Die Alster-Schule - Zeit des Wandels - Julia Kröhn - E-Book
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Die Alster-Schule - Zeit des Wandels E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Eine neue Art von Schule. Eine neue Art zu lernen. Eine neue Art zu denken und zu fühlen. Bis dunkle Wolken aufziehen und sich eine junge Lehrerin zwischen Anpassung und Widerstand entscheiden muss ...

Hamburg 1931: Ein neuer Geist weht durch die Schulen der Weimarer Republik. Wo einst der Rohrstock regierte, erobern sich die Schüler den Stoff nun mit Kopf, Herz und Hand. Felicitas, die gerade eine neue Stelle als Lehrerin angetreten hat, ist beseelt von den Idealen der Reformpädagogik. Auch Sportlehrer Emil scheint ein Verbündeter zu sein, ist er doch heimlich in sie verliebt. Doch das bürgerliche Leben, das er anstrebt, scheint mit Felicitas' Freiheitswillen nicht vereinbar. Ganz anders sieht es bei ihrer Freundin Anneliese aus, die alles daransetzt, Emil für sich zu gewinnen. Während Annelieses und Emils aufkeimende Zuneigung einen Keil zwischen die Freundinnen treibt, ziehen auch am Horizont der Geschichte dunkle Wolken auf: Die Nazis ergreifen die Macht, und auf dem Schulhof weht die Hakenkreuzfahne. Felicitas und ihre Kollegen müssen eine Entscheidung treffen: Wollen sie zum Dienst am Führer erziehen? Oder ihren Idealen treu bleiben?

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Buch

Hamburg 1930: Ein neuer Geist weht durch die Schulen der Weimarer Republik. Wo einst der Rohrstock regierte, erobern sich die Schüler den Stoff nun mit Kopf, Herz und Hand. Felicitas, die gerade eine neue Stelle als Lehrerin angetreten hat, ist beseelt von den Idealen der Reformpädagogik. Auch Sportlehrer Emil scheint ein Verbündeter zu sein, ist er doch heimlich in sie verliebt. Doch das bürgerliche Leben, das er anstrebt, scheint mit Felicitas’ Freiheitswillen nicht vereinbar. Ganz anders sieht es bei ihrer Freundin Anneliese aus, die alles daransetzt, Emil für sich zu gewinnen. Während Annelieses und Emils aufkeimende Zuneigung einen Keil zwischen die Freundinnen treibt, ziehen auch am Horizont der Geschichte dunkle Wolken auf: Die Nazis ergreifen die Macht, und auf dem Schulhof weht die Hakenkreuzfahne. Felicitas und ihre Kollegen müssen eine Entscheidung treffen: Wollen sie zum Dienst am Führer erziehen? Oder ihren Idealen treu bleiben?

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits zahlreiche Romane. Nach ihrem großen Erfolg, »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller, und ihrem hochgelobten Riviera-Zweiteiler folgt nun die nächste opulente Saga vor schillernder Kulisse. Darin lässt die Tochter zweier Lehrer, die selbst auch Lehramt studiert hat, viele ihrer eigenen Schulerfahrungen mit einfließen.

Weitere Informationen unter: http://juliakroehn.at/

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

JULIA KRÖHN

Die AlsterSchule

Zeit des Wandels

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Julia Kröhn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

© 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Margit von Cossart

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Everett Collection; N.M.Bear) und Richard Jenkins Photography

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26392-8V002

www.blanvalet.de

Das Leben bildet.

Johann Heinrich Pestalozzi

Die Kinder sollen nicht bewahrt und nicht belehrt werden. Sondern glücklich sollen sie im Sonnenlicht wachsen, erstarken und sich entwickeln.

Friedrich Fröbel

Echte Hingabe an eine Sache ist nur mit Freiheit möglich.

Maria Montessori

1930

März

Als Felicitas Marquardt an ihrem ersten Arbeitstag als Oberlehrerin das Harvestehuder Gymnasium betrat, befanden sich in ihrer Tasche das Lateinbuch Ludus Latinus, ein in Butterbrotpapier verpackter Kuchen mit Mandeln und Rosinen und eine Feige. Die Feige rumpelte bei jedem Schritt hin und her – umso mehr, da Felicitas’ Schritte immer schneller wurden. Schon bereute sie, zu Fuß von ihrer Pension im Gängeviertel zur Schule auf dem Klosterstieg aufgebrochen zu sein, um möglichst viel von Hamburg zu sehen. Mindestens zweimal war sie schon in die falsche Straße abgebogen, und als sie endlich das Schulgebäude erreicht hatte, wusste sie nicht mehr, ob sich die Sekunda, in der sie in der ersten Stunde unterrichten würde, im ersten oder zweiten Stock befand. In den Gängen war es still, der Unterricht hatte längst begonnen.

Kurz hielt sie inne, beim nächsten Schritt rumpelte die Feige nicht länger. Gut möglich, dass sie sich in den Kuchen gebohrt hatte und der zu Krumen zerfallen würde. Ihre Freundin Anneliese, eine angehende Hauswirtschaftslehrerin, hatte ihr den Kuchen gebacken, damit sie sich auf der Zugfahrt von Lüneburg nach Hamburg stärken konnte, doch Felicitas hatte ihn aufgehoben, um sich an ihrem ersten Tag am Harvestehuder Gymnasium etwas zu gönnen. Das setzte allerdings voraus, dass sie an diesem Tag tatsächlich unterrichtete.

Sie studierte die Türschilder neben den Klassenräumen. Untersekunda, Obersekunda, Unterprima. In diesem Stockwerk befanden sich offenbar nur die höheren Jahrgänge.

Ein Fluch lag ihr auf den Lippen, wie sie ihn in ihrer Kindheit im Hafenviertel oft ausgestoßen hatte – so’n Schiet. Gerade noch rechtzeitig rief sie sich in Erinnerung, dass eine Oberlehrerin besser auf Latein fluchte, und stieß aus: »Me Hercule! Merda!«

Sie hatte nicht den Eindruck, dass sie besonders laut gewesen war, dennoch ertönte vom Ende des Gangs her ein Auflachen. Sie trat näher, sah niemanden – noch nicht. Erst als sie das Ende des Gangs erreichte, entdeckte sie in der Nische vor den raumhohen Fenstern einen schmächtigen Jungen in dunkelblauer Schuluniform stehen, der Kopf wie Schultern hängen ließ.

Er hatte gar nicht gelacht, er hatte geschluchzt. Und sicher nicht wegen ihres lateinischen Fluchs, sondern weil ihm eine Tragödie widerfahren sein musste. Die Schultern des Jungen bebten.

»Was … was ist denn los?«, fragte Felicitas.

Er fuhr zusammen, wandte sich blitzschnell ab und wischte sich die Tränen von den Wangen. Es glückte nicht recht, denn als er sich wieder zu ihr umdrehte, glänzten seine Augen immer noch.

»Nichts, gar nichts«, sagte er bedrückt.

Ihr Blick fiel auf den Ranzen vor seinen Füßen. »Hast du denn keinen Unterricht?«

Na, sie war die Richtige, das zu fragen!

»Ich … ich bin zu spät«, murmelte er, wischte sich noch einmal verstohlen über das Gesicht. Als seine Unterlippe zu zittern begann, biss er darauf.

»Ich fürchte, ich auch«, gab Felicitas freimütig zu, zwinkerte ihm zu, erntete aber immer noch kein Lächeln.

»Das geht doch nicht!«, rief der Junge.

»Dass man sich als neue Lehrerin in der Schule verläuft? Oh, und ob das geht! Ich war erst zweimal hier, um …«

»Letzte Woche habe ich den Klassenschrank geöffnet, ohne vorher zu fragen, ob ich es darf. Und vorletzte Woche habe ich einmal im Unterricht geschwätzt. Das heißt, ich habe schon zwei Einträge ins Klassenbuch bekommen. Wenn heute wieder einer erfolgt, fliege ich von der Schule.«

Sein Tonfall verriet so viel Scham, Verzweiflung und Not, dass Felicitas kurz überlegte, ihm ein Stück von ihrem Butterkuchen anzubieten.

»Wegen solch geringfügiger Vergehen fliegt man doch nicht vor der Schule.«

»Herr Moritz hat nicht nur damit gedroht, auch mit dem … Stock.«

Das letzte Wort brachte er so erstickt hervor, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Lauter war ein Geräusch in ihrer Erinnerung, das Zischen des Lineals, das ihr Lehrer von der Volksschule so gern auf ihren Handrücken hatte schnalzen lassen. Irgendeinen Vorwand hatte sie ihm immer geboten. Mal waren ihre Holzpantinen schmutzig gewesen, mal hatten sich unter ihren Fingernägeln dunkle Halbmonde befunden, mal hatte sie spitze Steine in ihrer Schürzentasche verborgen, um sich notfalls gegen die Jungen zu wehren.

Mit deinem Lineal konntest du mich nicht kleinhalten, ging es Felicitas durch den Kopf. Du hast mir zwar Striemen am Handrücken zugefügt, meinen Geist aber hast du nicht erwischt.

Ob des Anblicks des schmächtigen Jungen mit dem verweinten Gesicht währte das Triumphgefühl aber nicht lange.

»Dein Lehrer droht euch mit dem Stock?«, fragte sie irritiert.

»Manchmal benutzt er ihn auch.«

Der Schweiß, der sich in ihrem Nacken gebildet hatte, war längst erkaltet. Mit ihrer Wut ging das nicht so schnell.

