Erwachsenensprache - Robert Pfaller - E-Book

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Robert Pfaller

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Beschreibung

Überall wird im öffentlichen Diskurs heute auf Befindlichkeiten Rücksicht genommen: Es werden vor Gefahren wie »expliziter Sprache« gewarnt, Schreibweisen mit Binnen-I empfohlen, dritte Klotüren installiert. Es scheint, als habe der Kampf um die korrekte Bezeichnung und die Rücksicht auf Fragen der Identität alle anderen Kämpfe überlagert. Robert Pfaller, Autor des Bestsellers »Wofür es sich zu leben lohnt«, fragt sich in »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur«, wie es gekommen ist, dass wir nicht mehr als Erwachsene angesprochen, sondern von der Politik wie Kinder behandelt werden wollen. Steckt gar ein Ablenkungsmanöver dahinter? Eine politische Strategie? Es geht darum, als mündige Bürger wieder ernst genommen zu werden – doch dann sollten wir uns auch als solche ansprechen lassen.

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Robert Pfaller

Erwachsenensprache

Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoVorwort1. ErwachsenenspracheVorsicht, Erwachsene!Die Brutalisierung der VerhältnisseGrausame Realitäten, zartfühlende PolitikenWas neoliberale und postmoderne Diversitätspolitiken wirklich attackieren: das Prinzip BürgerlichkeitDiversität ersetzt GleichheitAusnahmen ersetzen die RegelVerwalter ersetzen die OpferGutgemeinte Worte werden böseMöglichkeiten und Grenzen einer Weltveränderung durch SpracheWorte ersetzen WirklichkeitenLeute, die von ihren Fehlern lebenAntidiskriminierung von oben. Koloniale DekolonialisierungIm Namen der Unteren drücken die Mittleren andere Mittlere hinunterPostmoderne Pseudopolitik ersetzt linke Politik – und diffamiert sieReaktionäre Mimosen: Größtes Pathos für kleinstes PipifaxVerletztheit ist Wahrheit. Produktion von UnpersonenNo sex, please! Puritanismus, antiautoritäre Autoritätssehnsucht und neoliberale PrivatisierungErwachsenheit!2. Enttäuschende EnttäuschteEnttäuschende Enttäuschte. Was uns die Wähler Trumps über ihre Kommentatoren verraten3. Weiße Lügen, schwarze Wahrheiten. Elemente erwachsener VerständigungERSTER TEIL: WEISSE LÜGENZWEITER TEIL: SCHWARZE WAHRHEITENABSCHLUSS4. Wie die anderen zu unseren Bestien werden. Über die Produktion von Ressentiment in der PostmoderneTEIL 1: EHRE. WÜRDE. OPFERSEINTEIL 2: DAS »RESSENTIMENT« IN DER KONZEPTION FRIEDRICH NIETZSCHES. UND SEINE PRODUKTION IN DER POSTMODERNE. EINE GEBRAUCHSANWEISUNG IN SECHS SCHRITTEN5. Die anmaßenden Gesten der Bescheidenheit. Über Gespaltenheiten im erwachsenen SprechenDie Verkehrungen der VernunftDie Verdoppelung. Ebenen des Sprechens. Das Ich und das Über-IchDas Ich als Epizentrum eines Distanzverlusts6. Der zweifelhafte Schatz der Identität»Für gar nichts bin ich mir zu schade. Es muss schon etwas sein!« Einige Variationen, Abschweifungen und Divertissements über IdentitätIm Rausch der Unbestimmtheit. Vage Identitäten, trügerische Freiheiten, beharrliche Konstruktionen»Spiele deine Rolle gut«»Überschreite deine Prinzipien!«Schlussfolgerungen7. Täuschungen bekommen Getäuschte. Männer erklären Frauen Dinge: Aus modernem Amüsement wird postmoderner ErnstDas Sprachspiel des männlichen Erzählens und ErklärensDie Ironie des weiblichen FragensIronieverlust in der Kultur. Die Täuschungen bekommen Getäuschte8. Kindliche Götter. Das Unter-Ich: Beschreibung einer inferioren BeobachtungsinstanzJunge Götter und alteKomplementäre und gleichgerichtete GötterBegutachtung von oben und von untenEinsicht und NachsichtWorüber sich liebevoll lächeln lässtSchlussDankBibliographieRegister

»Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten […] zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.«

 

 Victor Klemperer (1985: 16)

 

 

»Sind wir vielleicht voreilig in der Annahme, daß das Lächeln des Säuglings nicht Verstellung ist?«

 

 Ludwig Wittgenstein (1980: 141)

 

 

»und wie schön ist erst die welt, wenn jeder seine dreckschleuder dem spucken aufhebt; wenn da der feind steht und ich muss ihn nicht beschreiben und nicht hassen sondern töten oder anders getötet werden. und der feind will meine frau vögeln oder mein fleisch fressen oder einfach meine knochen brechen und nichts weiter, jedenfalls nicht einen eindruck machen. in solchen sachen sind wir jung und kräftig und stossen zu und töten ohne applaus. und deine sprache kann mir nicht den krebs erregen ich werde sterben weil ich schlicht und ohne zorn getötet werde weil ich im weg stehe und weil ich nahrhaft bin.«

 

 Oswald Wiener ([1969]: LXII)

Vorwort

Ein Erlebnis im Flugzeug auf dem Weg in die USA (noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2016) bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Am Beispiel einer Warnung vor sogenannter »adult language« versinnbildlicht es eine gesellschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf Erwachsenheit nicht mehr selbstverständlich von erwachsenen Menschen erwartet werden darf. Diese zunächst dem Anschein nach nur das individuelle Leben betreffende Veränderung hat, wie sich zeigen lässt, gravierende Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben und für die Politikfähigkeit der Menschen. Wenn nicht mehr Erwachsenheit – und alles, was dazu gehört – öffentlicher Standard ist, sondern diverse Empfindlichkeiten, Herkünfte oder sonstige Beschaffenheiten, dann ist es den Profiteuren der neoliberalen Umverteilung nicht nur gelungen, die Verlierer in lauter irrelevante, rivalisierende oder verfeindete Untergruppen auseinanderzudividieren. Vielmehr ist es dann auch gelungen, jene Öffentlichkeit zu zerstören, in der solche Gruppen sich auch nur so weit solidarisieren könnten, dass sich erörtern ließe, wie sie trotz aller Divergenzen friedlich und für alle erträglich zusammenleben könnten; wie viel Ungleichheit sie eigentlich dulden möchten; oder gar, was bei allen konfliktuellen Interessen doch zum Vorteil aller Angehörenden dieser Gesellschaft wäre.

In der westlichen Welt zeigt sich gegenwärtig fast überall ein ähnliches Bild wie jenes, das bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen so deutlich zum Vorschein kam: In fast allen Ländern beschränken sich die politischen Alternativen auf zwei Optionen: entweder die Fortsetzung einer neoliberalen Freihandels- und Austeritätspolitik, die meist sowohl die eigene Bevölkerung als auch die weit entfernter Länder ins Elend stürzt und all dies mit einer Reihe von scheinbar emanzipatorischen – meist vorwiegend auf der Ebene der Sprache angesiedelten – Mikropolitiken der Rücksicht auf Empfindliche oder Benachteiligte verbrämt; oder eine mehr oder weniger extrem rechte Politik, die genüsslich und obszön auf solche Rücksichten pfeift, stattdessen die wirklichen oder eingebildeten Sorgen der Leute beim möglichst drastischsten Namen nennt, den Freihandel vielleicht ein wenig eindämmt, aber dafür die Finanzmärkte weiter dereguliert und damit mindestens ebenso der weiteren Bereicherung der Allerreichsten Vorschub leistet wie ihre zuvor genannte Konkurrentin. Bezeichnend für diese einander letztlich doch sehr ähnlichen Alternativen ist, dass sie kulturell wie zwei verschiedene Welten auseinanderdriften, zwischen denen kaum noch Verständigung möglich ist: So mussten zum Beispiel die Gegner Donald Trumps erstaunt bemerken, dass vieles, was sie dem republikanischen Kandidaten zum Vorwurf machten – etwa seine Obszönitäten, seine verächtlichen Worte für Frauen und bestimmte ethnische Gruppen oder auch sein fahrlässiger Umgang mit der Wahrheit – in den Augen seiner Anhänger keineswegs ein Mangel, sondern vielmehr ein Argument für ihn war.

