Zwei Enthüllungen über die Scham - Robert Pfaller - E-Book

Zwei Enthüllungen über die Scham E-Book

Robert Pfaller

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Beschreibung

Eine scharfsinnige und provokante philosophische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um das Thema »Shaming« von SPIEGEL-Bestseller-Autor Robert Pfaller. In unserer Kultur der sozialen Medien finden viele, dass andere sich schämen sollten: Großkonzerne, Steuerhinterzieher, weiße, männliche Heterosexuelle, Dicke, Hässliche, Gegner. Früher wollte man mit Andersdenkenden diskutieren. Heute versucht man, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Das ist wie bei der Scham. Denn bei der Scham muss immer etwas weg: Jemand möchte im Boden versinken oder am liebsten tot sein. In seinem neuen Buch »Zwei Enthüllungen über die Scham« untersucht Robert Pfaller die Hintergründe dieses Phänomens. Er widerlegt die beiden Hauptirrtümer über die Scham: die »Außenleitung« bei den Kulturanthropologen und das »Idealungenügen« bei den Philosophen. Dadurch können bessere Strategien entwickelt werden, um uns aus den leidvollen Zuständen der Scham zu befreien. Denn es hilft nicht, Barbiepuppen zu modifizieren oder dickere Models auf Laufstege zu schicken. Erst ein besseres Verständnis der Scham eröffnet den Blick für Auswege aus den Sackgassen der aktuellen Pseudo-Schamkultur. Pfallers Stärke »liegt in seiner Fähigkeit, paradoxen Entwicklungen unserer Zeit auf die Spur zu kommen und auf einen treffenden Begriff zu bringen.« Konrad Paul Liessmann

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Robert Pfaller

Zwei Enthüllungen über die Scham

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Inhalt

[Motto]Einleitung1. Die Scham als Luxusartikel.Eine Maske verhohlenen StolzesKonsumschamVerbrauchsscham2. Das Niemandsland der SchamKörperschamSeinsscham: Das Leiden an der »ontischen Mitgift«3. Die Scham der VerarmtenDie »prometheische« SchamIsolationsschamScham durch Exponiertheit4. Fremdschämen.Das Paradoxon übertragener Affekte5. Politische und moralisierende SchamShaming: das Erzeugen öffentlicher ÄchtungSchambasierte Beseitigungsstrategien: »Schäm Dich!« und »Weg mit dir!«Kaltstellen durch Schambehauptung: »Ich schäme mich für dich!«6. Leben wir in einer Schamkultur?7. Schamkrankheiten? Die »neuen Pathologien« und ihre möglichen Schamursachen8. Von den aktuellen Erscheinungsformen der Scham zu ihrer TheorieErste Enthüllung: Die Scham ist nicht »außengeleitet«.Der Irrtum der Anthropologen: Scham als Wirkung von Fremdbeurteilung. Schuld als Ruf des eigenen GewissensAktualität des ersten Irrtums über die SchamHerkunft des Irrtums aus der AnthropologieErster Gegenbeweis:Scham ohne Kenntnis und Verurteilung durch andere. Der Fall des »unschuldigen Missetäters«Zweiter Gegenbeweis: Kenntnis und Verurteilung durch andere ohne Scham. Der Mann auf der Palme und der Mann mit der ZigarreDas Diskretionsgebot der SchamSchlussfolgerung: Scham entsteht nicht, wenn alle von einer peinlichen Sache wissen. Die Scham bricht erst dann aus, wenn ein »Als-ob« zusammenbrichtDer Adressat des »Als-ob«: Mannonis »naiver Beobachter«Der Grund für den Irrtum der AnthropologenEine andere Art von AußenleitungZweite Enthüllung: Die Scham beruht nicht auf einem Zuwenig, sondern auf einem Zuviel. Die Scham kommt von unten, nicht von oben.Der Irrtum der Psychoanalytiker: Scham als vom Über-Ich beanstandetes Defizit des Ich gegenüber einem IdealSchwierigkeiten dieser AuffassungDie Auffassung der Scham als Reaktion auf Schwäche oder Minderwertigkeit: ein ErkenntnishindernisVersuch einer Neukonstruktion. Scham als Wirkung einer Beobachtung von untenDas Unter-IchWas sich von unten sehen lässtDie Ehre. Das positive Guthaben der SchamEine Reaktionsbildung?Stolz und Selbstachtung: Selbstwert im Vorhinein und im Nachhinein, ex ante und ex postVerlust des Stolzes, Plötzlichkeit der SchamScham als Folge von Entblößung: aber wovon?Das Ich als Unding. Das Unheimliche: Zur Theorie des obszönen ÜberschussesDie Überflutung durch die Scham: das Maßlose des ÜberschussesDas Unheimliche: der Schlüssel zum Verständnis der SchamScham als Regression in den primären Narzissmus. Ein Ausbruch des »Genießens«Sich schämen für Schwäche wie für StärkeDie Umkehrung der Affektqualität: Unlust statt LustResümeeAnhang: Zur Ontologie des Obszönen und zu einer Politik der SchamEpilogDankBibliographie

»Als er [Diogenes von Sinope] einen Jüngling erröten sah, sagte er: ›Mut, mein Sohn, das ist die Farbe der Tugend.‹«

 

Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VI: 54

Einleitung

Immer mehr Menschen bekommen es derzeit mit der Scham zu tun. Viele finden sich gesellschaftlich an den Rand gedrängt und schämen sich darum. Viele aber sind andererseits auch zunehmend exponiert – gegenüber einer unbekannten Öffentlichkeit, vor allem in den sogenannten »sozialen« Medien. Zudem entstehen neue Bemühungen um erhöhte Achtsamkeit gegenüber vermeintlich fragwürdig gewordenen Praktiken, Wünschen oder Zuständen: Man spricht von »Fleischscham«, »Zuckerscham«, »Flugscham«, »Autoscham«, »Plastikscham«, »Bauscham«, »Trägheitsscham«, »Social-Media-Scham« – ja zuletzt auch von »Impfscham«, »Corona-Scham« oder auch »2G-Scham«.[1]

So schämen sich immer mehr Menschen für immer mehr Dinge, die es entweder zuvor nicht gab oder mit denen sie früher vielleicht ohne Bedenken und ohne schmerzliche Konsequenzen gelebt hätten; ja sogar für Dinge und Handlungen, auf die sie – wie beim Tragen von Pelzmänteln, im Besitz eines Hauses oder beim Verpacken von Geschenken – früher wohl stolz gewesen wären.

Ebenso aber schämen sich viele Leute auch zunehmend in Bezug auf andere Menschen – sei es nun für sie, oder sei es anstelle dieser anderen, durch sogenanntes »Fremdschämen«. Nicht immer jedoch zeugt diese fremdbezogene Scham von erhöhter Sensibilität oder von Zartgefühl. Oft bildet sie auch eine Waffe in einem neuartigen Typ von politischer Auseinandersetzung.

1.Die Scham als Luxusartikel.Eine Maske verhohlenen Stolzes

»Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.«

 

Friedrich Nietzsche ([1886]: 73)

Der Titel von Léon Wurmsers großer Studie »Die Masken der Scham«[2] bezeichnet eine scharfsinnige Erkenntnis: nämlich dass die Scham sich – wie es ihrem schamhaften Wesen entspricht – oft unter anderen Gestalten versteckt, die ihr als Maske dienen: So erscheint sie zum Beispiel als Kälte, Arroganz, Angeberei, Exhibitionismus oder auch Aggression.[3] Wurmsers Erkenntnis hat wohl die Tür aufgestoßen zur Einsicht, wie oft die Scham im Alltagsleben anzutreffen ist und welche bedeutende Rolle sie darin spielt. So ist mit etwas Verspätung in den letzten Jahrzehnten, in der Nachfolge von Wurmsers Entdeckung und nach merkwürdig langem Schweigen der Theorie, eine umfangreiche Forschung und Literatur zum Thema entstanden.

Wurmsers Titel kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gelesen werden – im Sinn des »genitivus subiectivus«. Denn die Scham wird nicht nur oft von etwas anderem maskiert; sie ist vielmehr mitunter auch selbst eine Maske für etwas anderes.[4] Dies ist die Gestalt, in der wir sie gegenwärtig vorwiegend beobachten können: als eine Maske, hinter der sich zum Beispiel ein gewisser Stolz verbirgt. Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche. Die Scham steht offenbar auch deshalb gegenwärtig so sehr im Rampenlicht, weil sie ein Luxusartikel geworden ist, ein Distinktionsgut. Sie schmückt jene Menschen, die sich so etwas Kostbares leisten können und sich dadurch als etwas Besseres zu erkennen geben möchten. Schließlich muss man schon einiges besitzen, um »Flugscham« empfinden zu können – im Vergleich etwa zu jenen nicht wenigen, die in ihrem Leben überhaupt noch nie in einem Flugzeug gereist sind. Auch »Autoscham« ist nur für jene Menschen erschwinglich, die so wohnen, dass sie leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad ihre lebenswichtigen Wege erledigen können; ein Vorteil, über den die meisten ländlichen Pendler oder Bewohner von urbanen Außenbezirken leider nicht verfügen.

Die meisten aktuellen Formen von Scham, die in neuen Wortschöpfungen wie den eingangs genannten ihren Ausdruck finden, gehören zu diesem Typus eines – oft recht dünn – maskierten Stolzes. Auch in dieser Oberflächengestalt aber lohnt die Scham eine eingehendere Betrachtung. Denn auch sie liefert wertvolle Hinweise über das, was die Scham ausmacht und was von vielen bedeutenden Theorien regelmäßig verkannt wurde. Zwei große Irrtümer, deren Folgen immer gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen erfasst haben, sollen in diesem Buch beleuchtet werden: (1) der Irrtum vom angeblich »außengeleiteten« Charakter der Scham (im Gegensatz zur »innengeleiteten« Schuld«) sowie (2) der Irrtum, die Scham bestünde in einer vom Über-Ich ausgeübten Bestrafung des Ich für dessen Verfehlen eines Ideals. Bevor diese beiden Irrtümer dargestellt und kritisiert werden, soll ein kurzer Parcours die aktuellen, für die Gegenwart charakteristischen Gestalten der Scham veranschaulichen.[5] Dabei sollen erste Indizien gesammelt werden, die bei der Aufhebung der beiden genannten, bis heute wirkmächtigen Irrtümer hilfreich sein könnten.

