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Ein weltweit vernetzter Geheimbund plant den Umsturz der bestehenden Weltordnung. 1980 wird auf Rhode Island ein aufstrebender US-Kongressabgeordneter erschossen. Mehr als vier Jahrzehnte später stellt das Attentat die Weichen für die Zukunft … Erneut zieht Ex-SEAL James Reece mit Tomahawk und Sturmgewehr in den Krieg gegen die Mächtigen in Washington und Moskau – und gegen Geister aus der Vergangenheit, die äußerst reale Spuren in der Gegenwart hinterlassen ... Jetzt als Amazon-Prime-Serie The Terminal List mit Chris Pratt in der Hauptrolle. The Real Book Spy: »Inzwischen verdient es Carr, in einem Atemzug mit den ganz Großen wie Flynn, Thor, Clancy und Silva genannt zu werden.« Chuck Norris: »Absolut heftig!« John Nantz, Townhall: »Der beste Thriller in diesem Sommer. Pures Gold vom obersten General der Schlachtfeld-Prosa.«
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Seitenzahl: 734
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Only the Dead
erschien 2023 im Verlag Atria / Emily Bestler Books.
Copyright © 2023 by Jack Carr, LLC
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder
auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.
Titelbild: Damonza.com
eISBN 978-3-98676-208-7
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für
Thomas M. Rice (14. August 1921–17. November 2022) 101. Luftlandedivision 501. Fallschirmjäger-Infanterieregiment, der am 6. Juni 1944 als Erster aus einer C-47 über der Normandie absprang (»Wir halten Wache«)
und
Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.
–GEORGE SANTAYANA
(das Zitat wird fälschlicherweise oft Platon zugeschrieben)
Ich schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika nach besten Kräften wahren, schützen und verteidigen werde, gegen alle Feinde, in der Ferne und im eigenen Land.
– EID, DEN DIE MITGLIEDER DER STREITKRÄFTE DER VEREINIGTEN STAATEN, DER VIZEPRÄSIDENT UND JEDES KONGRESSMITGLIED ABLEGEN
VORBEMERKUNG
»Wir treffen unsere Entscheidungen. Und dann drehen unsere Entscheidungen den Spieß um und prägen uns.« Diese weisen Worte von F. W. Boreham gelten für jeden Einzelnen von uns genauso wie für James Reece, den Protagonisten auf diesen Seiten.
Vielleicht ist das der Grund, warum Reece bei den Lesern der Serie und den Zuschauern, die Chris Pratt als ehemaligen Navy SEAL Sniper James Reece in der Serienadaption von The Terminal List auf Amazon Prime Video kennengelernt haben, so gut ankommt.
Reece befindet sich auf einer Reise, wie wir alle. Das ist etwas, das uns alle verbindet; es ist etwas, das wir alle miteinander teilen – wir sind alle auf einer Reise. Aber unsere Reisen sind endlich. Das Aufwachen am nächsten Tag ist für James Reece keine Selbstverständlichkeit, so wie es für keinen von uns selbstverständlich ist. Wenn ihr meine früheren Romane gelesen habt, werdet ihr festgestellt haben, dass Zeit darin eine zentrale Rolle spielt. Das Wesen der Zeit manifestiert sich konkret in der Uhr, die Reece am Handgelenk trägt, und theoretisch in den Lektionen seines Vaters: Du bist schnell, James. Ich habe dich rennen sehen, aber selbst du kannst die Zeit nicht überholen. Keiner von uns kann das.
Auch James Reece entwickelt sich im Verlauf seiner Reise weiter. In diesem Roman ist er nicht mehr derselbe Reece wie in Blutrausch, und jener Reece unterscheidet sich von dem in Die Hand des Teufels. Er lernt, entwickelt sich, wird klüger und wendet Lektionen aus der Vergangenheit auf Entscheidungen in der Gegenwart an. Diese Entscheidungen »prägen ihn«.
Wir treffen unsere Entscheidungen jedoch nicht einfach so. James Reece trifft Entscheidungen auf der Grundlage von Prinzipien, die ihn leiten. Entscheidungen, die auf soliden Prinzipien beruhen, ermöglichen es uns, viele Erfahrungen zu überleben und dadurch zusätzliches Wissen zu erlangen. Aber Reece’ Ziel ist nicht allein das Überleben. Ihm geht es darum, sich durchzusetzen. Er ist ein Krieger, Jäger, Beschützer und Schüler. Als ewiger Schüler lernt er auf seiner Reise ständig dazu und rüstet sich mit den Werkzeugen aus, die er braucht, um sich zu behaupten, wenn es hart auf hart kommt.