»Wie heißt du denn?«

»Willy.«

»Ich verspreche dir, Willy, dass du heute ganz sicher nicht den Stock zu spüren bekommst.«

Sie trat auf die Klassentür zu, wummerte energisch mit der Faust dagegen und öffnete sie, ohne ein Herein abzuwarten.

Während sie Herrn Moritz fixierte, musterte sie aus den Augenwinkeln den Raum. Die Schulbänke, die in fünf Reihen hintereinanderstanden, waren leicht angeschrägt, in kleinen Löchern waren Tintenfässer eingelassen, in einem Regal darunter lagen die Schulranzen. Die Kinder – wie auf diesem Gymnasium üblich, waren es ausschließlich Knaben – saßen kerzengerade mit durchgestrecktem Rücken da, die Hände geschlossen auf dem Tisch, die Füße parallel nebeneinandergestellt. Keines von ihnen wagte, sie oder Willy, der schnell an seinen Platz huschte, anzuschauen.

An den Wänden hing eine historische Karte, die – wie die zahlreichen Pfeile verrieten – die Völkerwanderung darstellte, außerdem ein ausgestopftes Tier mit einem spitzen Schnabel, wohl ein Greifvogel. Der Mund von Herrn Moritz glich auch einem spitzen Schnabel, als er ihn öffnete, tief Luft holte und fragte, wer sie sei.

Felicitas holte antwortete nicht gleich.

Während ihres Studiums hatte sie gelernt, dass eine kurze Pause vor dem Beginn eines Vortrags zu größerer Aufmerksamkeit verhalf. Obwohl es ihr schwerfiel, zählte sie innerlich bis zehn, ehe sie ruhig sagte: »Guten Morgen, Herr Kollege.« Sie brachte sogar ein Lächeln zustande, deutete dann mit dem Kinn auf das, was er in der Hand hielt. »Wir haben keinen Kaiser mit Zepter mehr«, erklärte sie laut und deutlich.

Sie wusste, dass viele Lehrer den Rohrstock als Zepter bezeichneten. Sie wusste ebenso, dass es selbst im Kaiserreich Gesetze gegeben hatte, wie dieser Rohrstock eingesetzt werden solle: Mädchen durfte man nur auf den Rücken und den linken Arm schlagen, Jungen nur auf Rücken und Gesäß, Kinder unter acht Jahren gar nicht. Mittlerweile aber hatte nicht nur der Kaiser sein Zepter verloren, der Rohrstock war verboten. Und das sagte sie laut. Die Schüler saßen sämtlich wie erstarrt da, keiner schien auch nur zu atmen.

Herr Moritz hatte das wohl ebenfalls kurz vergessen, ehe er einmal mehr nach Luft schnappte.

»Das ist kein Rohrstock, sondern eine Weiderute«, rechtfertigte er sich. »Und damit zu strafen ist nur bei Schulkindern verboten, nicht bei Lausbuben.«

Felicitas zählte wieder bis zehn, anstatt die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, auszusprechen: Wir leben im Jahr 1930. Heutzutage bläut man Kindern nichts mehr mit dem Rohrstock ein, erst recht nicht Gehorsam, Ordnung und Selbstüberwindung. Heutzutage erzieht man Kinder zu aufrechten Menschen, und der Mensch ist gut, wenn seine Bedürfnisse befriedigt werden. Lernen soll Spaß machen, nicht in einer Atmosphäre von Angst geschehen, all das hat sich doch längst herumgesprochen, vor allem hier in Hamburg!

Aber ihr Schweigen erwies sich ohnehin als mächtiger. Herr Moritz errötete, und als sie erklärte: »Ich sehe gar keine Lausbuben«, legte er den Rohrstock, oder die Weiderute, unauffällig zur Seite und wandte sich an Willy.

»Warum bist du zu spät?«

»Das ist allein meine Schuld«, kam Felicitas dem Knaben zuvor. »Ich unterrichte heute zum ersten Mal hier, habe meine Klasse aber leider nicht gefunden und Willy gebeten, mir den Weg zu zeigen. Er ist ein sehr höflicher, zuvorkommender Junge. Ich habe mich nicht nur bei ihm zu bedanken. Auch bei Ihnen, seinem Lehrer, der ihm offenbar beigebracht hat, wie wichtig Hilfsbereitschaft ist.« Herr Moritz hielt den Kopf etwas schief, ähnelte immer noch einem Vogel, jedoch keinem, der mit spitzem Schnabel zuzustoßen drohte. »Ich wollte Ihren Unterricht nicht stören, lediglich berichten, dass Willy mich gerettet hat. Wenn überhaupt, verdient er eine Belohnung, keine Strafe.«

Sie starrte den Kollegen so lange schweigend an, bis der knapp nickte.

»Wir fahren fort!«, sagte er statt eines Abschiedsgrußes.

Sie war überzeugt, dass Willy keine Schwierigkeiten mehr bekommen würde und zwinkerte ihm vertraulich zu. Er merkte es nicht, hatte schon Platz genommen, seine Hände auf den Tisch gelegt und die Füße parallel nebeneinandergestellt wie die anderen.

Dass ein Junge wie er beim nächsten Mal, wenn Herr Moritz sein Zepter schwang, auf dessen Verbot beharren würde, war unwahrscheinlich. Und sie selbst konnte solche Ewiggestrigen nur zum Nachdenken bringen, nicht von ihrem Platz hinter dem Katheder verbannen. Aber in ihrer eigenen Klasse würde die Zukunft des Schulwesens hier und heute beginnen.

Als Felicitas endlich vor der richtigen Tür stand, lauschte sie kurz. Es war totenstill, obwohl sie mittlerweile über fünfzehn Minuten zu spät war. Als sie die Klasse betrat, zeigte sich, dass es nicht soldatische Disziplin war, die die Knaben schweigen ließ. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie sah, auf wen sich die Aufmerksamkeit richtete – auf zwei Jungen, die sich am Lehrertisch zu schaffen machten.

Ihr energisches »Guten Morgen!« ließ sie zusammenschrecken, und sie stolperten fast über die eigenen Füße, als sie zurück auf ihre Plätze hasteten. Felicitas tat so, als hätte sie nicht gemerkt, was die beiden da getrieben hatten, stellte schwungvoll ihre Tasche ab und wollte sich ebenfalls schwungvoll auf den Stuhl hinter dem Katheder setzen. Erst im letzten Augenblick verharrte sie in der Hocke.

»Das ist ja gar kein Stuhl, das ist ein Papierkorb!«, rief sie.

Die zwei Jungen, die ihr den Streich gespielt hatten, liefen glühend rot an, irgendwo ließ sich ein ersticktes Kichern vernehmen, aber es wurde nicht lauter.

»Wie gut, dass er noch leer ist«, sagte sie, nahm den Eimer, drehte ihn einfach um und setzte sich darauf. Obendrein schlug sie ihre Beine übereinander, etwas, das eine Dame niemals tat und eine Lehrerin wohl auch nicht.

Das Kichern wurde zu einem Lachen, doch als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, riss es wieder ab. Ohne dass sie den entsprechenden Befehl erteilt hatte, streckten die Kinder ihren Rücken durch und legten die Hände auf die Tischplatte.

»Ihr seid ja nicht sehr ideenreich«, stellte sie fest. »Eine Lehrerin, die sich in den Papierkorb setzt, ist doch langweilig. Als ich noch Schülerin war, habe ich einmal das Lehrerpult mit Leim eingepinselt.«

Die Blicke, bis jetzt starr auf die Tintenfässchen gerichtet, hoben sich. »Sind die Ellbogen des Lehrers daran festgeklebt?«, fragte der Junge, der ihren Stuhl gegen den Papierkorb ausgetauscht hatte.

»Die leider nicht, aber das Klassenbuch.«

Wieder ertönte ein Lachen, sie stimmte mit ein.

»Könnt ihr auch etwas anderes als Streiche spielen, zum Beispiel euch bewegen?«, fragte sie, als es abgeklungen war.

Mehrere Köpfe hoben sich. »Bewegen?«

»Na, wenn eure Gedanken so eingeschlafen sind wie eure Füße, hat es keinen Sinn, mit dem Stoff zu beginnen. Also steht auf!«

Sie musste den Befehl zweimal wiederholen, ehe die Kinder endlich gehorchten. Noch länger dauerte es, sie dazu zu bringen, sich paarweise an den Händen zu fassen und im Kreis um die Bänke zu laufen – was erst möglich war, nachdem sie ein paar zur Seite geschoben hatte.

»Darf man das überhaupt?«, fragte ein Junge zweifelnd.

»Oh, wir werden die Klasse ohnehin ganz neu einrichten, nämlich immer zwei Tische nebeneinanderstellen, sodass man in Vierergruppen arbeiten kann. Aber jetzt stellt euch erst mal vor, ihr wärt nicht in einer Klasse, sondern in einem Zoo. Ihr wart doch sicher schon im Tierpark Hagenbeck, oder? Wie bewegen sich Elefanten, wie die Pinguine, wie die Affen?« Die Kinder verharrten prompt starr nebeneinander. »Ich sehe schon«, sagte Felicitas seufzend »ihr seid es eher gewohnt, die Ameisen zu imitieren, die in Reih und Glied marschieren.« Sie klatschte in die Hände. »Will denn niemand ein Flamingo sein?« Verstohlen hob ein Junge das Bein, allerdings nur um zehn Zentimeter. »Was macht ihr denn in eurer Pause auf dem Schulhof? Steht ihr dort auch so starr herum wie die Soldaten beim Morgenappell?«

Ein Junge antwortete erst, nachdem er aufgezeigt hatte und zum Sprechen aufgefordert worden war. Er trat einen Schritt vor, schlug die Fersen aneinander, reckte sein Kinn.

