Die Alpen in der Antike - Ralf-Peter Märtin - E-Book

Die Alpen in der Antike E-Book

Ralf-Peter Märtin

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Beschreibung

Von Ötzi über Hannibal bis zur Christianisierung – die Geschichte der Alpen in der Antike von dem großen Historiker und Bestseller-Autor Ralf-Peter Märtin Meist wird Hannibal genannt, wenn es um die frühe Geschichte der Alpen geht. Doch um wieviel reicher an Völkern und unterschiedlichen Kulturen, Schlachten und Eroberungen diese Epoche war, erzählt der bekannte Historiker und Bestseller-Autor Ralf-Peter Märtin in seiner farbenprächtigen Geschichte der Alpen. Er berichtet, wie und warum Ötzi sterben musste und erzählt vom beginnenden Handel mit Kupfer, Salz und Eisen, von den Schlachten der Kimbern und Teutonen, Hannibals Elefanten und von den Hospizen, Klöstern und Handelswegen, die mit der Christianisierung entstanden. Es entfaltet sich das lebendige Bild eines einzigartigen Kulturraums, der bis heute von seiner Geschichte in der Antike geprägt ist. »Ralf-Peter Märtin löste Geschichte in Geschichten auf, in Erzählungen vom menschlichen Leben und Tod, von Machtgier, Herrschaft und Vergeblichkeit.« Christoph Ransmayr

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Dr. Ralf-Peter Märtin

Die Alpen in der Antike

Von Ötzi bis zur Völkerwanderung

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Christoph Ransmayr

Inhalt

Die Alpen in der AntikeDie Alpen: Von der Wildnis zur KulturlandschaftI Wie und warum Ötzi, der Tiroler Eismann, starbII Kupfer, Salz und Eisen – Die Alpen in der Bronze- und EisenzeitIII Hannibal der AlpenbezwingerIV Die Kimbern kamen nicht über den BrennerV Die Römer in den AlpenVI Spätantike und VölkerwanderungVII Der Sieg des Christentums in den AlpenDanksagungAm DonnerpaßQuellen- und LiteraturverzeichnisI Wie und warum Ötzi, der Tiroler Eismann, starbLiteraturII Kupfer, Salz und Eisen – Die Alpen in der Bronze- und EiszeitLiteraturIII Hannibal der AlpenbezwingerQuellenLiteraturIV Die Kimbern kamen nicht über den BrennerQuellenLiteraturV Die Römer in den AlpenQuellenLiteraturVI Spätantike und VölkerwanderungQuellenLiteraturVII Der Sieg des Christentums in den AlpenLiteraturOrts- und Namensregister

Die Alpen in der Antike

Die Alpen: Von der Wildnis zur Kulturlandschaft

Man kann nicht sagen, dass die Antike die Gebirge schätzte. Für den Handel waren sie ein Hindernis, militärisch nicht einmal zur Verteidigung brauchbar, da man jede Stellung umgehen konnte, wie der Kampf bei den Thermopylen (480 v. Chr.), gegen Hannibal und gegen die Kimbern und Teutonen bewies. Schlachten schlug man in den Ebenen, ob an Land oder auf See. Wer sich ins Gebirge flüchtete wie der Perserkönig Dareios vor Alexander dem Großen, galt als Verlierer und war es auch. Stämmen wie den Germanen, die sich mit Hilfe ihrer Wälder und Sümpfe zur Wehr setzten, oder den Bewohnern des Balkans und der Alpen, die auf ihre Berge und Schluchten vertrauten, blieb nichts anderes übrig, da ihre militärischen Mittel nicht ausreichten, um der griechischen Phalanx oder der römischen Legion die Stirn zu bieten.

