Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere - Robert Pfaller - E-Book

Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere E-Book

Robert Pfaller

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Beschreibung

»Warum lebt kaum jemand so, wie er es richtig findet?« Nach dem großen Erfolg von »Wofür es sich zu leben lohnt« treibt Robert Pfaller seine Kulturkritik in politischer Absicht weiter. Die erste Welt ist die unseres wirklichen Lebens mit allen Mühen, Frustrationen und Kompromissen. Die zweite Welt ist die der Träume, Wünsche und Illusionen. Wie hängen beide zusammen? Braucht man die zweiten, um die erste zu ertragen? Er untersucht die komplizierte Dialektik von Realität und Wunsch und entfaltet sie an so unterschiedlichen Themen wie dem Staunen, der Illusion, der Komödie oder der Katharsis, der Serie »Sex and the City« oder dem Phänomen der »Interpassivität«. Seine Diagnose: Wenn wir keine Phantasie mehr haben, aus der wir erleichtert ins Leben flüchten können, gerät uns das Leben selbst zu einem auswegslosen Alptraum.

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Seitenzahl: 321

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Robert Pfaller

Zweite Welten

Und andere Lebenselixiere

Fischer e-books

Vorwort

Dieses Buch geht der Frage nach, wovon wir träumen müssen, um etwas Anderes leben zu können. Welche fiktiven Welten müssen wir produzieren, um eine andere, wirkliche Welt realisieren oder in Gang halten zu können?

Fragen wie diese scheinen im Moment ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Im Maßstab des individuellen Lebens haben postmoderne Identitätspolitiken uns die Vorstellung nahegelegt, jeder, jede und jedes wäre nur einer, eine und eines, und sonst nichts. Dass man, gerade um etwas Bestimmtes zu sein, vielleicht noch etwas Zweites, Anderes sein, oder es wenigstens als Fiktion mit sich tragen muss, fällt gerade in der Postmoderne schwer zu denken – was möglicherweise zur unglücklichen Unabschließbarkeit der »Selbstkonstruktionen« beiträgt, mit der viele Individuen derzeit beschäftigt scheinen: Es gelingt ihnen eben bezeichnenderweise kaum jemals, jenes mythische Eine zu finden, das sie angeblich voll und ganz sein könnten und sollten. Auch im Liebes- und Beziehungsleben besteht große Unduldsamkeit gegen zweite Welten: Gemäß einer postmodernen »Verhandlungsmoral« sollen alle einfach sagen, was sie wollen, und dann, so denkt man, werden sie es doch wohl auch bekommen. Im Fernsehen erklären Ehepaare stolz oder trotzig, sie hätten keine Geheimnisse voreinander. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Liebespartner ohne jedes Geheimnis meistens auch als reizlos empfunden werden und dass der Verzicht auf jegliche Fiktion auch die Wirklichkeit des Liebes- und Sexuallebens zum Erliegen bringt.

Auf politischer Ebene hat die Postmoderne uns mit dem »Ende der großen Erzählungen« vertraut gemacht. So scheint es, dass nur frühere Epochen an etwas Bestimmtes geglaubt hätten, während sie munter etwas anderes zur Realisierung brachten. Wir dagegen glauben angeblich an nichts mehr, und das mag unsere Unfähigkeit zu jeglichem Handeln und zum politischen Engagement erklären. Freilich aber erklärt es andererseits nicht die beeindruckende Initiativkraft, mit der die Profiteure der internationalen Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten sich selbst sehr reich und die Gesellschaften unerwartet arm gemacht haben. Unter der Annahme, dass hier nichts geglaubt worden wäre, wird übersehen, welche Einbildungen zu solchen Aktivitäten nötig waren und in welchen Institutionen und politischen Maßnahmen diese Einbildungen materielle Gestalt annehmen mussten, um die neoliberalen Wirklichkeiten zu stützen. Ohne die Erkenntnis der idyllischen zweiten Welten, die hier am Werk waren, übersieht man auch, welche Chancen es gibt, den grausamen ersten Welten Schwierigkeiten zu machen. Die verbreitete Vorstellung von der Ungreifbarkeit des neoliberalen Feindes, jenes mythischen »1 percent« von Nutznießern, würde sich schlagartig ändern, sobald man in Betracht zieht, wie viele kleine Nebenprofiteure und pseudopolitische Komplizen nötig waren, um den großen Profiteuren ungestörtes Arbeiten zu ermöglichen. Wer den einen, großen Feind nicht finden kann, tut vielleicht gut daran, sich mal nach dessen vielen kleinen Gehilfen umzusehen.

So sehr die Postmoderne also die Individuen zur Einheitlichkeit mahnt, erlaubt sie sich selbst in ihrer neoliberalen Wirklichkeit ein Doppelleben – einen Paarlauf von Großprofiteuren und Kleinbeschwichtigern. Die Individuen werden homogenisiert; alles Zweite, Randständige sollen sie in ihrem Ich unterbringen. Die Gesellschaft dagegen fährt mindestens zweigleisig, aber dies bleibt aufgrund unserer zunehmend homogenisierten Sehgewohnheiten mehr und mehr unsichtbar.

Freilich treten in der Postmoderne auch tatsächlich homogen anmutende Individuen auf: Sie sind zum Beispiel ganz Primitive (etwa als rückhaltlose Komatrinker), total Schamlose (in Gestalt pornofixierter Unterschichtler), völlige Idioten, vollkommen Hilflose und Schwache etc. Allerdings sind diese neuen Phänomene, wie wir zeigen möchten, immer Effekte ihrer Betrachtung. Diese Leute »sind« deshalb so, weil sie das Gefühl haben, dass es jemanden gibt, der sie gerne so sehen möchte. Für diese Zusammenhänge hat Sigmund Freud den Begriff der »Übertragung« entworfen. Übertragung besteht darin, dass jemand im Verhältnis zu jemand anderem etwas produziert, was sonst, ohne Übertragung, innerhalb eines Individuums alleine, im konfliktuellen Verhältnis seiner psychischen Instanzen, verhandelt werden müsste. In der Übertragung ersetzt nun das zwischenmenschliche Verhältnis das innerpsychische. So kommt es, dass Leute im Verhältnis zu anderen zum Beispiel eine Schamlosigkeit an den Tag legen, die sie sich selbst niemals gestatten würden. Wenn es ihnen gelingt, ihr Über-Ich auszulagern und es an andere zu delegieren, dann sind sie den innerpsychischen Konflikt los, und sie können sich voll und ganz und ungeniert der einen Seite dieses Konflikts widmen – also zum Beispiel der Schamlosigkeit. Die anderen, die nun als ihr Über-Ich fungieren, werden sie dann schon einschränken oder aber – was gegenwärtig eben häufiger vorkommt – sie sogar dafür loben oder lieben.