»Wir marschieren in einer Kolonne«, erklärte er. »Und wir singen ›Wem Gott will rechte Gunst erweisen.‹«

»Hm«, machte Felicitas. »Ich kenne das Lied nicht. Wollt ihr es mir mal vorspielen?«

»Vorspielen oder vorsingen?«

»Vorspielen, und zwar mit der Geige.«

»Hier gibt es doch überhaupt keine Geige.«

»Nicht?« Felicitas tat überrascht. Sie ging zum Wandschrank, öffnete ihn. Hier befanden sich nur ausgestopfte Tiere, Landkarten, Papierbogen, aber sie tat so, als würde sie ganz behutsam ein Streichinstrument hervorholen. Danach klemmte sie sich die imaginäre Geige in die Halsbeuge und begann mit dem unsichtbaren Bogen zu fiedeln. »Ich fürchte, ich bin schon ein bisschen aus der Übung. Wenn wir alle zusammenspielen, wird vielleicht ein Lied daraus.« Die Kinder ließen ihre Hände los, traten unsicher von einem Bein auf das andere, keiner machte Anstalten, die Geige zu spielen, einer hob endlich die Hände, als hielten sie eine Flöte, wenn auch eine recht kleine. »Was ist denn mit euch los? Ich sehe weder Sportler noch Musiker!«

Und ich sehe keine Kinder, fügte sie in Gedanken zu. Kinder, die Lust an der Bewegung, am Spiel haben, denen das Lernen so viel leichter fiele, wenn sie beides zuvor getan hätten.

Aber wahrscheinlich forderte sie zu viel auf einmal. Ihre Freundin Anneliese betonte auch immer wieder, dass man, wenn man einen Kuchen buk, die Zutaten nacheinander verrühren musste, nicht alle gleichzeitig.

Felicitas hängte die imaginäre Geige in den Schrank zurück und entschied, die Sitzbänke vorerst noch nicht umzustellen. Sie verzichtete allerdings nicht darauf, erneut auf dem Papierkorb Platz zu nehmen, und wurde einmal mehr mit einem Kichern belohnt.

»Stimmt es, dass Sie von einer Reformschule kommen?«, fragte ein Junge.

Sie konnte nicht einmal nicken, als sich schon ein anderer einschaltete: »Und stimmt es, dass Mädchen und Jungs dort gemeinsam unterrichtet werden?«

»Koedukation ist in der Tat ein ganz wichtiges Prinzip der Reformpädagogik und …«

»Mein Vater sagt, Mädchen und Jungs duschen dort auch gemeinsam … und zwar nackt.«

»Na, wenn sie wirklich duschen, dann hoffe ich doch, dass sie nackt sind. Oder duschst du etwa in deiner Kleidung?« Ein paar begannen unruhig, auf den Sitzen hin und her zu rutschen. »Aber keine Angst, niemand duscht in der Schule. Auf der Reformschule lernt man das Gleiche, was ihr hier lernt, nur mit etwas anderen Methoden. Wer kann mir denn sagen, was ihr in der letzten Stunde durchgenommen habt?«

Eine Weile blieb es still, schließlich hoben sich drei Hände. Sie deutete auf den Jungen in der letzten Reihe, der sich sofort erhob.

»Wir haben die Punischen Kriege besprochen.«

»Du kannst dich wieder setzen. Und dann sagst du mir, was du über die Punischen Kriege weißt.«

Es schien dem Schüler sichtlich schwerzufallen, sitzend zu antworten, sein Blick war starr auf einen imaginären Punkt gerichtet.

»Der erste Punische Krieg dauerte von 264 bis 241 vor Christus. Der zweite Punische Krieg dauerte von 218 bis 201 vor Christus. Der dritte Punische Krieg dauerte von 149 …«

»Genug!«, fiel Felicitas ihm ins Wort.

»War das falsch?«

»Du hast nichts Falsches gesagt. Ich finde es jedoch nicht gut, von Kriegen nur die Jahreszahlen zu kennen.« Felicitas erhob sich vom Papiereimer, kramte in ihrer Tasche. Den Kuchen, erstaunlicherweise noch ziemlich heil, beließ sie dort, das Lateinbuch auch, aber sie zog die Feige hervor. »Weiß denn jemand, was diese Feige mit den Punischen Kriegen zu tun hat?« Wieder nur Stille. »Seht mich ruhig an, wenn ihr die Antwort nicht wisst. Sie steht nicht auf der Tischplatte, ihr erfahrt sie von mir.« Sie ging mit der Feige neben den Bänken auf und ab, und als sich die Blicke langsam hoben, begann sie, die Frucht zu schälen. Mehreren Jungen hielt sie sie unter die Nase. »Die riecht süß, oder?« Als sie sich der Aufmerksamkeit aller sicher war, fuhr sie fort: »Feigen waren im Römischen Reich sehr beliebt. Diese hier ist eine frische, man könnte sie aber auch trocknen lassen. Die Römer aßen die Früchte in dieser Form wie Brot. Nicht nur Menschen mochten sie. Ein römischer Koch soll seine Schweine ausschließlich mit Feigen gefüttert haben, weil er meinte, dass ihr Fleisch dann einen einzigartigen Geschmack entfalte. Das beantwortet natürlich noch nicht, was diese Feige mit den Punischen Kriegen, genauer gesagt, mit dem dritten der Kriege, zu tun hatte. Aber wisst ihr: Feigen wurden damals aus Karthago importiert, einer nordafrikanischen Stadt. Und es gab einen römischen Staatsmann, er hieß Cato der Ältere, der nach jeder Rede eine taufrische Feige aus seiner Toga zog und erklärte, dass diese zwei Tage zuvor in Afrika gepflückt worden sei und dass man sie noch viel billiger bekommen könne, wenn man sich diese Stadt Karthago unterwerfe. Er verspeiste die Feige, und dann schloss er seine Rede mit den Worten: ›Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.‹«

Felicitas wiederholte den Satz mehrmals und nahm dazwischen immer einen Bissen von der Feige. »Will jemand probieren?«, fragte sie, als sie zur Hälfte verspeist war.

Die Knaben schüttelten den Kopf. Als sie fertig war, drehte sie den Papiereimer um, warf aus ein paar Schritten Abstand die Schalen der Feige hinein.

»Ein guter Wurf, oder? Kann mir jemand sagen, wie man den Satz ›Ceterum censeo Carthaginem esse delendam‹ übersetzt, zudem welches Wort davon im Gerundivum gebildet wurde und warum?«

Es dauerte eine Weile, bis sich einer meldete. Er stand auf, nahm eine soldatische Haltung ein. »Wir haben doch jetzt Geschichts-, nicht Lateinunterricht.«

Felicitas setzte sich auf das Katheder. »Weißt du, jener römische Koch ernährte die Schweine zwar nur mit Feigen, aber eigentlich können Schweine alles fressen, auch Eicheln, Rüben und Kartoffeln. Im Magen vermischt es sich sowieso, und wenn es hinterher ausgeschieden wird, kann man es erst recht nicht mehr auseinanderhalten. Mit dem Wissen verhält es sich genauso. Ob es um Latein und Geschichte geht, Deutsch, Geographie oder Biologie – das alles darf sich nicht nur vermischen, der Nährwert steigt sogar, wenn das geschieht. Es ist schließlich nicht so, dass es in unserem Gehirn verschiedene Stockwerke gibt und wir uns immer nur in einem befinden. Man muss es sich eher wie einen riesigen Raum vorstellen, in dem sich viele Leute gleichzeitig aufhalten, die durcheinanderreden. Der lateinische Satz bedeutet: Im Übrigen glaube ich, dass Karthago zerstört werden muss und …«

Sie brach ab, weil ein Klopfen störte. Kurz zuvor noch hatte sie Herrn Moritz’ Klasse betreten, ohne auf das Herein zu warten. Nun konnte sie selbst keines mehr hervorbringen, denn schon öffnete sich die Tür. Sie hatte nicht einmal Zeit, sich vom Lehrertisch zu erheben. Der Blick einer jungen Frau im grauen Flanellrock und mit weißer Bluse richtete sich erst argwöhnisch auf sie, dann auf den Papierkübel mit den Feigenschalen. Am Ende erklärte sie nur ausdruckslos: »Schulleiter Grotjahn wünscht Sie augenblicklich zu sprechen.«

Auf dem Weg zu Dr. Waldemar Grotjahns Bureau wurde Felicitas zunehmend mulmig zumute. Sie lief nicht Gefahr, sich wieder zu verirren, seine Sekretärin, die in der Zwischenzeit die Klasse beaufsichtigen würde, hatte ihr den Weg gewiesen. Aber warum holte er sie aus dem Unterricht?

Während ihres Vorstellungsgesprächs hatte er immerzu gelächelt, doch sein Blick war ausdruckslos geblieben. Er hatte gründlich ihre Zeugnisse studiert, allerdings kein Wohlwollen gezeigt, weil sie stets nur Bestnoten geschrieben hatte, lediglich die Stationen ihres Lebensweges laut aufgezählt: Humanistisches Gymnasium in Lüneburg, Reifeprüfung summa cum laude, Studium der Geschichte, Philosophie und Altphilologie in Berlin, Promotion summa cum laude, Absolvierung der Prüfung pro facultate docendi, einjähriges Referendariat an einer Berliner Reformschule. Als er sie danach nahezu verwundert gemustert hatte, hatte sie sich ein wenig gefühlt wie ein Tier im Hagenbecker Zoo.