Natur ist für die Alte Welt immer Wildnis. Sie taugt zu nichts, als in ihrer lebensfeindlichen Ödnis den Göttern auf den höchsten Gipfeln Wohnsitz zu bieten. So auf dem griechischen Olymp Zeus, auf dem sizilischen Ätna dem Schmiedegott Hephaistos, auf dem Nimrud Dagh diversen orientalischen Göttern, Jahwe auf dem Mosesberg auf der Sinaihalbinsel. Wildnis muss in Kulturlandschaft umgewandelt werden, nur so kann sie dem Menschen gefallen und nützen. Wenn der griechische Geograph Strabo (63 v. Chr. – 19 n. Chr.) über die Insel Zypern berichtet, beklagt er den Umstand, dass »die Ebenen so voll dichter Waldungen gewesen seien, dass man vor lauter Holz keinen Feldbau habe treiben können«. Gott sei Dank, fährt er fort, hätten die Kupfer- und Silberbergwerke »diesem Übelstande einigermaßen abgeholfen, da man zum Schmelzen des Kupfers und Silbers viele Bäume gefällt habe, auch sei der Schiffbau für die Flotten hinzugekommen«. Aber das reichte immer noch nicht, um die Wälder verschwinden zu lassen. Deshalb »hätte man allen, die es wollten und konnten, Holz wegzuhauen, den so gereinigten (sic! Anm. d. Verf.) Boden als steuerfreies Eigentum zu besitzen gestattet«.

Der römische Dichterphilosoph Lukrez (94–55 v. Chr.) sah es genauso. In seinem Lehrgedicht »Das Wesen der Welt« (De rerum natura) führte er aus, was er unter einer dem Menschen förderlichen Kulturlandschaft verstand: »Täglich in stärkerem Maße zwang man die Wälder zum Rückzug hoch in die Berge, zum Vorteil des Landmanns am Fuße der Höhen. Wiesen und Teiche, Kanäle, üppige Weinberge, Äcker wollte man nutzen auf Hügeln und Ebenen, Ölbäume sollten, über die Wellen des Bodens, durch Täler und Flachland, in bläulich schimmernden Streifen sich abheben von den anderen Kulturen. Derart erblickst du das Land überall jetzt gefällig gegliedert. Schmücken die Menschen es doch mit köstlichen Sorten von Baumobst, haben es ringsum bepflanzt mit fruchtbarem Strauchwerk und Reben.«

So geschah es auch mit den Alpen. Die fruchtbaren Talböden erschloss man für den Ackerbau, die Hänge bepflanzte man mit Wein, die Almen nutzte man für die Viehzucht, die Rohstoffe Kupfer, Salz und Eisen förderte man in Bergwerken, die alpinen Transitrouten verwandelte man in ein Straßennetz. Die Wildnis abseits und über den Siedlungen überließ man den wilden Tieren und den Außenseitern, die als Gesetzlose die Vorzüge einer menschlichen Gemeinschaft nicht zu schätzen wussten.

IWie und warum Ötzi, der Tiroler Eismann, starb

»Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf.«

Johann Christian Günther

Er hatte eine der besten Epochen der Menschheitsgeschichte erwischt, Ötzi, der Eismann, der zwischen 3350 und 3100 vor Christus lebte und seit seiner Entdeckung am 19. September 1991 seinen ersten Platz verteidigt: als älteste Feuchtmumie der Welt.

Die letzte Eiszeit (Würm) war lange vorbei. Um 22000 v. Chr. hatte sie ihr Maximum erreicht und die Alpen unbewohnbar gemacht. Die Täler füllten sich mit Gletschern. Die durchschnittliche Sommertemperatur betrug zehn Grad weniger als heute. Das Eis breitete sich im Westen bis Lyon aus, im Norden bis Solothurn und Schaffhausen. Der Rhone-Gletscher wuchs auf dreihundert Kilometer Länge an und stieß bis zum heutigen Genf vor. Der alpine Eisschild, mit einer Mächtigkeit von 2000–3000 Metern, bedeckte in dieser Zeit 150000 km2. Der Meeresspiegel lag 120 Meter tiefer. Wer es wollte, konnte von Frankreich nach England zu Fuß gehen.

Im Nachhinein betrachtet, erwiesen sich die Eiszeiten als unschätzbarer Vorteil. Erst die Gletscher machten die Alpen bewohnbar. Sie erweiterten und verbreiterten die Täler. Sie schufen die Hangterrassen, die später die bevorzugten Orte für Siedlungen, Äcker und Weiden abgaben. Mit ihrer Hobelwirkung sorgten sie für niedrige und gangbare Joche und Pässe. Die aufgeschobenen Moränen förderten die Bildung von fruchtbaren Böden. Der einzige Nachteil dieser gigantischen Modellierung eines Gebirges waren die u-förmigen Trogtäler. Ihre übersteilen Flanken neigten zu Bergstürzen, die ganze Flüsse aufstauen konnten, wie am Rhein geschehen.