 

Angesichts dieser wenig anmutenden politischen Alternativen und der für sie charakteristischen Verständigungsprobleme und Sprachverwirrungen möchte dieses Buch einen Ausweg skizzieren, indem es eine bestimmte Haltung vorschlägt: Erwachsenheit. Diese Haltung bedeutet, manche Unannehmlichkeiten oder Übel ebenso als notwendige Begleiterscheinungen des Lebens zu erkennen wie die eigenen Möglichkeiten, sie zu ertragen oder zu überwinden. Nur auf diesem Weg lassen sich von diesen Übeln andere unterscheiden, die im sozialen Leben bewältigt werden müssen und für die die Politik zuständig ist.

Pseudopolitik hat in den letzten Jahrzehnten regelmäßig darin bestanden, diese Grenze zu verwischen und anstelle der politischen Probleme vorzugsweise jene zu behandeln, welche erwachsene Menschen durchaus selbst handhaben können. Durch Ermunterung zur Empfindlichkeit hat sie Menschen infantilisiert. Dadurch aber hat sie sie auch entsolidarisiert. Anstatt wie erwachsene Menschen das Allgemeine im Auge zu behalten und sich zusammenzuschließen, wollten die empfindlich Gemachten nur noch ihre eigenen Besorgnisse bevorzugt behandelt oder wertgeschätzt sehen.

Wieder erwachsen zu werden und dementsprechend zu sprechen beginnen bedeutet vor diesem Hintergrund keine leichte Aufgabe: Vieles, was in der Sache richtig scheint – viele berechtigte Engagements wie Antirassismus oder Antisexismus, Einsatz für minoritäre Positionen aller Art –, ist durch die perfide Funktion, die diese Engagements innerhalb einer neoliberalen Politik innehatten, mit guten Gründen in Verruf geraten. Ihre Parolen sind selbst in den Ohren derjenigen, die sie noch verstehen können, keine fortschrittlichen Aufrufe mehr, sondern erscheinen nur noch geeignet, die untere Hälfte der Gesellschaft weiter zu spalten. Wer heute zum Beispiel »Antirassismus« sagt, kann nicht mehr hoffen, im Sinn eines verallgemeinerungsfähigen humanitären Ideals verstanden zu werden, sondern muss damit rechnen, als jemand wahrgenommen zu werden, der die prekärer lebenden Bevölkerungen städtischer Außenbezirke oder ländlicher Regionen zu deklassieren versucht und ihnen schließlich auch noch das Distinktionskapital solcher Ideale wegnimmt.

 

Erwachsenheit im Sprechen bedeutet zunächst, solche Doppelbödigkeiten wahrnehmen zu können; nicht kindlich auf dem (gut) Gemeinten zu beharren, sondern Abstand zu sich zu gewinnen und das, was andere tatsächlich verstanden haben, ebenso zu berücksichtigen wie auch das, was Erwachsene hätten verstehen können. Da Erwachsenheit ferner, wie zuvor beschrieben, auch darin besteht, Widerstandskraft gegenüber den notwendigen Übeln des Lebens auszubilden, wird dies auch ein Merkmal erwachsenen Sprechens sein: Wir werden manchmal in Kauf nehmen müssen, ein wenig böse zu sprechen, um nicht unsolidarisch als die einzigen Guten im Unterschied zu anderen dazustehen (man könnte diese Haltung, um dem neoliberalen, postmodernen Jargon ausnahmsweise einmal Genüge zu tun, auch als »critical goodness« bezeichnen); und wir werden ebenso sehr unsere Empfindlichkeit zügeln müssen, um andere nicht für störende Worte sofort zu brandmarken. Dann werden wir bemerken können, dass Sprechen immer eine bestimmte Gespaltenheit aufweist – und zwar so, dass nicht die guten Worte, sondern vielmehr unser Verhältnis zu unseren Worten unser Sprechen charakterisiert.

Nur in dieser Wahrnehmung wechselseitiger Gespaltenheit schließlich werden wir mit anderen sprechen können, ohne uns sofort von ihnen abzuspalten oder ihnen in Gestalt unserer vermeintlichen Gründe unmittelbar vermeintliche Gegengründe zu liefern. Nur erwachsenes Sprechen ermöglicht solidarisches Sprechen und Verhalten – in einer Gesellschaft, für die Gleichheit kein Ding der Unmöglichkeit darstellt.

1. Erwachsenensprache

Vorsicht, Erwachsene!

Vor kurzem fliege ich von Amsterdam aus in die USA. Die Maschine gehört einer europäischen Fluglinie, und sie befindet sich noch über europäischem Boden, als ich mir in der Videothek Michael Hanekes Film »Amour« ansehen möchte – jenen 2012 mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichneten Film, worin Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant alternde Eheleute und deren Leiden nach einem Schlaganfall der Frau darstellen. Bevor der Film beginnt, erhalte ich aber noch eine Warnung: Es werde in diesem Film »adult language« vorkommen, also Erwachsenensprache, die möglicherweise meine Gefühle verletzt. Ich staune.

Denn zunächst ist »Amour« ja alles andere als ein pornographischer oder auch nur betont sexueller Film. Es geht um die verzweifelte, aufopferungsvolle Liebe zwischen alten Leuten. Und da werde ich schon gewarnt? Welche Art von Filmen könnte ich mir ansehen, ohne solche Warnungen zu bekommen? Außerdem handelt es sich um ein Kunstwerk, einen Autorenfilm klassischen Zuschnitts, wie nicht mehr allzu viele produziert werden, für ein wohl schmaler werdendes Publikum. Wer »Amour« ansieht, dürfte darum in der Regel wissen, was ihn erwartet. Wer es aber nicht weiß und vielleicht irrtümlich einen Abenteuerfilm mit amourösen Verwicklungen, eine frivole Burleske oder einen Porno erwartet – muss der wirklich gewarnt werden?

Mein Befremden rührt, wie ich mir nun sage, daher, dass ich eine Grenze zwischen Kulturen überschreite: Ich bin schließlich dabei, von der etwas robusteren, europäischen in die bekanntermaßen zarter besaitete US-amerikanische Kultur überzuwechseln. Und offenbar hat die europäische Fluglinie – in einer Art von Antizipation oder von vorauseilendem Gehorsam, oder um sich gerichtliche Klagen amerikanischer Passagiere auf amerikanischem Boden zu ersparen – sogar schon innerhalb Europas die US-amerikanischen Standards übernommen. Das ärgert mich ein bisschen: Habe ich denn als Europäer in Europa keinen Anspruch auf die mir vertrauten und von mir verteidigten kulturellen Bedingungen und Spielregeln? Muss ich mich hier den puritanischsten US-Amerikanern anpassen?

Andererseits, sage ich mir, überquere ich vielleicht weniger eine Kultur- als eine Zeitgrenze. Was die US-Amerikaner heute schon praktizieren und was uns heute noch seltsam vorkommt, wird schließlich – so wie zum Beispiel die Rauchverbote, die verstärkte Aufmerksamkeit für Hautfarben und die diversen kleinlichen Sprachregelungen – vielleicht morgen schon auch bei uns allgemeiner Standard sein. Dann allerdings empört mich die Sache noch mehr. Meinetwegen sollen die US-Amerikaner, oder wenigstens die stimmungsbildenden Mehrheiten dort, sich in ihren Eigentümlichkeiten ergehen, so viel sie wollen. Aber sie sollen sie bitte nicht auch noch uns aufnötigen. (Freilich muss ich mir sagen, dass es auch in Europa Leute gibt, die auf genau so etwas hinarbeiten.)