Er ist außerdem ein Mensch. Der Protagonist auf diesen Seiten ist kein Superheld. Wenn ihr auf der Suche nach unrealistisch übersteigerten Darstellungen von Kämpfen seid, solltet ihr woanders suchen. Mit den Werkzeugen der populären Fiktion lote ich den Verstand und das Herz eines Kriegers aus. Ich interviewe keine Scharfschützen, die in Ramadi, Mosul oder Nadschaf im Einsatz waren, frage sie, wie sie sich beim Betätigen des Abzugs gefühlt haben, und versuche dann, es detailgenau nachzuzeichnen. Ich spreche auch nicht mit Einsatzkräften, die in Bagdad in einen Hinterhalt geraten sind, um von ihnen zu erfahren, was in dieser Situation in ihnen vorging und wie sie reagiert haben. Vielmehr erinnere ich mich. Ich erinnere mich daran, wie es war, selbst Scharfschütze in Ramadi zu sein, und ich erinnere mich daran, wie ich bei einem nächtlichen Hinterhalt in Bagdad reagiert habe. Diese Gefühle und Emotionen übertrage ich dann auf eine fiktive Erzählung. Die Gefühle und Emotionen auf diesen Seiten sind echt. Sie entspringen meinem Herzen und meiner Seele und fließen ungefiltert in den Text ein. Wenn ihr auf der Suche nach mehr Fiktion und weniger Emotionen und Wahrheit seid, empfehle ich euch, dieses Buch wegzulegen und zu einem anderen zu greifen. James Reece ist nicht für jeden geeignet.
Jeder meiner Romane hat ein zentrales Thema, das den Schreibprozess bestimmt. The Terminal List war eine Geschichte über Rache. Bei meinem zweiten Roman, Hass, fand ich, es wäre unaufrichtig, Reece nach den traumatischen Ereignissen von The Terminal List übergangslos in sein nächstes Abenteuer zu stürzen. Er musste erst wieder lernen, wie man lebt. Er musste einen Sinn in seinem Dasein finden. Er brauchte eine Mission, also nahm ich ihn und die Leser mit auf die Reise einer von Gewalt durchzogenen Erlösung. Menschenjäger erforschte dann die dunkle Seite des Menschen anhand der Dynamik von Jäger und Gejagtem. In Die Hand des Teufels betrachtete ich die Vereinigten Staaten durch die Augen eines Feindes, der 20 Jahre Zeit hatte, das amerikanische Militär auf dem Schlachtfeld zu beobachten und die gesammelten Erkenntnisse in seine Schlachtpläne einzubeziehen. Blutrausch hat Reece dann hinter dem Zielfernrohr platziert. Die Arbeit eines Scharfschützen und dessen endgültige Lösungen standen dabei im Mittelpunkt. In dem Roman, der jetzt vor euch liegt, geht es um Wahrheit und ihre Konsequenzen.
Wie viel von dem, was folgt, ist Fiktion? Wie viel ist Wahrheit?
Ihr werdet es wissen, wenn ihr die letzte Seite gelesen habt.
Genießt die Reise. Die Zeit läuft.
Jack Carr
21. Februar 2023
Park City, Utah
PROLOG
Newport, Rhode Island
1980
Walter Stowe steuerte den Zehn-Meter-Trawler zielsicher durch den Vineyard Sound, vorbei an Nashawena Island in Richtung Rhode Island Sound. Er hielt den Leuchtturm von Castle Hill auf der Steuerbordseite des Boots, während er einen nordöstlichen Kurs auf das Ziel einschlug. Er verstand sich mittlerweile ziemlich gut darauf, kleine Wasserfahrzeuge durch gefährliches Fahrwasser zu manövrieren – wobei die Strecke zwischen dem Edgartown Yacht Club auf Martha’s Vineyard und Station 10, dem Grundstück des New York Yacht Club in Newport, nicht annähernd so tückisch war wie zehn Jahre zuvor die Einschleusung und Exfiltration von Navy SEALs im Mekongdelta. Sobald vor ihm freie Bahn herrschte, wandte sich Walt vom Steuer ab und sah seine Frau an. Martha saß hinter ihm auf der Flybridge, die braun gebrannten Beine auf der gepolsterten Sitzbank nach achtern ausgestreckt, das Gesicht himmelwärts gerichtet, um die letzten verblassenden Strahlen der Spätsommersonne abzufangen.