Konsumscham

Ein großer Teil aktueller schamhafter Regungen bezieht sich auf das Gefühl, zu viel oder das Falsche zu konsumieren.[6] Viele »less-is-more«-Initiativen lehren die Angehörigen oberer urbaner Mittelschichten, dass man, sofern man über gute Informationen und ein dichtes Netz an Sozialkontakten verfügt, viele Dinge, darunter auch Geld, nicht mehr im üblichen Ausmaß zu besitzen braucht – zum Beispiel, weil man sich den Besitz einer selten gebrauchten Bohrmaschine ja teilen, weil man manche benötigte Leistungen wie Massieren gegen andere Leistungen wie Spanischlernen tauschen, oder weil man benötigte Gebrauchsgegenstände wie Taschen oder Kleinmöbel durch »Upcycling« von Abfallmaterialien herstellen kann. Mit viel high-tech, guter Vernetzung und hochqualifiziertem Erfindungsgeist ermöglichen manche Kreativberufler sich derart ein Bild einfachen Lebens. Immerhin geben sie damit zu denken. Denn sie eröffnen auf diese Weise nicht zuletzt auch eine gewisse Perspektive auf ihre vermeintlichen Vorgänger in der Antike – wie etwa den legendären kynischen Philosophen Diogenes von Sinope, der im Fass gewohnt, ja sogar noch seine Trinkschale weggeworfen haben soll, als er einen Hirtenjungen aus der hohlen Hand trinken sah.[7] Vielleicht waren ja schon die antiken Kyniker, die den Namen ihrer Schule von den Hunden bezogen, die sie sich zum Vorbild eines schlichten, scham- und vorurteilsbefreiten Lebens nahmen, nicht ganz so mittellos, wie sie ihre Umgebung sowie die Nachwelt glauben machen wollten, sondern schwammen gleichsam geschickt an der Oberfläche eines sie umgebenden urbanen Wohlstandes. Andererseits jedoch deuten manche der überlieferten Äußerungen doch in eine andere Richtung. So zum Beispiel zwei, die Diogenes von Sinope zugeschrieben werden:

»Als er einst auf dem Markte Onanie trieb, sagte er: ›Könnte man doch den Bauch auch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‹«[8]

sowie

»Als man ihm vorrückte, daß er auf dem Markte gegessen habe, sagte er: ›Habe ich doch auf dem Markte auch gehungert.‹«[9]

Solche Belege dokumentieren Erfahrungen der Entbehrung, die den meisten heutigen Hipster-Lebenskünstlern doch recht fremd geblieben sein dürften.

Der Impuls, im Gegensatz vielleicht noch zu der einer Mangelwirtschaft entstammenden Eltern- oder Großelterngeneration, den eigenen Konsum kritisch und schamhaft zu überdenken und ihn »postmaterialistisch« einzuschränken, entstammt vor allem dem Programm der »mündigen Konsumenten« oder »prosumers«,[10] die darauf abzielten, durch bewussten Konsum auf die Herstellungsbedingungen von Produkten Einfluss zu nehmen. Als sich ab Mitte der 1980er Jahre die politische Gestaltungskraft westlicher Staaten im Schwinden befand und diese nicht mehr in der Lage oder gewillt schienen, die großen Konzerne auch nur in den elementarsten Fragen zu lenken, entstand die Hoffnung, die Konsumenten könnten dies an ihrer Stelle leisten. Firmen, die zum Beispiel die Umwelt verschmutzten oder Minderjährige als Arbeitssklaven oder Kindersoldaten einsetzten, sollten mit der Waffe des Einkaufskorbes dafür bestraft werden. Freilich erwies diese Strategie sich bald als schwierig durchführbar, denn sie verlangte von den Konsumenten umfassendes Wissen über die gesamte Wertschöpfungskette sämtlicher von ihnen benötigter Güter (ein Wissen, das oft nicht einmal die jeweiligen Hersteller selbst besaßen). Außerdem entstanden Dilemmata hinsichtlich der politischen Prioritäten: Sollte zum Beispiel die Mode lieber »ethical«, also einwandfrei hinsichtlich der Behandlung der eingesetzten Arbeitskräfte sein, oder aber lieber »ecological«, also möglichst umweltfreundlich hergestellt und nach Gebrauch wieder biologisch abbaubar?[11] Zu allem Unglück waren auch diese Fragen selbst wieder bestimmten Moden unterworfen und von den Herstellern geschickt kommerzialisierbar. So konnte man zum Beispiel in bestimmten kalifornischen Modegeschäften eine Zeitlang keine Sportschuhe kaufen, ohne dass damit zugleich ein zweites Paar an ein afrikanisches Kind ging. Ob diese Kinder wirklich am dringendsten solche Sportschuhe benötigten, oder aber nicht doch eher Zugang zu sauberem Trinkwasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung, blieb freilich dahingestellt.

Immerhin hinterließ diese postmoderne Politisierung der Konsumenten eine tiefe Spur im Bewusstsein westlicher Bevölkerungen. Kaum jemand ist noch imstande, jemals ohne den Schatten eines Zweifels ins Einkaufsregal zu greifen, und kaum ein Einkauf verläuft noch ganz reibungslos, ohne zumindest eine Spur von dunkel geahnter Scham zu hinterlassen. Als Hinweis für die Theorie liefert all dies immerhin bereits die Andeutung, dass solche Scham angesichts eigener Bedürfnisse nicht das Problem eines Mangels, sondern vielmehr das eines Überschusses darstellt – wie ja die ganze Problematik insgesamt typisch für Überflussgesellschaften ist. Wir werden auf diesen Punkt im zweiten Kapitel dieses Buches (das der zweiten Enthüllung über die Scham gewidmet ist) ausführlicher zurückkommen.