Hier schließt sich der Zusammenhang zu den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen. Denn das, was gegenwärtig die zweite, zartbesaitete Welt eines aggressiven Umverteilungskapitalismus ausmacht, sind Institutionen und Maßnahmen, die immer unter Berufung auf vermeintlich ganz schwache Individuen ins Leben gerufen werden: Man tut etwas für die ganz Bildungsfernen oder die völlig Schutzlosen. Meistens freilich besteht das, was man auf diese Weise tut, darin, dass ein bestehender gesellschaftlicher Standard demontiert wird: Man nimmt den Leuten die Möglichkeit, sich als politische Bürger zu äußern und nicht nur als unterhaltsame Freaks; man gibt Frauen das Gefühl, ewig förderungsbedürftige Wesen zweiter Klasse zu sein, und nicht ebenbürtige, entscheidungsfähige Kräfte; man zerstört die Universitäten als Orte kritischen Nachdenkens und verwandelt sie in öde Zwangslernanstalten; und man diskreditiert im Namen von irgendwelchen hastig herbeigerufenen Phantomen unendlich Schwacher jede politische Initiative, die droht, die entscheidenden Fragen gesellschaftlicher Umverteilung zu berühren.

Die Erkenntnis der Übertragung, die zwischen den vermeintlich homogenen Individuen und denjenigen besteht, die sie so schwach sehen wollen, ist darum gegenwärtig von entscheidendem politischem Wert: Sie bedeutet nicht weniger, als den grausamen Beraubungspolitiken der Gegenwart jenen Deckmantel aus zartfühlenden Rücksichten zu entziehen, den sie zu ihrer Durchführung nötig haben.

Beträchtliche Teile dieses Buches sind im Rahmen des Forschungsprojekts »Übertragungen. Psychoanalyse – Gesellschaft – Kunst« entstanden, das von der Forschungsgruppe für Psychoanalyse »stuzzicadenti« 2009 bis 2011 durchgeführt und vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) gefördert wurde; andere Teile entstanden im Zusammenhang meiner universitären Forschungs- und Lehrtätigkeit; weitere schließlich durch Anregung und Auftrag bestimmter Wissenschafts- und Kulturinstitutionen. Ich bin darum den Mitgliedern der Forschungsgruppe »stuzzicadenti«, Georg Gröller, Mona Hahn, Judith Kürmayr, Ulrike Kadi, Eva Laquièze-Waniek und Karl Stockreiter, dankbar für intensive, transdisziplinäre Auseinandersetzung; ebenso den Studierenden und Lehrenden der Universität für angewandte Kunst in Wien, der technischen Universität Wien, der Kunsthochschule Oslo (KHIO), des Piet Zwart Institute Rotterdam, der Ecole supérieure des beaux-arts de Toulouse, der Universität Zürich sowie dem Institut für Erweiterte Kunst in Linz für lohnende Herausforderungen, Anregung und Diskussion. Und schließlich den Programmverantwortlichen des Festivals »steirischer herbst«, deren Veranstaltung 2011 dem Thema »Zweite Welten« gewidmet war und die mich für den Katalog-Essay gewannen, dessen erweiterte Fassung nun den Anfang dieses Buches bildet; weiters Jela Krečič und Ivana Novak, Ljubljana, die mich für ein Symposion über Fernsehserien einluden, was den Ausgangspunkt für die Studie zu »Sex and the City« bildete; Irene Berkel, Berlin, die die Phänomene der Postsexualität zum Thema eines Symposions sowie eines Sammelbandes machte; Gerhard Zenaty, dem ich die Einladung zu einer psychoanalytischen Tagung über die Perversionen verdanke; Daniel Tyradellis, der mich für die Ausstellung »Wunder« in der Schirn Kunsthalle Hamburg und der Kunsthalle Krems für einen Katalogbeitrag gewann; Karin Gludovatz, Dorothea von Hantelmann und Michael Lüthy, die mich zur Tagung »Kunsthandeln« des Sonderforschungsbereichs der FU Berlin »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« einluden; Martin Vöhler und Christiane Voss für die Gastfreundschaft im Exzellenzcluster »Languages of Emotion« der FU Berlin, der die Bedeutung der aristotelischen Katharsis untersuchte; sowie Daniel Kurjakovic, der mich ermutigte, ein mysteriöses, anonymes Manuskript für den Katalog »Conflicting Tales: Subjektivität« aufzubereiten. Sie alle bewiesen, dass man mitunter einen Anstoß von außen benötigt, um das zu schreiben, was man immer schon schreiben wollte. Mein Dank gilt darüber hinaus all jenen Journalistinnen und Journalisten, die mich, vor allem im Zusammenhang mit meinem letzten Buch, »Wofür es sich zu leben lohnt«, mit zahlreichen äußerst präzisen Fragen konfrontierten und mich zwangen, meine Thesen weiter zu klären, sie zu erläutern und sie auf neue Zusammenhänge anzuwenden. Die in diesem Buch entwickelte materialistische Theorie wurde auf diese Weise zugleich in ihrer Kohärenz gestärkt wie auch erweitert.

Wertvolle Hinweise, Kritik und Ermutigung verdanke ich außerdem Markus Bodenwinkler, Rainer Bodenwinkler, Ute Bodenwinkler-Burkhardt, Mladen Dolar, Thomas Forrer, Stian Grøgaard, Gerhard Gutenberger, Conny Habbel, Sabrina Habel, Marlene Haderer, Wolfgang Hagen, Rudolf Helmstetter, Thomas Hübel, Ursula Hübner, Eva Kadlec, Thomas Macho, Jso Maeder, Peter Möschl, Alexandra Ötzlinger, Urs Richli, August Ruhs, Ana Samardzija, Eric L. Santner, Franz Schuh, Ulf Stengl, Wilma Stelzhammer, Ernst Strouhal, Malou Thilges, Helmut Tumpel, Johannes Wegerbauer, Jurek Zaba, Slavoj Žižek und Alenka Zupančič.

I.Die Kunst in der Wirklichkeit

1.Hiergeblieben!

Über Nutzen und Nachteil zweiter Welten für die ersten

1.