Bereits um 13000 v. Chr., als sich die letzten eiszeitlichen Gletscher zurückziehen, dringen mittelsteinzeitliche Jägergruppen in die Alpen vor, angelockt vom reichen Wildbestand:

Rothirsch und Reh in den Tälern, Steinbock, Gämse, Murmeltier und Bär in den höheren Lagen. In Südtirol wird bei Riparo Dalmeri auf 1240 Metern ein Lagerplatz von Steinbockjägern aus der Zeit um 11000 v. Chr. ausgegraben. Ab 9600 v. Chr. kann man ihre Existenz auch im Hochgebirge nachweisen. Vielleicht waren es die gleichen, die das Tal von Valcamonica mit Felszeichnungen zu verzieren begannen, auf denen Jagdmotive, Hirsche, Speere, Pfeile und abstrakte Figuren vorherrschen. Wahrscheinlich beschworen die Schamanen auf diese Weise das Jagdglück. Die geschätzten 300000 Petroglyphen, die bis in die römische Zeit reichen, gehören heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Rätselhaft hinsichtlich ihrer Bedeutung sind auch die im gesamten Alpengebiet vorkommenden Schalensteine: Steinblöcke, die mit künstlichen Vertiefungen versehen sind, die an Näpfe erinnern. Allein in der Schweiz und Südtirol sind über tausend von ihnen bekannt und dokumentiert.

Ab 8000 v. Chr. erreichen die Temperaturen das heutige Niveau. Lagerplätze der Jäger finden sich nun schon in 2000 Meter Höhe, etwa im Ötztal beim Ullafelsen. Auf diesem Fundplatz, der etwa ab 9000 v. Chr. benutzt wird, finden sich Mikrolithen (Feuersteinabschläge), die auf eine Jagd mit Pfeil und Bogen hinweisen. Ihre Herkunft aus Bayern und Oberitalien beweist, dass schon um diese Zeit die Alpen keine Grenze, sondern eine Transitzone darstellten. Der vom Schnals- ins Ötztal wandernde Ötzi steht somit in einer jahrtausendealten Tradition der Nutzung der Hochalpen als Jagdgebiet. Kontakte über die Gebirgsketten waren zu seiner Zeit nichts Besonderes mehr, sondern längst üblich.

Relativ spät, im 5. Jahrtausend v. Chr. (4000–3500 v. Chr. nachweisbar), aber noch rechtzeitig für Ötzi, werden die Alpen von der neolithischen Revolution erfasst. Aus dem Vorderen Orient kam eine neue Wirtschaftsweise. Über das Mittelmeer erreichten Siedler und das mit ihnen reisende Wissen die Südseite, über die Donau und den Balkan die Ostseite der Alpen. Statt die Nahrung zu sammeln, setzte sich die bäuerliche Lebensweise, geprägt durch Ackerbau und Viehzucht, durch. Die Menschen wurden sesshaft und betrieben Landwirtschaft. Gerste und Weizen aus Europa, Emmer und Einkorn aus dem Nahen Osten bildeten fortan die Ernährungsgrundlage. Statt Tiere zu jagen, domestizierte man sie und machte sie zu Haustieren. Die einheimischen Rassen, Rind und Schwein, ergänzte man durch Schaf und Ziege aus Vorderasien. Umfangreiche Abholzungen der Wälder, um Ackerland zu schaffen, und extensive Viehhaltung erzeugten einen »ersten Treibhauseffekt« mit steigenden CO2-Werten, der in Süddeutschland zu oberitalienischen Temperaturen führte. Dieses menschliche Eingreifen in die Natur und in der Folge das feucht-warme Klima des sogenannten Atlantikums (6000–3400 v. Chr.), das die Baumgrenze auf 2200–2300 Meter Höhe anhob, begünstigten den Erfolg dieser neuen Art des Wirtschaftens. Rasch stellte sich heraus, dass gerade Schafe sich hervorragend für die höheren Bergregionen eigneten. Schon seit dem 5. Jahrtausend v. Chr. wurde es üblich, die Tiere im Sommer auf die Almweiden zu treiben (Transhumanz). Wie stets bei solchen gesellschaftlichen Umbrüchen gab es Verlierer. Die nicht anpassungsbereiten Jäger- und Sammler wurden ins Hochgebirge abgedrängt. Das Bewusstsein davon lebt in den Sagen fort, die in den Alpen über die »Wilden Männer« erzählt werden.

