Die blitzenden Waffen - Robert Pfaller - E-Book

Die blitzenden Waffen E-Book

Robert Pfaller

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Beschreibung

Ein ebenso glänzender wie scharfsinniger Beitrag zur jahrtausendealten Debatte über Wesen und Form, Essenz und Oberfläche, Argument und Rhetorik Warum lieben wir bestimmte Autos – und oft nicht die nützlichsten? Warum berührt uns ein bestimmtes Kunstwerk, während andere uns kalt lassen? In welchen Worten muss ein guter Ratschlag formuliert sein, damit er beim Gegenüber Wirkung zeigt? In seinem neuen Buch untersucht der Philosoph Robert Pfaller Funktion, Bedingung und Wirkungsweise der Form, um ihrem Geheimnis auf die Spur zur kommen – ihrer Macht. Schon Quintilian wusste: »Ein Redner muss nicht nur mit scharfen Waffen kämpfen, sondern auch mit blitzenden.« Robert Pfaller geht einen Schritt weiter: Er erklärt, warum überhaupt nur blitzende Waffen scharf sein können. Der Bestseller-Autor von »Erwachsenensprache« und »Wofür es sich zu leben lohnt« räumt auf mit unserer Vorstellung, wir würden uns von Oberflächen nicht täuschen lassen und direkt in die Tiefe der Dinge blicken. Stattdessen postuliert Robert Pfaller ein sehr viel komplexeres Beziehungsgefüge: die Dialektik von Form und Inhalt.

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Seitenzahl: 305

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Robert Pfaller

Die blitzenden Waffen

Über die Macht der Form

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Inhalt

[Motto]Kapitel 1 Die blitzenden Waffen. Das Formelement im Leben, in der Kunst und in der WissenschaftKapitel 2 Straight lines und punch lines. Oder wie man etwas auf den Punkt bringt01 Die Deckung und der Durchbruch02 »Den Sack zumachen«: die Schließung03 Wenn die Schwachstelle zum Vorzug wird: die magische Verwandlung04 Der Grund der Leidenschaft: eine Leerstelle im Objekt. Das »gewisse Etwas«05 Das Erhabene. Der Kitsch. Und Kommissare in alten Autos06 Worte, die etwas bewirken. Das punctum und die Achsen der KommunikationKapitel 3 How Art Matters and How it Means: Über Materie und Bedeutung in der Kunst0102030405Kapitel 4 Zweifelhafte Berührung – berührender Zweifel01 Berührung als Zweifel: Gegen den Überschuss des Sehens02 Berührung und ihr Überschuss: der Erfolg des Komischen03 Der eine berührt, der andere weiß04 Das Fehlende berühren05 Zum Berühren bringen06 Vom Gesehenen berührt werden07 Affirmativer und verändernder Zweifel08 Die skeptische Berührung der KunstKapitel 5 Die Lüge, die Wahrheit, die Kunst01 Wahrheitsbesessenheit und Scheinsvergessenheit in der Kunst02 Ohne Fiktion keine Wahrheit03 Ohne Lust keine Auflösung bestehender Identifizierungen04 Von dort aus sprechen, wo man nicht steht05 Weiße Lüge und schwarze Wahrheit in der Kunst: Fast und Schlingensief06 Zur Theorie der Form07 Zur Kritik der FormfeindlichkeitKapitel 6 Mode: Das närrische Objekt und die Vernunft seiner Theorie01 Der Geschmack der Anderen02 Vom Späteren zum Früheren03 Das innere AußenKapitel 7 Was den Geschmack der Stadt verrät0102 »Wir sind hier ein Stadtcafé, und was Sie da mach’n, is a Schweinerei«03 Städtische Gemüter auf Landpartie04 Spielen müssen. Humor als Gebot der Höflichkeit05 Verfeinerung der Sitten, Fiktionalisierung der Illusionen06 Kosmopolitisches Maskenspiel07 Sex, Fiktion und Stadt08 Wenn alle Hüllen fallen: die Krise der Fiktion09 Das gewisse Etwas, der Fetisch und die Stadt1011 Der Baby-Boom der anti-urbanen Kräfte: Re-Tribalisierung und neue Infantilität14 Urbane WildeLiteraturverzeichnisPersonen- und Begriffsregister

»Der Redner muss nicht nur mit scharfen Waffen kämpfen, sondern auch mit blitzenden.«

Quintilian[1]

»Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig.«

Roland Barthes[2]

»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.«

Walter Benjamin[3]

Kapitel 1Die blitzenden Waffen. Das Formelement im Leben, in der Kunst und in der Wissenschaft

01

Um mit einer Rede das Publikum zu überzeugen, müsse der Redner – so lehrt der antike Rhetoriker Quintilian – »nicht nur mit scharfen Waffen kämpfen, sondern auch mit blitzenden«.[4] Nicht die Argumente alleine überzeugen also, sondern auch eine bestimmte Form ihrer Darstellung. Diese Macht der Form zeigt sich auf vielen Ebenen: Warum verfangen bestimmte Werbeslogans und andere nicht? Was lässt uns bestimmte Autos lieben – und keineswegs nur diejenigen, die wir am nützlichsten oder qualitativ am hochwertigsten finden? (Und wie muss eine Werbung operieren, um gerade solche zwiespältigen Autos attraktiv erscheinen zu lassen?)

Was ist es, das einen wissenschaftlichen Titel nicht nur informativ und klar macht, sondern auch die Leser neugierig werden lässt und sie mit Lust auf die Lektüre infiziert – ja vielleicht sogar seiner These erst Relevanz, Plausibilität und Überzeugungskraft verleiht? Was berührt uns an einem bestimmten Kunstwerk, während andere Arbeiten uns kalt lassen? Warum kann eine bestimmte psychotherapeutische Intervention Effekte hervorrufen, während andere, ähnlich gelagerte wirkungslos verpuffen? In welchen Worten muss ein Rat an unsere beste Freundin formuliert sein, um ihr aus einem Schlamassel helfen zu können?[5]

Als Konsumenten, Freunde, Liebende; als Menschen, die Kunst betrachten, mitunter von Design oder bestimmter Architektur fasziniert sind; als Empfänger von Werbung, von Beeinflussung durch verschiedene sogenannte »soziale« Medien sowie von wohlgemeinter unterschwelliger Gesinnungsanleitung (dem sogenannten »Nudging«) und in vielen anderen Lebenssituationen erfahren wir die Macht der Form; und nicht immer in bewusster Weise. In anderen Momenten, zum Beispiel als Diskutanten, Ratgeber, Scherzende, in Gesten der Höflichkeit, als Gestaltende, Nachdenkende oder Schreibende bringen wir diese Macht selbst zum Einsatz und wissen doch nicht immer genau, was uns da gelingt (wenn es uns denn gelingt) beziehungsweise wie und warum es gelingt.