Verbrauchsscham

Verwandt mit dem Problem der Konsumscham sind alle aktuellen Formen der Scham, die den Umstand betreffen, dass Menschen sich selbst als Faktoren eines obszönen Verbrauchs begreifen. Dazu gehört zum Beispiel die Scham angesichts eines ungünstigen ökologischen Fußabdrucks. Vielen, auch solchen, die keine überzeugten Anhänger von »Fridays for Future« sind, mag diesbezüglich der zornige Ruf Greta Thunbergs »How dare you?« in den Ohren hallen.[12] Sie überdenken dann zum Beispiel, ob sie wirklich ein so schweres oder so stark motorisiertes Auto brauchen, oder ob es ein halb so schweres oder halb so starkes (oder sogar auch ein dank elektrischer Zusatzmotoren stärkeres, aber eben verbrauchsärmeres) nicht auch tun könnte.

Ebenso gehören in diese Gruppe die weitverbreiteten Versuche der sogenannten »Selbstoptimierung«, die als (möglicherweise kontraphobische) Reaktion auf die Scham über vermeintlich übermäßige Trägheit oder Bedürftigkeit des eigenen Körpers gedeutet werden können. Auch die zunehmende Verachtung von Menschen, die ihre eigene Gesundheit durch ungesundes Essen, Rauchen, Alkoholtrinken, zu wenig Bewegung (oder aber auch zu viel gefährlichen Sport) gefährden, gehört hierher. Insbesondere das neoliberale Interesse an der Privatisierung von bisher der Allgemeinheit und der gesellschaftlichen Solidarität gewidmeten Sektoren wie des Gesundheitswesens dürfte hierin seine Wirkung gefunden haben. Das, was Menschen noch in der Moderne als notwendigen, ja vielleicht sogar lohnenden, lustvollen und geselligen Teil ihres Lebens empfunden haben mögen, erscheint nun unter dem Verdacht sozialer Schädlichkeit. Denn nicht mehr der Staat schuldet den Menschen Unterstützung im Krankheitsfall; vielmehr schulden nun, unter dem neoliberalen Diktat der Kosteneffizienz, umgekehrt die Einzelnen der Gesellschaft ihre Gesundheit: damit sie keine unnötigen Belastungen der Gesundheitsbudgets verursachen. Auch all dies verursacht Scham – wenn auch, anders als bei der meist schicken Konsumscham – nicht immer eine stolze, sondern oft eine stille, ihrer selbst sich schämende Variante. Ob der zunehmende Argwohn gegenüber anderen als lustvolle Selbsterhebung über diese oder aber eher als bloßer Ärger erlebt wird, muss ebenfalls offenbleiben.

Dem allen liegt, als zeittypische Bedingung, eine neue Vorstellung vom Mitmenschen in der Gesellschaft zugrunde. Dieser andere wird infolge neoliberaler Propaganda nun nicht mehr etwa als möglicher Partner oder Gefährte der Geselligkeit imaginiert, sondern muss vielmehr grundsätzlich als Gesundheits- oder Sicherheitsbedrohung, als Sozialschädling oder Sexualbelästiger erscheinen – mithin als obszöner »Dieb des Genießens«.[13] Auch dieses opulente Produkt aktueller Einbildung bildet immerhin das für die Theorie aufschlussreiche Motiv eines durch einen Überschuss, und nicht etwa durch einen Mangel gekennzeichneten Schamsubjekts.

2.Das Niemandsland der Scham

Betrachtet man die aktuellen Erscheinungsformen der Scham im Hinblick auf die Frage, ob sie eher Masken eines Stolzes oder aber eher sich verbergende beziehungsweise maskierende, unlustvolle Empfindungen sind, so trifft man auf einige Varianten, bei denen diesbezüglich eine gewisse Unentscheidbarkeit besteht. Manche Menschen mögen zum Beispiel froh sein, ein so sensibles und kritisches Empfinden für ihren eigenen Körper oder den der anderen zu besitzen; andere dagegen könnten sich für ihren eigenen Körper, den der anderen oder aber auch für ihr Empfinden selbst in schmerzhafter Weise schämen. Dasselbe gilt für die allgemeinere Form der Seinsscham. Alleine die Selbstoptimierung zum Beispiel kann von einer stolzen Elitenpraxis in eine Form zwanghafter Selbstpeinigung kippen, wenn nicht gar in eine traurige Notmaßnahme der um ihr soziales Abgehängtwerden Fürchtenden. In ähnlicher Weise ist in diesem »Niemandsland« auch nicht immer leicht zu entscheiden, um wessen Scham es sich jeweils handelt. Schämt sich jemand über sich selbst, oder sind es andere, die Scham anstelle von jemandem empfinden, den sie als schamlos wahrnehmen? Diese Fragen sollen hier vorerst als offene markiert werden. Sie werden wohl in jedem einzelnen Fall neu gestellt und beantwortet werden müssen. Ebendazu aber ist es notwendig, sie zu formulieren und festzuhalten – denn wie der Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard bemerkte: »… im wissenschaftlichen Leben stellen sich die Fragen gewiß nicht von selbst.«[14]