›Trawler‹ war vielleicht keine ganz zutreffende Bezeichnung für das Boot. Es handelte sich um eine Grand Banks 36, und obwohl sie den Trawlern aus Walts Jugendzeit ähnelte, war dieses Schiff auf Komfort und längere Strecken ausgelegt, nicht auf das Einholen eines Fangs in der Hoffnung, damit irgendwie über die Runden zu kommen. Ein mehr als solides Boot, von dessen Planken nicht regelmäßig Blut abgeschrubbt werden musste. Es diente allein dem Zweck, die prestigesüchtige Jachtszene der Ostküste zu beeindrucken.
Das Boot gehörte Martha. Genauer gesagt gehörte es ihrer Familie, einer wohlhabenden Familie. Einer Familie mit Geschichte.
Marthas Großvater hatte sein Geld mit Investitionen in Rohstoffe verdient. Dieses Vermögen hatte er anschließend für den Erwerb von Gewerbeimmobilien in New York City genutzt. Man munkelte, dass er während der Prohibition profitable Schmuggelgeschäfte betrieben hatte. Dieser Mythos zog natürlich Gerüchte über Verbindungen zur Mafia in Manhattan und Chicago nach sich. Man hatte ihrer Familie sogar vorgeworfen, zwei Jahrzehnte zuvor, als Martha noch die Mittelschule besuchte, einer anderen angesehenen Familie aus Massachusetts die Stimmen für die Präsidentschaftswahlen in Windy City über finstere Kanäle beschafft zu haben. Sie hatte nicht genau mitbekommen, wie ihr Vater oder ihr Großvater diese Gerüchte zum Verstummen brachte. Vermutlich schadeten Verbindungen zur Mafia, ob realer oder imaginärer Natur, in solchen Situationen nicht.
Martha ihrerseits warf man vor, das blaue Blut der familiären Erblinie verwässert zu haben, indem sie Walter heiratete.
Die Stowes waren Seefahrer. Walt und seine Brüder hatten sich in der Jugend mit Fischerei und Fallen vor der Küste von Cape Cod ihre ersten Sporen verdient. Die meisten Leute assoziierten Hummer mit Maine, aber Walt und seine Brüder wussten, dass man in ihren Heimatgewässern in Massachusetts bereits seit 1810 Holzlattenfallen einsetzte, um sie zu fangen. Die Fallen, die Walt mehr als ein Jahrhundert später benutzte, funktionierten nach einem ähnlichen Prinzip wie früher: Ein Hummer wurde durch einen Trichter gelockt, da er der Verlockung der Makrelen- und Heringsköder nicht widerstehen konnte. Die kleineren Krustentiere entkamen durch dafür vorgesehene Öffnungen, die größeren saßen in ihren Gefängnissen aus Holz und Metall fest, bis Walt und seine Brüder sie an die Oberfläche holten.
Wychmere Harbor in Harwich Port bildete ihren Lebensmittelpunkt. In einer unbeständigen Branche mit zahllosen Unwägbarkeiten lernte Walt schnell, dass in manchen Jahren der Fang nicht ausreichte, um eine junge Familie zu ernähren. Er hatte mitbekommen, wie sein Vater Gelegenheitsjobs in der Stadt annahm, um über die Runden zu kommen. Er verdingte sich als Handwerker und Barkeeper, je nachdem, wie es Finanzen und Jahreszeiten vorgaben. Der Mann beklagte sich nie. Vom Ernten von Zwergmuscheln über die Jagd auf Felsenbarsche bis hin zu Dachdecker-, Schindel- und Tischlerarbeiten sorgte der ältere Stowe für Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf seiner Frau und seiner Söhne.
Alle drei Stowe-Jungs glaubten fest, dass ihr Pfad vorgezeichnet war. Das Meer rief nach ihnen. Bis sie von einem Land namens Vietnam hörten.
Da die Vereinigten Staaten Nordvietnam nie offiziell den Krieg erklärt hatten, gehörte Walts älterer Bruder zu den 2,2 Millionen Amerikanern, die im Rahmen der durch den Selective Training and Service Act von 1940 eingeführten Einberufung in Friedenszeiten zum Dienst in Südostasien herangezogen wurden. Die Arbeiterfamilie Stowe wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis man auch Walt verpflichtete, und so empfahl sein Vater dem mittleren Sohn, sich freiwillig bei der Navy zu melden. Statt sein Leben bei der Army aufs Spiel zu setzen, hielt der ältere Stowe ein Schiff vor der Küste für die wesentlich sicherere Möglichkeit, einen Einsatz in Vietnam zu überleben. Weder Walt noch sein Vater hatten je von der Brown Water Navy gehört.
