalen Trends. Wie in anderen westlichen Gesellschaften manifestierte sich auch hier ein »Erinnerungsboom«, um mit Andreas Huyssen zu sprechen: ein weit verbreitetes Interesse an individuellen und kollektiven Erinnerungen sowie ein wachsendes Bewusstsein für die verschiedenen Modi der historischen Darstellung.9 Für Huyssen steht hinter dieser Entwicklung der postmoderne Wunsch, in verschiedenen »Vergangenheiten« nach brauchbaren Elementen für Orientierung in der Gegenwart zu suchen, weil die Vergangenheit einen Anker in einer Welt darstellt, in der unsere Erfahrung von Zeit und Lebensräumen durch ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum und technologische Innovationen destabilisiert wird.10 In dieser Zeit wurde der Holocaust zunehmend zum globalen Signifikanten für unsägliche Gräuel schlechthin und stellte somit den zentralen Bezugspunkt in Menschenrechtsdebatten dar.11 Die Erinnerungsarbeit ging mit einer zunehmenden Sensibilität für die Bedeutung des Holocaust in der deutschen Selbstwahrnehmung einher. Eine vormals distanzierte Rhetorik wich der facettenreichen Beschäftigung mit dem Ursprung und Verlauf des Holocaust, seiner Wirkung in der Nachkriegszeit und seiner Bedeutung für die Opfer und ihre Nachkommen.12 Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf politische Bemühungen, Deutschlands jüngste Vergangenheit zu normalisieren, etwa durch den Besuch von Kanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg oder durch den Historikerstreit von 1986.Die Diskussionen über diese »Normalisierungsversuche« zeigten, wie unmittelbar und nachdrücklich verschiedene historische Narrative die westdeutsche Öffentlichkeit prägten.13
Nach dem Ende der deutschen Teilung 1989 kam die Befürchtung auf, der Nationalsozialismus werde nun in den Bereich der ausreichend bearbeiteten Geschichte verwiesen.14 Michael Geyer, Konrad Jarausch und andere beobachteten Anzeichen eines neuen Nationalbewusstseins. Kurz nach dem Mauerfall wurde der Wunsch nach einer selbstbewussten deutschen Nation laut, oft verbunden mit der Tendenz, das Leid der Opfer zu verallgemeinern und auch die Mitläufer und sogar die Diener des Naziregimes in das Gedenken aufzunehmen.15 Zudem beschäftigten sich breite Teile der deutschen Öffentlichkeit jetzt mit dem Leid der Deutschen im und nach dem Krieg: mit den massiven Luftangriffen der Alliierten auf deutsche Städte, mit der Not der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten, mit dem Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen und mit den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee.16 Man fürchtete, an die Stelle des juste milieu der Bundesrepublik und ihrer aufgeklärten Öffentlichkeit, die durch Intellektuelle wie Heinrich Böll, Günter Grass, Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler geprägt worden war, könnte ein selbstbewusster nationaler deutscher Diskurs mit einem neuen, verstörenden Ton treten.17
So berechtigt diese Sorgen auch sein mochten, so geriet in der Diskussion nach dem Mauerfall, die sich auf Fragen von Schuld und Scham, Trauma und Verdrängung konzentrierte, doch in Vergessenheit, dass die deutsche Nachkriegsliteratur (wie jede zeitgenössische Literatur der »Ersten Welt«) die vom »linguistic turn« und der Postmoderne aufgeworfenen Fragen an jegliche historische Darstellung durchaus kannte und in vielfältiger Weise aufgegriffen hatte.18
Die deutschen Autoren stehen mit ihren Schwierigkeiten bei der Annäherung an die Geschichte ihres Landes nicht allein; Schriftsteller in Israel, Großbritannien, Südafrika, den Vereinigten Staaten und anderswo sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Ein deutscher Autor, der sich für Zeitgeschichte interessiert, steht nicht nur vor der Aufgabe, eine zutiefst verstörende nationale Geschichte sinnvoll zu bearbeiten, sondern er muss – wie seine Kollegen im Ausland – auch das Wissen umsetzen, dass modernistische Ereignisse einen entscheidenden Zivilisationsbruch darstellen und entsprechend nach neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks verlangen.19