Körperscham

Wie weniges andere gerät der menschliche Körper gegenwärtig zu einem Thema der Scham. Immer mehr Menschen schämen sich entweder selbst in hohem Maß für ihre eigenen Körper, oder sie finden den der anderen peinlich. Die durch Plattformen wie Instagram massiv erhöhte Präsenz von Körperbildern sowie deren verstärkte Rezeption in Zeiten des Homeoffice mag hierbei die Phantasiebildung von Personen, die zur Scham neigen, noch erheblich befeuern.[15] Denn nicht der Körper oder dessen mehr oder weniger verzerrte Wahrnehmung erzeugt Scham. Vielmehr verhält es sich offenbar umgekehrt: Gesteigerte Schamempfänglichkeit sucht sich, wie jede neurotische Disposition, ein »somatisches Entgegenkommen« und dockt am Körper (dessen Wahrnehmung sie verzerrt) an – sei es am eigenen oder an dem von anderen.[16]

Übergewicht und als unvorteilhaft bewertete Körperformen werden nun regelmäßig nicht etwa mit Bedauern und Anteilnahme oder wenigstens mit Diskretion quittiert, sondern rufen Hass, insbesondere im Netz, hervor.[17] Vor allem Frauen sowie Angehörige von Minderheiten und Unterschichten sind davon offenbar massiv betroffen. Bodyshaming und fatshaming sind darum zu geläufigen Begriffen, auch der deutschen Umgangssprache, für solches Hassverhalten geworden. Mit solchen Bezeichnungen versuchen zahlreiche Initiativen den Betroffenen zu Hilfe zu kommen, um dem Verhalten allererst einen Namen zu geben, es der Gesellschaft zum Bewusstsein zu bringen und es dadurch zu ächten (bzw. es seinerseits zu »shamen«): Nicht die Verachteten sollen sich schämen, sondern die Verächter.

Das Problem der aggressiven, negativen Körperbewertungen wird von den meisten, die ihm begegnen wollen, in der Regel als Problem fehlgeleiteter populärkultureller Idealbildungen interpretiert. Unerreichbare, unrealistische Ideale und Idole; das heißt: zu viele dünne Fotomodelle auf den Laufstegen und in Castingshows im Fernsehen; zu viele Film- und Popstars mit schlanken Körpern, zu viele technisch optimierte Selfies in den sozialen Kanälen etc. würden nach dieser Auffassung dazu führen, dass immer mehr Frauen negativen Wertungen ausgesetzt sind und sich schlecht fühlen, und dass junge Mädchen in zunehmender Zahl mit Essstörungen zu kämpfen haben.

Die übliche Antwort auf diese Problemauffassung lautet darum: »Lasst uns andere, erreichbarere Ideale formulieren. Zeigt realistischere Bilder der Frauen in den Medien, die eher dem ähneln, wie durchschnittliche Frauen im Alltag aussehen.« So setzen Modelabels und Firmen für Badebekleidung zum Beispiel vermehrt auf sogenannte »plus-size-models«.[18] Auch die übrige populärkulturelle Industrie zeigt sich problembewusst. Sogar Spielzeugpuppen wie die seit den 1950er Jahren weltweit populäre »Barbie« werden nun »diversifiziert«: Die Barbie wird dementsprechend in Varianten mit unterschiedlichen Körperformen und unterschiedlichem Körperumfang sowie in verschiedenen Hautfarben angeboten[19] (ein Umstand, der die Vertriebe übrigens schon alleine aufgrund der nunmehr vervielfachten Spielzeugschuhgrößen vor erhebliche Schwierigkeiten stellt – was zeigt, mit welchem Ernst die Initiative vorangetrieben wird).

Auch an der kulturpolitischen Front gibt es entsprechende Vorstöße. Postmoderne, von der Theorie Michel Foucaults inspirierte Gruppen kämpfen gegen die alten, unerreichbaren kommerziellen Idole wie gegen alles, was »normierend« wirken könnte.[20] Den von Hass und Körperscham Betroffenen wird durch sogenannte »body positivity«-Initiativen versichert, dass alle Menschen schön seien und dass niemand sich für seinen Körper zu schämen brauche.[21]

Es ist allerdings nicht sicher, ob der Scham auf diese Weise wirklich beizukommen ist. Denn wer sich schämt, tut das nicht absichtlich oder aus Überzeugung. Wie Blankenburg richtig bemerkt: »Man kann gewissenhaft sein wollen, aber nicht schamhaft.«[22] Wenn man gesagt bekommt, man brauche sich nicht zu schämen, dann hört man also vielleicht nicht damit auf. Vielmehr schämt man sich nun möglicherweise doppelt – nicht nur für seinen Körper, sondern auch noch für seine Scham.[23]

Ebenso erscheint ungewiss, ob Fotomodelle, die zeigen, dass man auch schön sein kann, wenn man rundere Formen hat, Personen mit runderen Formen, die sich selbst nicht als schön empfinden, nicht doppelt beschämen: Dann scheint die Ursache des vermeintlichen Übels ja nicht im Dicksein, sondern erst recht bei ihnen selbst zu liegen.