Es erscheint darum lohnend, sich darüber zu verständigen, wie dieses »Blitzen« der Form zustande kommt – und auch darüber, wie es zu bewerten ist, wenn es bei uns verfängt: als Überrumpelung oder Bestechung? Als ungewollte oder doch vielleicht willkommene Verführung? Oder aber als notwendiger, nur scheinbar entbehrlicher Anteil der Vernunft sowie des Lebens selbst?

02

Die Macht der Form, so lautet eine These dieses Buches, lässt sich am ehesten begreifen, wenn man Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Lebensbereichen, in denen sie sich zeigt, zusammenträgt und die einen als Schlüssel zum Verständnis der anderen gebraucht. Zum Beispiel die Hollywoodkomödie zum Durchschauen der Wirkungsmacht von Ratschlägen oder psychotherapeutischen Interventionen; die aus dem Alltag vertraute Höflichkeit zum Verständnis der tänzerischen Performancekunst; den Sport im Fernsehen für die Formelemente der Religion; die Paradoxien der Mode als Herausforderung für ihre Theorie; die Kunst und ihre aktuellen Schwierigkeiten im Umgang mit der Form als Symptom der Gegenwartskultur insgesamt.

Dass die Form ein besonders akutes Problem der Gegenwartskultur darstellt, lässt sich an vielen Indizien sehen. Gegen eine ganze Reihe von formalen Kulturpraktiken – wie zum Beispiel das Aufhalten einer Tür für Nachkommende, das Aussprechen von Komplimenten, das Tragen von Düften oder das Anbieten einer Zigarette – ist in den letzten, von der Postmoderne und von der neoliberalen Umverteilung geprägten Jahrzehnten immer mit vermeintlich guten Vernunftgründen heftig Stimmung gemacht worden – seien es solche der Inklusion von Fremden, der Geschlechtergerechtigkeit, der Gesundheit oder der Sicherheit. Auch wenn diese Gründe im Einzelnen manchmal triftig und zutreffend gewesen sein mögen, ist es doch auffällig und bezeichnend, dass sie immer gerade das zum Feindbild erklärten, was zum Formenzauber der Kultur gehört und als solcher das Leben lohnend macht.[6] Man könnte sagen – und das ist kulturtheoretisch ein bemerkenswerter, durchaus paradoxer Befund: Einer ganzen Kultur ist ihre eigene Formbeherrschung und -kompetenz unverständlich geworden.

03

Gerade die Kunst – als zweckfreie, müßige Lustbeschäftigung traditionell ein Betätigungsfeld der Form par excellence – ist in den letzten Jahren zu einer inhaltsschweren Fleißaufgabe verkommen. Viele Beobachter bemerken in der Gegenwartskunst einen drückenden Konsensmoralismus; eine (oft der üblichen Anleitung durch Kuratoren verdankte) Vorherrschaft des Gutgemeinten über das gut Gemachte; und eine Vielzahl von künstlerischen Arbeiten bei Großausstellungen, die in der Anschauung vor Ort auch nicht um das Geringste mehr hergeben, als es ihre Beschreibung im Katalog oder in der Presseaussendung bereits getan hat. Hat man noch vor wenigen Jahren angesichts einer in der Anschauung zunehmend komplex und rätselhaft erscheinenden Kunst deren vermeintlich neue, grundlegende Kommentarbedürftigkeit betont,[7] so hat sich die Lage inzwischen durch Weiterentwicklung gleichsam umgekehrt: gegenwärtig erscheint ein Großteil der Kunst kaum mehr anschauungsbedürftig.[8] Nichts, das man nicht schon gewusst hätte, lässt sich daran entdecken; und nichts, wovon man nicht ohnehin schon überzeugt gewesen wäre, kommt an einen heran, um einen zu berühren oder in seiner Überzeugung zu erschüttern. Die Kunst scheint fixiert auf das, was man neudeutsch content nennt. Warum unternimmt sie so wenig, um eine Form des Ausdrucks zustande zu bringen, die neugierig machen könnte, weil sie eine Notwendigkeit ihres bestimmten Soseins behauptet und nur mit hohem Verlust paraphrasierbar wäre?

Wie viele andere Felder der Gegenwartskultur zeigt das der Kunst – allerdings mit verdienstvoller, noch größerer Deutlichkeit – eine bemerkenswerte Formvergessenheit.

Und die durch die Einrichtung von Programmen künstlerischer Forschung sowie die universitäre Institutionalisierung (zum Beispiel in Form künstlerischer Doktorate)[9] begünstigte Sehnsucht der Kunst nach der Wissenschaft verrät eine verwandte Pathologie: Die Kunst sehnt sich nun plötzlich eigentümlich nach Wahrheit und vergisst dabei nicht nur, dass ihr eigenstes Feld doch der Schein ist, sondern, was noch viel schlimmer ist, dass – wie viele Wissenschaftstheoretiker versichern – ohne den Schein gar keine Wahrheit zu haben ist. Schein(s)vergessenheit ist eine Erscheinungsform von Formvergessenheit. Viele Künstler glauben heute, wissenschaftliche Texte schreiben zu müssen, um künstlerische Doktorate erlangen zu dürfen;[10] und in der Sehnsucht, sich mit Wissen vollzustopfen, um den Wissenschaften möglichst ähnlich zu werden, übersehen die Künste, wie viel Kunst schon in der Wissenschaft selbst steckt und wie ähnlich die Wissenschaften ihrerseits darum bereits den Künsten sind. Auf diesen Umstand haben zum Beispiel Hans Vaihinger in seiner »Philosophie des als ob« und Paul Feyerabend in seiner Schrift »Wissenschaft als Kunst« pointiert hingewiesen.[11] In jeder theoretischen Konstruktion steckt Phantasie; in jedem Aufsatz Erzähllust; in jedem guten wissenschaftlichen Titel ein poetisches Element; in jeder Interpretation von empirischen Daten eine gestalterische Entscheidung.

