Die Blutspur - Jack Carr - E-Book

Die Blutspur E-Book

Jack Carr

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Beschreibung

Eine blutige Spur in die Vergangenheit … Nachdem sie für den Staat Israel einen Mord begangen hat, steigt eine Frau in Afrika in ein Linienflugzeug. Minuten später explodiert die Maschine in einem Feuerball am Himmel. Tausende Kilometer entfernt verfolgt Ex-Navy-SEAL James Reece die Berichterstattung über die Katastrophe. Eines der Opfer erkennt er auf Anhieb: eine Mossad-Agentin, die er in Diensten der CIA vor Jahren im Irak kennengelernt hat. Eine Frau, der er zu Dank verpflichtet war. Reece zögert keine Sekunde, den für den Anschlag verantwortlichen Bastard zu finden und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei gerät er selbst in eine tödliche Falle … Jetzt als Amazon-Prime-Serie The Terminal List mit Chris Pratt in der Hauptrolle. Chris Pratt: »Eins könnt ihr mir glauben, James Reece ist ein unglaublicher Hurensohn. Macht euch auf was gefasst!« Publishers Weekly: »Beeindruckend ... Carr ist am besten, wenn Kugeln fliegen. Fans von Vince Flynn werden die explosive Action lieben.«

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Seitenzahl: 594

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe In the Blood

erschien 2022 im Verlag Atria / Emily Bestler Books.

Copyright © 2022 by Jack Carr, LLC

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder

auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.

Titelbild: @difrats

eISBN 978-3-98676-155-4

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Michael Goodboe (6. Juli 1966 – 24. November 2020), einen wahren Krieger, und für alle Mitarbeiter der Central Intelligence Agency,

»Denn der Sünde Sold ist der Tod.«

– RÖMER 6,23

Vorbemerkung

Es wird oft behauptet, dass man die Kugel nicht hören kann, die einen tötet, weil das Projektil schneller als der Schall fliegt. Deswegen setzt dich ein sauber platzierter Kopfschuss außer Gefecht, bevor die Vibrationen der Kugel, die durch die Atmosphäre saust, das Trommelfell erreichen. Das erklärt die verheerende psychologische Wirkung und das Entsetzen, das ein einzelner Scharfschütze mit einem Schuss und anschließendem Abtauchen ins Unterholz auslösen kann. Der Feind weiß nie, wann er ins Fadenkreuz gerät. In der einen Sekunde kann er noch atmen, voller Leben sein und mit einem Kameraden Witze reißen, in der nächsten ist er bereits fort, von einem unsichtbaren Dämon hinter dem eine Meile entfernten Zielfernrohr seiner Seele beraubt.

Doch dies ist mehr als nur ein Roman über Scharfschützen und mehr als nur ein Thriller über zwei Männer, die sich quer über den Globus jagen. Es ist ein Roman über gewaltsame Problemlösungen, aber auch einer über Vergebung. Auf den ersten Blick mögen diese zwei Themen völlig gegensätzlich sein, und das stimmt auch. Oft helfen uns solche vermeintlichen Gegensätze, uns selbst und unseren Einfluss auf die Menschen um uns herum besser zu verstehen. Es kann von Vorteil sein, eine Zielperson auf dem Schlachtfeld zu eliminieren, doch es liegt auch Macht in der Vergebung. James Reece ist ein Mann, der sich mit solchen Dichotomien auseinandersetzen muss.

Wenn ihr diese Zeilen lest, wird der Navy SEAL Sniper James Reece vermutlich schon auf den Fernsehgeräten dieser Welt zu bewundern sein. Chris Pratt erweckt ihn in der Serienadaption von The Terminal List auf Amazon Prime Video zum Leben. Warum findet diese Figur so viel Anklang? Ich vermute, es liegt daran, dass James sich auf einer Reise befindet, wie wir alle. Und wie jeder von uns strebt er danach zu lernen, sich weiterzuentwickeln und aus Erfahrungen gezogene Rückschlüsse auf künftige Entscheidungen und Bedrohungen anzuwenden. Reece stößt auf so große Resonanz, weil in jedem von uns ein Krieger und ein Jäger steckt. Tief in unserer DNA verankert, gelegentlich unterdrückt durch den sogenannten Fortschritt, aber dennoch vorhanden. Unsere Vorfahren waren in beiden Disziplinen geschickt, sonst wären wir heute nicht hier. Sie kämpften und töteten, um ihre Familien und Stämme zu schützen. Sie jagten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. In der jüngeren Geschichte kämpften und töteten sie für die Freiheit.

Einige kritische Stimmen mögen James Reece nicht. Sein Verhalten bereitet ihnen Unbehagen. Ich habe festgestellt, dass die meisten von denen, die er triggert, nur wenige Bezugspunkte zum Land und den Kreaturen, die es bevölkern, vorweisen können. Essen auf den Tisch zu bringen gehört zu den Aufgaben eines Farmers irgendwo zwischen New York und Los Angeles. Viele fühlen sich nicht dafür verantwortlich, Ehepartner und Kinder zu schützen, wenn sie diese ureigene Aufgabe delegieren können, indem sie einfach zum Telefon greifen und den Notruf wählen. Moralische Eitelkeit hat die Verpflichtung überlagert, das eigene Leben und das Leben derer, die man liebt, zu schützen. Das zählt in einer zivilisierten Gesellschaft schließlich zu den Aufgaben der Polizei. Wer diese Einschätzung teilt und zum ersten Mal einen Roman aus dieser Reihe in die Hand nimmt, sollte ihn besser zur Seite legen. In diesem Fall kann er sich vermutlich nicht mit den handelnden Personen auf diesen Seiten identifizieren oder wird sie sogar verachten. Selbstbewusste Männer, die zu extremer Gewalt fähig sind, um ihr Leben, ihre Familie und ihre Freiheit zu verteidigen, machen gewisse Menschen nervös.

In meinem dritten Roman, Menschenjäger, habe ich aus Robert E. Howards Kurzgeschichte Der Turm des Elefanten zitiert: »Zivilisierte Menschen können es sich eher leisten, unhöflich zu sein, als Wilde, denn für sie besteht nicht so leicht die Gefahr, dass man ihnen deshalb gleich den Schädel einschlägt.«

Ich versuche, alles, was ich tue, mit Bedacht zu tun. Das gilt für die Prosa auf diesen Seiten ebenso wie für die vorangehende Recherche, Beiträge in den sozialen Medien, Fragen an Gesprächspartner in meinem Danger Close-Podcast und Antworten in Interviews. Ich fühle mich verpflichtet, die nötige Zeit, Energie und Mühe zu investieren, weil ihr, die Leser, umgekehrt eure Zeit investiert – Zeit, die ihr nie wieder zurückbekommen werdet. Ich möchte, dass auch meine Figur diese Eigenschaft verkörpert. Er ist nachdenklich und doch tödlich. Er ist ein Student des Kriegs und der Jagd. Er ist außerdem auf der Suche – so wie wir alle – nach einem Sinn, einem Ziel, einer Mission. Wird diese Mission immer die Waffe erfordern? Wird Reece jemals aufhören können, für Gott und sein Land zu töten? Wird er von der politischen Maschinerie eines Tages so entmündigt, dass er seine Waffen niederlegt und sich in die Berge von Montana zurückzieht?

Im vorigen Band dieser Serie, Die Hand des Teufels, habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, was der Feind daraus gelernt hat, dass er die Vereinigten Staaten in den letzten 20 Jahren im Krieg auf dem Schlachtfeld beobachtet hat. Ich habe mich in seine Lage versetzt. Diese Recherchen ließen in mir die Überzeugung reifen, dass ich als staatlicher oder nicht staatlicher Gegenspieler einfach beobachten und abwarten würde. Wir Amerikaner leisten hervorragende Arbeit, uns von innen heraus selbst zu zerfleischen.

Während ich an diesem Buch arbeitete, habe ich ungläubig den verpfuschten Abzug aus Afghanistan verfolgt, obwohl ich nicht überrascht sein sollte. Unsere gewählten Volksvertreter, ins Amt gehobene Bürokraten und hochrangige Militärs blicken auf eine 20-jährige Bilanz des Scheiterns zurück, ohne dafür jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Zu den wesentlichen Elementen von Führungsstärke gehört es, die Natur von Konflikten zu erfassen, bei denen man militärische Kräfte einsetzt oder in der Vergangenheit eingesetzt hat. Wie Präsident Dwight D. Eisenhower einmal sagte: »Wissen Sie, Landwirtschaft sieht ganz einfach aus, wenn Ihr Pflug ein Bleistift ist und Sie 1000 Meilen vom nächsten Getreidefeld entfernt sind.« Das Gleiche gilt für die Kriegsführung. Sie mag sehr einfach wirken, wenn die Waffe, die man führt, eine Haushaltsfreigabe ist und man in 6000 Meilen Distanz zum Schlachtfeld am Schreibtisch sitzt.

Das Schreiben dieser Romane hat für mich eine äußerst therapeutische Wirkung. Russland, China, Nordkorea und der Iran sowie terroristische Organisationen und übermächtige Einzelakteure liefern mir eine Menge Material für meine Arbeit, aber das gilt auch für die Angehörigen dessen, was Eisenhower als ›militärisch-industriellen Komplex‹ bezeichnet hat. Wir reden hier von einem ständig wachsenden Ökosystem aus Lobbyisten, Rüstungsunternehmen und Militäroffizieren auf Kommandoebene, die im Pentagon Budgets für exakt jene Unternehmen freigeben, die sie später im Ruhestand als hoch dotierte Aufsichtsratsmitglieder beraten. Auch Abgeordnete und ihre Angehörigen liefern mir reichlich Futter: Gewählte Volksvertreter, die in die Politik eintreten, verdienen zwischen 100.000 und 200.000 Dollar im Jahr und häufen im Laufe ihrer Amtszeit ein Vermögen in zweistelliger Millionenhöhe an. Sie sind nicht nur demütige Staatsdiener, sondern offenbar auch kluge Investoren. Politik ist ein großes Geschäft.