Ötzi profitierte nicht nur von diesen Innovationen. Um 3500 v. Chr. erfand man das Scheibenrad und den Hakenpflug und züchtete eine neue Schafsrasse, die nicht nur Fleisch, sondern auch Wolle lieferte. Vor den Wagen und den Pflug spannte man erstmals Rinder und Pferde, mit dem Ergebnis, dass viel größere Felder bearbeitet und damit die Ernteerträge enorm gesteigert werden konnten. Die Fruchtwechselsysteme mit Sommer- und Wintergetreide kamen auf. Die gängigen Sorten wurden um Dinkel und Rispenhirse erweitert, dazu traten als Eiweißlieferanten Hülsenfrüchte: Linse, Erbse und Saubohne. Die Landschaft erhielt ein »mosaikartiges Aussehen, neben kultivierten und beweideten Stellen gab es viele bewaldete und kaum genutzte Gebiete«. Der Typus dieser halboffenen Landschaft wird die Alpen vom Neolithikum bis zum Frühmittelalter prägen.

Mit dem Beginn der Metallurgie ging die Steinzeit zu Ende, und die Kupferzeit beginnt. Der erste Kupferabbau lässt sich in Anatolien im 7. Jahrtausend v. Chr. nachweisen, im 5. Jahrtausend ist die Technologie bis Südosteuropa vorgedrungen, ab Ende des 4. Jahrtausends wird erstmals Kupfer in den Alpen abgebaut und zu Dolchen, Beilen und Schmuck verarbeitet. In Brixlegg in Tirol finden sich Kupferschlacken aus der Zeit um 4000 v. Chr., im Salzkammergut beginnt die Verarbeitung seit der Mitte des 4. Jahrtausends. Sie umfasste nicht nur den Bergbau, sondern auch die Erzaufbereitung und Verhüttung. Im Ergebnis wurden »die Alpen zum Bergbauzentrum Mitteleuropas«. Daraus resultierten Handelswege über die Pässe, denn die Bergbauzonen waren auf Austausch angewiesen: Nahrung gegen Metall. Die neue, leistungsfähige Wirtschaftsweise, die einen Bevölkerungsschub in den Alpen auslöste, erforderte ein weitgespanntes Handelsnetz für Rohstoffe, dazu Spezialisierung und Arbeitsteilung. Die Berufe der Schmiede, Bergleute und Händler entstanden und mit ihnen unterschiedliche Eigentumsverhältnisse. Soziale Hierarchien bildeten sich, gekennzeichnet durch Stammesstrukturen mit Häuptlingen (headmen), die sich auf die Sippenältesten stützten. Das ist die Gesellschaft, in die Ötzi hineingeboren wird. Wir werden untersuchen, welche Rolle er in ihr spielte.

Ötzi-Fundstelle am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen

An einem Morgen im Frühjahr oder Frühsommer bricht Ötzi ins Hochgebirge auf. Wir wissen es, weil sich in seinem Dickdarm Pollen der Hopfenbuche fanden, und deren Blütezeit endet im Juni. Ötzi ist Mitte vierzig, mit einer Abweichung von plus / minus fünf Jahren, 1,60 Meter groß, wiegt 53 Kilo und hat Schuhgröße 38. Sein schwarzes welliges Haar geht in einen struppigen Bart über, aus dem braune Augen hervorblitzen. Er ist ein drahtiger Typ, durchtrainiert mit kräftigen Beinmuskeln, aber körperlich gearbeitet hat er nie: An seinen Händen findet sich keine einzige Schwiele. Der Geochemiker Wolfgang Müller hat mit Hilfe einer Isotopenanalyse seine Herkunft erforscht. Seine Jugend hat er im Eisacktal, in der Gegend des heutigen Brixen, verbracht, als Erwachsenen zieht es ihn in den Vinschgau.