Innerhalb eines Jahres fand sich Walt auf einem Mark-II-PBR-Patrouillenboot im Mekongdelta wieder, wo er von einem wettergegerbten Petty Officer First Class, dem Kapitän des Boots, das nötige Rüstzeug vermittelt bekam. Walt und der Kapitän wurden durch einen Kanonier ergänzt, der die Kaliber-50-Zwillingskanone bediente und wartete, sowie einen Maschinisten, der das neuartige düsenbasierte Antriebssystem von Jacuzzi Brothers am Laufen hielt.
Das Patrouillenboot mit der Kanone am Bug und einem Kaliber 30 M1919AH am Heck sowie einem handbetriebenen 40 × 46-mm-Granatwerfer vom Typ Mk 18 war mit seiner Flussrattenbesatzung auf den ausgedehnten Wasserwegen Südvietnams unterwegs, die das Land vom südchinesischen Meer bis Kambodscha durchzogen. Da sich Straßen und Eisenbahnlinien noch im rudimentären Entwicklungsstadium befanden, waren es die Adern der Flüsse und Kanäle, die den Zugang zu Ressourcen und damit das Lebenselixier der vietnamesischen Wirtschaft sicherten. Wer das Wasser kontrollierte, kontrollierte auch das Land. Als er von einer Patrouille zurückkehrte, erhielt Walt einen Brief von seiner Mutter, in dem sie ihm mitteilte, dass sein jüngerer Bruder im Rahmen der ersten War Lottery des Landes zum Militärdienst verpflichtet worden war. Er sollte keine drei Wochen in Vietnam durchhalten.
Walts befehlshabender Offizier beorderte Walt im April 1970 in sein Quartier, um ihn über den Tod seines Bruders in Kenntnis zu setzen. Derselbe Offizier rief ihn eine Woche später erneut zu sich, um ihm mitzuteilen, dass es für Stowe nach Hause ging. Sein älterer Bruder war ebenfalls gefallen – einer der 1448 Soldaten, die an ihrem letzten Tag ›im Land‹ umkamen. Die Familie Stowe gehörte damit zu den insgesamt 31 amerikanischen Familien, die in diesem Konflikt gleich zwei Söhne verloren.
Walt hatte eine Aufgabe, als er in einer Familie von Hummerfängern aufwuchs, und er hatte eine Aufgabe bei der Navy. Der Tod der Geschwister veränderte alles und gab seinem Leben eine entscheidende Wendung. Er kehrte aus Vietnam zurück und verschaffte sich mithilfe der G. I. Bill einen Studienplatz an der State University of New York, während er in der Stadt Gelegenheitsjobs verrichtete. Bereits nach drei Jahren hatte er den Abschluss in der Tasche. Walt konnte Joints qualmen und auf der Straße protestieren, oder er konnte das System von innen heraus verändern. Er entschied sich für Letzteres – den Weg in die Regierung. Er ging davon aus, dass sein Pfad der Veränderung über das Außenministerium führte. Er wollte sich dort hocharbeiten, um weitere Kriege zu verhindern, die er für eine Verschwendung von Blut und Ressourcen hielt. Für unnötig und vermeidbar. Für eine bleibende Narbe im Gesicht der Nation. Bald erkannte er, dass der Aufstieg in eine einflussreiche Position mehr Zeit in Anspruch nahm, als es seine Geduld zuließ, und dass die begehrten Botschafterposten größtenteils für Wahlkampfspender und Personen mit prominenten Nachnamen reserviert waren. Botschafter stammten nicht aus Familien, die Hummerfallen aus dem Wasser zogen, sondern aus solchen, die viel Geld für den Fang zahlten, um ihn auf privaten Dinnerpartys in Zweit-, Dritt- und Viertwohnungen von den Hamptons bis Martha’s Vineyard zu servieren. Er brauchte eine andere Handhabe, seine Regierung in Schach zu halten. Er fand sie in der Politik.
Das Außenministerium öffnete ihm am Ende doch noch die nötigen Türen, denn bei einer Veranstaltung des Ministeriums lernte er Martha Stirling kennen. Sie machte den Eindruck, als wäre sie an diesem Abend gern überall, nur nicht an diesem Ort gewesen, was ihm genauso ging. Sie verstanden sich auf Anhieb.