Aber was ist es, das mir hier so sehr missfällt? Bekomme ich nicht des Öfteren Warnungen, die ich nicht unbedingt brauche? Was ist das Besondere an diesem Typ von Warnung? – Nun, zunächst bemerke ich, dass ich ja als Erwachsener vor Erwachsenensprache gewarnt werde. Man erklärt nicht einfach, dass dieser Film erst für Menschen über 18 geeignet ist. (Und ohnehin ist »Amour« wohl kaum ein Film, den sich Teenager gerne ansehen möchten.) Es wird also mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass nicht alle Erwachsenen in der Lage sind, sich erwachsen zu verhalten und einen Film, dessen Sprache ihnen nicht gefällt, kritisch zu betrachten oder aber sein Abspielen auf ihrem Monitor zu unterlassen. Das scheint mir das Neue und Auffällige an diesem Phänomen, diesem Symptom der aktuellen Kultur, zu sein: die als evident vorausgesetzte Annahme, dass es Erwachsenen nicht zumutbar sei, sich als Erwachsene zu verhalten; dass die Belastbarkeit, die Erwachsenen eignet, nicht von jedem Erwachsenen mehr verlangt werden dürfe.

Nun gut, denke ich mir. Ich bin ja zum Glück belastbar, und hier wird eben einmal für die anderen, die es nicht im selben Maß sind, etwas unternommen. Warum aber regt mich das so sehr auf? – Ich sage mir: Meine Wut rührt daher, dass mir dieses Zartgefühl von oben nach unten (denn es sind ja die Autoritäten, die hier zartfühlend auf die Untergebenen einzugehen scheinen) infam vorkommt. Und warum infam? – Nun, weil es in einem auffälligen Gegensatz zu dem steht, was sonst gerade, oder sagen wir, seit gut zwei bis drei Jahrzehnten in dieser Kultur – der Kultur der privilegierten westlichen, kapitalistischen Länder – passiert: der eklatanten Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Hier nehmen scheinbar Leute auf Leute Rücksicht, auf die sie im Übrigen nicht die geringste Rücksicht nehmen. Und vielleicht hilft ihnen das Erstere ja auch noch beim Zweiteren.

Die Brutalisierung der Verhältnisse

»Wir wären gut – anstatt so roh

Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.«

Bertolt Brecht, »Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse« (Brecht 1984: 1106)

Ich halte mir dazu kurz vor Augen, was eigentlich jeder weiß – aber was man sich vielleicht nicht immer in seiner Gesamtheit, als Panorama vor Augen hält:[1] Neoliberale Austeritätspolitik hat in den letzten Jahren nicht nur reiche westliche Staaten in den Ruin getrieben und allein in Europa Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut gestürzt. Sie hat auch vieles, was bislang an zivilisatorischen Standards, Formen erfüllender Arbeit und guten Lebens selbstverständlich war und zum Gemeineigentum zählte, zerstört: Plötzlich fuhren Eisenbahnen in die Irre, Pensionsvorsorge geriet zum Spekulationsgegenstand, Gesundheit und Bildung verfielen einem irrationalen Ökonomisierungsdruck, Arbeiten verwandelten sich in Bullshit-Jobs, Produkte zerfielen vorzeitig dank geplanter Obsoleszenz oder entzogen sich in die Undurchschaubarkeit ihrer ständig wechselnden Benutzeroberflächen, Bürgerrechte fielen umstandslos der Überwachung durch die Geheimdienste (mitunter sogar durch fremde Geheimdienste) zum Opfer, menschliche Grundrechte (wie zum Beispiel die Versorgung mit Trinkwasser) wurden verhandelbar, demokratische Selbstbestimmung opferte man für Freihandelsverträge, und Universitäten wurden zu stressigen, überregulierten Lernanstalten für Menschen, die nur noch tun durften, was man ihnen vorschrieb – und was anhand von Punkten, Zertifikaten und Kennzahlen bürokratisch darstellbar war.

Unter der Führung der USA war diese Politik zugleich extrem aggressiv: Der Reihe nach haben die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre diversen Verbündeten innerhalb und außerhalb der NATO bezeichnenderweise gerade vergleichsweise säkulare arabische Staaten wie Irak, Libyen und Syrien im Namen von »humanitarian warfare« und mit dem Ziel des »regime change« militärisch angegriffen.[2] Allein die Zahl der Kriegsschauplätze, auf denen die deutsche Bundeswehr gegenwärtig Kampfeinsätze tätigt, mag hier erstaunen – insbesondere angesichts des deutschen Grundgesetzes.[3] Diese Kriegshandlungen, meist anfänglich mit dem Vorwand gerechtfertigt, an diesen Orten Demokratie zu installieren, hinterließen freilich regelmäßig alles andere als demokratische Verhältnisse. Stattdessen entstanden an den Orten der westlichen »demokratischen« Interventionen nichts als »failed states« mit permanentem Bürgerkrieg.[4] Darin zeichnet sich ein neues Muster von Kolonialismus nach dem Ende des Kalten Krieges ab: Während im Kalten Krieg die beiden großen Machtblöcke NATO und Warschauer Pakt noch vorwiegend daran interessiert schienen, in den ausgebeuteten Regionen der Welt wenigstens halbwegs funktionierende, wenn auch meist diktatorische verbündete Vasallenstaaten zu errichten, produziert der nunmehr weitgehend allein herrschende »freie« Westen, wo er kann, nur noch Zonen ohne jegliche funktionierende Staatlichkeit: Denn so können private westliche Firmen mit diversen lokalen Gangsterbanden offenbar umso besser lukrative Rohstoffgeschäfte tätigen.[5] Man kann dies gegenüber dem klassischen Kolonialismus als eine sarkastische Form von »Postkolonialismus« betrachten.

Schließlich kann man dieses Bild noch ergänzen durch einen Blick darauf, wie das reichste und mächtigste Land der Welt mit seinen eigenen Bürgern umgeht. Mochten die USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch als Hoffnungsträger einer Konsumgesellschaft erscheinen, die Wohlstand für alle oder wenigstens für viele, und dies in einer baldigen Zukunft auch für Menschen anderer Länder, zu versprechen schien, so scheint auch dieses Versprechen kurz nach dem Ende des Kalten Krieges entbehrlich geworden zu sein. 2015 lebten 43,1 Millionen Amerikaner unter der Armutsgrenze – das ist ein Satz von 13,5 Prozent.[6] Dazu weist dieses Land – knapp hinter den Seychellen – auch die höchste Rate von Inhaftierungen auf: Auf 100000US-Bürger kommen rund 700, die einen Gefängnisaufenthalt verbringen müssen – das ergibt aktuell eine Gesamtzahl von mehr als 2 Millionen Menschen.[7] Der Anfang 2017 aus dem Amt geschiedene Präsident Barack Obama hat diese Zustände in einem programmatischen rechtswissenschaftlichen Aufsatz treffend wie folgt kommentiert:

»Wir können es uns nicht leisten, 80 Milliarden Dollar jährlich für Inhaftierungen auszugeben; 70 Millionen Amerikaner, das ist nahezu ein Drittel aller Erwachsenen, mit irgendeiner Art von krimineller Vormerkung abzuschreiben; 600000 Häftlinge jährlich zu entlassen ohne ein besseres Programm zu ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft; oder die Humanität jener 2,2 Millionen Menschen zu ignorieren, die sich gegenwärtig in US-Gefängnissen befinden, sowie jener 11 Millionen Männer und Frauen, die jedes Jahr in die US-Gefängnisse kommen oder daraus entlassen werden. Außerdem können wir das Erbe des Rassismus nicht verleugnen, das weiterhin Ungleichheit in die Wahrnehmung des Justizsystems durch viele Amerikaner bringt.«[8]

Der letzte, betont vorsichtig formulierte Satz verweist nicht allein auf den hohen Anteil von Schwarzen in US-Gefängnissen. Auch der Umstand, dass in den letzten Jahren auffallend viele unbewaffnete Schwarze bei Polizeikontrollen ums Leben kamen, mag darin anklingen.