In Dashiell Hammetts Kriminalroman »Der Malteser Falke« erzählt Privatdetektiv Sam Spade in einem Moment, als das Abenteuer einmal kurz Pause macht, seiner Klientin Brigid O’Shaughnessy die Geschichte eines früheren Auftrags. Er sollte damals einen Mann suchen, der Zigaretten holen gegangen und danach nie wieder von seiner Frau und seinen beiden Kindern gesehen worden war: »Er verschwand einfach wie eine Faust, wenn man die Hand aufmacht.« (Hammett 1974: 69) Die Suche gestaltete sich schwierig. Erst durch einen Zufall fand der Detektiv den Mann nach langer Zeit. Er lebte nun in einer anderen Stadt, aber wieder in ganz ähnlichen Verhältnissen, mit einer Frau und Kindern, und Golfspielen am Nachmittag nach vier Uhr. Sein neues Leben glich dem alten fast aufs Haar. Darum war die Suche so schwierig gewesen. Einen, der nach der Flucht ein ganz anderes Leben beginnt – also sich zum Beispiel einen Sportwagen kauft und mit einer neuen Liebe in den Süden fährt –, findet man leichter.

2.

In ihrem Buch »Das imaginäre Leben« geht Natalia Ginzburg der Frage nach, »warum wir nicht so leben, wie wir träumen, und warum wir trotzdem träumen müssen«.[1] Die Frage ist schön, da sie zu denken gibt. Aber ihr Wert liegt nicht darin, dass man sie als Vorwurf gebrauchen kann – etwa vom Typ: ›Ihr bequemen, kompromissbereiten Opportunisten, warum tut ihr immer das, was ihr tun zu müssen glaubt, und nie das, was ihr tun wollt? Warum folgt ihr nicht eurer Phantasie, wenn die doch das Beste an euch ist?‹

Was die Frage zu denken gibt, ist nicht die Idee der Überflüssigkeit der einen von zwei Welten – also dass man die erste, realistische restlos aufgeben und stattdessen in die wunschgerechte, zweite übertreten könnte. Interessant an Ginzburgs Frage ist vielmehr der Gedanke von der Unvermeidlichkeit einer zweiten Welt. Die erste Welt selbst scheint es regelmäßig mit sich zu bringen, dass wir den Traum von einer zweiten, anderen entwickeln müssen – nämlich um eben in der ersten zu leben. Der Mann aus Hammetts Geschichte zeigt das exemplarisch: Was das andere, haargenau gleiche Leben für ihn so unwiderstehlich machte, dass er sich zur Flucht aus dem ersten entschloss, muss gerade der Umstand gewesen sein, dass dieses zweite Leben eben ein gleiches war. Um hingegen im ersten Leben zu verbleiben, hätte er wohl einen Traum von einem ganz anderen zweiten Leben haben müssen. Nur ein geträumtes Leben, das sich vom gelebten unterscheidet, ist in der Lage, uns in diesem verharren zu lassen.

3.

Beobachten wir dasselbe nicht immer wieder in unserer sozialen Umgebung? Wenn man nur kurz fragt, welches Leben die Menschen sich eigentlich wünschen, so macht man bald die Feststellung, dass kaum irgendeiner so lebt, wie er es richtig findet. Der treue Ehemann träumt vom Seitensprung; der untreue dagegen von der Treue. Eine Frau, die in kurzfristigen seriellen Monogamien lebt, träumt von der dauerhaften Liebe. Ihre beste Freundin, die in einer Langzeitbeziehung lebt, empfindet dagegen die serielle Abwechslung als verführerische Perspektive. Ein Paar trennt sich, weil die Frau ein Kind will und der Mann nicht. Kurz darauf wird er in einer neuen Beziehung Vater, und sie wird glücklich in einer neuen, kinderlosen Beziehung.

Jeder hat eine zweite Welt; und manchmal ist es die erste eines anderen – dessen zweite Welt dann umgekehrt mitunter gerade von der ersten des einen gebildet wird. Und in Beziehungen scheint es noch verwickelter. Manchmal hat man offenbar den anderen, damit der stellvertretend für einen selbst die zweite Welt als seine erste übernimmt. Der andere hilft einem so, seiner eigenen zweiten Welt nicht direkt, als der eigenen, ins Auge blicken zu müssen.

4.

Nicht nur in ihren Träumen, Wünschen und Utopien, sondern auch in ihren Selbstbildern, zum Beispiel in ihrer moralischen Selbsteinschätzung, scheinen sich Menschen regelmäßig andere, ergänzende Welten zu fabrizieren. Nicht jedes Selbstbild aber ist ein Wunschbild – oder in Freuds Worten: ein Idealich –, in dem jemand sich besser darstellt, als er wirklich ist. Es gibt auch Leute, die sich für schlechter halten, als sie wirklich sind: Da das Über-Ich, wie Freud erkannte, seine Träger desto mehr bestraft, je mehr sie ihm gehorchen, entsteht die paradoxe Situation, »daß am Ende gerade die es in der Heiligkeit am weitesten gebracht, sich der ärgsten Sündhaftigkeit beschuldigen« (Freud [1930a]: 252). Freilich ist dieses Selbstbild nicht bloß eine Fehleinschätzung, die auch korrigiert werden könnte. Vielmehr muss das Bild so schlecht sein, damit die von ihm abgebildete Wirklichkeit besser sein kann. Nur durch ein solches schlechtes Selbstbild, mit dem sie sich quälen, können solche Menschen sich ein Leben als moralisch gute Menschen ermöglichen.

Umgekehrt können andere, die sich besser vorkommen, als sie sind, im wirklichen Leben unmoralischer agieren. So bemerkt Blaise Pascal: »Der Mensch ist weder Engel noch Bestie, und das Unglück will es, dass diejenigen, die den Engel spielen wollen, zu Bestien werden.«[2]

5.