Was an ihrem Lebensweg fand er so ungewöhnlich? Die Zeiten, da Oberlehrerinnen nicht studiert, nur eine pädagogische Ausbildung mit Oberlehrerinnenexamen absolviert hatten, waren doch längst vorbei und weibliche Lehrkräfte an Gymnasien keine Seltenheit mehr! Hier am Harvestehuder Gymnasium arbeiteten bereits fünf, wenngleich keine von ihnen wie die meisten männlichen Kollegen verbeamtet war. Und wenn der Schulleiter Vorbehalte gegen weibliche Lehrer gehabt hätte, hätte er sie wohl nicht zu dem Gespräch gebeten.

Zumindest dafür hatte es alsbald eine Erklärung gegeben, war er doch auf den Mangel an Lateinlehrern zu sprechen gekommen. Dieser hatte am Ende auch den Ausschlag gegeben, sie einzustellen. Der Grund, warum sie wiederum die Stelle sofort angenommen hatte, war die Tatsache, dass sich die Schule im fortschrittlichen Hamburg befand, wo man die Ideen der Reformpädagogik als Erstes umgesetzt hatte.

Als sie das Direktorenzimmer betrat, saß Dr. Grotjahn wie bei ihrem Bewerbungsgespräch in seinem Bureaustuhl, der mit schwarzem, teilweise speckigem Leder überzogen war, und lächelte breit.

»Ach, das Fräulein Dr. Marquardt«, erklärte er betont freundlich.

Dass er sitzen geblieben war, als sie den Raum betrat, erschien ihr merkwürdig, aber wenn er auf Höflichkeitsgesten verzichtete, konnte sie das ebenso tun. Sie betrat den Raum mit gerecktem Kinn, ärgerte sich nur, dass sie im Nacken schon wieder schwitzte, weil sie so hastig die Treppe hochgelaufen war.

»Sie wollten mich sprechen, Herr Direktor …«

Sie brach ab. Nicht nur der Stuhl hinter dem Schreibtisch war besetzt, auch der davor. Er war viel schmaler und nur aus Holz. Wer darauf saß, war noch schmaler.

Willy. Der Schüler, den sie vor dem Stock bewahrt hatte. Er hatte seine Hände unter die Oberschenkel eingeklemmt, saß leicht nach vorn gebeugt, hob den Kopf nicht, sondern drehte ihn nur etwas zur Seite, um sie von unten anzusehen. Was immer in der letzten halben Stunde passiert war, es flossen keine neuen Tränen, er machte ein ganz und gar ausdrucksloses Gesicht.

»Willy …«, setzte sie an.

»Ich sehe, Sie haben sich seinen Namen gemerkt«, sagte Dr. Grotjahn. »Ich fürchte nur, er hat sich vorhin nicht vollständig vorgestellt.«

Er nickte knapp in Richtung des Jungen.

»Mein Name ist Wilhelm Grotjahn«, sagte Willy.

Felicitas fiel ein Stein vom Herzen. Grotjahn. »Ist er … ist er Ihr …«

»Mein Ältester, ja.«

Das Lächeln des Schulleiters wurde breiter, und Felicitas konnte es befreit erwidern. Sie würde nicht gemaßregelt werden, weil sie Herrn Moritz zur Rede gestellt hatte. Das Gegenteil war der Fall, Willy hatte seinem Vater berichtet, wie sie sich schützend vor ihn gestellt hatte.

Der Junge ließ seinen Kopf wieder sinken.

»Es war nicht notwendig, deinem Vater zu erzählen, dass …«, setzte sie gutmütig an.

»Doch!«, fiel Willy ihr ins Wort. Nicht nur, dass seine Stimme plötzlich nichts mehr mit dem verzagten Jungen gemein hatte, sondern zornig klang. Überdies machte er sich ganz steif, nahm jene soldatische Haltung ein wie die der Kinder in Herrn Moritz’ Klasse. »Doch!«, wiederholte er.

»Herr Moritz hat ihn zu mir geschickt«, schaltete sich Dr. Grotjahn ein. »Er zweifelte an dem Grund für Willys Verspätung.«

»Und das zu Recht!«, rief Willy schnell, und ehe eine Anklage gegen ihn laut wurde, deutete er mit dem Finger auf sie und fügte hinzu: »Sie haben gelogen!« Obwohl Felicitas wusste, dass sein Vorwurf nur von seinem eigenen Fehler ablenken sollte, er sich zu schützen versuchte, traf es sie, dass seine Stimme regelrecht verächtlich klang. Kurz wankte sie, stieß gegen den Stuhl, indes sich der Schulleiter gemütlich zurücklehnte, nunmehr nahezu vergnügt wirkte. Und das änderte sich nicht, als Willy mit eisiger Stimme fortfuhr: »Sie haben behauptet, dass ich Ihnen den Weg zu Ihrer Klasse zeigen musste und mich deswegen verspätet habe! Aber das ist nicht wahr! Ich muss die Konsequenzen meines Verhaltens selbst tragen.«

Beim letzten Satz huschte sein Blick zu seinem Vater, halb erleichtert, halb ängstlich – Gefühle, die nicht zusammenpassten. Es passte ja gar nichts zusammen, auch nicht diese Anklage und Dr. Grotjahns Lächeln.

Felicitas atmete tief durch. »Es stimmt«, räumte sie ein und versuchte, die Stimme zu senken, »ich habe mir eine Ausrede ausgedacht. Aber nur, weil ich dir helfen wollte. Du hast mir leidgetan, weil du so bitterlich …«

»Habe ich nicht!«

»… weil du so bitterlich geweint hast!«, erklärte sie energisch. »Das ist nicht schlimm, jeder Mensch darf weinen, auch Jungen, denn …«

»Jungen haben hart wie Spartaner zu sein«, fiel Willy ihr erneut ins Wort. »Der Sohn eines Spartaners hat einmal einen Fuchs gestohlen, und als man ihn erwischte, hat er ihn unter seinem Mantel versteckt. Er hat seine Tat mit gleichgültigem Gesicht geleugnet, obwohl ihm der Fuchs die Brust zerbiss. Niemand hat bemerkt, welch höllische Schmerzen er ausstand.«

Felicitas kannte die Geschichte, hatte aber gehofft, dass die Professoren, die in der Schule einen Ort sahen, wo man aus Knaben solche Spartaner machte, mittlerweile ausgestorben waren.

»Der Spartanerjunge hat also gelogen, als er leugnete, den Fuchs gestohlen zu haben. Und mir wirfst du vor …«

»Ich habe wirklich nicht geweint!«, rief Willy erbost.

Zähl bis zehn, bevor du etwas sagst, sagte sich Felicitas. Sie kam gerade bis drei, dann öffnete sie ihren Mund.

Direktor Grotjahn kam ihr allerdings zuvor. »Es ist genug, Willy. Geh wieder zurück in deine Klasse.«

Er ließ sich zu keiner Regung hinreißen, saß mit den Armen über der Brust verschränkt, lächelte weiterhin sanft. Erst als Willy den Anschein machte zu zögern, wurde die Miene streng. Ein eisiger Blick genügte, dann fügte sich der Sohn, wenngleich er die Tür laut ins Schloss fallen ließ.

Mit dem Kinn deutete Grotjahn auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, ein Zeichen, dass sie sich setzen sollte. Felicitas blieb stehen, stützte sich lediglich auf die Lehne.

»Er hat wirklich geweint«, sagte sie schnell, »ich wollte nur helfen und …«

»Warum?«, fiel Grotjahn ihr ins Wort.

»Warum er geweint hat? Nun, weil er Angst hatte. Und Angst ist der denkbar schlechteste Lehrer. Ich finde es widersinnig, dass …«

»Warum haben Sie ihm geholfen?«

Es fiel ihr nun etwas leichter, durchzuatmen und über ihre Antwort nachzudenken. Grotjahns Miene wirkte nicht spöttisch, sondern ernsthaft interessiert. Die Feinseligkeit, die so deutlich in Willys Blick gestanden hatte, teilte er mitnichten.

»Weil ich aus diesem Grund Lehrerin geworden bin. Ich will für die Kinder da sein, sie unterstützen, ihnen … dienen. Ein Lehrer ist kein General, der Gehorsam einzubläuen hat, kein Gott, der Bewunderung und Demut erwarten kann, kein Kaiser, der stolz die Insignien seiner Macht trägt und von den Untertanen zu buckeln erwartet. Ich … ich will eine Beziehung zu meinen Schülern aufbauen, denn nur dann werden sie Freude am Unterricht, am Lernen finden.« Sie machte eine kurze Pause, leckte sich über die rauen Lippen. »Gottlob bin ich nicht die Einzige, die das so sieht. Wir leben in einer neuen Zeit, und deshalb brauchen wir neue Schulen. Freie Schulen, die experimentieren können, welche Form des Unterrichts sich am sinnvollsten erweist. Hier in Hamburg gibt es besonders viele Versuchsschulen. Gewiss, nicht jede Idee, die von großen Reformpädagogen übernommen und umgesetzt wird, stellt sich als nützlich heraus. Für mich steht gleichwohl fest, dass ein anschaulicher Unterricht, der nicht nur auf den Verstand abzielt, auch auf das Gefühl, auf alle Sinne …«

»Ich glaube, das genügt, Fräulein Marquardt.« Sie fragte sich, ob er absichtlich ihren Doktortitel vergessen hatte. Obwohl seine Miene weiterhin freundlich war, umklammerte sie den Stuhl plötzlich regelrecht. »Sie haben recht«, sagte er schließlich.