Ist das ein System, dem man dienen sollte? Ist es ein System, das es wert ist, gerettet zu werden? Das sind Fragen, die wir alle uns als Bürger stellen und beantworten müssen. Während James Reece zunehmend enger an das Herz des amerikanischen Geheimdienstapparats herangeführt wird, muss auch er sich diese Fragen stellen. Wie werden seine Antworten ausfallen? Wie viel Macht wollen wir – das Volk – an eine Regierung abgeben, deren Einfluss eigentlich eng begrenzt sein sollte? Unsere Angestellten – gewählte Vertreter – regieren mit ›Zustimmung der Regierten‹. Diejenigen, die die Macht innehaben, sollten sich vor Augen führen, dass die Militär- und Geheimdienstbudgets in Kürze die Grenze von einer Billion Dollar jährlich sprengen werden, während zwei Kriege gegen Aufständische verloren gingen, die mit AKs und selbst gebauten Sprengsätzen aus Höhlen und primitiven Lehmbauten operierten. Heute fließen die Hälfte des Militärhaushalts und 70 Prozent der Geheimdienstgelder an private Auftragnehmer. Wie ein weiser Generalmajor des Marine Corps und Träger der Medal of Honor es so treffend formulierte: »Der Krieg ist ein Geschäft.«

James Reece war ein Teil dieses Systems. Er wurde von diesem System verraten, ebenso wie diejenigen, die sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den Dienst der Nation stellten. Die Afghanistan Papers von Craig Whitlock liefern weitere Einzelheiten dazu. Reece stand ebenfalls auf der anderen Seite, wurde zum Terroristen und zum Aufständischen, der den Krieg vor die Haustür derjenigen verlagerte, deren Entscheidungen seit zwei Jahrzehnten junge Männer und Frauen in den Tod schicken. Ist James Reece inzwischen zum Werkzeug ebendieser politischen Eliten geworden?

Bevor er sich mit Dienstauffassung, Opferbereitschaft und der Frage beschäftigen kann, welchen Pfad er künftig einschlagen will, hat Reece noch etwas zu erledigen. Er benötigt die Ressourcen des Systems, das er verachtet, um sich in Position zu bringen; um einen Scharfschützen ins Fadenkreuz zu holen. Einen Scharfschützen, der exakt in diesem Moment ebenfalls Jagd auf ihn macht.

Womit wir zurück bei der Kugel wären, die einen tötet. Wenn man sich langfristig am Tanz um den Tod beteiligt, ist der Sieger nicht zwangsläufig der Schütze, der am besten mit der Kunst und Physik von Langstreckengefechten vertraut ist. Es handelt sich vielmehr um eine mentale Herausforderung. Wenn zwei der tödlichsten Scharfschützen der Welt gegeneinander antreten, was macht am Ende den Unterschied aus? Wofür wird sich James Reece entscheiden, wenn man ihn vor die Wahl zwischen klaren Antworten und Blutvergießen stellt? Die folgenden Seiten werden es verraten.

Jack Carr

16. Februar 2022

Park City, Utah

PROLOG

Ouagadougou

Burkina Faso, Afrika

Sie war früher eine hinreißende Schönheit gewesen. Mit knapp über 40 blieb sie weiterhin ein echter Hingucker; ein Umstand, den sie sowohl privat als auch beruflich häufig zu ihrem Vorteil einsetzte. Doch so selbstbewusst und vor allem kompetent sie auch sein mochte: Ihr entging nicht, dass sich mittlerweile weniger Köpfe nach ihr umdrehten. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass Schönheit ein Verfallsdatum aufwies, und akzeptierte diesen Fakt. In ihrer Jugend hatte sie oft genug davon profitiert. Inzwischen verfügte sie über andere, wertvollere Fähigkeiten. Fähigkeiten, die sie vor einigen Stunden erfolgreich angewendet hatte. Wer sie in der Schlange vor dem Check-in-Schalter von Air France am Flughafen Thomas Sankara in Ouagadougou beobachtete, der Hauptstadt von Burkina Faso, hätte wohl nie vermutet, dass sie kurz zuvor einem Mann mit einer Makarow dreimal in den Kopf geschossen hatte.

Die Makarow war nicht ihre erste Wahl gewesen, aber bei Aufträgen wie diesem nahm man, was zur Verfügung stand. Es hatte trotzdem funktioniert. Die Zielperson war tot, die Nachricht an den Adressaten übermittelt.

Aliya Galin strich ihr rabenschwarzes Haar zur Seite und blickte auf ihr Smartphone. Nicht um nach der Uhrzeit zu schauen oder durch einen Newsfeed zu scrollen, sondern weil sie den örtlichen Sicherheitskräften nicht als das ins Auge fallen wollte, was sie nun einmal war: eine Attentäterin im Dienste des Staates Israel. Um unauffällig in der Masse abzutauchen, musste sie ihre natürlichen Raubtierinstinkte unterdrücken. Es galt vielmehr, sich wie ein Schaf zu verhalten, vermeintlich unaufmerksam und sorglos. Sie musste ganz normal wirken.

Wäre sie zu einer Befragung herausgewinkt worden, hätte sich ihre Behauptung, sie sei Vertriebsmitarbeiterin eines französischen Finanzdienstleisters, ebenso als wasserdicht erwiesen wie weitere Angaben zu beruflichem Werdegang, Kontaktpersonen und Referenzen. Das technische Büro in der Nähe der Glilot Ma’arav Interchange in Tel Aviv hatte ganze Arbeit geleistet. Dort befand sich der Hauptsitz des Mossad, des israelischen Auslandsgeheimdiensts, der für den Schutz des jüdischen Staates verantwortlich zeichnete. Der Laptop in ihrem Handgepäck enthielt nichts Verräterisches. Keine geheimen Backdoor-Dateien mit belastenden Informationen, keine Internetrecherchen, die sie mit Israel, Terrorismus oder ihrer Zielperson in Verbindung brachten. Der Rechner war blitzsauber.

Es wurde immer schwieriger, ins Ausland zu reisen, da das Netz von Gesichtserkennungskameras rund um den Globus von Woche zu Woche engmaschiger wurde. Ohne die Technologieabteilung des Mossad hätte man sie bereits mehrfach verhaftet. Der israelische Geheimdienst hatte die Lektion zu modernen erkennungsdienstlichen Möglichkeiten und Passfälschung im IT-Zeitalter vor zwölf Jahren auf die harte Tour gelernt. Damals waren 26 seiner Agenten identifiziert und mit der Ermordung von Mahmud Al-Mabhuh in einem Hotelzimmer in Dubai in Verbindung gebracht worden. Al-Mabhuh galt als leitender Waffenbeschaffungs- und Logistikbeauftragter der Al-Qassam-Brigaden, des militärischen Flügels der terroristischen Hamas-Organisation. Der Mossad gedachte nicht, seine Fehler aus jener Zeit zu wiederholen.

Ihr französischer Pass wies sie als Mélanie Cotillard aus. Hätte jemand ihre Wohnung in Batignolles-Monceau überprüft, hätte er ein Interieur angetroffen, das dem Einkommen einer mittleren Bankangestellten in der Finanzdienstleistungsbranche entsprach. Es gab keine falschen Wandverkleidungen, Waffen oder andere Tarnungen, die Aufschluss über ihre wahre Profession lieferten.

Der Mann, für dessen Tötung sie angereist war, zeichnete für den Bombenanschlag auf eine jüdische Kindertagesstätte im marokkanischen Rabat verantwortlich. Nicht alle in der arabischen Welt unterstützten die Anerkennung Israels durch Marokko und die Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen. Wäre die Vergeltung nicht zeitnah erfolgt, hätte sich der Feind ermutigt gefühlt. Ein Feind, der Israel vom Antlitz der Erde getilgt sehen wollte. Wenn vom Iran unterstützte Terroristen israelische Kinder ins Visier nahmen, wurde die Gerechtigkeit nicht von Richtern und Geschworenen ausgeübt, sondern von Caesarea, einer elitären und geheimen Sondereinheit des Mossad.

Drohnen wurden mehr und mehr zu einer brauchbaren Option für gezielte Attentate. Ihre Abmessungen schrumpften mit jeder neuen Generation, was auch die Tarnung erleichterte. Trotz der Möglichkeiten, die die zunehmend letale Technologie bot, zog es der Mossad vor, einige Tötungen persönlich zu halten. Israel verband eine lange Geschichte mit gezielten Tötungsaktionen, die sich ebenso wie die Bedrohungen gegen das Land ständig weiterentwickelten. Nichts versetzte Feinde so in Angst und Schrecken wie ein israelischer Attentäter.

Obwohl Aliya ihre doppelte amerikanisch-israelische Staatsbürgerschaft behalten wollte, hatte sie seit fast 15 Jahren keinen Fuß mehr in die USA gesetzt. Israel war jetzt ihr Zuhause. Ihre Eltern waren dort zur Welt gekommen und gestorben. Ein Selbstmordattentäter der Hamas hatte sie aus dem Leben gerissen, kurz bevor sie anfangen konnten, den Ruhestand zu genießen. Damals war sie bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften gewesen und diente ihnen anfangs ohne die Absicht, ihr Leben in den Dienst ihrer Wahlheimat zu stellen. Nun würde sie bald nach Hause zurückkehren. Sie plante, still und leise ihre Stelle in Paris zu kündigen, die ihr von einem Sajanim vermittelt worden war, und nach Israel zurückzukehren. Die Sajanim bildeten ein globales Netzwerk von nicht israelischen, in der Regel jüdischen Mitarbeitern, die den Mossad bei seinen Operationen materiell und logistisch unterstützten – nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus Loyalität. Aliya plante, sich freizunehmen, um ihre Kinder und ihre Schwester zu besuchen, die sich um die Kleinen kümmerte. Außerdem wollte sie mit dem Leiter der Abteilung für Sondereinsätze über einen Wechsel in die Verwaltungsebene sprechen. Sie wurde den Job langsam leid. Womöglich war dies ihr letzter Kill gewesen.