Dem chinesischen Weisen Zhuang Zou (Zhuangzi) träumte einmal, er sei ein Schmetterling, »ein schwebender Schmetterling, der sich wohl und wunschlos fühlte und nichts wusste von Zhuang Zou«. Dann aber, erwacht, stellte sich der Weise eine Frage: »Nun weiß ich nicht, bin ich Zhuang Zou, dem träumte, ein Schmetterling zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, dem träumt, er sei Zhuang Zou.« (Zhuangzi 2005: 27)

Man kann eine solche Frage stellen, um sie als philosophisches Paradoxon offenzulassen. Darin scheint die Pointe von Zhuangzis Argument zu liegen. Alleine die Frage, noch ohne jede Antwort, eröffnet eine zweite Welt – gegenüber jener ersten, vertrauten, in der wir zu wissen meinen, was Wirklichkeit und was Traum ist. Gegenüber dieser vielleicht etwas voreiligen Gewissheit, die uns in kleinlichen Ängsten, Besorgnissen oder Besessenheiten gefangen hält, eröffnet diese Frage einen Freiraum, eine skeptische Reserve. »Was weiß ich denn?«, pflegte der Philosoph Michel de Montaigne in solchen Fällen zu sagen (und er machte diesen Satz, zusammen mit dem Bild einer im Gleichgewicht befindlichen Waage, zu seinem Motto),[3] um sich fixe Ideen vom Hals zu halten. Wenn es nicht so gewiss ist, ob diese Welt, in der wir uns vor wirklichen oder eingebildeten Gefahren ängstigen und hastig Terminen und Zielen hinterherjagen, nicht eine geträumte Welt ist, dann können wir vielleicht etwas Abstand gewinnen und durchatmen, bevor wir wie dumme, kleine Hamster wieder in unseren Rädern zu laufen beginnen – anstatt wie große Schmetterlinge wunschlos zu schweben.

6.

Wenn die Frage Zhuangzis ihren philosophischen Wert im Leben daraus bezieht, offengehalten zu werden, so bedeutet das nicht, dass sie nicht innerhalb einer Wissenschaft, wenn auch mit einem ganz anderen Gewinn, beantwortet werden könnte. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat das unternommen. Die Frage, so Lacan, ist entscheidbar. Denn: »Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang-Tse zu sein.« (Lacan 1987: 82f.) Dies beweist, so Lacan, dass er nicht verrückt ist, denn »er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch«. Der Zweifel an der eigenen Identität macht das Wachleben nicht verrückter Menschen aus; denn nur Verrückte zweifeln nicht und halten sich vollständig und zweifellos für das, was sie sind.

Dasselbe gilt aber nicht für den Traum. An dieser Abwesenheit des Zweifels zeigt sich, dass der Traum ein Traum ist. Lacan bemerkt: »Der Beweis ist, daß, solang er Schmetterling ist, ihm nicht in den Sinn kommt, zu fragen, ob er, als aufgewachter Tschuang-Tse, nicht der Schmetterling sei, der zu sein er eben träumt.« Der Schmetterling zweifelt nicht; darum ist die Schmetterlings-Identität die geträumte, die zweifelnde Philosophen-Identität dagegen die wirkliche.

Der Traum ist jener Schauplatz, in dem Zhuangzi keine zweite Welt hat. Dort, »an der Wurzel seiner Identität« (Lacan, ebd.), ist er sozusagen ein ganzes, volles, nicht in mehrere Welten gespaltenes Subjekt. Dies ist das Kennzeichen des Traumes, im Gegensatz zum wirklichen Leben. Die zweite Welt des Traumes hat ihrerseits keine zweite Welt.

7.

Das Beispiel Zhuangzis lässt nicht nur erkennen, woran sich Traum und Wachleben unterscheiden lassen. Es deutet auch an, warum es kein wirkliches Leben ohne Träume gibt. Wirklichkeit gibt es für menschliche Wesen nämlich nur dann, wenn sie von ihrem kindlichen Narzissmus Abstand genommen haben; das heißt: Wenn sie eingesehen haben, dass zwischen Wünschen und Wahrmachen ein Unterschied besteht (s. dazu Freud [1912–13]: 377f.) Ab diesem Moment werden Träume unsere Begleiter. Wir haben dann einerseits ein wirkliches Leben, das von Zweifeln begleitet ist und in dem wir uns nicht ganz zu Hause fühlen, und andererseits eine gefühlsintensive Welt, von der wir aber mit Sicherheit wissen, dass sie nur eine Traumwelt ist. Würden wir dieses Wissen verlieren und würde letztere wahr werden, so wäre das für uns mit äußerstem Horror verbunden, eine Erfahrung des Unheimlichen – denn auch wenn wir dann unseren Wünschen näher wären, so wäre dies doch mit dem Verlust von Wirklichkeit verbunden. Darum enden die meisten Märchen schlecht, in denen Feen unsere Wünsche wahr werden lassen, und darum sind Science-Fiction-Filme, in denen Dinge unsere Phantasien realisieren, wie »Sphere« oder »Solaris«, nicht schön, sondern unheimlich.[4]

Weil wir aber Phantasien haben, fühlen wir uns in der wirklichen Welt nie vollständig zu Hause; wir sind nie ganz sicher, ob wir wirklich das sind, wofür die anderen uns halten etc. Dieser Zweifel kennzeichnet unseren intakten Wirklichkeitsbezug; er zeigt, dass wir bei Trost sind. Ohne ihn wären wir verrückt. Darum hat Jacques Lacan bemerkt, dass der Verrückte nicht allein der Bürger oder Bettler ist, der sich für einen König hält, sondern mindestens ebenso sehr der König, der glaubt, dass er ein König ist (s. Lacan [1946]: 147).

8.

Nicht nur (mindestens) zwei Welten gehören somit zu unserem Bei-Verstand-Sein. Sondern auch (mindestens) zwei verschiedene logische Vorzeichen. Einmal der Zweifel, das andere Mal die Negation – die bestimmte Gewissheit des Nichtwahrseins. So haben wir zwei verschiedene Zustände: einmal Wirklichkeit, mit dem Vorzeichen des Zweifels; das andere Mal, mit dem Vorzeichen der Gewissheit des Nichtwahrseins, die Welt der Phantasie. In der ersten Welt sind wir darum mit unseren Wünschen vorsichtig und zurückhaltend, gehen die Kompromisse ein, die wir für unumgänglich und realitätsgerecht halten. In der anderen Welt, von der wir wissen, dass sie nicht wirklich ist,[5] können wir dagegen unseren Wünschen freien Lauf lassen, können zu Schmetterlingen oder anderen Wesen werden, sozusagen zu vollen Wesen, die kein Zweifel plagt und keine Rücksicht auf Herstellbarkeit des Gewünschten in der Realität. Unsere beiden Zustände sind vielleicht den Antriebsrädern eines Autos vergleichbar, die, wenn sie Bodenhaftung haben, sich mit gemessener Geschwindigkeit drehen, wenn sie hingegen den Grip verlieren, mit hoher Geschwindigkeit durchdrehen.