Alle Schwestern von Martha waren mit Männern verheiratet, die von ihrem Vater gutgeheißen und möglicherweise sogar von ihm ausgewählt worden waren – Männer aus anderen bekannten, bestens vernetzten Familien der Ostküste, die über Mittel, Einfluss und generationenübergreifenden Reichtum verfügten. Martha galt als das Sorgenkind: Ein Studium an der Brown University, der Einsatz des Friedenskorps in Indien und die landesweiten Antikriegsproteste lieferten den Nährboden für ihre rebellischen Tendenzen. Männer mit dem, was ihre Eltern und Großeltern für den ›richtigen Stammbaum‹ hielten, langweilten sie zu Tode. Walt war der Richtige. Außerdem war er ein Hummerfischer. Ihre Eltern würden ihn allein deswegen hassen. Doch statt von ihnen abgelehnt zu werden, wurde Walt mit offenen Armen in die Familie aufgenommen. Martha vermutete, dass ihr Vater glaubte, ihr künftiger Gatte könnte sich für ihn später als nützlich erweisen. Es konnte schließlich nicht schaden, einen Politiker in der Familie zu haben, vor allem wenn man seine Kampagne mitfinanzierte. Gefälligkeiten. Walt machte ihr einen Heiratsantrag unter einem Baum, auf den sie als Kind auf dem Anwesen der Stirlings auf Martha’s Vineyard geklettert war, und im folgenden Frühjahr heirateten sie dort. Walt kannte weniger als ein Drittel der Gäste, aber ihm war bewusst, dass er mehr als nur Martha heiratete. Er heiratete in etwas Größeres hinein.
Martha lehnte den Kopf zurück und bewunderte ihren Mann am Steuer. Sie waren inzwischen seit etwas mehr als sechs Jahren verheiratet und hatten zwei Kinder vorzuweisen. Als Kongressabgeordneter des 12. Distrikts von Massachusetts, erst zwei Jahre zuvor ins Repräsentantenhaus gewählt, befand sich Walters politischer Stern im Aufstieg. Seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen sammelte bei den Arbeitern Punkte und die Zugehörigkeit zu einer der reichsten und am besten vernetzten Familien Amerikas verschaffte ihm Zugang zur politischen Elite. Er hatte bereits als Mitarbeiter des Abgeordneten Otis Pike aus New York, der den ständigen Geheimdienstausschuss des US-Repräsentantenhauses leitete, von sich reden gemacht. Dieser Ausschuss, besser bekannt als Pike Committee, war eingerichtet worden, um die Übervorteilung durch bestimmte Behörden der Bundesregierung zu untersuchen, darunter FBI, NSA und CIA. Der Pike-Ausschuss bildete das Gegenstück zum Church-Ausschuss des Senats, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Ergebnisse des von Senator Frank Church geleiteten Gremiums öffentlich gemacht wurden, während die Ergebnisse des Pike-Ausschusses aus Gründen der nationalen Sicherheit unter Verschluss blieben. Im Rahmen dieser Untersuchungen nahm Walt wiederholt an Sitzungen teil, die weder in seinem offiziellen noch in seinem privaten Kalender auftauchten. Anfangs befürchtete Martha, er könnte eine Affäre haben. Das wäre für einen Mann in seiner Position nicht weiter ungewöhnlich gewesen. Marthas Vater galt als berüchtigter Schürzenjäger. Die Ehemänner ihrer beiden Schwestern waren ebenfalls fremdgegangen. Beide taten, als ob sie es nicht mitbekamen, genauso wie ihre Mutter, die dem Beispiel von Jackie Kennedy, jetzt Jackie O., folgte.
Geheimnisse.
Martha verachtete Geheimnisse. Sie stammte aus einer Familie voller Geheimnisse und schwor sich, nicht an diese Tradition anzuknüpfen. Sie und ihr Mann waren gleichberechtigte Partner. Mit Walts Berufung als ›Mann des Volkes‹, seinem politischen Gespür und dem Vermögen ihrer Familie bildeten sie ein Team. Sie wollte nicht als unbeteiligte Zuschauerin auf den Rücksitz verbannt werden, so wie ihre Mutter und ihre Schwestern.
Während der ehemalige Navy-Soldat das Boot um Fort Adams herum in die Brenton Cove steuerte, dachte sie an jenen Abend zurück, an dem sie begonnen hatte, die Geheimnisse seiner geheimen Welt zu enträtseln. Sie hatten im Haus ihrer Familie an der Upper East Side gewohnt, als er nach dem Abendessen verkündete, er müsse sich noch mit einem potenziellen Spender treffen. In letzter Zeit brach er häufig zu solchen spontanen Unternehmungen auf. Nach ihrer Erfahrung bedeuteten Treffen zu ungewöhnlichen Zeiten eine Geliebte. Sie reagierte enttäuscht, aber nicht überrascht. Wenige Sekunden nachdem er ins Taxi gestiegen war, winkte sie ein weiteres an den Straßenrand.