Der Auftrag war relativ reibungslos über die Bühne gegangen. Sie hatte tatsächlich einen geschäftlichen Termin bei einer Bank in Ouagadougou wahrgenommen. Die instabilen Verhältnisse auf dem afrikanischen Kontinent boten günstige Gelegenheiten für Investitionen. Auf diese Weise waren ihr drei Tage Zeit geblieben, das Haus von Kofi Kouyaté ausfindig zu machen und einer Durchsuchung zu unterziehen. Während sie mit den Amerikanern im Irak gearbeitet hatte, lernte sie dafür den Begriff close target reconnaissance kennen. Sie dachte oft mit ein wenig Wehmut an das hohe operative Tempo dieser intensiven Zeit zurück; an die Lektionen, die sie gelernt hatte, an die Beziehungen, die sie aufgebaut hatte.

Ihre Tage, an denen sie Männer in Hotelbars verführte, waren vorbei, zumindest in diesem Teil der Welt. Genug von ihnen waren erschossen, erstochen, vergiftet oder in die Luft gesprengt worden, nachdem ihr kleiner Kopf zwischen den Beinen das Denken übernommen hatte, der anders als sein großer Bruder keinen Verdacht schöpfte, wenn ein hübscher olivhäutiger Engel sie zu einem Drink einlud.

Der Mossad hätte für diesen Auftrag ein Killerkommando aus Einheimischen einsetzen können, doch ihre Auftraggeber in Tel Aviv zogen es vor, eine klare Botschaft zu übermitteln: Verletzt israelische Bürger, und wir werden euch finden, egal wo ihr euch verkriecht. Aliyas Generation von Kidon-Attentätern hatte sich als würdige Erbin der Operation Zorn Gottes erwiesen, die sich gegen die Verantwortlichen für das Massaker an israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen 1972 in München richtete.

Sie hatte diesen Auftrag allein ausgeführt. Es gab keine Komplizen, die sie dem berüchtigten burkinischen Staatssicherheitsdienst ausliefern oder sie identifizieren konnten. Wenn man in diesem Teil der Welt geschnappt wurde, musste man sich auf ein Verhör und Folterungen einstellen, die schlimmer waren als alles, was man im Westjordanland erlebte. In dieser Region wurde man verhört, verprügelt, verbrannt und verstümmelt oder so lange in einer Gruppenvergewaltigung rangenommen, bis man unter der Erde landete.

Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen nach internationalen Maßstäben lax ausfielen, musste sie ihre Handtasche und ihren kleinen Koffer auf einem Tisch hinter einem Metalldetektor ausleeren, bei dem sie der starke Verdacht beschlich, dass er gar nicht angeschlossen war. Bei der Durchsuchung des Gepäcks schenkten die Sicherheitsbeamten ihren BHs und ihrer Unterwäsche ein wenig zu viel Aufmerksamkeit. Da sie nichts Verdächtiges fanden, das Anlass zu einer weiterführenden Untersuchung in einem der Hinterzimmer gegeben hätte, winkten sie Aliya schließlich zum Gate durch. Wäre sie noch jünger gewesen, hätten sie vielleicht einen Vorwand gefunden. Das Älterwerden in dieser Branche hatte also durchaus gewisse Vorzüge.

Sie freute sich darauf, die afrikanische Hitze hinter sich zu lassen und es sich auf dem klimatisierten Air-France-Flug in der Businessclass bequem zu machen. Sie gierte nach einem Drink. Air France pochte auf seine französischen Wurzeln und servierte selbst so früh am Morgen einen relativ akzeptablen Weißwein.

Während sie darauf wartete, dass das Boarding begann, kreisten ihre Gedanken um die vergangenen sechs Monate in Frankreich, um ihre Kinder, die sie in der Obhut der jüngeren Schwester in Israel zurückgelassen hatte, und um eine mögliche Rückkehr zur Normalität – nein, nicht zur Normalität, denn das Leben war für Aliya nie normal gewesen, aber vielleicht zu einer neuen Phase. Ja, das traf es, eine neue Phase in ihrem Leben. Eventuell würde sie die Vereinigten Staaten mit ihren Kindern besuchen und ihnen das Land vorstellen, in dem sie mit ihren Eltern gelebt hatte. Sie waren kurz nach Aliyas zehntem Geburtstag nach Israel zurückgezogen. Sie lächelte bei der Vorstellung, wie ihr Sohn und ihre Tochter an den weißen Sandstränden in der Sonne Floridas spielten. Ganz normal. Sie waren noch jung genug, um sie künftig als Mutter zu akzeptieren. Welche Aufgaben konnte sie in der Zentrale erledigen? Vielleicht als Analytikerin in der Datensammlung arbeiten oder als Beraterin des Chefs oder stellvertretenden Direktors? Als wesentlich attraktiver hätte sie jedoch eine Versetzung aus dem operativen Bereich in die Ausbildung empfunden. Ihre hart erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen an der Midrasha weiterzugeben, der Eliteakademie des Mossad, das hätte ihr gefallen. Ob ihr die Umgewöhnung nach so vielen Jahren im Einsatz überhaupt gelang? Töten war im Prinzip alles, was sie kannte.

Da sie beim Einstieg in das Flugzeug von Überlegungen an ihre Zukunft abgelenkt wurde, bemerkte sie den Mann nicht, der am anderen Ende des Gates stand und sie beobachtete.

Kaum hatte sie das Rollfeld überquert und war in der Maschine verschwunden, tätigte er einen Anruf.

Nizar Kattan beobachtete die beiden Männer aus dem benachbarten Mali, als sie die Strela-2-Raketen von der Ladefläche des Jeeps abluden.

Die 9K32 Strela-2, eine von der Schulter aus abgefeuerte Boden-Luft-Rakete aus der Sowjetära, war im Afrika südlich der Sahara fast so verbreitet wie Panzerfäuste und AK-Varianten. Nizar wusste, dass mit Strelas im Laufe der Jahre mehrere Verkehrsflugzeuge erfolgreich vom Himmel geholt worden waren. Ein zuverlässiges, bewährtes Raketensystem, allerdings ein wenig in die Jahre gekommen. Während der Anschläge von Mombasa 2002 in Kenia, bei denen ein israelisches Hotel angegriffen wurde, hatten die von Al-Qaida inspirierten Terroristen zwei Raketen auf eine von Israel gecharterte Boeing 747 abgefeuert. Beide verfehlten ihr Ziel. Da Nizar in den Jahren mit vielen einheimischen Kräften zusammengearbeitet hatte, führte er den vermasselten Abschuss auf einen Bedienungsfehler zurück. Dennoch wollte er kein Risiko eingehen, weshalb bei dieser Mission gleich vier der produktivsten Waffen des Kalten Kriegs zum Einsatz kommen sollten.

Nizar und sein französischer Komplize hatten die beiden Sündenböcke aus den Reihen von Nusrat Al-Islam rekrutiert – die vollständige Bezeichnung lautete Dschama’at Nusrat Al-Islam wa-l Muslimin. Die Gruppe war 2017 aus dem Zusammenschluss von Al-Qaida im islamischen Maghreb, Ansar Dine und Al-Mourabitoun hervorgegangen. Für ein Mandat, das zur Tötung von Zivilisten aus westlichen Ländern aufrief, waren sie die perfekten Kandidaten. Die aufständischen Gruppen in Westafrika, in denen noch immer Echos der französischen Kolonialherrschaft nachhallten, bettelten förmlich darum, ausgenutzt zu werden. Finanzielle Anreize besiegelten den Deal. Im konkreten Fall glaubten die Nusrat Al-Islam, mit einer von Nizar organisierten Operation, die sie für einen Al-Qaida-Partner hielten, einen Schlag gegen ihre europäischen Unterdrücker zu führen. Ihre Aufgabe war simpel: Sie sollten die vier Boden-Luft-Raketen von Mali nach Burkina Faso transportieren, dort mit Nizar und dem Franzosen zusammentreffen und Angaben zu ihrem Ziel erhalten. Was sie nicht wussten, war, dass ihr Tod zum Auftrag dazugehörte.

Französische Spezialeinheiten hatten sich für die Dezimierung der Reihen von Nusrat Al-Islam in Afrika als äußerst geeignet erwiesen. Man konnte über die Franzosen sagen, was man wollte, ihre Einsatzkräfte gehörten zu den besten der Welt. Die Beamten, die sich wöchentlich im Élysée-Palast trafen, verschlossen die Augen vor den militärischen und geheimdienstlichen Aktionen der Franzosen in Afrika. Da es nur wenige Kriegsberichterstatter gab, die über diesen im Grunde genommen vergessenen Konflikt berichteten, konnten die französischen Soldaten ungestraft morden und zuschlagen. Die meisten Industrieländer interessierten sich kaum für die Geschehnisse auf dem schwarzen Kontinent. Die französische Regierung war klug genug, ihren Bürgern die Freiheit zu lassen, nach Belieben ins Ausland zu reisen, sich dort ausbilden zu lassen und Terrorgruppierungen anzuschließen. Was sie selbst nach den Anschlägen von Nizza und Paris nur ungern innerhalb ihrer eigenen Grenzen taten, taten sie umso lieber in ehemaligen Kolonien und Protektoraten. Vermutlich eine Art psychologisches ›Fick dich!‹ an die Adresse derjenigen, die sie in den Befreiungskriegen, die den Kontinent Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts heimsuchten, vertrieben hatten. In Europa galt Frankreich als liberale Bastion des demokratischen Sozialismus. In Übersee machte es mit rücksichtsloser Effizienz Jagd auf seine Feinde.