Unter diesen Vorzeichen lassen sich auch Phantasiewelten des Cyberspace hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes einschätzen. Slavoj Žižek bemerkt dazu: »Konstruiere ich ein ›falsches‹ Bild meiner selbst, das mich in einer virtuellen Gemeinschaft, an der ich teilhabe, vertritt (bei sexuellen Spielen nimmt ein scheuer Mann z.B. oft die screen persona einer attraktiven promiskuitiven Frau an), so sind die Gefühle, die ich habe und als Teil meiner screen persona ›vortäusche‹, nicht einfach falsch: obwohl mein ›wahres Selbst‹ (oder was ich als solches erfahre) sie nicht fühlt, sind sie trotzdem in gewissem Sinne ›wahr‹.« (Žižek 2000: 18) Die zweite Welt der fiktiven Identität ist nicht einfach unwahr; sie ist andererseits aber auch nicht schlechthin die Welt eines vermeintlich essentiellen, »wahren Ich«. Sie ist vielmehr dieselbe Welt wie die erste, nur unter das andere logische Vorzeichen gesetzt. Und sie ist das notwendige Nebenprodukt der Herstellung dieser ersten Welt; ohne sie hätten wir gar keine Welt, sondern nur einen Traum, der nicht weiß, dass er einer ist. Wir wären dann hoffnungslose Könige, die sich für Könige halten.

9.

Allerdings lassen wir dort, wo wir unseren Phantasien ohne jegliche Rücksicht auf Bodenhaftung nachhängen können, nicht nur unseren Wünschen freien Lauf. Das Ungemäßigte, Volle, das wir dort entwerfen, kann auch das Absolute eines äußersten Schreckens sein. Im Traum treffen wir dann – wie zum Beispiel jener Mann, der im Traum von seinem toten Kind gefragt wird, »Vater, siehst Du denn nicht, dass ich verbrenne?« (s. Freud [1900a]: 488) – auf den schlimmsten, verstörendsten Inhalt, vor dem unser gemäßigtes Wachleben uns wie ein schützender Schirm bewahrt. Darum konnte Slavoj Žižek zu der erstaunlichen, aber treffenden Schlussfolgerung gelangen: »Wachsein ist feige.« (Žižek 1999a)

Erleichtert in die Realität des Wachlebens flüchten wir jedoch nicht nur vor unseren schlimmsten Albträumen, sondern auch vor Vorstellungen, die wir uns genau zu diesem Zweck fabrizieren. Der Hohepriester Joad in Jean Racines Drama »Athalie« zum Beispiel stellt sich Gott als das schlimmste, furchterregendste Wesen vor, und diese extreme »Gottesfurcht« lässt ihn gegenüber den irdischen Gefahren, die sich aus seiner Teilnahme an der Verschwörung gegen einen grausamen Despoten ergeben, gleichgültig und tapfer werden.[6] In ähnlicher Weise haben Kommunisten, wenn sie sich in Todesgefahr begeben mussten, sich nach dem Wort von Eugen Leviné als »Tote auf Urlaub« aufgefasst. Die Vorstellung, bereits tot zu sein, ließ sie mutig im Leben agieren. Umgekehrt scheinen wir in der Gegenwartskultur unfähig zu sein, eine solche stützende Vorstellung zu entwerfen, die uns kampflustig und couragiert ins Leben flüchten lässt. Wir haben, vielleicht ohne es zu wissen, eher die Vorstellung einer innerweltlichen, »säkularen Unsterblichkeit« entwickelt, die es um jeden Preis zu bewahren gilt. Darum sind uns die Besorgnisse von Nachhaltigkeit, Sicherheit und Gesundheit so maßlos wichtig geworden und scheinen nach unmittelbarer, meist repressivster Befolgung zu verlangen: Wenn wir alles richtig machen, immer sauber bleiben und allen anderen rechtzeitig die Polizei auf den Hals hetzen, dann leben wir, so scheinen wir uns unbewusst einzubilden, wahrscheinlich ohne Ende. Freilich verwandeln wir genau dadurch schon das Leben selbst in eine lustlose, aseptische, humorlose und postsexuelle Leichenstarre – da, wie die Wiener Band »Trio Lepschi« treffend formuliert, »z’ Tod g’fürcht halt aa gschturbm is«.[7] Weil wir, einer postmodernen Ideologie folgend, nichts für so groß halten können, dass alles andere dagegen verschwindend klein wird, werden die kleinen Gefahren, die uns im Leben begegnen, für uns eben riesengroß und nicht mehr relativierbar. »Incrédules, les plus crédules«, notierte Blaise Pascal (Pascal 2004: 960) – frei übersetzt: Wer an nichts Gescheites glaubt, der glaubt eben an jeden beliebigen Mist; und dasselbe gilt auch übertragen auf das Problem der Furcht: Wer sich vor nichts Großem fürchtet, der hat eben vor jeder Kleinigkeit Schiss. Gerade der postmoderne Relativismus führt dazu, dass wir nichts mehr relativieren können. So werden wir bei jeder minimalen Gelegenheit zu reaktionären Mimosen, die sofort nach Repressionsmaßnahmen rufen und sich auch beträchtliche Zumutungen – wie zum Beispiel Leibesvisitationen, Nacktscannen, Rauchverbote, Bologna-Reformen oder massive Umverteilungen gesellschaftlichen Reichtums – gerne gefallen lassen. Weil wir keine Phantasie mehr haben, aus der wir erleichtert ins Leben flüchten könnten, gerät das Leben selbst uns zu einem ausweglosen Albtraum.

10.

Diese Notwendigkeit, ein zweites, anderes, wunschgerechtes oder auch entsetzliches Leben zu träumen, damit man das erste, nicht geträumte, leben und ertragen kann, wird oft übersehen. Zum Beispiel in den Diskussionen darüber, ob man den Jugendlichen nicht die Spiele am Ego-shooter verbieten sollte, da doch manche von ihnen in einzelnen Fällen dann auch im wirklichen Leben schießend durch ihre Schulen ziehen und Klassenkollegen und Lehrer töten.[8] Oder auch in den ähnlich strukturierten Debatten über die Frage, ob man nicht Pornographie verbieten sollte, da sie doch Vergewaltiger hervorbringe. In diesen »mimetischen« Auffassungen wird, etwas schlicht, vorausgesetzt, dass alles, was den späteren Tätern zur Ausführung gefehlt hat, eine nachahmbare Idee gewesen wäre – und die hätte ihnen das Spiel oder der Porno geliefert. Was solche Leute antreibt, ist aber mehr als eine Idee. Sie stehen vielmehr offenbar unter enormer Spannung – verursacht durch Gefühle der Demütigung, der Ohnmacht, durch wirkliche oder vermeintliche Missachtung, Deklassierung, Mobbing etc. Diese Spannung verursacht ihnen das erste, wirkliche Leben. Das Spiel hingegen liefert nur eine Idee der Umsetzung ihrer Wut – eine Idee, die man sich allerdings auch leicht ohne die Spiele verschaffen kann und zu deren Verwirklichung wiederum das erste, wirkliche Leben dann Waffen und Gelegenheiten bereitstellen muss. Die Spiele zu verbieten ist darum eine Maßnahme, die am fragwürdigsten Glied dieser Kette ansetzt – an jenem, das am wenigsten ursächlich für die Tat ist.