»Folgen Sie dem Wagen vor uns.«
»Ist das Ihr Ernst?«
Ihr Blick machte dem Fahrer bewusst, dass sie keine Spielchen trieb.
»Okay, Lady.« Walts Taxi fuhr westlich durch den Central Park über die 79th Street und bog rechts ab in Richtung Upper West Side.
Wohin willst du?
Ein paar Straßen weiter stoppte sein Taxi. Sie beobachtete, wie ihr Mann aus dem gelb lackierten Fahrzeug stieg, auf die andere Straßenseite rannte und zügig in ein anderes Taxi wechselte. Sie drückte dem Mann am Steuer einen 20-Dollar-Schein in die Hand und forderte ihn auf, eine 180-Grad-Wende zu machen und die Verfolgung fortzusetzen.
»Das ist illegal«, meinte er.
Sie hielt ihm noch einen Zwanziger vor die Nase und er legte, begleitet von einem lauten Hupkonzert, ein waghalsiges Wendemanöver hin.
Walts zweites Taxi kämpfte sich durch den Verkehr in Richtung Hudson River und bog nach Süden auf die State Route 9A ab. Zu Marthas Glück saß sie in einem der gängigsten Verkehrsmittel New Yorks. Das machte sie unsichtbar.
Wer ist sie?
Soll ich sie zur Rede stellen? Oder ihn? Selbstverständlich.
Du Mistkerl!
Die Fahrt ging weiter nach Süden, vorbei an Hell’s Kitchen, Chelsea und dem Meatpacking District, bevor sie auf der Clarkson Street die Richtung wechselten und über die Morton Street ins Greenwich Village vorstießen.
Walts Taxi bog links in die Bedford Street ab und hielt vor einem lindgrünen Gebäude im West Village, das zwischen zwei Brownstones stand. Abgesehen von der Hausnummer entdeckte sie keine weiteren Schilder.
»Fahren Sie weiter«, befahl Martha und drehte sich auf dem Sitz um, als ihr Mann aus dem Taxi auf den Bordstein sprang.
»Halten Sie hier.«
»Wie Sie meinen.«
Sie beobachtete, wie Walt auf eine dunkle Holztür zutrat und im Inneren verschwand.
»Das Taxameter läuft, Lady.«
»Lassen Sie es weiterlaufen.«
Bleiben? Reingehen? Verschwinden? Ein Auge zudrücken?
Sie blickte auf die goldene Girard-Perregaux-Uhr an ihrem Handgelenk.
Zehn Minuten.
Sie kramte zwei weitere Zwanziger aus der Handtasche, reichte sie dem Fahrer und stieß die Tür auf.
Martha ging zu dem unscheinbaren Gebäude und schloss die Augen, um sich für das zu wappnen, was sie mit Sicherheit erwartete. Langsam drückte sie die Türklinke hinunter. Drinnen begrüßte sie weder ein Foyer noch ein Flur mit Wohnungstüren. Auch vernahm sie nicht die leisen Stimmen einer Unterhaltung zwischen Mann und Frau, sondern unterdrückte Gesprächsfetzen einer größeren Menschenansammlung.
Sie schob den schweren roten Samtvorhang vor sich zur Seite und fand sich in einem düsteren, rauchgeschwängerten Raum wieder, von schwachen Lichtern an den Wänden und der Decke nur spärlich erhellt. Zwei Barkeeper mixten an einem verwitterten Tresen Getränke für die Gäste. Martha bemerkte gerahmte Schutzumschläge mit Werken von Fitzgerald, Hemingway, Salinger, Steinbeck, Cather und Cummings, die die Wände zierten. An den Tischen saßen die Gäste, vertieft in ihre Gespräche. Nur wenige Frauen. Ein Mann mit einem Stapel Schreibblöcken schien sich Notizen zu machen.
Wo bin ich hier gelandet?
Sie ließ ihren Blick von der Bar zu den Tischen schweifen und verharrte an einer Nische in der Ecke des Raums. Walt stand mit dem Rücken zu ihr, aber sie erkannte seine Jacke auf Anhieb. Sie musterte den Mann, der ihm gegenübersaß. Der Fremde trug einen dunklen Wollmantel mit hochgeschlagenem Kragen, der den unteren Teil des Gesichts verdeckte. Er musterte den Neuankömmling überrascht und sah dann fragend zu Walt, der sich umdrehte. Sein überraschter Gesichtsausdruck wurde umgehend von Resignation abgelöst. Er winkte sie zu sich. Abgestandene Luft, getränkt von Tabakqualm, Schweiß und dem feuchten, muffigen Geruch von Whiskyfässern, stieg ihr in die Nase, während sie den Raum durchquerte.