Jean-Pierre Le Drian war überaus kompetent und kreativ. Seine ehemaligen Mannschaftskameraden hätten ihn als gnadenlos bezeichnet. Als ehemaliger Maréchal des logis-chefs der französischen Fremdenlegion fand er nun seine Erfüllung als Glücksritter und Söldner, der noch eine Rechnung zu begleichen hatte. Statt sich einer Anklage für eine in Afrika begangene Gräueltat zu stellen, die selbst nach Maßstäben der Aufstandsbekämpfung zu heftig ausfiel, befand sich der ehemalige Chefadjutant auf der Flucht. Und er war eine wertvolle Ressource. Er wusste genau, wo man in diesem vergessenen Winkel Afrikas nach Schwarzmarktwaffen und regionalen Auftragskillern Ausschau halten musste.

Le Drian wähnte sich in der Tradition der Befehlshaber der Waffen-SS, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Nazideutschland geflohen waren und in der Fremde Zuflucht gefunden hatten, um sich in Indochina bei der Teufelsbrigade zu verdingen. Waren diese Geschichten Fakt oder Fiktion? Am Ende spielte es keine Rolle. Le Drian ließ sich von dem Mythos leiten. Er war seine eigene Teufelsbrigade des neuen Jahrhunderts. Er wusste, dass er getan hatte, was notwendig war. Diese Wilden verdienten keinen Respekt. Was man hier von ihm erwartete, zählte zu seinen leichtesten Übungen.

Nizar war die Notlage der Einheimischen völlig egal. Afrika fand er genauso beschissen wie die Orte, die er im Nahen Osten hinter sich gelassen hatte. Seine Einsätze in Syrien und der Ukraine absolvierte er nicht aus Treue zu Allah, sondern aus dem Wunsch heraus, diese Welt hinter sich zu lassen. Er tat immer wieder so, als ob er die Sache unterstützte, und wunderte sich darüber, wie die Menschen um ihn herum so naiv sein konnten. Allah scherte sich nicht um Nizar. Der Prophet und die Sekte, die ihm folgte, unterschieden sich nicht von den Anhängern anderer Religionen überall auf der Welt oder von Betrügern mit Schutzgeldern, wie er sie in seiner Zeit bei der Bratwa, der russischen Mafia, erlebt hatte. Nizar wusste nur zu gut, wo die wahre Macht lag: im Dollar, im Euro, im Yuan, in Gold, Diamanten, Silber und heutzutage auch in Bitcoins. Wenn man genug davon hatte, konnte man zum lebenden, atmenden Gott aus Fleisch und Blut aufsteigen.

Wonach Nizar sich sehnte, das konnte Allah ihm nicht geben. Fünfmal täglich auf Grundlage der fünf Säulen zu beten hielt er für reinste Zeitverschwendung. Sein Geschick mit dem Gewehr lieferte ihm das Ticket aus Syrien und anschließend nach Russland und Montenegro. Als sich der Nutzen seines Mentors erschöpft hatte, streckte Nizar ihn mit einem Schuss aus einer entschärften Stetschkin-Pistole nieder, so wie es ihm sein damaliger Vorgesetzter, General Kassim Jedid, aufgetragen hatte – ein syrischer General, den man mit einem Schuss ins Knie und vergiftet durch eine letale Substanz tot aufgefunden hatte. Nizar hatte die Umstände genauestens analysiert und war zu dem Schluss gelangt, dass der Tod des Generals das Werk von James Reece war. Dem Mann, den er aktuell im Visier hatte. Nizar floh daraufhin nach Moskau und begab sich in die Hände der russischen Mafia, bevor er sich auf eigene Faust aufmachte und in Montenegro, einer jahrtausendealten Hochburg des illegalen Handels, ein neues Zuhause fand. Er genoss den Schutz, der ihm dort zuteilwurde, spürte aber, dass es Zeit zum Weiterziehen wurde. Vertraue deinem Instinkt.

Sein nächster Kill würde es ihm finanziell ermöglichen, einen Umzug ins Auge zu fassen. Thailand, die Philippinen oder Argentinien kamen infrage. Er hatte sich noch nicht endgültig entschieden. Dieser jüngste Zahltag nach der Ermordung von James Reece würde ihm diesen Schritt ermöglichen. Gleichzeitig stand er vor seiner bisher größten Herausforderung. Nicht auszuschließen, dass seine Beute in diesem Moment ebenfalls Jagd auf ihn machte.

Nizar konnte von Glück sagen, dass Reece eine Menge Feinde hatte. Feinde auf höchster Ebene in Regierungen, die den Vereinigten Staaten als erbitterte Gegner gegenüberstanden. Regierungen mit Geheimdiensten, die enge Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen pflegten. Nizar fragte sich für einen Moment, ob die Informationen, die ihn nach Burkina Faso geführt hatten, ihren Ursprung in Russland oder im Iran hatten. Letztlich war es ihm egal. Es wurde Zeit, einen Zug auf dem Schachbrett zu machen. Es wurde Zeit, Reece aus den Bergen Nordamerikas auf das Spielfeld zu locken.

Nizar schloss die Augen und atmete die trockene Morgenluft ein. Er war bereit.

Die Männer trugen die Uniformen der Sicherheitskräfte von Burkina Faso. Sie parkten an einer roten Schotterstraße, die von langen Grashalmen der Savanne flankiert wurde. Von ihrer Position aus hatten sie freie Sicht auf die Flugzeuge, die vom internationalen Flughafen Thomas Sankara abhoben.

Der Vorschuss von Eric Sawyer, über eine Baufirma in Montenegro gewaschen, war beträchtlich, aber nicht ausreichend. Der ehemalige Army Ranger und Geschäftsführer einer privaten Militärfirma hatte Nizar angeheuert, um Probleme zu beseitigen. Er war unter verdächtigen Umständen auf einer Insel in der Karibik gestorben. Kurz vor seinem Ableben hatte er einen Auftrag zur Eliminierung von James Reece erteilt. War die CIA in Sawyers Tod verwickelt? Nizar konnte sich nicht sicher sein, aber er hegte den Verdacht. Wären es ein paar Millionen mehr gewesen, hätte Nizar erwogen, den Vorschuss zu behalten und den Kontrakt nicht zu erfüllen. Da Sawyer tot war, hätte er keine Konsequenzen befürchten müssen. Ohne ins Visier von Reece geraten zu sein, wäre ein Rückzug durchaus eine Option gewesen. Dafür war es nun zu spät. Nizar vermutete, dass Reece zwei von Nizars früheren Betreuern umgebracht hatte. Der ehemalige SEAL stellte eine Bedrohung dar, die es zu beseitigen galt. Ihn unter die Erde zu bringen löste zwei Probleme auf einen Schlag: Es schaltete einen äußerst kompetenten Killer aus, der ihn im Visier hatte, und führte zudem zur Ausschüttung der restlichen Zahlung von Sawyer. Dann konnte sich Nizar endlich absetzen und musste nicht jedes Mal zur Waffe greifen, wenn er eine Bewegung im Schatten wahrnahm. Um abzutauchen und dieses Leben hinter sich zu lassen, war es unumgänglich, James Reece zu töten.

Der Franzose war durch seinen neuen Kontaktmann, den Mann im Rollstuhl, auf ihn aufmerksam geworden. Sie hatten sich nur einmal persönlich getroffen, in Dubrovnik. Die kroatische Küstenstadt lag dicht genug an Montenegro, dass Nizar die Reise ohne größere Komplikationen antreten konnte. Sein potenzieller Handler hingegen musste mit dem Zug und der Fähre von Turin in Norditalien in den Balkanstaat an der Adria reisen. Nizar hatte ihn zunächst vier Tage lang beschattet und nach Anzeichen für eine Überwachung Ausschau gehalten.

Der Mann im Rollstuhl war ein Kenner des Spiels. Er bemerkte sofort, dass Nizar ihm auf die Finger schaute. Als Profi hatte er nichts anderes erwartet. Nizar begann zähneknirschend, Respekt für den kleinen Kerl zu entwickeln, der durch die Straßen rollte, sich in Taxis, Restaurants und Cafés hinein- und wieder herauslavierte, ohne je um Hilfe zu bitten oder sich auch nur für einen kurzen Moment Selbstmitleid anmerken zu lassen. Er trug jeden Tag einen anderen maßgeschneiderten Anzug sowie ein auffälliges Seidentuch um den Hals. Wie Nizar hielt er sich von Handys und Computern fern. Er war ein Vertreter der alten Schule. Wie er im Rollstuhl gelandet war, galt für diejenigen, die auf der dunklen Seite der Schatten lebten und agierten, als Quell von Geheimnissen und Mutmaßungen. Man munkelte, dass ihm ein Scharfschütze das angetan hatte.

Nachdem er sicher war, dass es sich bei dem Mann im Rollstuhl nicht um einen Köder handelte, setzte sich Nizar mit ihm bei einem Kaffee zusammen und sie arbeiteten ihre Vereinbarung aus. Ohne Sawyer brauchte er jemanden, der sich in der Unterwelt auskannte, ihm Waffen beschaffen und zusätzliches Personal anheuern konnte. Für diesen Auftrag war er zwingend auf Verstärkung angewiesen. Bei seiner einzigen persönlichen Begegnung mit dem neuen Handler hatte er sich wie bei einem Vorstellungsgespräch gefühlt. Der kleine Mann, der auf seinen fahrbaren Untersatz beschränkt war, musterte ihn mit raubtierhaftem Blick, taxierte und bewertete.