Viel richtiger wäre es, die umgekehrte Frage zu stellen: Inwiefern leisten die Spiele einen Beitrag zum Spannungsabbau? Haben Spiele nicht vielleicht verhindert, dass die Täter schon viel früher gewalttätig wurden? Und wie viele Angespannte haben in den Spielen so viel Erleichterung gefunden, dass sie überhaupt nicht gewalttätig zu werden brauchten? Diese Dunkelziffer ist kaum zu ermitteln. Verdunkelt wird sie vor allem durch den billigen Fehlschluss, der sich manchen aufdrängt, sobald auf dem Computer eines toten Amokläufers Belege für ausgedehntes virtuelles Schießen gefunden werden. Das aber beweist nicht mehr, als dass selbst die Spiele nicht mehr ausgereicht haben, um diesen Getriebenen die nötige Entspannung zu verschaffen. Zu folgern, dass die Spiele die Ursache für den Amoklauf gewesen wären, ist hingegen vielleicht ähnlich absurd, wie wenn man aus dem Umstand, dass unfalltote Autofahrer heutzutage fast nur noch in Autos mit Sicherheitsgurten und Airbags sitzen, den Schluss ziehen würde, dass die Airbags oder die Sicherheitsgurte die Ursachen für ihren Tod gewesen wären.

11.

Sigmund Freud hat in seiner »Traumdeutung« an den Gedanken Platons erinnert, dass tugendhafte Menschen schlimme Dinge träumen, während böse Menschen sie tun.[9] Für Platon ist das übrigens ein recht erstaunlich anmutender Gedanke. Denn sonst hielt Platon die Träume, wie sie zum Beispiel die Kunst fabriziert,[10] für schädlich. Da er die wirkliche Welt selbst schon für eine zweite Welt gegenüber einer ersten, idealen Welt hielt, konnte er nur wenig Sympathie aufbringen für die Produktionen der Kunst, die er folgerichtig für eine bloß dritte Welt, das Nachbild eines Nachbildes, halten musste.[11] Darum wollte Platon die Künstler aus seiner utopischen Polis verjagen. Sie würden die Menschen bloß ablenken von der ersten und zweiten Welt, anstatt dort irgendetwas zu verbessern.[12] Außerdem würden sie in den Menschen künstliche, falsche Leidenschaften entfachen: Angesichts von Kunstwerken, so Platon, gewöhnen sich die Kunstrezipienten daran, sentimental zu werden, in Weinen oder Lachen auszubrechen – und so schwach werden sie, Platon zufolge, dann auch bei ähnlichen Gelegenheiten im wirklichen Leben reagieren.[13]

Darum aber ist Platons von Freud zitierte Position hinsichtlich der schlimmen Träume nicht so traumfreundlich, wie man hätte denken können. Es handelt sich nicht um ein Entweder-oder. Platon sagt nicht, entweder man träumt Schlimmes oder man tut es; (d.h. gerade weil man es träumt, tut man es nicht). Vielmehr vertritt er die Auffassung, dass wir im Schlaf alle (mit wenigen Ausnahmen)[14] träumen, etwas Schlimmes zu tun. Die tyrannischen Menschen jedoch tun es auch im Wachleben. Sie sind darum sozusagen die wache Wirklichkeit dessen, was die übrigen Menschen nur träumen.[15] Ganz ähnlich wie Platon die tyrannischen Menschen hat übrigens die Psychoanalyse die Perversen aufgefasst: Sie sind diejenigen, die das »agieren«, was andere Menschen nur (bewusst oder unbewusst) phantasieren.

12.

Im Gegensatz zu Platon erkannte Aristoteles den realitätsfernen Welten der Kunst und den von ihnen erzeugten Leidenschaften einen positiven Einfluss auf das wirkliche Leben zu. Dies betrifft die Musik ebenso wie die Tragödie auf dem Theater.[16] Die positive Wirkung, die Aristoteles der Kunst für das wirkliche Leben zuerkennt, besteht in ihrem reinigenden, »kathartischen« Effekt. Steckengebliebene Affekte können von der Kunst durch Erzeugung neuer, ähnlicher, künstlicher Affekte wieder zum Leben erweckt und damit nach außen abgeführt werden. Auch Aristoteles fände es schön, wenn alle Menschen sich an edler, affektarmer Musik erfreuen könnten. Doch er räumt ein, dass dies nicht für alle gleichermaßen das richtige Heilmittel ist: Perverse Leute, so Aristoteles, brauchen eben perverse Musik.[17] Wer Reinigung nötig hat, braucht dazu schmutziges Zeug. Nur mit dem Schlechten der Kunst können sich Leute von den Wirkungen des Schlechten im Leben befreien.

13.

Was Aristoteles damit, anders als Platon, zu denken fordert, ist die Idee eines komplexen Verhältnisses zwischen einer Welt und einer anderen, zweiten. Das Schlimme muss in der zweiten Welt, der Welt der Kunst, hervorgebracht werden, damit es nicht in der ersten Welt in Erscheinung tritt – beziehungsweise damit es von dort, wo es schon störend steckengeblieben war, wieder weggebracht werden kann. Daraus ergibt sich eine methodische Regel für die Kulturanalyse: Wenn wir begreifen und wirksam intervenieren wollen, dann dürfen wir nicht einfach nur reflexartig »Pfui!« und »Polizei!« rufen, wenn irgendwo etwas auftaucht, das uns nicht gefällt. Vielmehr müssen wir zuerst untersuchen, zu welcher Welt dieses Ungute gehört und in welchem Verhältnis diese Welt zu jener steht, die uns interessiert. Produziert das Unschöne dort notwendig auch das Üble hier, in der für uns relevanten Welt? Oder kann es, gerade indem es in einer zweiten Welt auftaucht, verhindern, dass sein Pendant in der ersten Welt zur Wirkung gelangt? Mit anderen Worten: Mit wie vielen Welten haben wir es zu tun? Und wie hängen sie zusammen?

14.