Walt stand auf und wartete unter einem gerahmten Schutzumschlag von Theodore Dreisers Eine amerikanische Tragödie auf sie.
»Martha«, begrüßte er sie. »Willkommen im Chumley’s.«
»Hallo Liebling. Was für ein charmanter Ort. Eine alte Flüsterkneipe? Ich bin froh, dass du dich nicht heimlich mit einer Frau triffst, die zehn Jahre jünger ist als ich.«
Sie musterte den Mann auf der anderen Seite des Tischs. Er lächelte nicht. Seine Augen wirkten nicht etwa kalt, sondern aufmerksam und wach. Durchdringend. Solche Augen hatte sie vorher noch nie gesehen. »Ich bin Martha Stowe.« Es klang mehr wie eine Feststellung, als sie ihm über den Tisch hinweg die Hand reichte. »Und Sie sind?«
Die linke Hand des Mannes lag auf dem Tisch und umklammerte einen Kaffeebecher. Die Rechte war außer Sichtweite. Am Handgelenk trug er eine Rolex aus rostfreiem Stahl.
Wenn man so aufgewachsen war wie sie, fielen einem solche Details auf. Die Rolex erfreute sich bei Hollywoodstars wie Newman, Redford und McQueen großer Beliebtheit, seit Connery sie in seinen ersten Auftritten als Bond auf der Leinwand getragen hatte. Die Taucheruhren schmückten inzwischen sogar viele Handgelenke der New Yorker Finanzwelt, aber im Gegensatz zu den Exemplaren, die sie bei den Bankern der Wall Street gesehen hatte, war bei dieser das Glas abgenutzt und verkratzt.
Walt schielte zu seinem Begleiter und hob eine Augenbraue. Der andere nickte.
»Darf ich Ihren echten Namen nennen?«, fragte Walt.
Die Augen des Mannes durchbohrten Martha förmlich. Er nickte erneut. »Martha, das ist Tom Reece.«
»Mr. Reece, ich bin Martha Stowe. Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Was haben Sie und mein Mann denn heute Abend zu besprechen?«
Tom zögerte, dann streckte er die rechte Hand über den Tisch.
»Mrs. Stowe.« Er wirkte wenig begeistert über die Unterbrechung.
»Nennen Sie mich bitte Martha. Wenn Sie mit meinem Mann an dem arbeiten, was ich vermute, sollten Sie mich mit dem Vornamen anreden.«
»Martha.«
»Darf ich Tom zu Ihnen sagen?«
»Sie dürfen.«
»Sind Sie verheiratet, Tom?«
»Martha, also wirklich!« Walter schüttelte den Kopf.
»Nun, wenn du dich heimlich mit jemandem triffst, von dem ich nur vermuten kann, dass er entweder ein Reporter ist oder für eine unserer Regierungsbehörden arbeitet, möchte ich gern wissen, was er zu verlieren hat. Und auf mich wirkt er nicht wie ein Reporter.« Sie fixierte erneut den Mann auf der anderen Tischseite.
Seine Augen taxierten sie, abschätzend, nachdenklich. Sie bemerkte ein Aufflackern von Zustimmung, als er mit der linken Hand in die Manteltasche griff und ein Päckchen Marlboro Reds herauszog. Er klopfte eine Zigarette heraus und steckte sich das Ende mit dem Filter zwischen die Lippen. Dann warf er die Packung auf den Tisch und zog ein abgenutztes silbernes Zippo-Feuerzeug aus der rechten Tasche. Als das Feuerrad den Docht entzündete, bemerkte sie eine farbige Gravur an der Seite – ein rotes Wappen mit gelben Hervorhebungen und einem Totenkopf, der eine grüne Baskenmütze zu tragen schien. Sie konnte die Buchstaben am unteren Rand nicht genau erkennen, aber die letzten drei schienen SOG zu sein.
»Und?«
»Und?«, fragte Tom zurück, bevor er an seiner Zigarette zog. »Ob ich verheiratet bin? Noch nicht.«
Sie glaubte, die Andeutung eines Lächelns zu erkennen, als wäre eine schöne Erinnerung aus seinem Unterbewusstsein aufgestiegen.