04

Quintilians Bemerkung, der Redner müsse nicht nur mit scharfen Waffen kämpfen, sondern auch mit blitzenden, lässt sich darum ohne Einschränkung auch auf die Wissenschaft übertragen. Dabei aber tritt an dem zunächst wohl plausiblen Satz eine pointierte, fast paradoxe Bedeutung erstmals zutage: Kann es sein, dass die Waffen der Wissenschaft vielleicht überhaupt nur dann scharf sein können, wenn sie auch blitzen? Ist das Blitzen also nicht nur eine mögliche Begleiterscheinung, sondern vielmehr eine notwendige Voraussetzung der Schärfe? Gibt es bestimmte »brillante« Formulierungen, ohne die Erkenntnis gar nicht zustande käme? Ist es möglich, dass die Entstehung neuer Erkenntnisse an eine Besonderheit des Ausdrucks gebunden ist – sozusagen an eine Singularität der Darstellungsweise?

Wie ist es sonst zu erklären, dass gerade die Gründungstexte neuer Wissenschaften nicht selten vor exzellenten Beispielen, Wortwitz und eleganten Formulierungen strotzen?

Ferdinand de Saussures posthum veröffentlichter »Cours de lingustique générale« von 1916 zum Beispiel[12] – der Gründungstext der strukturalen Sprachwissenschaft sowie das Methodenvorbild für strukturale Verfahrensweisen in Literaturwissenschaft, Semiotik, Anthropologie und Psychoanalyse[13] – ist ein wunderschöner Text mit auffällig vielen Illustrationen und voller anschaulicher Vergleiche. So bemerkt Saussure, dass jeder, der eine bestimmte Situation auf einem Schachbrett sieht, die Gefahren und Chancen im Spiel beurteilen kann. Es ist somit nicht erforderlich, den Verlauf der Partie von Anfang an verfolgt zu haben:

»Bei einer Partie Schach hat jede beliebige Stellung die Besonderheit, daß sie von den vorausgehenden Stellungen völlig losgelöst ist; es ist ganz gleichgültig, ob man auf diesem oder jenem Wege zu ihr gelangt ist; derjenige, der die ganze Partie mit angesehen hat, hat nicht den leisesten Vorteil vor dem, der neugierig hinzukommt, um im kritischen Moment die Stellung auf dem Schachbrett zu überblicken; um diese Stellung zu beschreiben, ist es ganz unnütz, zu berichten, was auch nur zehn Sekunden vorher sich abgespielt hat. All das findet in genau gleicher Weise auf die Sprache Anwendung und bestätigt den tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Diachronischen und dem Synchronischen.«[14]

Mit diesem Vergleich macht Saussure eine neue Art von Sprachwissenschaft denkbar, die nicht wie die bisherige Philologie historisch (»diachron«) nach den Gesetzen der Sprachentwicklung fragt, sondern vielmehr »synchron« beziehungsweise »struktural« die aktuellen, zwischen den sprachlichen Zeichen bestehenden Beziehungen und Wertverhältnisse untersucht. Nur so lässt sich in der Folge die Sprache als ein System von »Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder« charakterisieren – mithin, wie Saussure betont, als eine »Form«, und nicht als »Substanz«.[15]

Man möchte sich fragen: Ist das Beispiel des Schachspiels hier nur die Erläuterung eines bereits zuvor entwickelten Gedankens? Oder wäre dieser Gedanke jemals überhaupt denkbar und plausibel geworden ohne diesen grandiosen Vergleich?

Nicht viele Kommentatoren des »Kapital« von Karl Marx haben darauf hingewiesen (oder gar den Umstand zu analysieren versucht), dass dies ein Text ist, der fast auf jeder Seite einen brillanten Witz bietet. Dieser Gründungstext einer neuen Wissenschaft – sei es einer »kritischen«, von der Blindheit der klassischen Ökonomen befreiten politischen Ökonomie, oder gar der Geschichtswissenschaft als solcher, wie manche Autoren meinen[16] – ist, obwohl er ja von oft kläglichen Zuständen handelt, ein regelrechtes Feuerwerk an Pointen. Zum Beispiel kritisiert Marx die Auffassung des Oxforder Ökonomen Nassau W. Senior, der meinte, nur in der letzten Stunde eines Arbeitstages werde von den Arbeitern Mehrwert produziert. Um die Lächerlichkeit dieser Auffassung spürbar werden zu lassen, übertitelt Marx den entsprechenden Abschnitt mit der Überschrift »Seniors ›Letzte Stunde‹«.[17] Und er ruft den »jammernden Fabrikanten« zu: »Wenn einmal euer ›letztes Stündlein‹ wirklich schlägt, denkt an den Professor von Oxford.«[18]

Dass der antike Philosoph Demokrit Humor besessen habe, wurde von manchen Philosophiehistorikern bezweifelt[19] – obwohl er doch traditionell »der lachende Philosoph« genannt worden war. Dabei findet sich unter dem Wenigen, das vom Begründer des antiken Atomismus überliefert ist, geradezu ein Bonmot par excellence. Es lautet: »Das Nichts existiert nicht mehr als das Ichts.«[20] Demokrit erfindet also extra ein absurdes Wort; einen Ausdruck, bei dem die im Wort »Nichts« enthaltene Negation abgezogen ist, um die Absurdität der Idee einer Existenz des Nichts nicht nur zu behaupten, sondern auch spürbar werden zu lassen. Wenn das kein brillanter Witz ist, dann fragt sich, was ein antiker Autor eigentlich tun muss, um der Nachwelt als humorvoll auffallen zu können.

Michel de Montaigne, der mit dem Essai eine bestimmte Form und Methode philosophischen Nachdenkens begründete, lässt seine Überlegungen auffällig oft in Verse münden.[21] Nicht selten aber liefert er auch Pointen, die zum Lachen reizen, wie zum Beispiel die folgende:

»Wir Männer werden unsren Witwen, so sie ein Leben lang mit uns gelacht haben, gern gestatten, auch hernach zu lachen.