(Angesichts solcher Zustände wird übrigens wohl deutlich, wie fremd und lächerlich den Betroffenen ausgerechnet die Sorge um ihre angemessene Bezeichnung erscheinen muss – und dass diese Sorge folglich nicht die ihre ist. Die Bemühungen um das saubere Bezeichnen kommen nicht von den bezeichneten Gruppen, denn die haben ganz andere Sorgen – und fühlen sich durch diese Sorge allenfalls bevormundet.)[9] Freilich stehen die reichsten europäischen Länder in manchen solcher Statistiken der Schande nicht weit hinter ihrem großen Vorbild zurück. Dass in Deutschland, dem reichsten Land der europäischen Union, 15 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, und damit jedes fünfte Kind,[10] wirft ein ähnlich bezeichnendes Licht auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

So lassen sich, in aller Kürze und Grobschlächtigkeit, die – ihrerseits groben – Entwicklungen der westlichen sowie der westlich dominierten Welt zusammenfassen, die seit dem Ende des Kalten Krieges möglich und wirklich geworden sind. Ohne Resignation, aber in aller gebotenen Schonungslosigkeit müssen wir uns heute die Wirkungen des sogenannten Neoliberalismus vor Augen halten: Nicht nur haben die führenden Mächte der westlichen, kapitalistischen Welt den Anspruch aufgegeben, andere Länder unter ihrer Hegemonie, wenn auch vielleicht mit Verzögerung, in den Wohlstand zu führen. Sie haben sogar im jeweils eigenen Land das Versprechen preisgegeben, mit Hilfe eines »Fahrstuhleffekts« im Zug wachsenden Wohlstands auch die ärmeren Klassen mit nach oben zu ziehen. Die »Kurve« des Ökonomen Simon Kuznets hatte dies in der Zeit des Kalten Krieges hoffnungsvoll prophezeit: »Growth is a rising tide that lifts all boats.«[11] Dies schien sich anfänglich zu bewahrheiten. Tatsächlich führte in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der wirtschaftliche Aufschwung der kapitalistischen Länder zu einer beträchtlichen Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit, so dass das oberste, reichste Zehntel der Bevölkerung schließlich nicht mehr als 30 bis 35 % des nationalen Einkommens bezog. Seit den 1970er Jahren jedoch geht diese Schere wieder auseinander.[12] Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die gesellschaftliche Ungleichheit wieder die Ausmaße angenommen, die sie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewiesen hatte. Das oberste Zehntel verdient jetzt wieder 45 bis 50 % des nationalen Gesamteinkommens.[13] Aufgrund von Deindustrialisierung und Kürzungen von Sozialleistungen finden Arbeitslose und prekär Beschäftigte nicht mehr aus der Armutsspirale heraus. Und selbst wenn die Wirtschaft wächst, produziert sie keine zusätzlichen Arbeitsplätze mehr. Die sogenannte Globalisierung nützt, entgegen den anfänglich geweckten Hoffnungen, wie immer offensichtlicher wird, nur den privilegierteren Teilen der privilegierten Gesellschaften.[14] Nach dem im Januar 2017 veröffentlichten Bericht der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam besitzen nun 8 Reiche genauso viel wie die ärmsten 50 Prozent der Menschen. Ihr Anteil am globalen Vermögen beträgt 0,2 Prozent. Und das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über 50,8 Prozent des weltweiten Vermögens – es besitzt mithin mehr als die restlichen 99 Prozent der Menschen.[15]

Die Weltgesellschaft spaltet sich, wie Alain Badiou (übrigens noch anhand etwas älterer, geringfügig optimistischerer Zahlen) anschaulich zusammenfasst, nun grob in drei Teile. Die reichsten 10 Prozent besitzen 86 Prozent der verfügbaren Ressourcen. Die globale Mittelschicht, 40 Prozent der Menschen, fast ausschließlich in westlichen Ländern beheimatet, besitzt 14 Prozent; die übrigen 50 Prozent besitzen so gut wie nichts (s. Badiou 2016: 31).

Grausame Realitäten, zartfühlende Politiken

Diese beiden Bilder – die persönliche Vignette meines Erlebnisses im Flugzeug einerseits und der allgemeine Befund neoliberaler Zerstörung von gesellschaftlichem Wohlstand und Wohlleben sowie die verstärkte Produktion von Ungleichheit andererseits – müssen nun nebeneinander betrachtet werden: Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen mit der größten Selbstverständlichkeit in Armut und Aussichtslosigkeit getrieben werden, und in der man zugleich Erwachsene vor Erwachsenensprache warnt. Das eine hängt offenkundig mit dem anderen zusammen: Denn es sind dieselben Mächte, die das eine und das andere vorantreiben.

Im selben Moment, in dem die USA und ihre Verbündeten die Welt mit Krieg, dubiosen Revolten und Bürgerkrieg überziehen und den friedlich belassenen Teil mit Austeritätspolitik in Armut treiben, überziehen sie die Welt auch mit einer Ideologie des gesäuberten, verharmlosenden Sprechens. Recht treffend erscheint darum Nancy Frasers Begriff des »progressiven Neoliberalismus« für diese Allianz scheinbar emanzipatorischer, progressiver Anliegen mit verschärfter Weltausbeutung.[16] Man warnt Erwachsene vor Erwachsenensprache, vor bösen Witzen, vor sachhaltiger Argumentation, die als verletzend empfunden werden könnte, vor Dissens ebenso wie vor Tabakkultur, rät ab von Stöckelschuhen oder Röcken und Blusen, empfiehlt geschlechtsneutrale Schlabberkleidung,[17] geschlechtsspezifische Berufstitel, gendergerechte Sprache, entweder dritte Toilettentüren oder die Abschaffung der zweiten, verbietet Parfüms, verächtliche Worte und elementare Gesten der Höflichkeit wie das Aufhalten von Türen für Nachkommende.

Hatte die westliche und weitere Welt nach dem Zweiten Weltkrieg von den US-Amerikanern noch gelernt, resolut Anspruch auf Wohlstand zu erheben sowie auf allgemeine Liberalität, wenn nicht sogar auf Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll, so durfte sie nun staunend erfahren, dass es überall Empfindliche gibt, deretwegen man solche Ansprüche gefälligst zurückzuschrauben habe. Dem neoliberalen Angriff auf das Wohlleben, wo es denn überhaupt existierte, kam die Postmoderne als ideologische Souffleuse zu Hilfe – denn die Postmoderne ist, so müssen wir heute einsehen, nichts anderes als die Ideologie des Neoliberalismus.

Hatte es kurz so ausgesehen, als könnten die Errungenschaften der »weißen, anglo-sächsischen protestantischen Männer« bald auch den Frauen sowie diversen anderen ethnischen, religiösen oder areligiösen, sexuellen oder subkulturellen Gruppen auf der ganzen Welt zugänglich werden, so blies nun ein anderer Wind: Der Wohlstand und die Zukunftsperspektiven der meisten wurden spürbar wieder bescheidener, und zugleich redete man den Leuten nun ein, alle würden dann am besten fahren, wenn sie, anstatt Anspruch auf das nun angeblich »weiße« Allgemeine zu erheben, sich lieber auf ihr Eigenes – ihre sogenannte »Identität« besinnen.[18] Die Hegemonie der führenden kapitalistischen Länder und ihrer Eliten verwandelte sich somit in »negative Hegemonie«:[19] Die profitierenden Eliten riefen den benachteiligten Klassen und Weltgegenden nicht mehr zu: ›Bald habt auch ihr das Gleiche wie wir!‹; stattdessen flüsterten sie – assistiert von privilegierten Vertretern aus den »postkolonialen« Regionen – bedeutungsvoll: ›Bleibt lieber, was ihr seid!‹ – ›Be Yourself!‹ Die verschärfte Beraubung rechtfertigte sich nicht mehr wie die bisherige Ausbeutung mit der Aussicht auf zukünftige Teilhabe an der Beute, sondern mit Appellen zum einsichtsvollen Beuteverzicht. Da die Trauben der neoliberalen Profite nun für die meisten zu hoch hingen, erklärten die postmodernen Füchse sie grundsätzlich für zu sauer.