Kurz entspannte sie sich, löste ihre Hände von der Stuhllehne, machte einen Schritt auf den Tisch zu. »Ich freue mich, dass Sie …«

»Sie haben recht«, wiederholte er. »Sie scheinen eine aufrichtige Frau zu sein. Es war mein Sohn, der gelogen hat. Er hat wirklich geweint.« Ganz langsam nahm er die Hände von der Brust. Ganz langsam legte er sie auf die Tischplatte. Ganz unvermittelt formte er sie zu Fäusten, schlug auf die Platte. »Und deswegen wird er heute Abend von mir höchstpersönlich eine ordentliche Tracht Prügel beziehen.«

Felicitas war schon zusammengezuckt, als die Fäuste auf die Tischplatte geknallt waren. Nun wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück. »Aber nein!«, rief sie. »Das ist …«

»Das ist der falsche Weg, um einem Kind eine höhere sittliche Auffassung des Lebens zu vermitteln, die Liebe zum Vaterlande und Pflichtbewusstsein? Oh nein, das denke ich nicht. Und ich will keine Lehrer an meiner Schule haben, die nicht nur meinen Sohn, auch alle anderen Schüler zu verweichlichten Waschlappen erziehen.«

Er lächelte immer noch oder schon wieder. Auf seine Fäuste gestützt erhob er sich.

Sie tat ihm nicht den Gefallen, noch weiter zurückzuweichen, nur das Beben ihrer Stimme konnte sie nicht verhindern, als sie fragte: »Sie entlassen mich?«

»Wie Sie schon sagten – den Schulen kommen immer mehr Freiheiten zu. Sie können verschiedene Unterrichtsformen erproben und selbst entscheiden, welche Lehrer sie einstellen oder nicht. Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht, als ich einzig auf Ihre fachliche Qualifikation gesetzt habe, nicht auf Ihre persönliche Eignung. Anders als meinem Sohn bereitet es mir aber keine Schwierigkeiten, diesen Fehler einzugestehen und die Konsequenzen zu ziehen. Verlassen Sie umgehend das Schulgebäude, Fräulein Marquardt.«

Diesmal war sie sich sicher, dass er ihren Doktortitel absichtlich unterschlagen hatte.

Hamburg war ihr nicht gänzlich fremd. Sie war in der Stadt geboren worden, hatte sie aber als achtjähriges Mädchen verlassen, als ihre Zieheltern sie mit nach Lüneburg genommen hatten. Die Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre im Hafenviertel waren nur mehr verschwommen. Das verwilderte Mädchen von damals hatte nichts mit einer Lehrerin gemein gehabt und kein Wort Latein beherrscht, dafür gewusst, wie man feinen Damen, die die Seebäderschiffe bestiegen, unbemerkt Stoffblumen von ihren Hüten zupfte und wie man Postkarten von den Straßenhändlern klaute. Jene vom Elbtunnel waren für die Kinder vom Hafenviertel von besonders hohem Wert, wer insgesamt die meisten Karten besaß, galt als König. Zur Königin hatte sie es nie gebracht, gefürchtet und respektiert war sie trotzdem worden, weil sie dank ihrer zielgenauen Kinnhaken noch aus jeder Rangelei als Siegerin hervorgegangen war. Doch das war lange her, und was immer sie damals fürs Leben gelernt hatte – es war nicht genug gewesen, um den ersten Schultag zu überstehen.

Es begann dunkel zu werden, als Felicitas ins Gängeviertel zurückkehrte, wo sie für die Anfangszeit ein billiges Pensionszimmer angemietet hatte. Sie war durch die Stadt gelaufen, bis ihr zu kalt geworden war, hatte mit jedem Schritt wahlweise den Schulleiter oder seinen Sohn verflucht, doch irgendwann war der Grimm verraucht und zurück nur der Wunsch geblieben, ins Bett zu sinken und Vergessen zu finden.

Auf die breiten Straßen fiel noch Abendlicht, die schmalen Gassen, wo der faulige Geruch der nahen Fleete – Kanälen, die aus den Mündungsarmen der Alster in die Elbe hervorgegangen waren – festhing, lagen im Schatten. Verwaist waren sie dennoch nicht. Ein Kohlenträger, der auf seinem Rücken einen Korb mit Kohlen, Koks und Briketts schleppte, drängte sich an ihr vorbei, ein Bierkutscher blaffte sie an, weil sie seinem Wagen im Weg stand. Gegenüber räucherte eine Fischfrau Salzheringe auf langen Spießen und bot ihr einen an. Felicitas war durchaus hungrig, aber als ihr der Geruch in die Nase stieg, wurde ihr plötzlich übel.

Sie ging schnell weiter, erreichte das Gast- und Logierhaus, das neben dem Laden eines Drechslermeisters lag. Ich kann ja noch den Kuchen essen, dachte sie, obwohl der wahrscheinlich endgültig zu Krumen zerfallen war.

Sie stieg die schmale, bei jedem Schritt knarrende Treppe hoch. Von der Wand löste sich die violette Tapete, aus der Etagengemeinschaftstoilette auf dem Treppenabsatz drang ein säuerlicher Geruch. Ein Gerücht besagte, dass die Dame, die einen Stock über ihr unter dem Dach wohnte, die Toilette mied und ihren Topfinhalt direkt in die Regenrinne kippte. Felicitas konnte ihr nicht verdenken, dass sie den Gestank meiden wollte.

Sie hielt die Luft an, bis sie ihr Zimmer erreichte, atmete erst dort wieder ein. Angenehm roch es auch hier nicht, eher modrig. Und der Anblick, der sich ihr bot, war nicht erfreulicher. In dem winzigen Raum fanden gerade mal ein schmales Bett, ein Nachtkästchen mit Petroleumlampe und ein Schrank, dessen Tür klemmte, Platz. Außerdem gab es eine Waschgelegenheit, bestehend aus einem dreibeinigen Eisengestell, in dem sich unten der Wasserkrug, oben ein emailliertes Wasserbecken befanden.

Felicitas ließ sich mitsamt ihrem schwarzen Tweedkostüm aufs Bett sinken, öffnete ihre Tasche und begann die Kuchenkrumen herauszupicken. Zumindest die Mandeln waren noch ganz, sie schmeckten salzig wie die Tränen, die ihr in die Augen stiegen.

Du weinst nicht, sagte sie sich, du weinst nicht.

Dann perlten die Tränen doch über ihre Wangen. Hatte sie zu Grotjahn nicht gesagt, dass jeder weinen dürfe, auch Jungen? Warum dann nicht eine Oberlehrerin, die die erste Gelegenheit, sich zu beweisen, gründlich verpatzt hatte – ob das nun Grotjahns Schuld war, die des Bengels oder ihre eigene, weil sie zu vorlaut gewesen war. Das Ergebnis blieb ja doch das gleiche: Sie war ganz allein in einer Stadt, die sie als Kind verlassen hatte und die ihr fremd geworden war. Sie kannte niemanden hier – und jetzt war sie auch noch ohne Anstellung.

Noch aus den kleinsten Ritzen kratzte sie die Kuchenkrümel, ließ sich danach aufs Kissen sinken und deckte sich mit einer rauen Pferdedecke zu. Sie war nicht mehr hungrig, richtig satt aber auch nicht.

Die Zeit, in der sie lebte, war die beste, um Lehrerin zu sein, hatte sie sich stets gesagt. Die Welt veränderte sich, verkrustete Strukturen brachen auf, neue Ideen wurden willkommen geheißen. Und da die Bevölkerung wuchs und immer mehr Eltern ihren Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen wollten, war der Bedarf an Schulen und Lehrkräften hoch wie nie.

Leider spitzte sich die Lage ihres Berufsstandes dennoch zu. Die Wirtschaftskrise führte zu radikalen Sparmaßnahmen, die auch die Beamten trafen. Deren Gehalt war gekürzt worden, manchmal bis zu dreißig Prozent, sodass es oft hieß, der Lehrberuf sei zum Hungerleiderberuf verkommen. Und auch vor Arbeitslosigkeit war ihr Berufsstand nicht gefeit. Erst am Vortag hatte Felicitas die langen Schlangen gesehen, die sich vor dem Arbeitsamt der ABC-Straße gebildet hatten. Es war ein lustiger Straßenname, nur die Gesichter waren nicht lustig gewesen, sondern grau, verzagt, resigniert. Sie hatte nicht entscheiden können, ob die wartenden Menschen ein Fremdkörper inmitten der vielen Geschäfte, wo Fotografien, Zigarren und Goldschmuck angeboten wurden, waren. Oder vielmehr die Geschäfte ein Fremdköper in einer Welt, in der selbst Menschen mit guter Ausbildung in der Gosse landen konnten. Menschen wie sie.

Trotz Pferdedecke begann sie zu frösteln. Ihr Blick fiel auf den kleinen Ofen, der in einer Zimmerecke stand. Daneben lag ein Stapel Holzscheite, auch ein Kienspan, um Feuer zu entfachen. Allerdings war sie gewarnt worden, dass das Rohr verrußt sei, und das Letzte, was sie brauchte, war eine verrauchte Stube. Es hatte zudem sein Gutes, dass es kalt war. So war sie gezwungen aufzustehen, winzige Kreise zwischen Bett, Waschtisch und Schrank zu ziehen. Hatte sie nicht erst am Morgen den Kindern vermitteln wollen, dass Bewegung die Gedanken anregte? Vielleicht würde ihr so eine Idee kommen, was sie nun tun sollte!