Könnte man aber nicht vor Groll wiederauferstehn, wenn eine, die mir, während ich war, ins Gesicht spuckte, nun, da ich zu sein aufhöre, mir die kalten Füße warmreiben will?«[22]

Selbst ein Philosoph, der sich spürbar qualvoll an Fragen der Religion abarbeitete wie Blaise Pascal, vermochte eine überaus heitere und schöne Darstellungsweise zu entwickeln. Er findet bestechend knappe, elegante und pointierte Formen für seine »Pensées«, die nicht so sehr Fragmente als vielmehr mehrfach einsetzbare und multipel kombinierbare Idealmodule – sozusagen perfekte Gedankenkristalle – zu bilden scheinen. Und Pascal ist, entgegen möglicher Erwartungen, ein überaus witziger Autor. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn er bemerkt,

»Leugnen, Glauben und Zweifeln sind für den Menschen, was das Laufen für das Pferd ist.«[23]

05

Dass der Witz nicht nur eine Form populärkultureller Belustigung ist, sondern vielmehr eine gestalterische Leistung und ein unverzichtbarer Teil rhetorischer Kunst, ist ein Gedanke, der uns heute fremd erscheinen mag. Er war jedoch in den Rhetoriken der Antike sowie der frühen Neuzeit eine allgemein geteilte Überzeugung. Klaus-Peter Lange hat dem Thema der pointierten Formulierungen, der sogenannten »acutezze« bzw. »argutezze«, in der Rhetorik des 17. Jahrhunderts bei Autoren wie Emmanuele Tesauro, Matteo Pellegrini und Balthasar Gracián eine schöne Studie gewidmet. Aristoteles hatte die Unterscheidung eingeführt zwischen einer »flachen«, klar, aber banal anmutenden Sprechweise und einer zwar etwas weniger klaren, dafür aber »erhabenen«, edel, fremd und mithin interessant und gefällig klingenden.[24] Zur letzteren zählen die Autoren des 17. Jahrhunderts auch die gewitzten, mit »ingeniösen« Formulierungen, Metaphern und anregenden Schlussfolgerungen gewürzten Formen des Sprechens, deren Herstellungsverfahren sie untersuchen.[25] Als Antrieb zum pointierten Sprechen erscheint diesen Autoren die Gefahr der Langeweile – verstanden als »widerwillige Reaktion des Intellekts auf eine Welt, die ihm nichts zu tun gibt«.[26] Ein typisches Verfahren zur Vermeidung von Langeweile ist nach Auffassung Tesauros wie Pellegrinis die Verkürzung der Formulierung.[27] Dies ist, wie Sigmund Freud gezeigt hat, auch das typische Verfahren des Witzes.[28]

Zugleich stimmen die Autoren der Antike wie der frühen Neuzeit darin überein, dieser Sprechweise eine soziale Bestimmung zu geben: dieses gewitzte Sprechen wird als »urban« bezeichnet.[29] Es hat offenbar den Stadtstaat beziehungsweise die Polis zu seiner Entstehungsbedingung und zu seinem Lebenselement. Und es ist seinerseits konstitutiv für menschliche Geselligkeit[30] – wenn nicht sogar für das spezifisch Humane und das Glück der menschlichen Existenz.[31] Die ästhetischen und ethischen, ja sogar die politischen Dimensionen der »blitzenden« Sprechweise werden von den Autoren also sehr weitgehend ausgeleuchtet. Nicht allzu viel aber verraten sie über die uns beschäftigende Frage, ob das gewitzte Sprechen auch eine theoretische, auf die Produktion von Erkenntnis bezogene Dimension besitzt.

Immerhin bemerken die Autoren, dass die Metapher oft eine produktive Funktion besitzt – sie bezeichnet nicht nur etwas, das ebenso gut auch einfacher hätte benannt werden können, auf übertragene Weise; vielmehr wird die Übertragung gerade auch dort eingesetzt, »wo das eigentliche Wort fehlt«.[32] Dementsprechend beschreiben die neuzeitlichen Autoren, ähnlich wie auch Aristoteles,[33] den Scharfsinn, das »ingegno« (das Vermögen der pointierten Formulierung) als produktiv und schaffend, den klaren Verstand (die »prudenza« beziehungsweise das »giudicio«) hingegen als etwas, das lediglich bereits Bestehendes entdeckt.[34]

Dieses innovative Element des »ingegno« aber betrachten die Autoren kaum als etwas Erkenntnisförderndes. So setzen sie das ingeniöse Element als etwas vorwiegend Ästhetisches dem Intellekt als einem dem Erkennen verpflichteten Vermögen entgegen.[35] Hatte Aristoteles zwischen der »flachen« und der »ingeniösen« Sprechweise lediglich einen graduellen Unterschied an Klarheit veranschlagt,[36] so sehen die neuzeitlichen Autoren hier eine qualitative Differenz. Die intellektuelle Funktion dient dem Lehren; die ingeniöse hingegen dem Erregen sowie dem Erzeugen von Genuss:[37] Die gewitzte Formulierung erzeugt bei den Zuhörern Begeisterung, Bewunderung und Glück.[38] Auch Quintilian hatte hier eine scharfe, qualitative Differenz gesehen, indem er von den intellektuellen Bestandteilen des Redenverfassens, der Versammlung der Gedanken (inventio) und ihrer Anordnung (dispositio), bemerkte, diese Aufgaben bedürften keines besonderen Talents; die gestalterischen Bemühungen (die elocutio) hingegen hielt er in hoher Wertschätzung: Sie ehrten den Sprecher und richteten sich nicht nur an Experten, sondern erreichten auch die Masse des Publikums, das »wie besessen« vom Affekt des Genusses erfasst werde.[39] Trotz dieser abermals vorwiegend ästhetischen Zuordnung der elocutio bei Quintilian ist allerdings auffällig, dass er diese, ähnlich wie Aristoteles,[40] im Ablauf der Redeerstellung gleich nach der inventio einordnet, mithin noch vor der dispositio.[41] Die Wortfindung kommt für ihn also gleich nach der Motivsammlung und noch vor der Erstellung der Gedankenabfolge. Dies könnte als Indiz dafür gelesen werden, dass Aristoteles und Quintilian der Gestaltung der Formulierungen nicht nur eine nachträgliche, schmückende oder reizsteigernde Wirkung zuerkannten, sondern auch eine erkenntnisleitende Funktion.