War die Moderne einer Politik der Gleichheit verpflichtet gewesen, so zeichnete sich die Postmoderne, durch ihre Politiken der Ungleichheiten, der Identitäten und ihrer »Diversität« aus.[20] Nicht mehr der Anspruch der Menschen auf einen gewissen Teil des gesellschaftlichen Reichtums sollte befriedigt werden, sondern lediglich ihrer spezifischen Empfindlichkeit eine billige, symbolische Anerkennung widerfahren. Da niemand mehr ihren Blick nach vorne, auf eine bessere Zukunft lockte, ermunterte man viele nun, nach hinten zu blicken, auf ihre Herkunft oder ihre sogenannte Identität. Und nach vorne hin schien es keine Perspektiven mehr zu geben – weder materiell, angesichts steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Einkommen, noch ideell, in Gestalt einer gesellschaftlichen Gesamterzählung. Denn wenn es nicht gerade darum ging, Bombardements fremder Staaten als humanitäre Pflicht zu rechtfertigen, waren es nun die westlichen Eliten selbst, die auf gut postmoderne Weise nicht müde wurden, sämtliche universalistischen Ansprüche auf Gleichheit als partikulare Erfindung alter, wenn nicht toter, weißer Männer zu diffamieren.

Was neoliberale und postmoderne Diversitätspolitiken wirklich attackieren: das Prinzip Bürgerlichkeit

Was dabei auf dem Spiel stand, war aber nichts, was den weißen Männern speziell angehört hätte. Was die postmoderne Ideologie im Dienst der neoliberalen Umverteilung als »weiß, männlich, heterosexuell« etc. brandmarkte, war in Wahrheit die entscheidende Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen: das Prinzip mündiger Bürgerlichkeit (citoyenneté). Die siegreichen Bourgeoisien vor allem Englands und Frankreichs hatten, als erste gesellschaftliche Klasse in der Geschichte, sich selbst nicht mehr nur als besondere Klassen begriffen, sondern vielmehr als allgemeine Klasse, die allen anderen, ungeachtet ihrer Herkunft und Zugehörigkeit, zugänglich sein sollte. Karl Marx und Friedrich Engels haben diese »gleichmachende« Dynamik der bürgerlichen Klasse im internationalen Verhältnis sarkastisch wie folgt beschrieben:

»Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.« (Marx/Engels [1848]: 466)

Dasselbe wie im internationalen Verhältnis zwischen Gesellschaften galt auch für das Verhältnis der Klassen innerhalb ein und derselben Gesellschaft: Könige sollten nun genauso Bürger sein wie Bettler, Eigentümer von Produktionsmitteln ebenso wie Lohnabhängige. Die heimlichen Beschränkungen und Verlogenheiten dieses Anspruchs wurden der Bourgeoisie freilich zuerst von der Arbeiterklasse aufgezeigt. In vielen Ländern Europas war es Letztere, die erst mühsam, gegen den Widerstand der besitzenden Klassen, das allgemeine Wahlrecht, auch für Arbeiter und Frauen, durchsetzen musste. Umso mehr aber hielt die Arbeiterklasse an dem von der Bourgeoisie entwickelten Anspruch auf Universalität – die Identität von Menschen und citoyens – fest. So heißt es bekanntlich im Kampflied der Internationalen Arbeiterassoziation von 1871: »die Internationale erkämpft das Menschenrecht.«[21]

Schon im 19. Jahrhundert also verfochten die imperialistischen Bourgeoisien den Anspruch, Angehörige aller Gesellschaftsklassen in Bourgeois zu verwandeln und Bewohnerinnen und Bewohner sämtlicher Weltgegenden mit Hilfe des Warenaustauschs zu »zivilisieren«. Auch wenn unter diesem Vorwand in Wahrheit ganz andere Interessen durchgesetzt und ganz andere Realitäten hergestellt wurden – so dass zum Beispiel viele Kolonien unter der bourgeoisen Fremdherrschaft noch weitaus hierarchischere, sozusagen feudalere Klassenverhältnisse ausbilden mussten, als sie zuvor geherrscht hatten[22] –, zeigt das Zitat von Marx und Engels doch, dass damals dem kapitalistischen Westen niemand grundsätzlich unzivilisierbar erschien und die Herausbildung einer aus kapitalistischen Kosmopoliten gebildeten Menschheit nur für eine Frage kurzer Zeit erachtet wurde.[23]

Diesem politischen Programm entsprach eine bestimmte Ethik. Wer Mensch und mithin Bürger sein wollte, musste zunächst vertragsfähig sein und also lesen und schreiben können. Die allgemeine Schulpflicht versetzte verstreute junge Menschen unterschiedlichster Herkunft in die Lage, elementare Bürgertechniken zu beherrschen. Flankiert war dieses Programm der Alphabetisierung – und mithin Verantwortlichmachung und Disziplinierung – aber auch durch Unterweisung in diversen Formen von Etikette. Aus den Erfahrungen der Notwendigkeit von Gleichheit zwischen beteiligten Personen im Akt des Warentauschs und des dafür erforderlichen Rechtssystems (sowie in den für die kommerzielle wie militärische Welteroberung so notwendig gewordenen Wissenschaften) generierte die Bourgeoisie auch eine bestimmte Form von politischer und publizistischer Öffentlichkeit: ein Forum, in dem kollektive Belange erörtert und Entscheidungen vorbereitet, wenn nicht getroffen werden konnten. Auch diese Öffentlichkeit war ein Raum, in dem Gleichheit – wenigstens als Fiktion – gelebt wurde. Sie beruhte auf dem Prinzip, dass Argumente nur im Hinblick auf ihre Geltung für das Wohl der Allgemeinheit betrachtet werden durften und ohne Ansehung der sie äußernden Personen gewichtet werden mussten. Dem hatten auch die beteiligten Personen zu entsprechen: Von ihnen wurde erwartet, dass sie imstande waren, ihre privaten Belange und persönlichen Präferenzen hinter sich zu lassen. Dies war nicht nur die Spielregel der politischen Beratung, sondern auch das ethische Ideal jeglichen Verhaltens im öffentlichen Raum: Es bestand in einem betont unpersönlichen, an eleganten Formen geschulten Auftreten. Dieses Auftreten wurde mit den Bezeichnungen »Urbanität« oder auch »Zivilisiertheit« versehen. Richard Sennett vermerkt dazu:

»›City‹ and ›civility‹ have a common root etymologically. Civility is treating others as though they were strangers and forging a social bond upon that social distance.« (Sennett 1977: 264) [»Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Zivilisiertheit und Urbanität. Zivilisiertheit bedeutet, mit den anderen so umzugehen, als seien sie Fremde, und über die Distanz hinweg eine gesellschaftliche Beziehung zu ihnen aufzunehmen.« (Sennett 2001: 336)]

Die Fähigkeit, Distanz zu dulden oder gar erst herzustellen und über sie soziale Verbundenheit zu erzeugen, erforderte, wie Sennett ausführlich darlegt, ein gewisses Maß an Schauspielerei im öffentlichen Raum: Man musste so tun, als ob man die anderen nicht kennen würde; als ob man dennoch an ihrem Wohlergehen Interesse hegte; als ob man selbst gesund und zufrieden wäre etc.[24] Diese Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, war, wie Sennett feststellt, die entscheidende Voraussetzung zivilisierten Verhaltens: »Unzivilisiert ist es, andere mit dem eigenen Selbst zu belasten.« (Sennett 2001: 336)