Möglicherweise erliegen die wohlmeinenden Vorstöße der Kulturindustrie sowie die auf »Anti-Normierung« zielenden mikropolitischen Initiativen einem grundsätzlichen Irrtum in der Auffassung des Problems. Erscheint es denn auch nur wahrscheinlich, dass der Eindruck mangelnder Schönheit Hass hervorrufen kann? Oder ist es nicht viel eher umgekehrt: nämlich dass zuerst gehasst wird, und erst dann jemandem zugerufen wird, sie oder er sei hässlich? Man mag sich hier an Benedict de Spinoza erinnert fühlen, der bemerkte, »… daß wir nichts erstreben, wollen, verlangen oder begehren, weil wir es für gut halten, sondern daß wir umgekehrt darum etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, verlangen oder begehren.«[24]

Und hat man die Ursachen von Scham richtig erfasst, wenn man meint, sie entstehe aus dem Gefühl eigener Minderwertigkeit gegenüber einem unerreichbar erscheinenden Ideal?

Der Kampf gegen Ideale und vieles, was als groß und berühmt erscheint, ist ein wiederkehrendes Motiv postmoderner auf Emanzipation hoffender Politiken. Nicht immer erscheint sicher, dass dies einer kritischen Besinnung der Gesellschaften auf ihre geltenden Wertvorstellungen dient. Möglicherweise handelt es sich dabei oft eher um das Symptom einer Reihe von unreflektiert vorausgesetzten Annahmen, deren Exekutierung letztlich das Großwerden aller eher verhindert, anstatt es zu befördern.[25] Aber selbst wenn dieser Kampf in bestimmten Fällen oder Feldern richtig wäre, so ist es doch noch immer eine ganz andere Frage, ob eine Annäherung der Idealbilder an die vertrauten Bilder des Alltags ein geeignetes Heilmittel gegen den Affekt der Scham zu bilden vermag.[26]

Vielleicht ist es zielführender, die Körperscham ähnlich zu begreifen wie die zuvor beschriebenen Formen der Konsumscham und der Verbrauchsscham. Ist das, was den Hass auf die als zu dick wahrgenommenen Körper hervorruft, denn nicht dasselbe Motiv wie dort? Handelt es sich nicht auch hier um den Verdacht eines übermäßigen Genießens auf Kosten der anderen? Scheint es denn nicht, jemand habe zu viel gegessen, so dass andere weniger bekommen;[27] oder jemand könne gar nicht genug kriegen und verbrauche dadurch nicht nur unsere (plötzlich als begrenzt wahrgenommenen) Lebensmittelvorräte, sondern belaste darüber hinaus auch noch unsere (nach den neoliberalen Einschnitten tatsächlich knapper gewordenen) Gesundheits- oder Sozialbudgets in ungebührlicher Weise? Ganz abgesehen von der damit vermutlich verbundenen geringeren Effizienz im Arbeitsprozess,[28] die dann uns, die Kollegen, zur Mehrleistung zwingt?

Die Körperscham und der mit ihr verbundene Hass scheinen also nicht auf einem Mangel oder einer Minderwertigkeitgegenüber einem Ideal zu beruhen, sondern vielmehr, genau wie Konsumscham und Verbrauchsscham, auf einem vermeintlichen Überschuss oder Übergenuss.[29]

Seinsscham: Das Leiden an der »ontischen Mitgift«

Nicht nur der menschliche Körper mit seinen Trägheiten, Bedürftigkeiten und Drangmomenten, das sogenannte »Fleischliche«,[30] sondern auch die Psyche mit ihren Wünschen, Begierden und Illusionen sowie der Intellekt mit seinen Irrtümern, Denkgewohnheiten und Erkenntnishindernissen, samt der Geschichte und den Erfahrungen, die alle von ihnen geprägt haben, können zur Scham Anlass geben. Die Gesamtheit dieser »Lasten« bezeichnet der Philosoph Günther Anders als »ontische Mitgift«.[31] Diese umfasst

»… alles Nicht-Ichhafte überhaupt, alles Vor-Individuelle, welcher Art auch immer, an dem das Ich, ohne etwas dafür zu können, ohne etwas dagegen tun zu können, teilhat; dasjenige, was es, sofern es ist, auch-sein, was ihm ›mitgegeben‹ sein muß.«[32]

Denn, wie Anders bemerkt: Man schämt sich eines Seins,[33] und nicht etwa eines Habens oder Tuns. In genau demselben Sinn bemerkt auch Jean-Paul Sartre: »Die Scham enthüllt mir aber, daß ich dieses Sein bin.«[34] Solche Scham lässt sich als Seinsscham bezeichnen.

Wenn schon das bloße eigene Sein Scham auslösen kann, so bedeutet dies – und hier besteht der wohl gravierendste Unterschied der Scham gegenüber der Schuld –, dass man sich auch für Dinge schämt, für die man nichts kann. Schuldig mag man sich fühlen für Handlungen, die man begangen hat; eventuell auch für deren unbeabsichtigte Wirkungen; sowie andererseits auch für nicht ausgeführte böse Absichten.[35] Aber wofür man sich schämt, ist oft etwas anderes: etwas, zu dem man schuldlos gekommen ist und das zum eigenen Sein, zu dem man keine Wahl hatte, gehört. »Nicht obwohl, sondern weil er nichts dafür kann, schämt sich der Bucklige des Buckels«, bemerkt Anders.[36] Doch dieser Buckel ist keine Besonderheit, sondern vielmehr die Regel. Einen solchen Buckel schleppt in gewisser Weise jeder von uns mit sich herum (wie die kluge Redewendung weiß, die von jemandem sagt, er habe schon so und so viele Jahre auf dem Buckel). Denn ein jeder findet sich ausgestattet mit einer Reihe von Bedingungen, Qualitäten, Reflexen und Strebungen, die zwar vollkommen elementar sind, die aber andererseits doch wie überflüssige, verzichtbare Supplemente hinausstehen über den ohnehin übergroßen Bereich dessen, was man lenken und verantworten kann.