Immerhin bemerken die Autoren übereinstimmend, dass die pointierte Rede von hoher »Beweglichkeit« (»destrezza«) des »ingegno« zeugt.[42] Mithin mag sie vergleichbare Beweglichkeit vielleicht auch in den Zuhörern zu erwecken, die sich für sie begeistern. Das Glück der Zuhörer könnte sich, wenn man Spinozas Theorie der Freude zugrunde legen möchte,[43] gerade einem solchen Zugewinn an gedanklicher und verbaler Beweglichkeit verdanken.

Außerdem stellen die Autoren fest, dass das pointierte Formulieren vor Trübsinn schütze und dem Intellekt »Erholung« verschaffe.[44] Tesauro schreibt:

»So wie die Ruhe die Erholung des Körpers ist, so ist der Scherz die Erholung des Bewußtseins. Aber keine ruhende Erholung und auch keine gedankenlose, denn der Intellekt ist eine geistige Fähigkeit, und der Geist, wenn er nicht vom Schlaf gebunden ist, ist so lange tätig, wie er lebt, weil sein Leben Tätigsein ist.«[45]

Diese Passage mag ein wenig an die zuvor zitierte heitere Bemerkung Pascals über das menschliche Zweifeln und das Laufen des Pferdes erinnern. Sie hat eine ähnliche, interessante Pointe: Die Erholung des Intellekts besteht nicht im Ruhen der Gedanken, sondern lediglich in einer anderen Art ihrer Bewegung. Man muss die Gedanken offenbar manchmal frei laufen lassen, damit sie sich danach wieder besser gezielt bewegen lassen.[46] In ähnlicher Weise versuchen alpine Skirennläufer manchmal gerade durch freies Skifahren im Training ihre Slalom- und Riesentorlauftechnik zu verbessern.

In diesem Vergleich Tesauros klingt ein gewisser philosophischer Materialismus in der Auffassung des Geistes an, der für die Antwort auf unsere Fragestellung von zentraler Bedeutung ist. Der Geist wird hier ähnlich begriffen wie der Körper. Seine Tätigkeiten, das Denken und Vorstellen, erfordern Anstrengung, ähnlich wie zum Beispiel das Heben von Gewichten. Nichts lässt sich mühelos denken oder vorstellen (und hier darf man sich nicht von dem Umstand täuschen lassen, dass das vorgestellte Heben eines Zementsacks leichter erscheinen mag als das körperlich durchgeführte. Denn nicht das Vorgestellte, sondern das Vorstellen selbst ist das, was die – je nach Aufgabe unterschiedlich große – geistige Anstrengung erfordert). Unter bestimmten Voraussetzungen fällt es dem Geist leichter, etwas zu denken, als unter anderen.[47] Möglicherweise muss er bereits in Bewegung sein, um bestimmte Ziele erreichen zu können, wohingegen er sie aus dem Stand nicht erreichen kann. Blaise Pascal bemerkt einmal:

»Jene großen Geistesanstrengungen, zu denen die Seele manchmal gelangt, sind etwas, woran sie nicht festhält; sie springt lediglich zu ihnen empor, nicht für immer wie auf einen Thron, sondern nur für einen Augenblick.«[48]

Nur für einen Moment können bestimmte Spitzenleistungen des Intellekts erbracht werden. Denn sie sind nur aus einer bestimmten Eigenbewegung heraus möglich, aus einer bestimmten Richtung, mit einem bestimmten Schwung kommend oder aus einem bestimmten Blickwinkel. Vor der gegenteiligen Annahme hat am eindringlichsten wohl Friedrich Nietzsche gewarnt:

»Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen Begriffs-Fabelei, welche ein ›reines, willenloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis‹ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie ›reine Vernunft‹, ›absolute Geistigkeit‹, ›Erkenntnis an sich‹; – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretierenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also ein Widersinn und Unbegriff vom Auge verlangt. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹ …«[49]

Fasst man den Intellekt also nach dem Vorbild des Körpers auf, also als ein Ding, das unter bestimmten Voraussetzungen zu seinen Leistungen fähig ist, und nicht (wie es in idealistischen Auffassungen oft geschieht) als einen bedingungslosen Alleskönner, dann wird erklärbar, weshalb bestimmte Gedankenbewegungen – selbst solche, die mit dem gestellten Thema nichts zu tun zu haben scheinen – notwendig sein könnten, um dieses Thema gut in Angriff nehmen zu können. Die pointierten Formulierungen könnten jene Beweglichkeit und Eigenbewegung des Denkens herstellen, ohne die es manche Bewegungen kaum oder gar nicht vollziehen kann. Der Witz des Denkens wäre nicht das Gegenteil, sondern eine notwendige Bedingung seines Ernstes.

06

Der Witz eines philosophischen Autors wie Denis Diderot ist vermutlich zu hervorstechend, um jemals von Philosophiehistorikern übersehen werden zu können – alleine schon wenn man an sein lustvolles Spiel mit vorgeschobenen Autorenschaften, angeblich gefundenen Manuskripten (wie im Fall der »Indiskreten Kleinode«) oder auch an seine – an die Effekte der Trompe-l’Œil-Malerei erinnernden – scheinbaren »Fehler«[50] etc. denkt. Dafür besteht wohl viel eher die Versuchung, jene seiner philosophischen Texte, die in raffinierter Weise die Mittel der Literatur einsetzen wie zum Beispiel den »Nachtrag zu Bougainvilles Reise«, »D’Alemberts Traum« oder den »Brief über die Blinden«, einfach bequem der Gattung der Belletristik zuzurechnen, anstatt in ihnen zentrale Gründungstexte der Aufklärung zu erkennen.