Gerade diese Fähigkeit, im öffentlichen Raum das eigene, vermeintlich authentische Selbst hintanzuhalten, war die entscheidende Tugend mündiger Bürgerlichkeit. Respekt verdiente man für diese Leistung (des Hintanhaltens des Selbst) – und eben nicht, wie die Postmoderne zu suggerieren begann, für dieses Selbst in seiner vermeintlichen Identitätskostbarkeit oder Verletzlichkeit. Der Komiker Sacha Baron Cohen hat diese Verdrehung sehr treffend parodiert: Seine Figur des »Ali G.«, ein dem Anschein nach bildungsferner, suburbaner Hip-Hopper und Showmoderator, der von erstaunlich wenigen Dingen auch nur irgendeine Ahnung hat, ruft seinen Interviewpartnern immer dann, wenn er etwas besonders Ahnungsloses oder Dummes gesagt hat, »Respekt!« zu und lädt sie ein, subkulturell-solidarisch mit der Faust auf seine Faust zu stoßen. Respekt soll also seine Unbelecktheit verdienen, und nicht etwa seine vielleicht doch rudimentär vorhandene Fähigkeit, sich intellektuell ein Stück weit nach oben zu orientieren. Genau das ist es, was die Postmoderne als das Respektverdienende begriff: die Identität des anderen – und seine Unfähigkeit, sie auch nur für Augenblicke zivilisierten Umgangs hinter sich zu lassen.

Die Diffamierung dieser Dimension öffentlicher Bürgerlichkeit als bloß partikulare »weiße, männliche« Marotte und die Ermunterung an alle benachteiligten oder marginalisierten Gruppen, ihre Marotten in die Öffentlichkeit zu tragen, zerstört den Raum der Gleichheit. Denn Gleichheit setzt Erwachsenheit voraus: die Fähigkeit, vom Privaten und Persönlichen abzusehen und nur das öffentlich Relevante zu behandeln. Dagegen ist die Unterwerfung des öffentlichen Raumes unter die Kriterien persönlicher Empfindlichkeit – die Fähigkeit, sich verletzt zu fühlen, und den Zwang, dies sofort kundzutun – die stärkste Ressource zum Abbau von bürgerlicher Teilhabe und Politikfähigkeit.

Diversität ersetzt Gleichheit

Vor diesem Hintergrund müssen die postmodernen Programme von Identitätspolitik und die Sprachregelungen der sogenannten political correctness beurteilt werden. Es sind keineswegs, wie manche Kommentatoren vermuteten, durch zunehmende Gleichheit ermutigte Versuche der bislang ausgeschlossenen Gruppen, den ihnen zustehenden Anteil an der kapitalistischen Prosperität, der Gleichheit und den Freiheiten der Moderne zu erobern. Es verhält sich nicht so, wie zum Beispiel Matthias Dusini und Thomas Edlinger in ihrem – im Übrigen besonnenen und facettenreichen – Buch zur political correctness es einmal darstellen:

»Wer freilich die Augen offenhielt und die Versprechung der Gesellschaft an das ermutigte Individuum mit der Wirklichkeit seiner Ungleichheitserfahrung abglich, musste fast zwangsläufig enttäuscht und wütend werden.

So beförderte paradoxerweise gerade die Propagierung einer Politik des gleichen Rechts für alle die Sensibilität für deren Verfehlungen und den Narzissmus der kleinen und kleinsten Differenz.« (Dusini/Edlinger 2012: 20)

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die postmodernen Politiken der kleinen Unterschiede sind keine Folge der durch das moderne Versprechen von Gleichheit geweckten Sensibilitäten. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt: Die postmodernen Politiken wurden ausgerufen, als die hegemonialen Gruppen die Versprechungen der Moderne von Gleichheit preisgaben. In dem Moment, als sich die Einkommensunterschiede wieder dramatisch verschärften und gleiches Recht für alle von den neoliberalen Eliten nicht einmal mehr als Utopie festgehalten wurde, entstand die Propaganda unterschiedlichen Rechts für Diverse.[25] Die postmodernen Identitäts- und Sprachpolitiken sind nicht der Anfang oder die Fortsetzung, sondern vielmehr das Ende und der Ersatz einer Politik der Gleichheit.

Ausnahmen ersetzen die Regel

Aber, so könnte man einwenden, ist die Sorge für die Ärmsten oder am meisten Benachteiligten der globalisierten Welt nicht die konsequente Fortsetzung des bürgerlichen Universalismus? Lässt sich der Zustand einer Gesellschaft nicht am besten daran erkennen, wie sie mit ihren Ärmsten umgeht? Und musste man nicht durch eine gewisse anfängliche Ungleichbehandlung den Benachteiligten helfen, den anderen Gruppen gegenüber aufzuholen und dadurch erst gleich zu werden?

Auch hier mag wieder ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung zur Verdeutlichung der wirklichen Verhältnisse dienen. Eine aus Nigeria stammende, in Finnland lebende Kollegin erzählt bei einer Konferenz, sie habe kurz nach ihrer Ankunft in Finnland um Förderung für einen Sprachkurs nachgesucht. Man möchte annehmen, dass ein skandinavisches Land eine so sinnvolle Integrationsbemühung vorbehaltlos unterstützt. – Aber nein. Der Kollegin wurde erklärt, einfach so könne sie keinesfalls eine Förderung bekommen. Jedoch falls sie ein ärztliches Attest vorweisen könnte, wonach sie unter Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADHS) leide, dann wäre es etwas anderes: Dann könnten die gesamten Kosten für ihren Sprachkurs vom finnischen Staat übernommen werden.

Dieses Beispiel erscheint universalisierbar,[26] und es enthält die entscheidende Pointe zur zuvor unterstellten Annahme postmoderner Universalisierung, derzufolge die Ärmsten einer Gesellschaft der Gradmesser für deren Gesamtverhalten seien. Die neoliberale, postmoderne Gesellschaft fördert nicht die Ärmeren und Ärmsten, damit diese möglichst so gut wie alle übrigen leben können. Sie fördert vielmehr immer nur Ausnahmen, um alle übrigen getrost verkommen zu lassen. Nur so ist es überhaupt möglich, dass seit den 1990er Jahren in den westlichen Gesellschaften ein »Opferwettbewerb« entbrannt ist.[27] Weil man als Zweitärmster schon um alle Sozialleistungen kommen könnte, muss man ständig versuchen, der Allerärmste zu sein.