Bedauerlicherweise fiel ihr zunächst nur ein, dass sie unmöglich nach Lüneburg zurückkehren konnte. Ihre Freundin Anneliese würde einen weiteren Kuchen backen, anstatt ihr das Scheitern vorzuhalten, doch ansonsten wartete dort leider niemand mehr auf sie. Ihre Zieheltern Fritz und Josephine Marquardt, die stets nach dem Motto gelebt hatten, dass ein Mensch nie arm war, solange er Bücher und einen wachen Geist besaß, die sich manche Mahlzeit vom eigenen Mund abgespart hatten, um ihr das Studium zu finanzieren, und die immer begeistert ihren Geschichten von der Universität gelauscht hatten, waren der Grippeepidemie zum Opfer gefallen, die Anfang 1929 im Land gewütet hatte, und sie hatte weder Geschwister noch andere Verwandtschaft.

Nein, eine Rückkehr nach Lüneburg war ausgeschlossen.

Felicitas ging immer schneller, ihre Gedanken dagegen verlangsamten sich. Sie kam auf die Idee zu fiedeln wie vor der Klasse, aber das kam ihr unnatürlich vor, sie hatte schließlich nie gelernt, Geige zu spielen. Was sie allerdings in den vielen Bars und Tanzcafés von Berlin, die sie während ihres Studiums oft besucht hatte, gelernt hatte, war zu tanzen.

Sie tanzte, wie man nur in Berlin tanzte, jener Stadt, die einer Wunderkerze glich: So schnell eine solche auch abgebrannt war – bis dahin sprühte sie laut und knisternd grelle Funken.

Aus einem dieser Funken wurde eine Idee. Berlin!, schoss es ihr durch den Kopf. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?

Nein, sie würde nicht in die Hauptstadt zurückkehren, dort war es für eine Oberlehrerin noch schwieriger, eine Stelle zu finden, als in der Hansestadt Hamburg. Aber einer ihrer damaligen Kommilitonen, den sie in Berlin kennengelernt hatte, war Hamburger. Es stimmte also nicht, dass sie niemanden in der Stadt kannte, es gab durchaus jemanden, und wenn sie sich nicht täuschte, würde er sich sehr freuen, sie wiederzusehen. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen.

Ihr war warm geworden, regelrecht heiß, doch sie hörte nicht auf zu tanzen. Sie lebte in einer Zeit, in der tanzen und lernen kein Widerspruch waren, in der es neue Schulen und neue Lehrer gab und Kinder zu neuen Menschen herangezogen wurden. Sie war eine Tochter dieser neuen Zeit, sie würde nicht so schnell aufgeben.

April

Der Schweiß perlte Emil von der Stirn.

Kein verdienter Schweiß, würde sein Vater sagen. In Gustav Tiedemanns Augen durfte man ins Schwitzen geraten, wenn man die Geschäftsbücher seines Unternehmens durchging – umso mehr, wenn dieses rote Zahlen schrieb. Auch wenn man über die Ländereien ritt, die zu seinem Landgut gehört hatten und die er irgendwann verloren hatte. Und natürlich floss Schweiß in Strömen, wenn man für das Vaterland kämpfte. Emils Bruder Gustav junior war in den Schützengräben des Großen Krieges aber wohl eher schlammverschmiert als schweißüberströmt gewesen. Und als er von einer Granate zerfetzt worden war, war Blut gespritzt.

Ein ehrenvoller Tod, hatte ihr Vater dazu gesagt. Ein ehrenvolles Leben wiederum war keines, das man am Reck zubrachte.

Emil führte dennoch blitzschnell seine Übungen aus. Felgaufschwung, Kippe, Riesenfelge, Kontragrätsche. Er spürte, wie sein Trikot feucht wurde.

»Wann hast du endlich genug?«, rief ihm ein Kollege von der Deutschen Turnerschaft zu.

Emil hielt nicht inne. Hüftaufschwung, Umschwung, Vorschwung, Salto rückwärts. Er spürte einen sachten Schmerz in der Schulter, ignorierte ihn. Es war erst genug, wenn es unerträglich wehtat.

Zumindest diese Haltung hatte Gustav Tiedemann geschätzt, ein weiterer seiner Grundsätze lautete, dass ein jeder Opfer zu bringen hätte. Wobei das, was sein Vater als eigenes Opfer bezeichnete, in Wahrheit bloß eine Ausrede war.

Dass sein Unternehmen nach dem Großen Krieg nicht mehr auf die Beine kam, war in Gustav Tiedemanns Augen immer die Schuld der anderen, nie seine eigene gewesen. Was soll ich denn tun? Deutschland hat seine überseeischen Besitzungen eingebüßt. Was soll ich denn tun? So viele Schiffe gingen als Teil der Reparationszahlungen verloren. Was soll ich denn tun? Die Währung ist so instabil, ich habe keine andere Wahl, als unseren Landbesitz zu verkaufen.

Emil wusste durchaus, was sein Vater hätte tun können. Gelenkiger werden. Gelenkig wie er, der die Bewegungsabläufe am Reck im Blut hatte. Gelenkig wie Jan Meissner, der größte Rivale seines Vaters im Kaffeehandel. Gewiss, Meissner würde am Reck hängen wie ein Hörnchen, aber er war geschäftstüchtig wie kein Zweiter. Ähnlich wie Gustav Tiedemann war er reich geworden, indem er eine Handelsniederlassung an der Mündung des Kamerunflusses gegründet hatte, von dort Kautschuk und Palmöl, später Kaffee importiert hatte. Dieser Kaffee war in Hamburg geröstet, in Tüten verpackt, per Versand samt Zuckerhüten an Hunderte von Haushalten geliefert worden.

Emil machte erneut einen Salto rückwärts vom Reck, fühlte einmal mehr einen sachten Schmerz in der Schulter, kam dennoch mit beiden Beinen auf.

Jan Meissner war nach dem Krieg nicht mit beiden Beinen aufgekommen, er war gestürzt wie alle anderen Kaffeehändler, aber als einer der wenigen hatte er sich wieder aufgerappelt, hatte sich sozusagen erneut aufs Reck geschwungen. Aus dem Welthafen Hamburg war ein Häfchen geworden. Na und? Kaffeelieferungen aus Kamerun waren nicht mehr zu bewerkstelligen, was zählte das schon? Er stellte ein Gemisch aus Zichorien, Getreide, Zuckerrübe und Feigen her und pries dieses Gesöff, das viel bitterer als Kaffee schmeckte, nur ähnlich schwarz war, als Delikatesse an. Und die Hamburger, die während des Krieges weitaus Grässlicheres geschluckt hatten, hatten sich zwar nicht an deren Geschmack erfreut, allerdings am goldenen Firmenlogo, das Erinnerungen an die guten alten Zeiten beschwor. Sie verzichteten sogar auf die Zuckerhüte. Jan Meissner musste bald auf nichts mehr verzichten. Er behielt sein Kontorhaus in der Innenstadt mit der Fassade aus glasiertem Backstein und dem mannshohen Keramikelefanten neben der Eingangstür nicht nur – er vergrößerte es um ein Stockwerk.

Gustav Tiedemann hatte seines dagegen schließen und auch die Statue des bronzenen Stammeskriegers mit Lendenschurz, Speer und Schild, die bei ihm den Eingang bewachte, aufgeben müssen. Als Kind hatte Emil Angst vor diesem Krieger gehabt, später hatte er fasziniert seine geschwellten Muskeln betrachtet. »Muskeln haben die Wilden ja, aber nichts im Hirn«, hatte Gustav Tiedemann damals gesagt. Später hatte er Ähnliches zu ihm gesagt: Muskeln magst du ja haben, aber nichts im Hirn. Du willst wirklich Turnlehrer werden? Pah! Das ist doch kein ordentlicher Beruf!

Dass Emil auch Englisch unterrichten würde, machte für Gustav Tiedemann die Sache nicht besser. Sport war bestenfalls ein Ersatz für die verbotene Wehrpflicht, nichts, womit sich das Leben bestreiten ließ. Und Englisch lernte man, weil es den Handel erleichterte, möglichst viele Sprachen zu beherrschen, nicht, um verwöhnten Blagen Vokabeln einzubläuen.

Emil schwang sich wieder aufs Reck. Kippaufschwung, Unterschwung …

»Sag!«, rief der Kollege, der sich selbst ein Handtuch um die Schultern geschlungen hatte, lachend, »bist du mit dem Reck verwachsen?«

Das nicht, aber Emil konnte die Stange trotzdem nicht loslassen, begann, sich blitzschnell um sie zu drehen. Die Erinnerungen drehten sich auch, nämlich um das letzte Gespräch, das er wenige Monate zuvor mit seinem Vater geführt hatte. So deutlich stand es ihm vor Augen.