Doch dass die Philosophie manchmal literarische Verfahren anwendet – ja, dass sie manchmal vielleicht gar nicht ohne sie vorankommen kann –, bedeutet nicht, dass sie identisch wäre mit Literatur (nicht einmal mit jener, die vielleicht manchmal nicht ohne philosophische Mittel auskommt). Die von Philosophen wie Jacques Derrida mitunter zum Ausdruck gebrachte Lust, die beiden Tätigkeitsbereiche zu einem einzigen zu verschmelzen,[51] führt mit Sicherheit nicht dazu, dem vermeintlich verdrängten literarischen Element der Philosophie zu seinem Recht zu verhelfen, wie Derrida hofft. Vielmehr hilft dies wohl eher, dieses Element restlos verschwinden und seine Funktion unverständlich werden zu lassen. Entscheidend (und, wie Derrida möglicherweise zu Recht vermutet, verdrängt) ist der Umstand, dass die Philosophie in ihren Formulierungen manchmal ein wenig Poesie oder Literatur, ein Quantum Esprit oder Witz benötigt – aber sie benötigt es eben gerade, um Philosophie zu sein.[52]

In seiner Abhandlung »Pope – ein Metaphysiker?« setzt sich Gotthold Ephraim Lessing scharfsinnig mit dieser Frage des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie auseinander. Was das Beispiel des Lukrez betrifft, schreibt er: »Ich leugne nicht, daß man ein System in ein Sylbenmaß, oder auch in Reime bringen könne; sondern ich leugne, daß dieses in ein Sylbenmaß oder in Reime gebrachte System ein Gedicht sein werde.«[53] Dem ist völlig zuzustimmen. Unberührt bleibt davon allerdings die Frage, ob bestimmte philosophische Systeme nicht einen ganz bestimmten Ausdruck, zum Beispiel in Reimen, erfordern. Die Bösartigkeit und Paradoxie von Bernard de Mandevilles 1705 erschienener »Bienenfabel« und die Kühnheit ihres Gedankens wäre wohl deutlich abgemildert, würde sie nicht die liebliche Gestalt der Tierfabel und das Kindliche ihrer Verse aufweisen, in die sie die Amoralität ihrer Thesen kleidet. Um nur ein kleines Beispiel anzuführen:

»Des Bienenstockes emsige Menge

Gedieh durch seines Volks Gedränge.

(…)

Wie hat’s ein solches Land doch gut,

Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht.«[54]

Ludwig Wittgenstein hat einmal bemerkt, seiner Auffassung nach könnte eine gute und ernsthafte philosophische Arbeit zur Gänze aus Witzen bestehen.[55] Diesem Ideal am nächsten kommen wohl gegenwärtig, wie manche Kommentatoren bemerkt haben,[56] manche Bücher von Slavoj Žižek. Aber auch hier ist es wichtig, die Pointe dieses Umstandes nicht zu verpassen, indem man Žižeks Arbeit bequemerweise dem Genre der literarischen Unterhaltung zuordnet. Das Entscheidende (und Faszinierende) an Žižeks Arbeit ist jedoch, dass er den Witz, das Filmbeispiel oder eine Beobachtung aus der Alltagskultur braucht, um eine präzise philosophische Erkenntnis zu gewinnen. Bemerkenswert ist einerseits der enorme philosophische Erkenntnisgewinn, den Žižek aus seinen Beispielen zieht, und andererseits die Tatsache, dass dieser Gewinn ohne das jeweilige Beispiel nicht möglich gewesen wäre. Daran zeigt sich, dass das Beispiel bei Žižek eine ganz andere Funktion und mithin eine andere Stellung im Produktionsprozess der Theorie einnimmt, als es üblicherweise der Fall ist. Bei vielen Autoren gehört ein Beispiel zur Darstellungsweise ihrer Theorie. Sie haben eine allgemeine These und verdeutlichen diese durch einige Beispiele, so dass die These anschaulicher und verständlicher wird; oder sie versuchen der These durch eine längere Reihe analoger Beispiele Plausibilität und Beweiskraft zu verschaffen. Bei Žižek hingegen gehört das Beispiel zur Forschungsweise. Das Beispiel ist selbst ein Theorem (oder, wie es in der von Jacques Lacan begründeten Theorietradition genannt wird, ein »Mathem«).[57] Es illustriert nicht einen bereits vorhandenen Gedanken, sondern eröffnet einen neuen. Darum ist, wie Žižek einmal bemerkte, ein einziges Beispiel völlig ausreichend.[58] Denn das Beispiel erfüllt bei ihm keine induktive Funktion. Es liefert kein empirisches Material zur Aufstellung oder Bestätigung einer theoretischen Annahme.[59] Vielmehr ist das Beispiel bei Žižek selbst der theoretische Gedanke; ihm kommt bei Žižek die Würde eines philosophischen »a priori« zu. Das Beispiel fungiert hier »deduktiv«. Aus ihm werden nachfolgende Überlegungen, wie zum Beispiel eine Interpretation zur Dialektik bei Hegel, abgeleitet. So zum Beispiel bei einem von Žižeks Klassikern, dem Witz von Rabinowitsch:

»Rabinowitsch kommt ins Moskauer Auswanderungsamt und äußert den Wunsch zu emigrieren. Der Beamte verlangt von ihm zuerst eine Begründung, worauf Rabinowitsch antwortet: ›Ich habe zwei Gründe. Erstens fürchte ich mich davor, daß die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion zusammenbrechen wird und daß dann die Reaktion, wie gewöhnlich, die Schuld für alle Fehler des Sozialismus wieder den Juden in die Schuhe schieben wird – erneut Progrome …‹ Der Beamte unterbricht ihn: ›Aber das ist ja vollkommen absurd! Die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion ist unbesiegbar, bei uns kann sich nichts verändern …‹ ›Nun‹, erwidert Rabinowitsch ruhig, ›das wäre mein zweiter Grund.‹[60]

Dieser Witz dient Žižek an dieser Stelle zu einer subtilen Hegel-Interpretation, in der er verdeutlicht, dass die Hegel’sche »Antithese« bereits identisch ist mit der Synthese, nur aus einer anderen Perspektive betrachtet. Das Beispiel gehört in Žižeks Arbeitsweise somit nicht zum Material, sondern vielmehr zu den Werkzeugen, zu den Präzisionsinstrumenten seiner Theorie. Dass er manche Witze mehrfach erzählen muss, rührt genau von dieser Funktion her. So wie der Physiker genötigt sein kann, eine mathematische Formel mehrmals anzuwenden, muss auch Žižek seine Witze und andere Beispiele mehrfach einsetzen, um unterschiedlichste Dinge mit ihnen zu beleuchten und zu analysieren. Ein Witz bildet für ihn gleichsam das scharfe, blitzende Messer, das es ihm erlaubt, in die Spalten verschiedener harter Nüsse zu stechen und damit deren Schalen zu sprengen.