Nizar brauchte für diese Mission einen Partner, der über Sprachkenntnisse und ein hohes Maß an kämpferischem Geschick verfügte. Nun, der Mann im Rollstuhl lieferte in dieser Hinsicht. Wenn James Reece so gut war, wie seine Erfolgsbilanz vermuten ließ, zahlten sich ein zweites Paar Augen und ein weiteres Gewehr mit Zielfernrohr definitiv aus.

Le Drian schielte auf die Uhr und herrschte die beiden ›Soldaten‹ an. Wenn man in diesem Teil der Welt operierte, schien es von Vorteil, einen französischen Staatsbürger an seiner Seite zu haben, der auch Arabisch und Mòoré, die Sprache der Mossi, beherrschte. Die Tatsache, dass er eine Vergangenheit in der französischen Fremdenlegion hatte, die fast ausschließlich in Afrika operierte, machte ihn zur wertvollen Ressource. Dass er sich mit der französischen Regierung überworfen hatte, räumte verbliebene Zweifel an seiner Loyalität aus.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte der Franzose in akzentfreiem Arabisch.

»Es sei denn, sie werden aufgehalten«, erwiderte Nizar.

»Ja, das ist in diesem Teil der Welt grundsätzlich denkbar. Wir sind hier schließlich in Afrika.«

»Sind sie bereit?«, fragte Nizar.

»Ja. Sie glauben, dass sie ein Zeichen setzen, indem sie die kolonialen Eindringlinge töten, und das gefällt mir, wie Sie wissen.«

Le Drian konnte nie wieder einen Fuß nach Frankreich setzen. Er saß in den äußersten Zipfeln des einstigen Imperiums fest. Selbst die französische Fremdenlegion hatte ihre Prinzipien. Jagen und Töten war eine Sache, Folter eine andere. Seine Tat in Algerien klebte an ihm wie eine ansteckende Krankheit.

»Es kann losgehen«, sagte Nizar. »Bestätigen Sie die Kennung am Heck und …«

Das Telefon in der Tasche des Franzosen zirpte. Er raunte leise etwas auf Mòoré und trennte die Verbindung.

»Sie ist an Bord. Das Flugzeug rollt zur Startbahn.«

»Gut. Es wird Zeit.«

Aliya lehnte sich im Sitz zurück und trank einen Schluck Wein. Es war kurz nach neun Uhr morgens.

Das Flugzeug gewann an Geschwindigkeit, hob ab, zog über die Gebäude am östlichen Ende der Startbahn hinweg und drehte langsam über der Hauptstadt ab.

Die Mission war nie vorbei. Nicht jetzt. Nicht bei der Landung in Frankreich. Nicht bei der Rückkehr nach Israel. Nie. Dies war ein Krieg, und sie war eine Soldatin. Das wurde ihr erstmals im Irak klar, als der Mossad sie für die Zusammenarbeit mit der Central Intelligence Agency einteilte. Die doppelte US-israelische Staatsbürgerschaft erlaubte es ihr, in Angelegenheiten, die den Staat Israel betrafen, zwischen Mossad und CIA zu vermitteln. Sie vermisste diese Tage. Sie vermisste die Aufgabe von damals. Es waren simplere Zeiten gewesen. Sie vermisste auch die Menschen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte. Vor allem einen.

Als sich das Flugzeug nach Norden neigte und an Höhe gewann, schaute sie aus dem Fenster. Die Gebäude wichen Hütten, die gepflasterten Straßen der Hauptstadt erst roter Erde, dann den Gräsern der afrikanischen Steppe. Sie fragte sich, wie lange es dauerte, bis die Leiche des Mannes gefunden wurde, den sie getötet hatte.

Wäre sie keine ausgebildete Nachrichtenoffizierin gewesen, hätte sie den grünen Jeep und den verblassten violetten Van womöglich gar nicht bemerkt, die sich von den hellbraunen Gräsern in der Umgebung deutlich abhoben. In dieser geringen Höhe konnte sie klar die Silhouetten von vier Männern erkennen, die zu der Passagiermaschine auf dem Flug nach Europa hochschauten. Hätte sie nicht selbst schon Panzerfäuste und Katjuscha-Raketen abbekommen, hätte sie die vier kurzen Blitze wahrscheinlich für Reflexionen auf einer Windschutzscheibe oder Spiegelungen des dicken Plastikbullauges neben sich gehalten. Doch sie war eine ausgebildete Geheimdienstoffizierin und hatte oft genug am falschen Ende feindlicher Raketen und Flugkörper gestanden.

Sie dachte an ihre beiden Kinder und an ihren Mann, der vor ihr gestorben war. Sie schloss die Augen.

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich …

Für einen kurzen Moment beschäftigte sie sich mit der Frage, ob der Anschlag ihr galt. Kurz bevor die erste Rakete in den Rumpf einschlug, gelangte sie zu dem Ergebnis, dass es die einzige logische Schlussfolgerung war. Den Tod unschuldiger Mitpassagiere hatte sie zu verantworten. Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Kinder und Großeltern, die nie wieder einen Atemzug tun würden. Sie fragte sich, wer sie verraten hatte. Ihr ohnehin geplagtes Gewissen nahm die Last von 128 zusätzlichen Seelen mit in den Tod.

TEIL 1

ALIYADIE ATTENTÄTERIN

»Denn mit Überlegung soll man Krieg führen, und wo viele Ratgeber sind, da ist der Sieg.«

– Buch der Sprichwörter 24,6 und früheres Motto des Mossad

1

Kumba Ranch

Flathead Valley, Montana

»Was hängt da für ein Klumpen Stahl an deiner Hüfte?«, fragte Reece, als sein Freund die Hütte betrat.

Sie nannten es zwar Hütte, aber die meisten hätten wohl eher von einem Haus gesprochen. Allerdings stand es auf dem Grundstück der Hastings und war ursprünglich als Gästeunterkunft vorgesehen gewesen. Es war keinesfalls protzig, aber auch keine Bruchbude. Die massiven Holzbohlen, der gemauerte Außenkamin und die große umlaufende Veranda fügten sich harmonisch in die Umgebung ein. Eine abfallende Rasenfläche führte zu einem Steg, auf dem James sich mit morgendlichem Schwimmen und Kettlebell-Training in Form hielt.

»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Reece.«

»Also, was ist das für eine Pistole?«

»Meine 1911er.«

»Das ist nicht deine alte 1911er.«

»Hab ich auch nie behauptet.«

Raife Hastings besaß das Familienerbstück schon so lange, wie Reece sich erinnern konnte. Die Pistole war ursprünglich ein handelsüblicher Colt 1911 .45 gewesen, der Anfang der 1940er im Rahmen des Lend-Lease-Gesetzes nach Großbritannien gelangte. Raifes Großvater bekam sie als Dienstwaffe ausgehändigt, als er der B Squadron der Long Range Desert Group beitrat – einer Elite-Aufklärungseinheit, die während des Zweiten Weltkriegs hinter der feindlichen Front gegen deutsche und italienische Truppen in Nordafrika kämpfte. Nach Kriegsende kehrte er nach Rhodesien zurück und schloss sich in leitender Position dem Special Air Service an. Seine Handfeuerwaffe war immer dabei. Raifes Vater, Jonathan Robin Hastings, hatte an die Familientradition angeknüpft und das SAS-Auswahlverfahren in England erfolgreich durchlaufen. Als sich Südrhodesien von Großbritannien abspaltete und zu einer Art Schurkenstaat mutierte, blieb Jonathan Hastings beim nunmehr unabhängigen SAS-Regiment und gehörte später gemeinsam mit Colonel Ronald Reid-Daly zu den Gründern der legendären Selous Scouts. Die Pistole war nach erfolgreich überstandenem BUD/S-Training bei Raife gelandet. Seitdem schmuggelte er sie bei jedem seiner Einsätze mit, um ihre Geschichte fortzuschreiben. Die Waffe hatte seiner Familie gute Dienste geleistet, und obwohl er es ungern zugab, betrachtete er sie als Glücksbringer.

»Schon kapiert, Raife. Also, warum ist es eine andere 1911?«

Welche Waffe er trug und wie er sie trug, verriet Reece eine Menge über einen Menschen. Reece’ Blick galt immer zuerst den Händen. Kein Wunder, wenn man mit einem Vater aufgewachsen war, der erst in den SEAL-Teams in Vietnam diente und dann in die Reihen der Central Intelligence Agency wechselte. Rechts- oder Linkshänder, verdecktes oder offenes Tragen, Appendix- oder 4/5-Uhr-Holsterposition, Polymerrahmen-Pistole mit Schlagbolzen oder gespannte, gesicherte 1911er, Kydex- oder Lederholster, Art des Messers in der Scheide, Schuhe, Hose, Gürtel, Hut, Uhr. All diese Details erzählen eine Geschichte, hatte sein Vater häufig betont.

Was Raife betraf, so trug er Courteney-Selous-Stiefel, Jeans und einen Gürtel, von dem Reece wusste, dass er aus der Haut eines Kap-Büffels gefertigt war. Ein Lederholster von Alessi zeichnete sich an der rechten Hüfte ab. Zwei Zentimeter größer als Reece, strahlte er Kompetenz und Stärke aus. Er wirkte wie ein professioneller Fighter, der seine Tage im Kampfrund einer UFC-Arena verbrachte. Smaragdgrüne Augen blitzten im braun gebrannten Gesicht auf. Eine Narbe verlief vom linken Auge bis zur Lippe und wurde durch einen Dreitagebart teilweise verdeckt. All das vermittelte den nicht ganz falschen Eindruck, dass Raife ein Mann vom Land war und jemand, der nicht vor der Anwendung von Gewalt zurückschreckte.

Raife schüttelte nur den Kopf und sah zu Katie, die am Küchentisch mit einer Fliegenrute hantierte.