Hier erscheint ein Begriff aus der Mechanik brauchbar, den Louis Althusser zur Untersuchung komplexer Zusammenhänge im Gesellschaftsganzen eingesetzt hat: der Begriff der »Gelenkskonstruktion« (»articulation«, s. Althusser [1965]: 47). Sind zwei Welten ohne Gelenk einfach nur fest verbunden (etwa miteinander verschraubt), dann wird, wenn es zum Beispiel mit der einen abwärts geht, auch die andere mit hinuntergezogen werden. Besteht zwischen zwei Welten aber ein Gelenk, dann wird die Sache wie beim zweiarmigen Hebel einer Kinderschaukel (einer »Wippe«) funktionieren: Wenn die eine Welt den einen Hebelarm hinunterzieht, dann wird auf der anderen Seite des Gelenks der andere Hebelarm die andere Welt hinaufdrücken. Ohne Gelenk funktioniert zum Beispiel ein bestimmter Typ von Kunst, der meist dem Schönen gewidmet ist. Der antike Bildhauer Pygmalion erschafft sich die Statue einer idealen Geliebten – in der Hoffnung, dass sie, wie es dem Mythos zufolge später geschieht, wirklich lebendig werden möge. Kunst und Wirklichkeit erscheinen in dieser schönen, hoffnungsvollen Kunst fest, ohne Gelenk verbunden. So bringt das Schöne dort dasselbe Schöne auch da mit sich.

Anders verhält es sich bei einer Kunst, die meist mit Scheußlichkeiten operiert. In der »apotropäischen« Kunst wird gerade dadurch, dass man das Bedrohliche, Scheußliche, Entsetzliche in der Kunst zur Darstellung bringt, zu verhindern versucht, dass es in der Wirklichkeit erscheint. Dämonen aus Stein an der Außenseite gotischer Kathedralen sollen verhindern, dass sich in deren Innerem ebensolche Dämonen breitmachen können. Künstlerische Steindämonen sind mit religiösen Geistdämonen also durch ein Gelenk verbunden. Die Anwesenheit der ersten verhindert die der zweiten.

Ein schönes neueres Beispiel für eine solche mit einem Gelenk operierende Kunst hat die Musikgruppe »Laibach« geliefert. Indem sie eine totalitäre, autoritäre Ästhetik präsentierte, hat sie den nach dem Niedergang des Sozialismus im ehemaligen Jugoslawien wieder aufkommenden nationalistischen Parteien eine vorweggenommene Parodie vor die Nase gehalten. Jede rechte Partei, die in Slowenien wieder massiver mit nationalistischen Symbolen hätte operieren wollen, hätte sich der Lächerlichkeit ausgesetzt und dem Vorwurf, ein billiges Imitat von »Laibach« zu sein.

15.

Eine Gelenksbeziehung scheint auch im Verhältnis zwischen den Menschen bestimmter Kulturen und den Vorstellungen zu bestehen, die sie sich von ihren Göttern machen. Nicht alle Kulturen haben Götter, und lange scheinen die Menschen ohne solche Wesen einer zweiten Welt ausgekommen zu sein (s. dazu Durkheim 1994: 52ff.). Aber sobald Götter aufkamen, herrschte ein bestimmter Typus vor. Bekanntlich waren die ältesten Götter durchwegs Gestalten zum Fürchten.[18]

Dies dürfte daher kommen, dass die Menschen, wie Freud bemerkt, ihre eigenen aggressiven Neigungen, um sie loszuwerden, an solche Götter abgetreten haben.[19] Erst spät in der Religionsgeschichte hingegen taucht die Figur eines den Menschen wohlmeinenden, liebenden Gottes auf. Offenbar waren die Menschen dieser Kultur nicht mehr bereit, bestimmte Aggressionspotentiale an höhere Wesen zu delegieren. Vielmehr haben sie sich eine zweite Welt geschaffen, die es ihnen erlaubte, in der ersten (und zwar insbesondere in jenen Teilen, die man als »Neue« oder »Dritte Welt« bezeichnete) Gräueltaten und Massenmorde von bislang ungeahntem Ausmaß zu begehen. »Enthemmung durch Gottesgüte« könnte man diese Struktur nennen, in der nicht die aggressiven, sondern die solidarischen Strebungen gegenüber den Mitmenschen an die Götter delegiert werden. Niemals sind Menschen so gefährlich für andere wie dann, wenn ihre zweite Welt von liebenden Göttern bevölkert ist (s. dazu Grunberger/Dessuant 2000).

16.

Wenn wir uns angesichts mehrerer Welten – ähnlich wie der Weise Zhuangzi – die Frage stellen, welche davon real ist, so sollten wir uns an diese komplexen Verhältnisse erinnern. Die einzig mögliche Antwort, die uns dann bleibt, besteht darin, dass das Reale die Gelenke zwischen den Welten sind. In diesem Sinn hat Louis Althusser betont, dass der Begriff der »Basis« in der marxistischen Theorie nicht einen bestimmten Teil des Gesellschaftsganzen bezeichnet (etwa die Ökonomie), sondern vielmehr dasjenige, was die Rollenverteilung und das komplexe Zusammenspiel zwischen diesen Teilen (zwischen Ökonomie einerseits, juristisch-politischem Überbau und ideologischem Überbau andererseits) festlegt.

Ein Überbau ist darum genau das, was von der wirklichen Basis (sozusagen der Regisseurin im Hintergrund, die nie die Bühne betritt – denn »die einsame Stunde der letzten Instanz schlägt nie«) erfunden und produziert werden muss, damit die scheinbare Basis (gleichsam die Bühnenfigur, die wir zu sehen bekommen) überhaupt existieren kann. Auf einer alltäglichen Ebene können wir diese Notwendigkeit der Einführung von Gelenken und der damit verbundenen, verschiedenen Welten leicht beobachten. Nicht nur in Filmen, sondern auch im wirklichen Leben gibt es doch immer ein ähnliches Muster, wenn zwischen zwei Menschen zum Beispiel nach einem Rendezvous die Frage ansteht, ob man die kommende Nacht zusammen verbringen wird. Bezeichnenderweise kann man diese Frage niemals wörtlich stellen, ohne das, worauf sie abzielt, zunichtezumachen. Hier ist eine zweite Welt vonnöten. Man muss zum Beispiel sagen: »Kommst du noch mit auf einen Tee?« Obwohl beide Anwesenden sehr genau wissen, welche erste Welt damit gemeint ist, können sie nicht anders, als diese mit Hilfe einer zweiten Welt zu benennen und möglich zu machen. Genau diese Tee-Frage ist, im Miniaturmaßstab des menschlichen Privatlebens, das, was im Maßstab der Gesellschaft unter dem Begriff eines Überbaus zu verstehen ist.