07

Das Beispiel fungiert in Žižeks Theorieproduktion als ein Gedankenöffner. Hier stoßen wir wieder auf ein materialistisches Motiv in der Auffassung des Denkens. Was dem Denken entgegensteht, ist nicht immer nur ein Mangel an Gedanken, eine Gedankenlosigkeit. Der Öffnung des Denkens widersetzt sich vielmehr eine Geschlossenheit – ein Widerstand, gebildet aus »Kontergedanken« und »Erkenntnishindernissen«. Wie der Wissenschaftshistoriker und -theoretiker Gaston Bachelard gezeigt hat, muss jede Wissenschaft bei ihrer Entstehung sich gegen ein vorgängiges Netz an Gewissheiten, Denkgewohnheiten und Vorurteilen durchsetzen, indem sie allererst zu fragen beginnt, wo bisher nur Antworten bestanden. Dieses frühere, aus den überschüssigen Gewissheiten gebildete Wissen erweist sich als Widerstand gegen die neue Erkenntnis:

»… die geistige Tätigkeit (kehrt sich) gegen sich und blockiert sich selbst. Ein Erkenntnishindernis nistet sich auf der nicht in Frage gestellten Erkenntnis ein.«[61]

Nicht das Finden richtiger Antworten im Unterschied zu falschen, sondern die Problematisierung – also das Stellen von Fragen, wo bisher niemand ein Problem zu sehen vermochte, ist die entscheidende erste, allen neu entstehenden Wissenschaften abverlangte Leistung. Dabei muss die neue Wissenschaft, wenn sie neue Begriffe und Begriffssysteme bildet, nicht nur Neues schaffen, sondern ebenso sehr bisherige Pseudo-Begriffe zerstören. Die neue Erkenntnis kann nur entstehen, indem sie »überwindet, was im Geist selbst sich der Vergeistigung widersetzt«.[62] Gedanken sind also nicht notwendigerweise ein Vorteil für weiteres Denken; sie können es auch behindern. Als »negative Größen« üben sie buchstäblich materielle Kräfte aus, die sich anderen, neuen Gedanken und deren Kraft widersetzen. »Grundloser Optimismus«, schreibt Bachelard,

»ist insbesondere die Ansicht, Wissen diene automatisch dem Wissen, die Bildung werde umso leichter, je umfassender sie sei, der Verstand schließlich … lasse sich wie materieller Reichtum kapitalisieren.«[63]

Die neue Wissenschaft muss existierende, blendende Bezeichnungen verwerfen, die vorgeben, Lösungen zu sein, während sie in Wahrheit nur die Existenz eines Problems verschleiern.

Hier kommt bei Bachelard, neben dem materialistischen Motiv eines gedanklichen Widerstandes gegen den neuen Gedanken, auch eine psychoanalytische Überlegung zum Einsatz: die Idee eines narzisstischen Zustandes einer Theorie. Ein Denken, das sich in nicht problematisierten Evidenzen bewegt, befindet sich buchstäblich in einem narzisstischen Entwicklungsstadium; es hat den Weg zu einem Objekt der Erkenntnis noch nicht vollzogen. Wo es ein Objekt zu erblicken meint, sieht es in Wahrheit nur sich selbst – seine eigenen Vorannahmen und Gewissheiten.[64] Darum ist dieses Denken »geschlossen«.[65] Seine Antworten gehen immer den Fragen voran, die lediglich gestellt werden, um bereits existierenden, vorgefassten Antworten deren Bühnenauftritt als Antworten zu ermöglichen.

Das Blendende solcher Pseudo-Begriffe beziehungsweise Pseudo-Antworten kommt nach Bachelards Auffassung daher, dass sie »Bilder« oder »Metaphern« sind. Als solche wirken sie erkenntnisbehindernd. Die neue Wissenschaft muss darum an ihrer Stelle strikte, systematische Begriffe und echte, auf »offene« Fragen bezogene Antworten entwickeln.

Wenn die Pseudo-Antworten auch das Erkennen behindern, so haben sie andererseits doch etwas an sich, was sie aus Bachelards psychoanalytisch geschulter Perspektive interessant macht: Dort, wo sie eine Lösung vorspiegeln, signalisieren sie nämlich – gerade durch den Versuch der Verhüllung – die Existenz eines Problems. Die Metapher, schreibt Bachelards Schüler Louis Althusser, zeigt »die Existenz einer Realität [an], ohne ihren Begriff zu bilden, d.h. ihre Erkenntnis.«[66] So hat Althusser zum Beispiel demonstriert, dass die Formulierung von Marx, er habe die Hegel’sche Dialektik »vom Kopf auf die Füße gestellt«, nur eine Metapher darstellt und keine adäquate Theorie über das Verhältnis zwischen zwei Theorien liefert.[67] Aber zugleich zeigt ein solches Blendelement eben auch die Existenz eines ungelösten Problems an – es bildet das theoretische »Symptom« dieses ungelösten Problems.

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An diesem Punkt ergibt sich für die an Bachelard orientierte Wissenschaftstheorie ein interessantes Problem. Auf den ersten Blick mag es so ausgesehen haben, als würde es genügen, die »Metaphern« oder »Bilder« durch echte, rigorose Begriffe zu ersetzen. Wissenschaft wäre demnach eine grundsätzlich »ikonoklastische« Betätigung. In diese Richtung zielen auch viele Bemerkungen des frühen Bachelard.[68] Doch wenn es richtig ist, dass von den Bildern Kräfte ausgehen, die der Entstehung von Erkenntnis Widerstand entgegensetzen, dann ist es wohl notwendig, diese Kräfte durch etwas zu überwinden, das selbst stärkere Gegen-Kräfte besitzt. Darum beginnt der späte Bachelard, manchen Bildern zunehmend auch positive, erkenntnisfördernde Wirkungen zuzuschreiben. Analog dazu hat Althusser erkannt, dass das »Symptom« einer Antwort, der die Frage fehlt, nicht nur ein Hindernis gegen eine neue Erkenntnis sein kann, sondern unter bestimmten Umständen auch ein Vorbote dieser Erkenntnis – die Art, wie sich innerhalb einer bestehenden wissenschaftlichen Theorie eine neue Frage ankündigt; eine Frage, die innerhalb dieser Theorie noch keinen möglichen Platz besitzt.[69]