Dass man zu essen und zu trinken braucht; dass man defäkieren muss; dass man der Ruhe, der Körperpflege, der Zerstreuung bedarf;[37] dass man sexuell bedürftig sowie hungrig nach Anerkennung und Zuwendung ist; dass man an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geboren ist; dass man ein Geschlecht sein eigen nennen und einen Platz in einer Generationenfolge einnehmen muss;[38] ja dass man überhaupt existiert, Raum einnimmt und Luft zum Atmen braucht – all das gehört zu diesem umfassenden Paket »ontischer Mitgift«.

Anders stellt nüchtern fest: »Im Augenblick der Entdeckung dieser ›Mitgift‹ entsteht Scham.«[39] Und er folgert: »›Sich schämen‹ bedeutet also: nichts dagegen tun können, daß man nichts dafür kann.«[40] Der aus solcher Ohnmacht folgende Wunsch zielt auf Beseitigung dieses Pakets, für das man nichts kann. Das Ziel der Scham besteht darum nicht etwa in der Umgestaltung der »ontischen Mitgift« und in der Angleichung an irgendein Ideal. Der innige Wunsch lautet, die Mitgift möge nicht da sein. Das »Ideal« der Seinsscham besteht im Nichtsein.

Es erscheint sehr bezeichnend für unsere Zeit, dass dieser Wunsch weit verbreitet und besonders stark ist. Denn unsere Gegenwart kann mit dieser Dimension ontischer Mitgift offenbar besonders schlecht umgehen. Die neoliberale »Verantwortlichmachung« (»Responsibilisierung«) in der Ökonomie – zum Beispiel, dass Menschen sich nicht als Lohnabhängige, sondern vielmehr als Selbständige und als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft, als sogenannte »Ich-AGs«, begreifen sollen – besitzt offenbar ihr Pendant im Bereich der Ethik: Mehr denn je erscheint es unerträglich, dass Menschen irgendetwas an sich haben, wofür sie nichts können.

Und mehr denn je lassen sich die Dinge (zumindest manche von ihnen) ja verändern! Darum müssen Asymmetrien der Gesichtszüge beglichen und sämtliche übrigen möglicherweise störenden Auffälligkeiten – bis hin zu solchen der Genitalien – durch kosmetische Chirurgie beseitigt werden.[41] Auch die Geschlechtszugehörigkeit darf nicht einfach hingenommen, sondern muss skeptisch überprüft und verantwortet werden. Auch sie lässt sich heute ja verändern – sei es medizinisch oder verwaltungstechnisch. Wer dies nicht unternimmt oder wenigstens zusammen mit seinem Namen seine Wunschpronomina (wie »he/his«) anführt, sondern stattdessen einfach still beim biologischen oder in der Geburtsurkunde zuerkannten Geschlecht bleibt, kann nun in den Verdacht »cissexueller« Bequemlichkeit oder einer opportunistischen Haltung gegenüber der Mehrheit geraten.[42]

Die Gegenwartskultur hat ein Problem mit allem Stofflichen. Dies zeigt sich alleine schon an ihren Präferenzen für alles Temporäre, Veränderbare, Volatile, Virtuelle, Fluktuierende oder Fluide. Von den Individuen verlangt sie darum, nichts an sich zu dulden, für das sie nichts können. Viele Teile des Körpers, und nicht nur die Genitalien, sind dadurch zu Schamteilen geworden; aber auch nicht nur die Körperteile, sondern auch zum Beispiel die Pronomina, die Vornamen und andere institutionelle Seinsanteile der Person.[43]

Viele der zuvor genannten Erscheinungsformen der Scham, zum Beispiel die Verbrauchsscham, lassen sich auf das allgemeinere, existenzielle Prinzip der Seinsscham zurückführen. Die Versuche der Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks, des Güter- und Ressourcenverbrauchs und des Besitzes sowie die Selbstoptimierung sind Bestrebungen, den Seinsanteil der Individuen gegenüber dem Anteil ihres Tuns zu reduzieren – sozusagen deren Kosten-Nutzen-Rechnung zu verbessern.