»Da Reece ein sozialer Legastheniker ist und nicht mal ›Hallo‹ zur Begrüßung sagt, werde ich es dir verraten, Katie. Ich habe das alte Schlachtross im Stalltresor geparkt, bis ich es an meinen Sohn weitergeben kann.« Raifes Frau hatte einen kleinen Jungen zur Welt gebracht, kurz nachdem Reece von einer früheren Mission aus der sibirischen Wildnis zurückgekehrt war. »Dein Freund verwickelt mich ständig in neue Feuergefechte, also habe ich mir von Jason Burton von Heirloom Precision eine neue Waffe bauen lassen, damit ich mir keine Sorgen machen muss, dass dem Familienerbstück etwas zustößt.«

»Nun, dann wird es dich sicher freuen, dass es zu meinen erklärten Zielen zählt, ihn und dich von weiteren Feuergefechten fernzuhalten. Ich glaube, ich hatte genug davon für ein ganzes Leben.« Katie musste sich mehr als ein Mal damit auseinandersetzen, dass bewaffnete Männer mit vorgehaltener Waffe sie und ihren Liebsten töten wollten.

»Ich schlage mich doch in letzter Zeit ganz gut, oder, Katie? Seit mindestens zwei Tagen wurde nicht mehr auf mich geschossen.«

Katie rollte mit den Augen.

»Zeig mal her«, winkte Reece den Freund zu sich.

Raife zog die Pistole, wobei er darauf achtete, die Mündung nach unten zu richten. Er nahm das Wilson-Combat-Magazin heraus und steckte es in die vordere Hosentasche, betätigte die Daumensicherung und ließ den Schlitten nach hinten gleiten, um eine Kaliber-45-Patrone aus dem Lager auszuwerfen, bevor er John Brownings ikonisches Meisterwerk seinem Blutsbruder übergab.

Reece untersuchte die Pistole und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Die muss dich Hunderte gekostet haben.« Er wusste, dass die Waffe im Grunde unbezahlbar war, da sie von einem der besten 1911er-Spezialisten der Welt stammte.

Jetzt war es an Raife, mit den Augen zu rollen.

»Schön«, lobte Reece bewundernd. »Jason Burton leistet unglaubliche Arbeit. Pre-Series ’70?«

»Seit wann bist du ein Experte für die Dinger?«

»Seit du mit ihr zur Tür reingekommen bist.«

»Die Basis ist ein 1969er Colt Pre-Series ’70«, bestätigte Raife. »National-Match-Schlitten mit Kerbverzahnung, stammt wahrscheinlich aus einer Lieferung an die Army Marksmanship Unit.«

»Kann ich den Abzug mal testen?«

»Nur zu.«

Reece checkte das Patronenlager und ließ den Schlitten voller Respekt vor der Handwerkskunst in seinen Händen zurückschnellen. Er richtete sie in eine ungefährliche Richtung und betätigte den Abzug.

»Wow! Perfekt.« Er verriegelte den Schlitten und begutachtete die tadellose Arbeit genauer.

»Der Lauf ist leichtgängig. Hast du sie gesichert?«

»Natürlich.«

»Kurzer Abzug, Griffschalen aus Elfenbein, Ambi-Safety, Kart-National-Präzisionslauf, abgeflachte Schlittenoberseite mit Pfeilverzahnung, Custom-Visier, vergoldetes Korn und Herstellermarke unter der Griffschale. Ein Klassiker. Die hintere Schlittenverzahnung schließt exakt mit der Oberkante der Rahmenholme ab. Ein echtes Schmuckstück.«

Raifes Augen wanderten zu Katie.

»Sieh mich nicht an. Er könnte genauso gut Altgriechisch sprechen.«

»Weißt du, ich sollte mir auch so einen besorgen. Wie gut, dass ich die Kreditkarte von deinem Vater habe.«

Raife schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, warum er sie dir gegeben hat.«

Reece nahm die Steilvorlage an, um seinen Freund ein bisschen zu ärgern. Eigentlich hatte er die Karte höchst widerwillig und überhaupt nur angenommen, um es Raife bei einer günstigen Gelegenheit unter die Nase zu reiben.

»Warte, ich zitiere«, setzte Reece an, als er ihm die Pistole zurückgab.

»Jetzt kommt’s.« Katie stöhnte. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»›Danke, dass du das Leben meines Sohns gerettet hast. Du kannst so lange in der Hütte bleiben, wie du möchtest.‹ Daraufhin drängte er mir seine Kreditkarte auf, die ich natürlich dankend annahm.«

»Das wird er noch bereuen.« Raife strich sich eine Strähne des schulterlangen dunkelblonden Haars hinter sein Blumenkohlohr.

»Das ist gut möglich. Im Moment benutze ich sie, um die Physiotherapie zu bezahlen. Mein Rücken tut immer noch ziemlich weh, seit ich dich in Russland den Berg raufgeschleppt habe.«

»Verdammte Scheiße«, fluchte Raife. Wenn er verärgert war, hörte man ihm seine rhodesische Herkunft besonders deutlich an. »Das war nur ein mickriger Hügel.«

»Sagt sich leicht, wenn man die meiste Zeit des steilen Anstiegs ohnmächtig auf meinem Rücken liegt.«

»Ihr zwei seid schon speziell.« Katie stand auf. »Raife, kann ich dir was zu trinken bringen? Ein Bier? Wein? Bier wäre leichter zu organisieren, denn der Wein steht in der Garage und wird im Moment von locker 100 Bücherkartons blockiert, die James aus Virginia hat einfliegen lassen.«

»Ach ja«, warf Reece ein, »Jonathan hat auch gesagt, dass ich jederzeit in seinen Weinkeller und mir alles nehmen darf, was ich möchte.«

»Jetzt weiß ich, dass du lügst.«

»Ich umschreibe es höchstens ein bisschen.«

»Ein bisschen?«

»Katie, scheu keine Kosten und Mühen für unseren Freund«, rief er ihr hinterher, als sie gerade den Biervorrat im Kühlschrank unter die Lupe nahm.

»Er ist unverbesserlich«, sagte Katie entschuldigend zu ihrem Gast.

»Katie, benutz nicht so große Worte in Raifes Gegenwart. Er wird sie später nachschlagen müssen.«

Die Wahrheit war, dass Raife einer der klügsten und zähesten Kerle war, denen Reece je begegnet war. Er stammte aus einer Familie, deren Abbildung vermutlich neben der Definition von ›zäh‹ im Lexikon prangte, und durch seine Adern floss weiterhin das Blut Afrikas. Im damaligen Rhodesien rief man keinen Klempner, wenn eine Wasserleitung kaputt war, keinen Elektriker, wenn der Strom ausfiel, und keinen Mechaniker, wenn der Wagen nicht ansprang. Man reparierte es selbst. Wurde das eigene Grundstück angegriffen, meldete man es nicht der Polizei, sondern verteidigte Eigentum und Familie selbst. Hinterher hob man eine Grube aus und warf die Leichen hinein. Man war auf sich gestellt und handelte entsprechend. Das eigene Überleben und das der Familie hingen davon ab.

»Ich nehm ein Bier«, entschied Raife.

»Ein IPA? Cloudcroft?« Katie spähte in den Kühlschrank.

»Passt schon.«

»James?«

»Klingt prima.«

Katie holte drei Flaschen heraus, gab zwei an sie weiter und öffnete eine für sich selbst.

»Prost, Jungs. Raife, kannst du zum Abendessen bleiben?« Sie ging in die Küche, um mit den Vorbereitungen zu beginnen.

»Ich muss gleich zurück. Wollte nur kurz Hallo sagen.«

»Ich glaube, Raife hat heute Abend Windeldienst. Wie geht’s dem Bein?«, fragte Reece in echter Sorge. So wie Raife Reece geholfen hatte, nach seiner Hirnoperation wieder in Kampfform zu kommen, ging Reece jetzt mit seinem Freund regelmäßig joggen. Sie steigerten die Länge der Läufe schrittweise und begaben sich auf immer schwierigeres Terrain, während Raifes Bein sich allmählich von der Verletzung erholte. Der schwere Bruch nach einem Sturz auf der russischen Insel Medny, der ihn fast getötet hätte, forderte seinen Tribut.

»Fühlt sich gut an, Bruder. Ich bin fast wieder der Alte.«

»Großartig, denn der morgige Lauf wird unvergesslich sein.«

»Macht ihr euch keine Sorgen wegen Übertrainieren?«, erkundigte sich Katie aus der Küche.

»Der Begriff ist mir nicht geläufig«, scherzte Reece.

»Ich weiß nicht, warum ich überhaupt frage«, murmelte Katie in sich hinein.

»Also.« Raife setzte sich. »Wo ist diese Cabot?«

»Das alte Ding? Ich glaube, es liegt hier irgendwo rum.«

Das alte Ding war relativ neu. Reece hatte Raife und Jonathan zum Bankett der Montana Outfitter and Guides Association nach Helena begleitet, um Big Hearts Under the Big Sky zu unterstützen – ein Programm, das sich auf Kinder mit lebensbedrohlichen Krankheiten und Militärangehörige konzentrierte, die außergewöhnliche Dienste für ihr Land geleistet hatten. Eine Apocalypse 1911, freundlicherweise von Rob Bianchin von Cabot Guns in Pennsylvania gespendet, kam dort zur Versteigerung. Zwei Viehzüchter lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen im Bieterkrieg. Der mürrische alte Rancher, der am Ende den Zuschlag erhielt, marschierte damit schnurstracks zu Reece und überreichte ihm die Waffe. Offenbar hatte Raifes Vater nach fünf oder sechs Bourbon Neversweat ein bisschen zu viel über seine Heldentaten geplaudert. Reece lehnte erst ab, doch der alte Rancher wollte nichts davon hören. Schließlich wandte er sich an den älteren Hastings und verkündete: »Wie wär’s mit einem kurzen Duell, bevor wir zu viel Bier intus haben?«, schlug Raife vor.