»Sieh dich doch selbst an!«, rief Emil. »Du hast dich vom Leben prügeln lassen und bist gekrümmt liegen geblieben. Ich werde das nicht tun, ich habe im Turnverein boxen gelernt.«

»Boxen? Was für ein lächerlicher Sport! Ihr spielt im Ring das echte Leben lediglich nach. Ein Kampf, der nur eine Medaille einbringt, nicht den Tod, ist doch ein Witz!«

»Du hast den Krieg verloren, du hast den Sohn verloren, den du mehr liebtest als mich, du hast dein Unternehmen verloren, und bald wirst du auch unser Stadthaus verlieren, deinen letzten Besitz«, hielt Emil heiser dagegen. »Du bist nicht in der Situation, auf mich herabzusehen.«

Das, was er da tat, war kein Boxen. Beim Boxen kämpfte man nach Regeln und gegen einen ebenbürtigen Gegner. Sein kranker Vater war das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Er lag im Bett, trug lange Hemdhosen, Kombination genannt, darüber einen schweren Wintermantel, deckte sich obendrein mit einer Daunendecke zu. Es genügte nicht, er fror trotzdem, er fror immerzu, seit sie das große Haus nicht mehr beheizen konnten. Emil fror nicht, ihm wurde heiß, während er zwar nicht mit Fäusten, aber mit Worten auf den Vater einschlug, lange nach dessen K. o.

»Du magst behaupten, dass meine Arbeit wenig sinnvoll ist, weil man mit ihr nichts Bleibendes schafft«, schimpfte Emil auf seinen Vater ein. »Aber sag ehrlich, was ist denn von deinem Lebenswerk geblieben? Was ich meine Schüler lehre, rüstet sie für die Zukunft. Du bist an der Vergangenheit kleben geblieben, und auch wenn du sie groß nennst – sie ist in deinen Händen zu einem kümmerlichen Häuflein geschrumpft.«

Am Ende brachte Gustav Tiedemann kein Wort mehr hervor, nicht einmal ein Ächzen. Ein anderer Laut erklang, Emils Mutter Monika stand an den Türrahmen gelehnt. Wegen der Kälte trug sie ihren feinsten Mantel, den mit dem Fuchskragen. Er war viel zu groß für die schmächtige Frau, die weder als Publikum noch als Schiedsrichter taugte.

»Sag doch nicht so etwas Böses!«, rief sie mit jammerndem Unterton.

Emil fuhr zu ihr herum. Wusste sie denn nicht mehr, was der Vater ihm stets alles an Bösem sagte? Du verschwendest deine Kraft, du verscherbelst dein Talent, du machst dich lächerlich mit deinem Sport. Wusste sie nicht mehr, dass sie nie eingegriffen, ihn nie geschützt hatte?

Aber vielleicht brach sie gerade deswegen in Tränen aus.

Gewiss wusste sie noch, wann er seine Leidenschaft fürs Turnen entdeckt hatte – nach dem Tod seines Bruders nämlich, als kein Leichnam zu begraben gewesen war, ihnen nur die Erkennungsmarke zugeschickt worden war und sein Essbesteck. Als könnte man das noch gebrauchen … als könnte Monika Tiedemann jemals wieder mit gutem Appetit essen.

Emil aß viel. Er brauchte es, um stark zu bleiben, um Reck, Barren, Ringe, Sprungkasten zu bezwingen. Egal, welches Gerät, die Übungen daran hatten gemein, dass man nicht schwerfällig auf dem Boden hockte, sondern für kurze Zeit in der Luft schwebte oder durch die Luft flog, und Trauer und Hilflosigkeit nicht dorthin reichten. Turnen, das war der Kampf gegen die Schwerkraft, den er an Tagen, da im Hause Tiedemann alles so unerträglich schwer war, umso erbitterter ausfocht und gewann.

Nur den Kampf gegen seinen Vater hatte er nicht gewonnen. Das Einzige, was der ihm irgendwann entgegensetzte, war nun sein letzter Atemzug, doch wer vor einem Toten ins Ziel kam, hatte keinen Lorbeerkranz verdient. Vielleicht hatte ihn sein Vater sogar überrundet, und er hatte es bloß nicht gemerkt, weil seine Schritte nicht mehr zu hören waren, seine Stimme, sein Atem. Vielleicht stand Gustav nun in den lichten Höhen des Siegertreppchens, während er selbst auf dem Boden kauerte. Das eingefallene Gesicht des Vaters verriet jedenfalls keinen Schmerz mehr, keine Enttäuschung, keine Verachtung.

»Ich werde für dich sorgen«, sagte Emil zu seiner Mutter. »Unser Stadthaus werden wir nicht halten können, aber ich verdiene Geld als Turn- und Englischlehrer.«

Ordentliches Geld. War es auch echtes Geld?

Seine Mutter hörte nicht auf ihn, schluchzend zog sie ihren Mantel aus, legte ihn auf die Decke des Vaters – vielleicht um seinem Leib Gewicht zu geben, ihn in diesem kalten Haus festzuhalten. Doch der Vater war an einen anderen Ort entschwunden, nur seine Beleidigungen standen noch im Raum, und obwohl seine Mutter sie nicht wiederholte, widersprechen wollte sie ihnen auch nicht.

Nach der Beerdigung zog sie zu ihrer Schwester, deren Mann einen Hof im Alten Land bewirtschaftete. Zu den riesigen Gärten gehörten Ländereien, der Kachelofen im Wohnzimmer reichte beinahe bis zur Decke. Das war das Einzige, was sie ihm nach ihrer Ankunft mitteilte, seitdem hatte Emil nichts mehr gehört, und er wurde die Ahnung nicht los, dass die Mutter – raumhohe Kachelöfen hin oder her – immer noch fror. Was nutzte ein Kachelofen, wenn die Kohle fehlte, ihn zu beheizen? Und hatte sie nicht ihren Fuchspelzmantel zurückgelassen? Erst am Abend zuvor hatte er ihn in den Händen gehalten, sein Gesicht darin vergraben. Es hatte gekitzelt, er hatte niesen müssen, vielleicht war es kein Niesen, sondern ein Weinen gewesen, so genau ließ sich das nicht sagen. Das, was jetzt gerade über seine Wangen perlte, war auch salzig, aber Tränen waren es trotzdem nicht. Seltsam, dass Tränen und Schweiß denselben Geschmack hatten …

»He, Emil«, traf ihn wieder eine Stimme und riss ihn aus den Erinnerungen.

Er achtete nicht darauf, begann sich blitzschnell um das Reck zu drehen, wenn noch mehr Schweiß kam, würde nichts für Tränen übrig bleiben, oder? Und solange er sich bewegte, war er mehr als der erstarrte Sohn, der am Grab des Vaters gestanden, auf den Sarg geblickt und sich gefragt hatte, ob das, was er fühlte, Trauer oder Wut war. Wahrscheinlich war es beides gewesen, nichts Halbes, nichts Ganzes, genau wie ein Turnlehrer nichts Halbes, nichts Ganzes war, zumindest in Gustav Tiedemanns Augen und …

»Emil! Sag, hörst du nicht?« Er hielt inne, spürte die Reckstange kaum noch. »Du hast Besuch von einem zauberhaften Fräulein.«

Erst jetzt merkte Emil, dass er die Augen während der Drehungen geschlossen gehalten hatte. Er öffnete sie. Der Schweiß perlte ihm nicht nur über das Gesicht, auch das Trikot hatte sich vollgesogen, und seine Handflächen waren nass. Er konnte sein Gewicht nicht mehr halten, rutschte vom Reck. Zwar konnte er sich in der Luft etwas drehen, dennoch prallte er mit der Schulter auf. Ein tiefer Schmerz durchzuckte ihn, aber keiner, der einen Wert hatte. Er war nicht der Preis für eine geglückte Übung, er war ein Zeichen seines Versagens.

Emil wollte sich aufrappeln, konnte es nicht, glühende Nadeln stachen in seine Schultern, der Schmerz wanderte in die Brust und noch tiefer.

»Lieber Himmel, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Dann beugte es sich über ihn, dieses Gesicht, das die Erinnerung an das eingefallene des Vaters, das verweinte der Mutter wegzuschieben vermochte. Diese Frau war keine klassische Schönheit, weder ein blond gelocktes, liebreizendes Fräulein noch eines dieser dürren Mannweiber, wie sie gerade gepriesen wurden. In ihrem Gesicht schien vieles nicht zusammenzupassen: Es war etwas zu lang und schmal, das Kinn zu kräftig, die Backenknochen waren zu spitz. Er war auch kein Freund von den modernen Bubiköpfen, in deren Form sie ihr braunes Haar trug. Aber seit er sie während seines Studiums in Berlin kennengelernt hatte, konnte er sich keinen betörenderen Anblick vorstellen. In den braunen Augen inmitten des dichten Wimpernkranzes stand stets ein Lodern, ihr schlanker, wohlgeformter Körper strahlte so viel Energie aus, und der fein geschwungene Mund, der selten geschlossen war, weit öfter zu einem durchdringenden Lachen aufgerissen, schien ein Versprechen abzugeben: Ich bin stark, ich nehme es mit der ganzen Welt auf, wer sich auf mich stützt, fällt nicht.

Nun gut, gerade war er ihretwegen vom Reck gefallen.

»Felicitas …«, presste er ihren Namen hervor, der Schmerz ließ etwas nach.

»Hast du dir etwas gebrochen?«

»Ich doch nicht«, sagte er rasch, versuchte, sich wiederaufzurichten, konnte es nicht.

Plötzlich fühlte er ihre Hand auf seinem Gesicht, sie strich erst darüber, dann über seine Schulter. Er hatte oft geträumt, von ihr berührt … liebkost zu werden. Ein Schaudern nahm den gleichen Weg wie zuvor der Schmerz, lief über den ganzen Leib.

»Nicht!«, rief er. »Ich bin doch völlig verschwitzt!«

Er war nicht sicher, ob sie seinen Schweiß für echten Schweiß hielt. Bis jetzt war er sich ja auch nie sicher gewesen, ob sie ihn für einen echten Mann hielt. Sie ergriff seine Hand, zog ihn hoch. Mühelos kam er auf seine Beine.