Auch Ludwig Wittgenstein ging, wie Bachelard und Althusser, von der Auffassung aus, dass blendende Schein-Probleme und Pseudo-Fragen den Anfangspunkt und die Herausforderung des philosophischen Denkens bilden. Die philosophischen Probleme beziehen sich nicht auf einen wirklichen Gegenstand, sondern bilden in Wahrheit sozusagen eine selbstbezügliche, gleichsam narzisstische Innenwelt des Denkens – ein »Fliegenglas«, in dem die Menschen sich gerade durch das, was sie für Philosophie halten, selbst fangen und an dessen Begrenzungen sie sich schmerzhaft stoßen. Das Philosophieren muss demnach, wie Wittgenstein vorführt, keine Antworten geben, sondern vielmehr die bestehenden Fragen als irreführend erweisen: »Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.«[70] Auch bei Wittgenstein zeigt sich also wie bei Bachelard der für die Moderne charakteristische, heiter-destruktive Impetus, hinderliche traditionelle Bildungen wegzuräumen und sie durch etwas ganz Anderes, viel Besseres, Neues – das auch eine befreiende Leere sein kann – zu ersetzen. Zugleich schreibt Wittgenstein, ebenfalls materialistisch denkend, den typischen philosophischen Scheinfragen eine bestimmte Kraft zu. Und er bestimmt, wie Bachelard, diese behindernde Kraft als die eines Bildes: »Ein Bild hielt uns gefangen.«[71]

Doch weil dieses hinderliche Bild eine Kraft besitzt, kann es nur mit Hilfe einer Gegenkraft von derselben Natur überwunden werden. Die therapeutischen Anstrengungen, die den Menschen den Ausweg aus dem Fliegenglas der Philosophie ermöglichen sollen, müssen, wie Wittgenstein meint, selbst mit Hilfe von Bildern unternommen werden. Wittgenstein schreibt:

»Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten […] Ich habe seine Anschauungsweise geändert.«[72]

Analog zum Bild bestimmt Wittgenstein auch das Beispiel als ein solches Instrument zur Eröffnung eines Auswegs:

»Wenn wir im Sumpf stecken, kann es sein, dass uns ein speziell gewähltes Beispiel sogleich herauszieht.«[73]

Nicht nur der Hinweis auf das besondere, »speziell gewählte« Beispiel, sondern vor allem auch das Wort »sogleich« verweist in dieser Bemerkung Wittgensteins auf das »Blitzen« der philosophischen Waffen. Dem Blitzen eignet etwas Plötzliches, eben »Blitzartiges« – ähnlich, wie wenn man von einem Augenblick auf den anderen fähig wird, in einem Vexierbild, in dem man bislang nur eine einzige Figur wahrgenommen hat, auch die zweite, bislang verborgene Gestalt zu erkennen.[74] Es gibt in solchen Fällen keinen graduellen, durch geduldige, methodische Schritte allmählich erzielbaren Erkenntnisgewinn. (Wie Wittgenstein bemerkt: »… ich muß zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden.«[75])

Vielmehr fällt ein Hindernis weg, das das Denken festhielt, und auf einmal ist das Denken frei. Von einem Moment auf den anderen, ohne vermittelnde Übergänge, kann es einen gegebenen Fall auf eine Weise betrachten, zu der ihm zuvor jeder Zugang fehlte. Die Kraft eines neuen Bildes oder Beispiels beseitigt die Kraft eines alten, so wie der Druck auf einen Hebel eine bislang durch eine Sperre festgehaltene Feder freisetzen und losschnellen lassen kann.

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Mit Hilfe der Theorien Bachelards, Althussers und Wittgensteins konnten wir somit einen Hinweis darauf gewinnen, inwiefern das »Blitzen« der Formulierungen in Wissenschaft und Philosophie nicht nur ästhetische, sondern auch erkenntnisbezogene, epistemologische Effekte haben kann. Dort, wo ein Denken durch bestimmte Kräfte festgehalten wird, braucht es neue, andere Kräfte, um es freizusetzen. Und diese Freisetzung kann nicht methodisch und schrittweise, sondern nur plötzlich erfolgen. Die kraftvollen, blitzenden Darstellungsweisen der pointierten Formulierungen, der Witze, der schillernden Bilder und Vergleiche etc. wirken der beharrenden Kraft des scheinbar Selbstverständlichen entgegen.

Diese beharrende, erkenntnisbehindernde Kraft ist umso gefährlicher, als die bestehenden Gewissheiten einer Gesellschaft sich selbst nicht als Bilder zu erkennen geben. Die vorherrschenden Ideologien präsentieren sich nicht als bestimmte Ideen, sondern vielmehr als unbestimmte Fraglosigkeiten.[76] Die Angehörigen einer gegebenen Gesellschaft »schwimmen« darin so wie in dem schönen Bild von David Foster Wallace die Fische in dem Wasser, von dem sie nichts wissen.[77]

Für die Wissenschaften und die Philosophie haben wir somit Grund anzunehmen, dass es Sprachen der Erkenntnisgewinnung auf der einen und Sprachen der Erkenntnisverwaltung auf der anderen Seite gibt. Die kraftvollen, »ingeniösen« Sprachen voller Witze, Vergleiche und Beispiele sind keineswegs überflüssig ornamentierte Provisorien einer ihnen insgeheim zugrundeliegenden und später freizulegenden nüchternen Klarheit. Vielmehr sind sie die unverzichtbaren coups, Blitzschläge, die nötig waren, um Erkenntnis möglich zu machen. Die trockenen und ermüdenden Darstellungsweisen hingegen, wie sie oft die sogenannte »Sekundärliteratur« charakterisieren, sind Sprachen, denen die Kraft verlorengegangen ist, die notwendig war, um das Denken aus seiner Verhaftung im Fraglosen seines sozialen Kontexts zu befreien. Die beiden Sprachen unterscheiden sich ähnlich wie in der Ethik Spinozas die geometrische von der analytischen Definition:[78] letztere gibt nur die Eigenschaften einer Sache an; erstere aber erklärt auch, wodurch diese Sache erzeugt wird. Bereits Platon hat diesen Unterschied erkannt und ihn für die Unterredungskunst im antiken Verständnis, die »Dialektik«, wie folgt formuliert:

»Es ist aber wohl das Dialektischere, nicht nur auf wahre Weise zu antworten, sondern auch auf solche Weisen, von denen der Fragende bestätigt, dass er sie versteht.«[79]