»Wart ihr schon immer so ehrgeizig?«, fragte Katie. »Vergesst es. Rhetorische Frage.«

»Okay, ich nehm meine Lieblingswaffe«, entschied Reece.

»Benutzt du immer noch diese XL?«, fragte Raife und meinte damit die SIG Sauer P365 XL, die Reece in den letzten Jahren ans Herz gewachsen war.

»Klar, Mann, ich steh auf das Teil.« Reece tippte auf das BlackPoint Tactical Mini WING-Holster am Gürtel. »Icarus-Precision-Griffmodul, Gewindekonstruktion von Parker Mountain Machine, Trijicon-RMRcc-Rotpunktvisier.«

»Hast du dich für ein 3,25 oder 6,5 MOA entschieden?«

Reece beäugte seinen Freund misstrauisch.

»Seit wann bist du ein Experte für die Dinger?«

Raife lächelte und zuckte mit den Schultern. »Glaubst du, du weißt überhaupt noch, wie man ein Visier benutzt?«

»Gut möglich. Warte, ich schau mal, ob ich die Cabot finde. Sie muss hier irgendwo sein.«

Reece wusste natürlich genau, wo die Waffe lag. Nach ihren frühmorgendlichen Trailruns, Functional-Fitness-Übungen und Schießtrainings verabschiedete Reece seinen Freund und übte später am Tag, wenn Raife in der Stadt war, heimlich weiter – diesmal mit der Cabot Apocalypse. Reece befürchtete, dass es sich mit Raife und den Rotpunktvisieren ähnlich verhalten könnte.

»Sieh mal, ich hab sie gefunden«, meinte Reece, als er aus dem Schlafzimmer zurückkam. »Wo ist die Sicherung bei diesen Teilen?«

»Komm schon, lass es uns durchziehen. Um welchen Einsatz?«

»Darf sich der Sieger selbst aussuchen«, entschied Reece. »Worauf wollen wir schießen?«

»Ich finde ja, dass deine neue Karre schwer zu wünschen übrig lässt.« Raife spielte auf den 1985er Jeep Wagoneer an, mit dem Reece nach Montana gefahren war und der es zuletzt nur mit Mühe von der Einfahrt bis in die Scheune geschafft hatte.

»Du weißt das goldene Zeitalter der SUVs einfach nicht zu schätzen.«

»Dir ist schon klar, dass der ICON Land Cruiser, den du geschrottet hast, mehr kostet als die Häuser der meisten Leute hier, oder?«

»Das Gute ist, dass er ein Geschenk war«, konterte Reece, stand auf und ging zur Tür.

Raife schüttelte nur den Kopf.

Katie zwang sich zu einem Lächeln, als Bilder vor ihrem geistigen Auge auftauchten, wie sie der Sicherheitsgurt im umgestürzten Fahrzeug einklemmte, ihr Blut aus Nase und Mund lief, die iranischen Attentäter auf das Fahrzeug zustürmten und ihr die Pistole durch das zerbrochene Fenster ins Gesicht stießen, während Reece bewusstlos neben ihr lag. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Karabiner der Bravo-Kompanie zu, der in einer Ecke des Raums neben Reece’ LBT-Plattenträger lehnte, und rief sich die Worte von Reece’ CIA-Kumpel ›Ox‹ in Erinnerung, als er sie in Virginia durch einen Mannschaftstaktikkurs führte: Eine Pistole ist nur dazu da, sich den Weg zum Gewehr freizukämpfen. Dann beginnt die eigentliche Arbeit. Das Magazin des Gewehrs war mit Black-Hills-Munition geladen. NATO-77-Grain-Hohlspitzgeschosse. Auf der Schiene befanden sich ein Aimpoint Micro mit Lupe, eine SureFire-Scout-Lampe und ein ATPIAL-Infrarot-Laser-Zielgerät, das Ganze vollendet mit einem gepolsterten Viking-Tactics-Gewehrriemen. Katie bewahrte eine identische Waffe im Schlafzimmer auf. Nur für den Fall der Fälle, wie Reece zu sagen pflegte.

»Wie wäre es damit: Wer verliert, ist Gastgeber des nächsten Wildessens«, schlug Raife vor.

»Der nächsten drei«, konterte Reece.

»Der nächsten drei«, stimmte Raife zu.

»Ich hätte auch um die Zulassungspapiere geschossen, aber ich brauche einen Wagen, der funktioniert«, stichelte Reece in Anspielung auf Raifes Defender 110. »Wo ist die Karre überhaupt? Mal wieder in der Werkstatt?«

Raife sah Hilfe suchend zu Katie. Sie zuckte sich entschuldigend mit den Achseln.

»Haltet mich da raus. Mein 4Runner lässt mich nie im Stich.«

»Was ist das denn?« Reece blieb abrupt auf der vorderen Terrasse stehen, als sein Blick die mit Kies aufgeschüttete Zufahrt streifte. »Ich dachte, Land Rover hätte die Produktion der alten Defender-Modelle eingestellt. Hatten sie ein schlechtes Gewissen und wollten nicht, dass die Mechaniker arbeitslos werden?«

»Das ist ein INEOS Grenadier.«

»Ein was?«

»Ein Kerl in England wollte einen Truck bauen, der die Optik der alten Defender beibehält, aber …«

»Aber tatsächlich funktioniert?«

»Aber er wurde nach modernen Standards gebaut«, korrigierte Raife geduldig. »Das hier ist das erste Modell, das in den USA je zugelassen wurde. Mein Vater hat es irgendwie in die Finger bekommen.«

»Ich hab meine Meinung geändert. Lass uns doch um den Fahrzeugschein schießen.«

Das Funkgerät auf dem Schreibtisch vor der Tür unterbrach sie. »Reece, hier Kumba-Basis, over. Jungs, meldet euch.« Der Unterton in Jonathans Stimme verriet, dass es sich nicht um einen Routinekontakt handelte.

Reece ging zum Funkgerät, nahm das Mikrofon in die Hand und drückte die Sendetaste.

»Kumba, Reece hier. Raife und Katie sind bei mir.«

»Macht den Fernseher an, Jungs. Zu Hause wurde ein Flugzeug abgeschossen.«

»Wir schauen uns das sofort an.«

»Es läuft gerade auf BBC News«, ergänzte Jonathan.

»Roger. Katie, kannst du …«

Katie hielt bereits die Fernbedienung in der Hand.

»… sind 128 Menschen bei dem schlimmsten Terroranschlag in Afrika seit langer Zeit ums Leben gekommen. Ersten Berichten zufolge wurden mehrere Raketen von einem nahe gelegenen Feld abgefeuert. Die Dschama’at Nusrat Al-Islam wa-l Muslimin bekannte sich in einer Erklärung zu dem Anschlag und erklärte, die Offensive werde so lange fortgesetzt, bis die französischen Streitkräfte und ihre zivilen Helfer aus Westafrika abgezogen seien. Wörtlich heißt es darin: ›Die französischen Zivilisten trifft eine Mitschuld an den Massakern an unserem Volk. Erst wenn der letzte französische Staatsbürger Burkina Faso und Mali verlassen hat, wird unser Gebiet endgültig von der französischen kolonialen Unterdrückung befreit sein.‹ Im Oktober 2020 töteten französische Spezialeinheiten im Norden Malis 50 Kämpfer, darunter mehrere einflussreiche Anführer der Extremistengruppe. Derzeit ist unklar, ob dieser jüngste Terroranschlag eine direkte Vergeltung für den damaligen Einsatz darstellt.«

»Was für eine blutige Tragödie«, kommentierte Raife.

Reece schaute kurz zu seinem Freund, dann zurück auf den Fernseher.

»Es ist nicht unser Krieg, Reece.« Sein Blutsbruder schien seine Gedanken lesen zu können.

Reece holte vernehmlich Luft.

»Okay, lasst uns trainieren«, sagte er. »Katie, wir sind gleich wieder da.«

Sie verließen die Hütte und gingen zu dem Schießstand, den Reece direkt hinter der Scheune eingerichtet hatte, die er für seine Sammlung an Sorinex-Fitnessgeräten, als Trainingsstätte für gemischte Kampfsportarten und zur Waffenreinigung nutzte. Seine Gedanken kreisten jedoch nicht länger um 1911er, Feuerübungen und Wildgerichte. Sie galten einem abgeschossenen Flugzeug, eine halbe Welt entfernt.

Bei ihrer Rückkehr bereitete Katie gerade den Grill vor.

»Raife, ganz sicher, dass du nicht bleiben kannst? Es gibt geräucherte Forelle.«

»Ich nehme an, du hast sie selbst gefangen. Ich hab diesen Typen hier beim Fliegenfischen beobachtet. Ein hoffnungsloser Fall.« Er zeigte auf Reece. »So gern ich mitessen würde, ich muss wirklich nach Hause.«

»Das nächste Mal«, sagte Katie.

»Wie steht es eigentlich damit, dass du deine eigene Show bekommst?«

»Ich bin schon häufiger als Gastmoderatorin eingesprungen. Schauen wir mal.«

Die Enthüllungsjournalistin Katie Buranek war mit einer Reihe von Artikeln, in denen sie die Lügen rund um das Bengasi-Fiasko 2012 aufdeckte, ins Rampenlicht der Medien gerückt. Ihre anschließende Buchveröffentlichung mit dem treffenden Titel Der Verrat von Bengasi deckte die ganze Wahrheit hinter dem Anschlag auf, bei dem der US-Botschafter in Libyen und ein Beamter des auswärtigen Dienstes umkamen. Eine kleine Gruppe engagierter CIA-Mitarbeiter kämpfte an diesem Tag vergeblich um ihr Leben, vollkommen im Stich gelassen von den Staatsbeamten in Washington. Reece hatte die beiden SEALs gekannt, die im Rahmen des 13-stündigen Feuergefechts starben. Auch Katies Berichte waren ihm bereits vertraut gewesen, bevor er sie auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan kennenlernte – kurz nach dem Hinterhalt, bei dem Reece’ SEAL-Truppe getötet wurde und der sein Leben für immer veränderte. Katie geriet erneut in die Schlagzeilen, als sie Teil der Geschichte über geheime Drogentests an den besten Spezialeinheiten des Landes wurde. Ihre Berichterstattung über die Verschwörung zur Vertuschung der Auswirkungen dieser Experimente führte schließlich zum Rücktritt eines Präsidenten. Katie war dem politischen Establishment und den traditionellen Medienkonzernen ein Dorn im Auge. Ihnen ging es mehr um das Vorantreiben ihrer Agenda als um die Suche nach der Wahrheit. Deshalb stuften sie Katie als Bedrohung ein.