Die Wissenschaft hat Ötzis sämtliche Krankheiten offengelegt. Seine Lungen waren schwarz, denn er bereitete seine Nahrung am offenen Feuer zu, an dem er sich auch wärmte. Milch und Butter vertrug er nicht wegen einer Laktoseunverträglichkeit. Joghurt und Käse, da vergoren, konnte er aber zu sich nehmen. Peitschenwurm-Larven im Darm plagten ihn mit Durchfall, im Magen quälte ihn der Helicobacter-pylori-Erreger. Auch ist er der erste Mensch, bei dem eine durch Zecken ausgelöste Borreliose diagnostiziert wurde. Ansonsten litt er an den bekannten Alterserscheinungen: kaputte Bandscheiben, abgenutzte Gelenke, drei Gallensteine, und natürlich hatte er Zahnschmerzen. Eine genetische Veranlagung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen begann, seine Arterien zu verstopfen. Alles nicht so schlimm, meint Albert Zink, Direktor des Instituts für Mumien (EURAC) in Bozen: »Trotz seiner Wehwehchen war er für sein Alter noch ziemlich gut beieinander.« Außerdem wusste sich Ötzi zu helfen. 61 Tätowierungen schmücken seine Haut, um die Schmerzen der Arthrose zu lindern. Die feinen Schnitte, in die Holzkohle gerieben wurde, folgen den Akupunkturlinien und stellen den Heilern der Kupferzeit ein hervorragendes Zeugnis aus.

Obwohl Ötzi klimatisch im Subboreal lebt, in dem es warm und trocken ist, weiß er aus Erfahrung, dass dort, wohin er will, am Tisenjoch in 3200 Metern Höhe, ein anderer Wind weht als in seinem Dorf im Tal. Dementsprechend kleidet er sich ein. Legt den Lendenschurz aus Ziegenleder um, befestigt seine Leggins aus elastischen kleinen Ziegenfellstücken mit Strapsen am Gürtel, wirft sich den Mantel aus Ziegenleder über, dessen behaarte Seite nach außen zeigt. Er fährt in seine Schuhe aus Hirschleder, die mit Heu gefüttert sind, das Lindenbastschnüre fixieren und so seine Füße warm halten. Ein Riemen unter dem Schuh verhindert das Ausrutschen. Ein Nähset mit Knochenahle sorgt für Unabhängigkeit in puncto textile Reparaturen. Eine Feuerkonserve, bestehend aus Zunder und Zunderschwamm und einem Pyritknollen, eingepackt in ein Gefäß aus Birkenrinde, erlaubt ihm, binnen einer Minute ein Feuer zu entfachen. Für alle Fälle versieht er sich mit einem Birkenporling: Der Pilz hat eine antibiotische Wirkung.

Der Eismann Ötzi mit wetterfestem Umhang aus Grasbinsen

An Waffen wählt er einen dreizehn Zentimeter langen Dolch, dessen Feuersteinklinge aus dem Gebiet der Monti Lessini östlich des Gardasees stammt, dazu einen 1,82 Meter hohen Bogenstab aus Eibenholz, der bei dreißig bis fünfzig Meter Schussdistanz das angepeilte Ziel mit tödlicher Wirkung durchschlägt. Der Bogen ist noch nicht gebrauchsfertig, kann es jedoch rasch werden. Nur das Glätten des Holzes ist nötig und das Anbringen von Nocken für die Bogensehne. Wenig Aufmerksamkeit hat er auch auf die Pfeile in seinem Köcher verwendet. Nur zwei sind schussbereit mit Silexspitzen und Befiederung, zwölf weitere warten als Rohschäfte noch auf die Bearbeitung. Sein wertvollstes Stück ist ein geschäftetes Beil mit einer 9,5 Zentimeter langen Kupferklinge. Sie stammt aus dem Salzburger Land und taugt sowohl als Waffe wie als Arbeitsinstrument. Das Beil weist ihn als Mitglied einer kriegerischen Elite aus, als Anführer oder Vorsteher seiner bäuerlichen Gemeinschaft. Auf einem Bildstein in der Nähe von Algund am Eingang des Vinschgaus sind die Statussymbole eingemeißelt, die den Führungsschichten zukamen: Dolche und Beile. Noch tausend Jahre später wird Kupfer als seltenes Material nur der Oberschicht vorbehalten sein und gerade die Streitaxt eine besondere Rolle als Standeszeichen spielen. Ötzi nimmt seine Kraxe auf, eine Rückentrage aus einem u-förmigen Holzgerüst, auf dem ein Fellsack befestigt ist, stopft getrocknetes Steinbockfleisch als Reiseproviant hinein und sorgt mit einer Grasbinsenmatte für den Schutz gegen Regen. Dann stülpt er sich seine Bärenfellmütze über. Es kann losgehen.