Verwalter ersetzen die Opfer

So wie die neoliberale Politik die Ärmsten nicht fördert, um mit ihnen alle zu fördern, sondern vielmehr um nur sie und sonst niemanden zu fördern, macht sie es auch innerhalb der jeweiligen geförderten Gruppen: Sie fördert nicht die Frauen, sondern nur bestimmte Repräsentantinnen, vorwiegend innerhalb der politischen Klasse und des akademischen Milieus.[28] Sie fördert auch nicht die religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheiten, sondern nur bestimmte ihrer Wortführer und Vertreter. Denn es gibt keine Sprachregelung ohne entsprechendes Komitee, kein neu aufgetauchtes Problem ohne ermächtigten Arbeitskreis, keine Antidiskriminierungsrichtlinie ohne ein darüber wachendes Gremium, keine studentische Schwierigkeit ohne psychotherapeutische, medizinische oder juristische Anlaufstelle. Alle diese Maßnahmen haben, lange bevor sie in der betroffenen Gruppe auch nur irgendeine Wirkung zeigen, zunächst Profiteure in den Stellvertretungen innerhalb der verwaltenden Apparate. So bemerken Campbell und Manning:

»In den letzten Jahrzehnten gab es eine kontinuierliche Zunahme von Justiz- und Verwaltungsbehörden sowie einen Zuwachs an Größe und Zuständigkeitsbereichen in der Universitätsverwaltung und bei den Gehältern der Spitzenverwaltungsbeamten, des weiteren die Schaffung neuer Spezialagenturen der Sozialkontrolle wie zum Beispiel Stellen, deren einzige Aufgabe darin besteht, die ›soziale Gerechtigkeit‹ zu erhöhen, indem sie rassische, ethnische oder andere Vergehen zwischen Gruppen bekämpft.« (Campbell/Manning 2014: 710)[29]

Die Schaffung einer ganzen Kaste von Beauftragten, die im Namen von Benachteiligten sprechen und agieren und an deren Stelle Vergünstigungen beziehen, ist eine effiziente Maßnahme zur Stabilisierung bestehender Benachteiligung und zur Sicherung wachsender Ungleichheit. Denn wenn in einer Gesellschaft die Einkommensunterschiede sich verschärfen, werden die Verteilungskämpfe härter. Da ist es – wie in jeder Herrschaftssituation – günstig, Kollaborateure heranzubilden. Man ermöglicht Leuten, die sonst meist vergleichsweise wenig Qualifikation innerhalb ihres jeweiligen Apparats aufweisen, einen gewissen sozialen Aufstieg und Zugang zu Kontrollfunktionen in ebendiesen Apparaten. Klarerweise werden die Kollaborateure bestrebt sein, dies ihren Gönnern zu danken. Und sie werden in klugem Eigeninteresse sämtliche Aufgaben und Anliegen, für die sie stehen, immer nur so weit betreiben und vorankommen lassen, dass sie selbst nicht überflüssig werden. Mit großem Pathos stets gegen irgendeine Benachteiligung ins Feld ziehend – und dadurch jede gegen sie selbst gerichtete Kritik erstickend –, werden sie tunlichst dafür sorgen, dass diese Benachteiligung niemals gänzlich aufhört. Gleichbehandlungsarbeitskreise an Universitäten zum Beispiel geben vor, weibliche Wissenschaftskarrieren zu fördern, indem sie in die Ausschreibungstexte »Genderkompetenz« als Anforderung hineinreklamieren. Das hat zur Folge, dass junge Wissenschaftlerinnen, um bessere Chancen zu gewinnen, sich verstärkt mit Genderthemen beschäftigen müssen. Dadurch aber vernachlässigen sie andere Fragen, und es wird in der Folge sowohl für Universitäten mit bestimmten inhaltlichen Zielsetzungen als auch zum Beispiel für Veranstalterinnen von Symposien oder Fernsehdiskussionen zu anderen gesellschaftlich relevanten Themen zunehmend schwieriger, überhaupt geeignete weibliche Expertinnen für solche Themen zu finden. Frauen bleiben dann weiterhin unterrepräsentiert. Umso notwendiger, können die Arbeitskreise dann rufen, ist unsere Tätigkeit.

So gelingt es, die in Schach zu haltende Gesellschaft mehrfach zu spalten: die Beauftragtenkaste in den Verwaltungsapparaten von denjenigen, die für Produktivität sorgen müssen; einen Mittelstand mit hehren moralischen Gefühlen für ferne Benachteiligte und hohem, daraus entspringenden Distinktionsgewinn von einer Unterschicht, die sich solche Gefühle und den dazugehörigen verklemmten akademischen Jargon immer weniger leisten kann; eine Opfer- oder Interessensgruppe von der anderen; die nach Gleichheit Strebenden oder faire Konkurrenz Fordernden von denen, die Sondervergünstigungen beanspruchen. So wird unter dem Anschein von Emanzipation das Gegenteil bewerkstelligt: Sowohl Solidarität als auch Mündigkeit werden verhindert; Bestrebungen nach Gleichheit werden auf unbedeutendere, kleinere Problemfelder umgelenkt, und berechtigte Empörung wird durch peinlich genaue Sprachregelungen entweder stumm oder kleinlaut gehalten.

Gutgemeinte Worte werden böse

Die zwiespältige Rolle der Verwaltungs- und Vollzugsorgane postmoderner Politiken ist ein Grund für ihr wohl auffälligstes Merkmal: ihre gesetzmäßige Erfolglosigkeit. Drei oder vier Jahrzehnte massiver Frauenförderung in westeuropäischen Ländern haben höchstens höhere Frauenanteile in absteigenden Berufssparten wie Kunst, Kulturwissenschaften oder Psychotherapieberufen produziert, aber keine Angleichung der Einkommensniveaus. Regelnde Eingriffe zur Herstellung gendergerechten Sprachgebrauchs haben keine zufriedenstellenden Bezeichnungen hervorgebracht, sondern immer nur neue Unzufriedene: Schien kurzfristig das Binnen-I das geschlechtsneutrale Ei des Kolumbus zu sein, so fühlten sich bald die Transgenderpersonen übergangen, dann kam als vermeintliche Rettung der »underscore«, doch dass dieser eben am unteren Rand der Schriftzeile sitzt, erscheint inzwischen manchen als abwertend; darum muss an seiner Stelle nun unbedingt und definitiv ein Sternchen her. Aber ob dieses nun die ideale Lösung ist, und ob es wohl immer die richtige Zahl von Zacken für das Empfinden aller Gruppen besitzt, muss noch abgewartet werden.

Auch die Bologna-Reform der europäischen Universitäten hat keineswegs, wie ursprünglich beabsichtigt, bessere Vergleichbarkeit zwischen Studiengängen erreicht, sondern beschäftigt nach 30 Jahren immer noch Armeen von ECTS-Beauftragten, die versuchen müssen, die Punktezahlen für die Lehrveranstaltungen einer Studienrichtung an einer Universität mit denen einer anderen Universität zu harmonisieren.

Dasselbe gilt für die zunehmende »Medikalisierung« studentischer Alltagsprobleme wie Prüfungsstress und Bewältigung von Dissens oder ungewohnten Themen. Frank Furedi hat hellsichtig bemerkt, dass die gegenwärtig stark zunehmende Schaffung von Anlaufstellen die Zahl und Schwere der Probleme von Studierenden nicht zu beheben, sondern vielmehr – nach dem Muster von »self-fulfilling prophecies« (Furedi 2016: 39) – zu erhöhen scheint:

»Je mehr Ressourcen die Universitäten paradoxerweise in die Institutionalisierung von therapeutischen Tätigkeiten investiert haben, desto stärker haben sie Studierende angeregt, Symptome seelischen Leidens zu melden.« (Furedi 2016: 47)

Es ist klar: Wenn die Beauftragten jener Gremien, die für die Abschaffung bestimmter Benachteiligungen oder Missstände sorgen sollen, ihre Stellen nur so lange behalten, wie die Benachteiligungen oder Missstände bestehen, dann werden sie klug genug sein, niemals wirklich gute Vorschläge zu machen oder gar Abhilfe zu schaffen. (Darum wurde im alten China das Schema umgekehrt, und man bezahlte Ärzte immer nur so lange, wie ihre Patienten gesund waren.) Vielmehr werden sie ständig holprige Lösungen propagieren, die einen erneuten und letztlich permanenten Reparaturbedarf nach sich ziehen.