»Ich … ich brauche deine Hilfe, Emil«, sagte sie.

Diese Worte waren ein noch größeres Wunder als ihre Berührung.

Der Schmerz ließ endgültig nach.

»Es ist ein Paradies!«, rief Felicitas und vermeinte zum ersten Mal seit Tagen, wieder frei atmen zu können. »Es ist wirklich ein Paradies.«

Eine Woche war seit ihrer Begegnung in der Turnhalle vergangen, und sie standen erneut in einer, diesmal in der von der Alsterschule in Rotherbaum. Felicitas riss beide Arme hoch, weil sie nicht wusste, wohin mit ihrer Freude, berührte dabei die Ringe. Sie ließ die Arme wieder sinken. Nicht dass sie ungern Übungen gemacht hätte, aber in ihrem schwarzen Kostüm fehlte ihr die Bewegungsfreiheit. Also begnügte sie sich mit einem Lächeln – und Emil lächelte zurück. Lächelte auf eine Weise, wie nur er lächeln konnte.

Eigentlich beanspruchte er von all seinen Muskeln die seines Gesichts am wenigsten. Seine Züge waren ebenso markant wie leblos. Wenn etwas seine Gefühle verriet, waren es seine stahlgrauen Augen, doch meist waren diese kein weit geöffnetes Tor zur Seele, sondern ein mit vielen Schlössern gesichertes. Auch sonst wirkte vieles in seinem Gesicht grau, die Ringe unter den Augen, der Bartschatten und die spitzen Wangenknochen verrieten, dass er viel öfter in Turnhallen trainierte als im Freien. Die Lippen wiederum waren, wenn er sich anstrengte, bläulich.

Jetzt aber zuckten die Mundwinkel, Emils Miene erhellte sich, aus dem undurchschaubaren Menschen, der sich gern hinter einer Cäsarenmaske verschanzte und schon ein Wimpernzucken als Schwäche, gar Verrat anzusehen schien, wurde ein durch und durch freundlicher Mann.

»Du hast doch bis jetzt kaum etwas von der Schule gesehen«, sagte er.

In der Tat hatte er sie als Erstes in die geteerte Turnhalle gegenüber vom Hauptgebäude – einem dreigeschossigen Backsteinbau mit hellen Sprossenfenstern, kaum hundert Meter von der Außenalster entfernt – geführt.

»Aber alles, was du mir von deiner Schule erzählt hast, klingt nach einem Paradies«, rief sie. Sie trat von den Ringen weg auf ihn zu, und als seine Mundwinkel wieder zuckten, bereute sie, dass sie ihn in Berlin oft abfällig als kleinen Zinnsoldaten bezeichnet hatte. Sie konnte mit Männern, die nicht durch die Welt zu gehen, sondern zu marschieren schienen, nichts anfangen, und da ihr selbst das Herz auf der Zunge lag und sie das Bluffen nicht beherrschte, hatte sie noch nie verstehen können, warum jemand aus seinem Leben ein Pokerspiel machte. Außerdem hatte sie sich manchmal belustigt gefragt, was von diesem gestählten Mann bleiben würde, wenn er in den Armen der richtigen Frau dahinschmolz. Sie würde das nicht sein, Gott behüte, Zinnsoldaten waren nicht der Typ Mann, mit denen sie durchs Leben tanzen wollte. Und dennoch, die Selbstverständlichkeit und Ergebenheit, mit der er sich jetzt für sie einsetzte, rührte sie. Und hatte sie zunächst gedacht, es würde ihren Stolz anknacksen, ausgerechnet bei einem Mann Hilfe zu suchen, auf den sie immer etwas spöttisch herabgesehen hatte, war sie jetzt regelrecht euphorisch gestimmt. »Genau das habe ich mir von einer Schule gewünscht, als ich nach Hamburg kam. Dass der Unterricht statt in Jahrgangsklassen in altersübergreifenden Lerngruppen abgehalten wird.«

»Es gibt durchaus Klassen«, berichtigte er sie schnell, »aber es stimmt: Bei den vielen Projektgruppen zählt nicht das Alter, nur die Begabung und das Interesse sind von Belang.«

Er stand da, wie er Sport machte – jede einzelne Faser war angespannt. Undenkbar, dass er jemals die Schultern hängen ließ oder sich an einen Türrahmen lehnte. Und seine Stimme klang wohltönend, sie glaubte, das Echo ihrer Begeisterung herauszuhören.

»Ich finde es großartig, dass die Schüler eigenverantwortlich arbeiten, dass in den Unterricht Spiele eingebaut werden«, sagte sie. »Dass Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden, oft fächerübergreifend, und dass ihr die Doppelstunde eingeführt habt, weswegen man sich länger mit einem Fach beschäftigen kann. Das alles klingt wie Musik in meinen Ohren.« Wieder wusste sie kaum wohin mit ihrer Freude und ihrer Aufregung.

»Na ja, unser Pastor Rahusen hält von dieser Musik das Gleiche wie vom Jazz. Er verwehrt sich strikt dagegen, dass die Religionsstunden gemeinsam mit Deutsch und Geschichte zum kulturkundlichen Unterricht zusammengefasst werden und …«

»Da wir gerade von Musik sprechen«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Es gibt wirklich ein Schulorchester?«

Er nickte. »Außerdem einen Chor und eine eigene Schulbühne, auf der regelmäßig Theaterstücke aufgeführt werden.«

»Wie schön, vor allem für die Kinder aus ärmeren Familien.« Auch das hatte sie begeistert – dass etliche Schüler nicht Familien des Mittelstands, meist liberaler Prägung, entstammten, sondern Arbeiterfamilien. Einigen wurde das Schuldgeld erlassen. »Und für dich trifft es sich gut, dass Englisch eine verbindliche Fremdsprache ist und mindestens einmal im Jahr eine Englandreise stattfindet.«

Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Deswegen wurde ich schließlich eingestellt. Turnstunden gibt es nicht so viele. Obwohl die Hamburger Schulverwaltung seit Jahren die tägliche Leibesübung einführen will, sieht der hiesige Stundenplan nur zwei Stunden Sportunterricht in der Woche vor.«

Schlich sich etwa Bitterkeit in seine Stimme? Verriet diese, dass hier, wie an vielen anderen Schulen auch, auf die Turnlehrer herabgesehen wurde?

»Na, einen gewissen Einfluss musst du schon haben, nur deinetwegen kann ich mich heute hier vorstellen.«

Sie trat auf ihn zu, wollte ihm eigentlich eine Hand auf die Schulter legen, stupste ihn stattdessen in seinen Bauch. Sofort spannte er diesen an.

Ja, ja, dachte Felicitas gutmütig grinsend, ich habe schon verstanden, du bist nicht nur aus Zinn, du bist aus Stahl. Aber das hielt sie nicht davon ab, weiter zu schwärmen – nunmehr von den Gruppenarbeiten.

»Manchmal artet das schon in Chaos aus«, gab Emil zu und schien sich erst etwas zu entspannen, als sie zwei Schritte von ihm wegtrat.

»Oh, du redest mir das Paradies nicht klein.«

»Ich will nichts kleinreden. Ich will allerdings auch nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.«

»Ich weiß ja, vor dem Tor dieses Paradieses wacht ein Zerberus namens Rektor Freese.«

»Oscar Freese ist nicht das Problem«, sagte er. »Um Latein weiterhin als Wahlfach anzubieten, sucht er schon seit Langem händeringend einen Altphilologen. Aber er kann für Neubesetzungen von Lehrerstellen nur Vorschläge machen. Das Lehrerkollegium stimmt dann darüber ab, und das Ergebnis ist bindend. Leider ist das Lehrerkollegium an der Alsterschule ziemlich zerstritten. Einige Lehrer denken zwar wie du, andere wiederum …«

Er machte eine vielsagende Pause, und Felicitas seufzte. Sie kannte Gleiches von der Universität: Während manche Professoren unaufhörlich aus Friedrich Fröbels Menschenerziehung, Maria Montessoris Entdeckung des Kindes oder auch aus den Werken eines Johann Heinrich Pestalozzi oder Rudolph Steiner zitierten, und für Studenten wie sie diese Werke der Bibel gleichkamen, konnten andere mit der Reformpädagogik weitaus weniger anfangen. Manche wie Dr. Grotjahn sahen darin gar ein Übel.

»Und du hast leider nur eine Stimme …«

Ein anderer hätte hilflos die Hände gerungen, bei ihm zuckte höchstens das Augenlid und auch das kaum merklich.

Felicitas trat wieder zu ihm, und diesmal legte sie doch eine Hand auf seine Schulter, und sei es nur, um ihrer Nervosität nicht nachzugeben. Anstatt sich wieder anzuspannen, wurde sein Blick weich wie nie, und ein neuerliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

»Ich wünschte, ich könnte noch mehr für dich tun«, sagte er hastig. Rasch presste er die Lippen aufeinander, als gälte es, ihnen zu beweisen, dass er allein seine Regungen kontrollierte. »Die Konferenz beginnt gleich«, erklärte er nun wieder ausdruckslos.

Felicitas hatte die halbe Nacht über die Worte gegrübelt, mit denen sie dem Lehrerkollegium gegenübertreten wollte. So eng ihr die Kehle gerade wurde und so groß der Klumpen im Magen, fragte sie sich allerdings, ob sie diese selbstbewusst hervorbringen könnte. Sie sah auf ihre Uhr.

»Ich glaube, wir haben noch etwas Zeit.«

»Zeit wofür?«, fragte er gedehnt.