Ötzis Ausrüstung ist absolut hochgebirgstauglich und verweist mit ihren Materialien und Waffen auf ein Mitglied der Oberschicht. Darüber hinaus macht sie ihn unabhängig. Er ist jederzeit in der Lage, alles, was er trägt, auszubessern oder fehlende Dinge mit den mitgeführten Gerätschaften anzufertigen. Ötzi steht in einer langen Tradition des Wanderns und Jagens im Gebirge. Er zeigt »deutlich das hohe technische und kulturelle Niveau, das das Leben in den Alpen inzwischen erreicht hat«. Sein geplanter Aufstieg zum Tisenjoch belegt die genaue Kenntnis der Verbindungen von Tal zu Tal.

Einen oder wenige Tage vor seinem Aufbruch hat Ötzi sich eine schwere Schnittwunde an der rechten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger zugezogen. Die tiefe Fleischwunde reicht bis auf den Knochen. Ein Gebrauch der verletzten Hand ist ausgeschlossen. Der Pathologe Eduard Egarter Vigl, verantwortlich für die Konservierung von Ötzi, nennt es »eine typische Abwehrverletzung«. Dermaßen gehandicapt, steigt der erfahrene Jäger von seinem Dorf 2000 Höhenmeter auf, erreicht das Joch und setzt sich nieder, um zu essen. Wir wissen es, weil sein Mageninhalt seine Geheimnisse preisgab. Ötzi aß das mitgenommene Steinbockfleisch, Brot, dazu ein Stück Apfel und viel Speck. Hat er sich verfolgt gefühlt? »Wer auf der Flucht ist, schlägt sich nicht dermaßen den Magen voll«, kommentiert der bereits zitierte Albert Zink.

Ging man bis zum Jahr 2001 davon aus, dass Ötzi ein Opfer eines plötzlichen Wetterumschwungs geworden und erfroren sei, so erwiesen eine Röntgenaufnahme und eine Computertomographie sein gewaltsames Ableben. Man fand in seinem Körper eine 2,7 Zentimeter lange, 1,8 Zentimeter breite Pfeilspitze, die sein Schulterblatt durchschlagen, sich durch ein Nervenbündel gebohrt und die Schlüsselbeinarterie zerfetzt hatte. Der aus großer Entfernung geschossene Pfeil – er hatte den Körper nicht durchbohrt – war tödlich. Ötzi, von hinten getroffen, brach zusammen und blutete aus, so sehr, dass man kein Blut mehr in der Mumie fand und seine Blutgruppe, es war Null, mit Hilfe seiner DNA bestimmen musste. Als Folge des Treffers schlug er mit dem Kopf auf einen Stein. Das daraus entstandene schwere Schädel-Hirn-Trauma bewirkte zwei Blutergüsse im Großhirn. Als Alternative wäre auch ein Schlag auf den Kopf denkbar, der den Schädelbruch verursachte.

Wie jeder Kriminalfall schrie auch dieser nach Aufklärung. Wurde Ötzi ein Opfer seiner Jagdleidenschaft, die ihn in ein fremdes Gebiet geführt hatte? Raubte man ihm die Schafherde, die er hütete? Oder wurde er gar beseitigt, weil seine Zeit abgelaufen, seine Widersacher im Dorf einen »Tyrannenmord« am alten Häuptling heimtückisch vorbereitet hatten?