Auch die in den letzten Jahrzehnten vollzogene Neubewertung der ontischen Mitgift Sexualität sowie deren zunehmendes Verschwinden in den westlichen Gesellschaften kann als Teil dieser Entwicklung begriffen werden. Wie Volkmar Sigusch bemerkt, hat diesbezüglich etwa seit Mitte der 1980er Jahre eine Veränderung stattgefunden, die »vielleicht noch einschneidender [war] als die, die mit der sexuellen Revolution einherging«. Sexualität werde heute, so Sigusch, »nicht mehr als die große Metapher der Lust und des Glücks überschätzt und positiv mystifiziert, sondern negativ als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit und Aggression diskursiviert.«[44] Die Tatsache, dass es in diesen Dingen in relativ kurzer Zeit zu so drastischen Veränderungen kommen kann, sollte als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Sexualität nicht per se und jedenfalls nicht zur Gänze das pudendum, das Schamobjekt par excellence ist. Wenn man sie vielleicht auch niemals vollständig von Scham befreien kann (wie es Teile der 1968er-Bewegung erhofft und versucht haben), so gibt es doch offenbar Epochen, die sie unter bestimmten Bedingungen und zu bestimmten Gelegenheiten zulassen und sogar freudig bejahen können, während andere Epochen dies kaum vermögen. Der Grund dafür liegt demnach nicht in der Sexualität, sondern im veränderten Verhältnis dieser Gesellschaften zu den Fragen der »ontischen Mitgift«. Manche Gesellschaften finden eben ein Auskommen mit dem Umstand, dass an Menschen vieles dran ist, wofür sie nichts können, während andere Gesellschaften meinen, alles, was auf diesen Umstand verweist, militant bekämpfen zu müssen.

Das Stoffliche der Menschen aber betrifft nicht allein das Körperliche. Schließlich haben Menschen zum Beispiel auch Gefühle, für die sie nichts können, und Gedanken, die sie sich nicht absichtlich gemacht haben.[45] Manches davon gehört vielleicht sogar zum Besten, dessen sie fähig sind – zum Beispiel im poetischen Einfall, im charmanten Witz, in der künstlerischen Formfindung, in der philosophischen Spekulation, in den Umwegen der Liebe, im Zeitvertreib der Freundschaft und Geselligkeit, in den lustvollen Narrheiten und Leidenschaften oder in den sei es müßigen, sei es besessenen Beschäftigungen des Spiels, der Hobbys und des Umherschweifens. Aus einem bestimmten Blickwinkel aber, aus einer bestimmten Perspektive, die in unserer Gegenwart zu erheblicher Dominanz gekommen ist, erscheinen viele dieser Stofflichkeiten obsolet. Der Philosoph Günther Anders war wohl der Erste, der eine solche historische Veränderung dieser Perspektive und das dadurch hervorgerufene Gefühl der Obsoleszenz des Menschen erkannt hat. Er entdeckte eine bestimmte, neue Form der Scham – er nannte sie die »prometheische« – und mit ihr zugleich die Geschichtlichkeit der Scham.

3.Die Scham der Verarmten

Kaum jemals anders denn als unlustvoll erfahrbar sind jene Formen von Scham, deren Betroffene eine Verarmung hinter sich haben. Die Erfahrung von Dequalifizierung; das Gefühl, die Fähigkeiten der Beherrschung von Geräten eingebüßt zu haben; nutzlos oder sogar zu einer Fehlerquelle geworden zu sein gegenüber diesen; ökonomisch verarmt zu sein; einen Arbeitsplatz, Zukunftsperspektiven, Sozialkontakte, Beliebtheit oder Ansehen verloren zu haben, sind typische, bekannte Ursachen von Scham. Auch für diese Formen bietet die Gegenwart eine Reihe vermehrter oder auch neuer Anlässe. Mitunter übernimmt sie auch die eine oder andere bereits früher vorhandene Schamquelle und verschafft ihr eine neue Gestalt. Dies ist der Fall bei der sogenannten »prometheischen« Scham.

Die »prometheische« Scham

»›Wer bin ich schon?‹ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks.«[46]

In der griechischen Mythologie ist Prometheus der Name eines Titanen, der den Menschen das Feuer brachte, indem er es den übrigen Göttern stahl (wofür er von ihnen grausam bestraft wurde – bis zu seiner Befreiung durch Herakles).[47] Darum ist er spätestens seit der Entwicklung von Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren sowie seit der damit verbundenen aufklärerischen Kritik an der (christlichen) Religion das Vorbild des unerschrockenen, revolutionären menschlichen Erfindergeistes.[48] Zusammen mit seinem Bruder Epimetheus soll er zudem die von den Göttern im Rohzustand geschaffenen Tiere und Menschen mit deren Kräften und Fähigkeiten ausgestattet haben.[49] Dabei sollen den beiden allerdings Fehler unterlaufen sein. Daraus erklärt der Mythos diverse Unzulänglichkeiten, unter denen die Menschen leiden.

Diese beiden Motive hat Günther Anders zu einem Zentralbegriff seiner großen, zweibändigen Studie »Die Antiquiertheit des Menschen« (verfasst zwischen 1942 und 1979) zusammengeführt: der »prometheischen Scham«. Das Thema von Anders’ Buch bildet das Verhältnis des Menschen zur Technik beziehungsweise zu seiner Produktewelt. Dabei aber stößt Anders auf ein »Scham-Motiv, das es in der Vergangenheit nicht gegeben hat«.[50] So er entwickelt er eben zugleich, sozusagen en passant, eine originelle, auf eigenständige Konstruktionen gestützte Theorie der Scham – und zwar vielleicht eine der besten, die es bis heute gibt.

Auf die Scham stößt Anders in einer Ausstellung technischer Apparate. Beim Beobachten eines Bekannten entdeckt er, dass dieser sich den Dingen gegenüber verlegen und ehrfürchtig nähert.