17.

Dies scheint besonders wichtig in einer Situation wie der gegenwärtigen, in der eine gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten schmaler Eliten stattfindet, während man zugleich das Gefühl hat, dass man nicht weiß, gegen wen man eigentlich kämpfen soll, da man – anders als etwa im schlichten Ausbeutungskapitalismus des 19. Jahrhunderts – die Verantwortlichen und Nutznießer dieser Entwicklungen kaum jemals zu Gesicht oder zu fassen bekommt. Je brutaler die gegenwärtige gesellschaftliche Umverteilung sich vollzieht und je mehr Menschen in die Zonen von Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Prekariat abrutschen, desto weniger scheint klar, wer die Nutznießer sein könnten, die man dafür verantwortlich machen und zur Rede stellen muss. Bis hinauf in die höchsten Etagen aller Apparate scheinen vielmehr Menschen zu sitzen, die selbst über die Entwicklungen unzufrieden sind und sie mit Besorgnis, aber auch mit scheinbarer Hilflosigkeit beobachten.

Hier ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass bestimmte Ausschweifungen im Privatleben nie stattfänden, wenn es nicht die zweite Welt des Tees gäbe. Genau so sind auch im politischen Leben bestimmte Ausbeutungen zu ihrer Verwirklichung auf eine zweite Welt angewiesen – eine Welt der wohlmeinenden Reformen, vermeintlichen Schutzmaßnahmen und behübschenden Ideologien. Die rabiate Beraubungspolitik hätte nicht durchgeführt werden können, wäre sie nicht begleitet worden von einer scheinbar um unser Wohl besorgten, gouvernantenhaften Pseudopolitik sowie einer Reihe von Erzählungen, die uns suggerierten, dass wir nicht beraubt, sondern vielmehr von Zwängen und »Normierungen« und Zumutungen anderer befreit würden. Endlich, nach der Privatisierung der öffentlichen Massenmedien, durften wir alle ganz wir selbst sein und zum Beispiel im Pyjama oder auch nackt ins Fernsehen – freilich um den Preis, von nun an nur noch Idioten im Fernsehen sehen zu können und auch selbst dort nicht mehr anders als Idioten auftreten zu dürfen.

Genau auf dieser Ebene aber liegt die Lösung des Problems von der Ungreifbarkeit des Feindes. So fern das internationale Kapital und seine Profiteure sein mögen; seine Komplizen sind ganz nah. Sie laufen vielleicht gerade als Consulter durch den Betrieb und entwickeln Optimierungsvorschläge; oder sie sitzen im nächsten Universitätsbüro und zählen ECTS-Punkte; oder sie befinden sich im nächsten Unterausschuss des Parlaments und arbeiten an einem verschärften Alkoholverbot, einer Verordnung zur Besteuerung der Dicken oder an einer Richtlinie zur verbindlichen Verwendung von Binnenmajuskeln. Diese Pseudopolitiken sind der notwendige Überbau der neoliberalen Beraubungen, ohne den diese nicht vollzogen werden können. Sie sind zugleich aber auch die schwache Stelle des Gegners. Wenn sie bekämpft werden, steht der Gegner ohne Deckung da, erkennbar und damit schwach. Dann wird er plötzlich selbst dem Zorn der Massen ausgesetzt sein, dessen spürbar stärker werdende Regungen er bislang geschickt auf diverse Ersatzobjekte lenken konnte. An den kleinen, mikropolitischen Fronten der Kämpfe gegen die Verbotspolitiken, die Bürokratisierungen der Gesellschaft, die Evaluierungs- und Kontrollzwänge entscheidet sich darum heute der Kampf gegen die große neoliberale Umverteilung. Wenn es einer opportunistischen Politik unmöglich gemacht wird, sich in Privatisierungsmaßnahmen, Ablenkungsproblemchen und postpolitischen Stützmaßnahmen zur gesellschaftlichen Pauperisierung zu ergehen, wird man sie auch zwingen können, multinationale Unternehmen wieder zum Zahlen von Steuern zu veranlassen.

Es verhält sich wie in der eingangs erwähnten Geschichte von Hammett: Aus einer sich verschlechternden ersten Welt entkommt man nur, indem man dafür sorgt, dass sie keine andere, zweite hat. Karl Marx hat das wie folgt formuliert: »man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!«[20] – Ohne andere, zweite Melodie aber sind die Verhältnisse schutzlos ihrer eigenen, ersten Melodie ausgeliefert. Dann fangen ihre Beine unweigerlich zu zappeln an, und sie beginnen, sich flugs und rhythmisch in Richtung einer glatten, exponierten Tanzfläche zu bewegen.

2.Sexualität und die Wahrheit der Stadt

Die philosophischen Lektionen von »Sex and the City«

1.

Die von HBO produzierte und zwischen 1998 und 2004 in den USA erstmals ausgestrahlte Serie »Sex and the City« (in der Folge abgekürzt als »S&C«)[21] hat, was ihr Personal betrifft, die typische, klassische Form einer Komödie bzw. einer SitCom. Vier Heldinnen treten auf, von denen jede durch ein einziges, möglichst einfach gehaltenes Charaktermerkmal gekennzeichnet ist. Man könnte sie in etwa wie folgt benennen: die Fragenstellende, die zynische Erotomanin, die romantische Naive und die notorisch männerfeindliche Skeptikerin. Die Komödie besteht – das ist ihr eigenes, ebenfalls einfaches Gattungsmerkmal – grundsätzlich darauf, ihre handelnden Heldinnen und Helden so einfach zu halten: zum Beispiel der Geizige, der eingebildete Kranke, der eifersüchtige Ehemann, der Bauer, der Rothaarige, der Menschenfeind etc. Wenn Aristoteles bemerkt, die Komödie handle prinzipiell von schlechteren, die Tragödie hingegen von besseren Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen, dann kann dieser Satz – sofern Bessersein oder (was für Aristoteles dasselbe ist) sozial Höhergestelltsein zugleich bedeutet, höhere psychische Komplexität zu besitzen – wie folgt abgewandelt werden: Die Tragödie handelt von komplexeren, gespalteneren, die Komödie dagegen von einfacheren, weniger vielschichtigen Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen.[22] Die Komödie betrachtet Menschen nicht als Schauplätze seelischen Reichtums an mannigfaltigen Bestrebungen und daraus folgender innerer, psychischer Konflikte, sondern vielmehr – darin besteht ihr philosophischer Materialismus – als Atome: als einfache Spielsteine komischer, äußerer Verwicklungen im Sozialen.[23]