Das zeigt sich zum Beispiel auch auf der Ebene der Sprachpolitiken, die von solchen Gremien vorgeschlagen werden. Nie gibt es eine zufriedenstellende Formulierung für irgendetwas. Man fordert fanatisch geschlechtsneutrale Sprache, hat aber keinen Vorschlag dafür, wie die Formulierung »der Obmann und sein Stellvertreter« geschlechtsneutral und auch noch halbwegs aussprech- und schreibbar formuliert werden könnte. Wenn Bezeichnungen wie »Farbige« oder »Neger« verpönt sind, wirbt man zunächst für »Schwarze«. Aber auch das erscheint bald nicht allen zufriedenstellend, und es muss wieder etwas Neues gefordert werden wie zum Beispiel »Afrikaner« oder »African Americans«. Auch Letzteres ist jedoch keine gute Lösung – sie empört Menschen wie die Schauspielerin Whoopi Goldberg, die – ebenso wie ihr Kollege Morgan Freeman – darauf besteht, »American« und keinesfalls »African American« zu sein.[30]

Zunächst zeigt sich in dieser Hilflosigkeit der Versuche, bestimmte Worte durch andere zu ersetzen, eine grundlegende Ahnungslosigkeit in Bezug darauf, wie Sprache funktioniert. Es ist naiv, zu meinen, dass »angemessene« Worte einfach an die Stelle von »unangemessenen« treten könnten, ohne dass diese Operation Spuren hinterließe. Jacques Lacan hat darauf hingewiesen, dass die Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen immer einen Dritten erzeugt.[31] Das neue Wort bezeichnet nach der Ersetzungsoperation nicht einfach dasselbe wie das alte, unpassende Wort. Vielmehr bezeichnet es von nun an sowohl das alte Wort als auch die Ersetzungsoperation sowie das bisher Bezeichnete. Die unvermeidliche kleine Pause, die beim Sprechen oft vor der Nennung des neuen Wortes eintritt,[32] ist das verräterische Merkmal dieses Tilgungsversuchs. Daher kommt es, dass ähnlich wie bei einem Fleck am Tisch, den man durch ein Tuch abzudecken versucht und der sich dann erneut im Tuch abzeichnet, das Unangemessene der alten Worte ständig gleich auch wieder die neuen Worte zu befallen scheint und kein Wort jemals seine vermeintliche Unschuld zu behalten vermag.[33]

Klarerweise könnte man, der Anregung Whoopi Goldbergs folgend, auch beschließen, in Zukunft Hautfarben ebenso wenig zu erwähnen wie es zum Beispiel bei Haarfarben üblich ist. Aber wie könnten Menschen, die sich ihrer Hautfarbe wegen diskriminiert fühlen, diesen Umstand dann benennen? Und wie soll das entsprechende Gremium heißen und seine Maßnahmen bezeichnen? Und überdies: Welche Auswirkungen hätte das auf die Kämpfe anderer benachteiligter Gruppen? Wenn »Sichtbarkeit« angeblich ein emanzipatorisches Ziel ist, und manche Frauenbeauftragte darum auf der Ebene der Berufsbezeichnungen für die »Sichtbarkeit« von Frauen kämpfen, dann können doch wohl die »Schwarzen« oder »Afrikanerinnen« (oder wie auch immer sie heißen mögen) ihnen nicht in den Rücken fallen und ihre eigene »Unsichtbarkeit« fordern! – Freilich zeigt sich darin ein anderer typischer Grund für das wiederholte Scheitern postmoderner Bemühungen: nämlich die unausgegorene Widersprüchlichkeit vieler ihrer Grundannahmen: Soll das Ziel die Sichtbarkeit sein – dann her mit der dritten Toilettentüre, der »Ministerin« (statt »Frau Minister«), der »Dr.in«, der »Prof.in« sowie dem »Prof.x«! Oder sollen stattdessen die geschlechtsspezifischen Unterschiede zum Verschwinden gebracht werden? – Dann weg mit der zweiten Toilettentüre, und lieber gleich zu den Kindern im Kindergarten und zu den Lehrpersonen an der Uni nicht mehr »er« oder »sie«, sondern nur noch »es« sagen![34] (Auch wenn uns niemand verrät, wie daraus dann zum Beispiel eine »Dr.in« werden soll.) Ein Teil des Fanatismus der diesbezüglich Engagierten mag daher rühren, dass sie diese Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Wünsche und Vorschläge dunkel spüren, aber sie nur nach außen, auf ihre vermeintlichen Widersacher projizieren.

Wenn die Angehörigen einer ethnischen Gruppe nicht als »Zigeuner« bezeichnet werden wollen, fordert man die Formulierung »Sinti und Roma« ein – ohne dabei auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die, wie zum Beispiel bestimmte Volksgruppen in der Tschechischen Republik, von sich sagen, sie seien weder Sinti noch Roma und möchten lieber »Zigeuner« genannt werden.[35] Aber abgesehen von solchen »Randgruppenproblemen« gibt es dabei auch ein Problem für die wohlwollenden hegemonialen Gruppen: Dort weiß nämlich so gut wie niemand, wie man die Formulierung »Sinti und Roma« jemals nach Zahl oder Geschlecht grammatikalisch abwandeln soll, um zum Beispiel auszudrücken, dass man einen männlichen Angehörigen der Sinti und zwei weibliche Angehörige der Roma bezeichnen möchte (»ein Sinto und zwei Romnija«). Ähnliches gilt für jene Formen von political correctness, die – wie zum Beispiel der »underscore« – sich nur schreiben, aber kaum aussprechen lassen.

Schließlich erzeugen die sprachreformerischen Bemühungen um korrekte Bezeichnung oder um sogenannte »Sichtbarkeit« (ein seltsam verunglückter Begriff, dessen Unangemessenheit die um angemessenes Sprechen Bemühten auffällig wenig zu stören scheint)[36] bisher vernachlässigter Gruppen auch erhebliche Probleme, bestimmte, bisher benennbare Sachverhalte in Zukunft weiterhin zu benennen: Wenn alles gegendert werden muss, dann kann die Eisenbahnerin zum Eisenbahner eben nicht mehr sagen: »Hör zu, Alter, wir sind schließlich beide Eisenbahner!« Gerade für das Gemeinsame und Allgemeine gibt es in der korrekt gebürsteten Sprachwelt keine Worte mehr. Dass Solidarisierung auf diese Weise erschwert wird, ist vielleicht kein ganz ungewollter Effekt postmoderner Symbol- und Pseudopolitiken.

Möglichkeiten und Grenzen einer Weltveränderung durch Sprache

Dieses strukturelle Fehlschlagen der postmodernen Sprachregelungsversuche ist der Grund, weshalb eine ihrer großen Legitimationserzählungen sich als unwahr erwiesen hat: die Behauptung nämlich, dass schon Worte selbst Taten seien und dass durch verändertes Sprechen auch ein verändertes übriges Handeln zustande kommen werde.[37] Nun gibt es zwar eine Reihe von Bereichen in der Kultur, in denen bestimmte Worte (oder bestimmte Zeichen) tatsächlich bestimmte bezeichnete Wirklichkeiten hervorbringen: Wenn zum Beispiel Menschen miteinander höfliche Worte oder Gesten austauschen, dann verändert dies, wie Immanuel Kant bemerkt hat, wirklich ihre Einstellung und ihren Umgang miteinander.[38] Und auch die symbolischen Aktionen in der Magie sowie im Psychodrama bringen oft erstaunliche Veränderungen in der Wirklichkeit hervor. In der Anthropologie wurde für Vorgänge dieser Art der Begriff »symbolische Wirksamkeit« entwickelt.[39] Nun ist das Gelingen symbolischer Wirksamkeit aber von einer entscheidenden Bedingung abhängig. Es muss darin immer ein virtueller »naiver Beobachter« getäuscht werden, der die Vorgänge ausschließlich nach dem Augenschein beurteilt.[40] Darum muss der Augenschein perfekt sein. Das ist der Grund, weshalb höfliche Gesten wie zum Beispiel ein Händedruck gekonnt ausgeführt werden müssen – nicht zu leicht und nicht zu fest, nicht zu kurz und nicht zu lange etc. – und man sich bei einer Verfehlung niemals auf die gute Absicht herausreden kann. In diesem Sinn bemerkt der französische Philosoph Alain: »Höflichkeit muß ebenso gelernt werden wie Tanzen.« (Alain 1982: 200