Sehr viele Indizien sprechen gegen diese Erklärungen. Wäre die Handverletzung tatsächlich durch einen Nahkampf mit seinen Gegnern im Dorf verursacht worden, hätte sich Ötzi vorsichtiger verhalten und auf keinen Fall an exponierter, von überallher einsichtiger Stelle den Magen vollgeschlagen. Offensichtlich fühlte er sich nicht verfolgt. Weitere Merkwürdigkeit: Der Tote wurde nicht beraubt. Selbst sein wertvollstes Stück, das Kupferbeil, fand keinen neuen Besitzer. Auch alles andere ließ man ihm. Die Deutung dieses Umstandes als vorgetäuschter »Bergunfall« befriedigt nicht. Natürlich war Ötzis Beil als Statussymbol des Anführers im Dorf bekannt, weswegen es den Mörder überführt hätte. Aber ohne größeren Aufwand ließ sich die Kupferklinge aus der Befestigung am Beil herauslösen. »Kupfer ist rezyklierbar, das heißt, ein Stück Kupfer kann im Schadenfall (oder im Kriminalfall, Anm. d. Verf.) immer wieder in ein neues Werkzeug umgeformt werden.« Es ist ferner sehr wahrscheinlich, dass Ötzi als Clanchef sowohl Anhänger im Dorf als auch eine Familie besaß. Der Vermisste wäre gesucht worden, umso mehr als sein Weg, gerade wenn er seine Herde bewachen wollte, bekannt war. Die Grube am Tisenjoch lag offen, und die Mörder durften nicht damit rechnen, dass rechtzeitiger Schneefall einsetzte, bevor die Suchmannschaft das Gelände inspizierte. Endlich wurde Ötzi nicht einfach in die Felsmulde hineingeworfen, sondern seine Ausrüstungsgegenstände und Waffen wurden um ihn herum sorgsam »deponiert«, so dass man von einem Begräbnis sprechen könnte. Schließlich sprechen auch praktische Gründe gegen einen Kampf. Wie hätte denn Ötzi mit seiner verletzten Hand jagen oder Schafe hüten sollen, wie seinen Bogen fertigstellen, wie die Pfeile schäften und befiedern? Selbst der Griff in seine Kraxe, um den Proviant herauszunehmen, wäre ihm schwergefallen, geschweige denn das Entzünden eines Feuers.

Schon im Jahre 2002 vermutete deshalb der nordamerikanische Inkaforscher Johan Reinhard eine rituelle Opferung. Wie in Südamerika galten auch in Europa, spätestens in der Bronzezeit, Berge als heilig, weil sie den Göttern nahe waren. Der Passübergang des Tisenjochs würde sich als Ort für ein solches Ritual anbieten. Nun sind aus der Inkazeit viele heilige Berge bekannt, auf denen die Mumien geopferter Menschen gefunden wurden. Aus den Alpen gibt es bislang keinen einzigen Hinweis, aber das schließt ein solches Ritual nicht aus, da im übrigen Europa die Opferung von Menschen durchaus üblich war.

Den religiösen Hintergrund bildet die Fähigkeit eines Königs, Clanchefs oder Anführers, die Götter gnädig zu stimmen. Mit der Abwesenheit von Naturkatastrophen, guten Ernten und gesundem Vieh beweist er diese spezifische Verbindung und die daraus abgeleiteten Privilegien seiner Stellung. Umgekehrt deuten schlechte Ernten darauf hin, dass der Kontakt zu den Göttern nicht mehr funktioniert. Um ihn wiederherzustellen, wird der König oder ersatzweise ein anderes Mitglied der Oberschicht geopfert, wie Funde von Moorleichen in Irland belegen. Dabei regiert das Ritual der dreifachen Verletzung. Der irische »Old-Croghan-Mann« wurde erstochen, geköpft und zweigeteilt. Der 1952 entdeckte dänische Grauballe-Mann, eine eisenzeitliche Moorleiche aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., wurde mit Mutterkorn vergiftet, danach wurde ihm die Kehle durchgeschnitten und der Schädel eingeschlagen. Der ebenfalls einen hohen Rang einnehmende »Lindow-Mann«, 1984 in Cheshire (England) ausgegraben, dessen Haare sorgfältig geschnitten und dessen Fingernägel manikürt waren, wurde mit einer Tiersehne erdrosselt, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde und er einen Schädelbruch erlitt. Obwohl diese Beispiele alle aus der Eisenzeit stammen, haben diese Tötungsmethoden eine lange Geschichte und gehen bis in die neolithische Zeit zurück, wie Moorleichen aus Dänemark beweisen, die aus der gleichen Zeit wie Ötzi datieren. Die Archäologin Miranda Greene vermutet, dass man diesen extremen Einsatz von Gewalt als »notwendigen Teil des Rituals der Opfertötung« begreifen müsse. Tatsächlich kann man ihn zu Ötzi in Beziehung setzen. Das Ritual der dreifachen Verletzung hätte mit dem Schnitt in die Hand begonnen, der das Opfer gleichsam in seine Rolle einwies und bestimmte. Es folgte der finale Pfeilschuss und am Ende der gleichfalls tödliche Schlag auf den Kopf.