»Sie würden dir deine eigene Show geben, wenn sie wüssten, was gut für sie ist.«

»Lieb von dir, Raife.«

»Kann ich dich wenigstens für ein weiteres Bier begeistern?«, schlug Reece vor.

»Ich nehm mir eine Flasche mit. Annika ist in letzter Zeit ständig müde, also will ich sie nicht zu lange warten lassen.«

»Verstanden. Prost, mein Freund«, verabschiedete ihn Reece.

Das Haus von Raife befand sich nur wenige Meilen entfernt, etwas höher auf dem Berg und eingebettet in üppigen Baumbewuchs. Jonathan und Caroline Hastings hatten einen Ort als Zuhause schaffen wollen, an den ihre Kinder und Enkel gern zurückkehrten. Das hatte größtenteils funktioniert. Raife lebte hier, kümmerte sich um den Ausrüstungszweig des elterlichen Unternehmens, baute und rüstete für seine Kunden Gewehre um und sorgte für seine junge Familie. Victoria arbeitete in Connecticut im Finanzwesen, aber auf sie und ihre Angehörigen wartete immer ein eigenes Haus, wenn sie zu Besuch kamen. Seine jüngste Schwester Hanna, die Herumtreiberin der Familie, war in Rumänien entführt und auf einer Insel vor Kamtschatka von einem Mann gejagt worden, bis Reece ihn aus dem Verkehr zog. Sie stürzte sich von einer Klippe, weil sie lieber selbst über ihren Tod entscheiden wollte, als Aleksandr Scharkow die Genugtuung zu gönnen, sie umzubringen. Reece hatte dem russischen Geheimdienstoffizier mit einem Recurve-Bogen zweimal in die Brust geschossen, gerade als das Monster Raife ebenfalls ins Grab bringen wollte. Caroline und Jonathan waren seitdem mit Reece auf eine Weise verbunden, die genauso stark, wenn nicht sogar stärker war als Blut.

»Schön, dass du den Grenadier hast«, rief Reece seinem ehemaligen Teamkollegen hinterher.

»Warum das denn?«

»So kann ich den Abend mit Katie genießen und muss dich nicht im Defender nach Hause abschleppen.«

Raife griff in die Hosentasche, als ob er nach dem Wagenschlüssel kramte, zog jedoch stattdessen den ausgestreckten Mittelfinger heraus.

»Das hast du dir verdient.« Katie grinste Reece an. »Bitte grüß Annika von uns. Wie wär’s, wenn ihr morgen Abend zum Essen kommt? Ich nehme an, nachdem du mit der 1911er geschossen hast, sind wir die Gastgeber?«

»Richtig erkannt«, bestätigte Raife.

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass wir eins von Raifes Gerichten über uns ergehen lassen müssen«, verteidigte sich Reece. »Kommt alle in die Küche. Lasst uns eine Hirschkeule nach Marin-County-Art auf dem Holzkohlegrill zubereiten: mit Rosmarinmarinade, Flip-Flop-Spezialsoße, Salz, Pfeffer und Jonathans feinstem Cabernet.«

»Wir kommen gern. Lass uns vor dem Abendessen mit meinem Vater schießen gehen. Du hast 24 Stunden Zeit, an deinen Fähigkeiten zu arbeiten.«

»Abgemacht, der Verlierer muss …«

»Reece«, unterbrach ihn Raife, schlagartig ernst.

Katie hatte den Fernseher angelassen, während sie das Abendessen zubereitete. Inzwischen lief Fox News. Sie arbeitete weiterhin von einem Studio in Whitefish aus für den Sender.

Reece drehte sich um und gesellte sich zu seinem Freund hinter die Couch.

Der Sender blendete gerade Namen und Fotos der Anschlagsopfer ein.

»Katie, kann man mit dem Teil auch zurückspulen?«, fragte Raife.

»Ja.« Sie kam zu ihm und reichte ihm die Fernbedienung.

Er richtete sie auf den Bildschirm, auf dem das Geschehen nun rückwärts ablief.

Katie musterte Reece von der Seite. So hatte sie ihn schon einmal erlebt. Er starrte den Fernseher an, als ob nichts anderes von Bedeutung wäre. Den leutseligen Mann von gerade eben gab es nicht mehr. An seine Stelle war jemand getreten, der ganz fokussiert und tödlich entschlossen wirkte.

Raife stoppte bei einem Foto. Der Name Mélanie Cotillard prangte unter dem Porträt einer Frau in den späten Dreißigern oder frühen Vierzigern. Dunkle Haare. Olivfarbene Haut. Sie trug ein Business-Outfit und die Aufnahme wirkte wie aus einer Bewerbungsmappe.

»Ist sie es?«, fragte Raife.

Reece starrte stumm auf den Bildschirm, konzentriert, die Lider zusammengekniffen.

»Reece?« In Katies Stimme schlich sich Besorgnis.

Raife drehte sich um.

»Reece.«

Aber Reece war nicht länger in Montana. Er befand sich in einem Hinterhalt in Bagdad. Kugeln prallten von der Straße vor ihm ab, ein Mann zu seiner Linken ging zu Boden, der Turmschütze seines Fahrzeugs wurde von einem Schuss in die Kehle dahingerafft. Reece erwiderte das Feuer in Richtung der Mündungsblitze, die die Optiken seines Nachtsichtgeräts erhellten, und sprang auf das Gefährt, um sich hinter das Kaliber-50-Bordgeschütz zu klemmen.

»Reece«, wiederholte Raife etwas lauter.

Reece lag im Combat Support Hospital in der Grünen Zone, besudelt mit Blut, Schweiß, Schmutz und Dreck, das Gewehr an seiner Seite, und wartete auf eine Rückmeldung von den Unfallchirurgen. Die Tür öffnete sich. Eine dunkelhaarige Frau in Zivilkleidung kam auf ihn zu.

»Reece«, drängte Raife.

»Sie ist es«, bestätigte Reece, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.

»Wer ist das? Worum geht es hier?«, wollte Katie wissen. »Mélanie Cotillard? Eine französische Staatsbürgerin?«

Raife sah erst Katie an, dann Reece.

»Bist du sicher?«, fragte er.

»Ich bin mir sicher. Aber sie heißt weder Mélanie Cotillard noch ist sie französische Staatsbürgerin.«

Katie wollte ihn bedrängen, hielt sich aber zurück, da sie merkte, dass Reece angestrengt über etwas nachdachte.

»In Wahrheit heißt sie Aliya Galin. Sie ist eine Attentäterin.«

»Wie bitte?!«, entfuhr es Katie.

»Es tut mir leid, Katie. Ich muss zurück nach Langley.«

2

SWR-Hauptquartier

Stadtviertel Jassenewo, Moskau, Russland

In gewissen Kreisen munkelte man, dass der russische Präsident der reichste Mann der Welt sei. Für den ehemaligen KGB-Offizier war Geld gleichbedeutend mit Macht. Als Analysten der CIA die Behauptung aufstellten, er sei auch der mächtigste Mensch auf dem Planeten, lagen sie damit folglich goldrichtig.

Als Direktor der SWR, des russischen Auslandsgeheimdienstes, behielt Michail Gromyko die Berichterstattung über die finanziellen Verhältnisse und die Einstufung seines direkten Vorgesetzten, des Präsidenten, aufmerksam im Blick. Die Tatsache, dass sein Name auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt durch Abwesenheit glänzte, trug eher noch zu seinem Mythos bei. Gromyko ächzte verächtlich, als er Berichte las, wonach der Sohn eines westlichen Staatschefs ›Kunst‹ zu überhöhten Preisen an Leute verschacherte, die hofften, damit Einfluss auf den US-Präsidenten nehmen zu können. Sich auf ein solches Niveau herabzulassen, fand er peinlich. Vor Jahren hätte Gromyko seinen Dienst angewiesen, zu überprüfen, ob der Käufer zu den russischen Aktivposten zählte. Inzwischen hielt er das nicht länger für nötig. Es gab ganz neue Möglichkeiten der Einflussnahme.

Die Amerikaner klebten weiterhin an überkommenen Regeln. Es gab eine Rechenschaftspflicht, allerdings nicht für diejenigen, die ihre Kriege verloren, sondern für das System im Allgemeinen. Dabei wurde es zunehmend schwieriger, den Unterschied zwischen dem US-Staatsapparat und dem der ehemaligen Sowjetunion zu erkennen. Hätten Stalin, Chruschtschow und Breschnew gewusst, was die Amerikaner in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts aus freien Stücken mit ihrem eigenen Land anstellten, hätten sie die Karten während des Kalten Kriegs vermutlich anders ausgespielt. Gromyko entging nicht die Ironie, dass die Amerikaner den Kalten Krieg gewonnen hatten, nur um sich einem Zustand anzunähern, der dem des damaligen sowjetischen Gegners verdächtig ähnelte.

Was macht ein Land aus? Grenzen, Sprache und Kultur. Die Amerikaner waren dabei, alle drei Faktoren abzuschaffen. Das führte zwangsläufig zu ihrem Untergang, weshalb es umso wichtiger war, sich mit James Reece zu befassen.