»Ich verstehe. Sie haben also nichts zu verlieren.«
»Wir alle haben etwas zu verlieren.«
»Wie recht Sie haben. Ich komme direkt auf den Punkt. Alles, was Sie tun, jeder Ärger, den Sie verursachen, hat nicht nur Auswirkungen auf Sie. Er hat auch Auswirkungen auf mich. Er hat Auswirkungen auf meine Kinder. Er hat Auswirkungen auf meine Familie. Ich möchte nur, dass wir uns diesbezüglich verstehen. Tun wir das, Tom?«
»Tun wir.«
»Gut. Also, was können Sie mir erzählen?«
Das war vor fünf Jahren gewesen. Heute Abend hielt Walt eine Rede im Vereinshaus des New York Yacht Club in Newport. Er war noch jung, aber viele sahen in ihm einen potenziellen Präsidentschaftskandidaten, weshalb ein Wahlkampfauftritt außerhalb von Massachusetts strategisch sinnvoll erschien. Die Vergleiche zu den Kennedys, den amerikanischen Camelots, lagen auf der Hand: ein attraktives Paar im Politgeschäft, ein Kriegsveteran, der auf dem modernen Äquivalent eines Patrouillen-Torpedoboots gedient hatte, und eine Familie, die mit Schmuggel und der Mafia in Verbindung gebracht wurde. Wenn sie ihre Karten richtig ausspielten, bestanden gute Chancen auf einen Einzug ins Weiße Haus. Das Land vermisste die Kennedys. Das Land vermisste Camelot. Sie mussten sich noch zwei, vielleicht sogar vier Wahlzyklen gedulden, aber in der Politik wurden Fäden langfristig gezogen.
Nach der Rede und einer Stunde Händeschütteln und Small Talk wollte sie sich auf ihr Zimmer zurückziehen, während Walt sich entschuldigen und in die White Horse Tavern gehen würde, um etwas zu trinken und zu essen. Dort traf er sich dann mit Tom Reece.
Walt teilte nicht alles mit seiner Frau, aber er teilte genug. Er hoffte, ihr damit die Sorgen zu nehmen. In Wahrheit bewirkte seine Offenheit exakt das Gegenteil.
Der Bericht des Church-Ausschusses und das, was aus dem Pike-Ausschuss durchgesickert war, hatten der amerikanischen Öffentlichkeit die dunkle Seite der Geheimdienste offenbart. Und sie wusste, dass mehr unter der Oberfläche lauerte.
Martha war nicht ganz klar, was Walt bei seinen Treffen mit dem Mann besprach, von dem sie mittlerweile wusste, dass er für die CIA arbeitete, also für die Behörde, die im Mittelpunkt der Ermittlungen stand. Ihr Mann hatte sich im Wahlkampf entschieden und leidenschaftlich für die Verabschiedung des FISA-Gesetzes (Foreign Intelligence Surveillance Act) eingesetzt. Der Kommunismus galt als enorme Bedrohung für Frieden und Freiheit. Die Entscheider auf den höchsten Ebenen des Geheimdienstapparats machten vor nichts halt, um dessen Vormarsch einzudämmen. Das umfasste sogar tiefe Eingriffe in die Rechte und die Privatsphäre von US-Bürgern, Politikern, Reportern und Richtern des Obersten Gerichtshofs.
Was hatte Walt im Rahmen der Untersuchungen des Repräsentantenhauses noch erfahren? Was war es, das ihn am Schlafen hinderte? Sie war mehrfach nachts aufgewacht und hatte ihn am Fenster stehen sehen, wie er mit einem Bourbon in der Hand in die Nacht starrte. Albträume? Der Krieg? Die Arbeit? Was machte ihm so viel Angst, dass er sich außerhalb der offiziellen Kanäle mit einem abtrünnigen CIA-Offizier traf? Was hatte er mit Tom Reece zu schaffen?
Sie wusste, dass sich die beiden in Vietnam kennengelernt hatten, als Tom ein SEAL war, und dass sie sich im Zuge der Ereignisse rund um den Pike-Ausschuss wieder getroffen hatten. Sie nahm an, dass er ihn mit Informationen versorgte, aber Walt verheimlichte ihr die konkreten Einzelheiten. Es gab Punkte, die er nicht mit ihr erörtern durfte, so behauptete er zumindest. Sie spürte, dass er ihr zu ihrem eigenen Schutz Wissen vorenthielt. Er versprach, sie bald einzuweihen. Er brauche nur noch etwas Zeit. Eine Erklärung, die sie akzeptierte, sosehr es ihr auch missfiel.
Walt schob den Gashebel zurück und drosselte die Geschwindigkeit des Boots zunächst auf zehn, dann auf fünf Knoten, während sie sich dem langen Steg vor dem gepflegten Gelände des Clubs näherten. Martha stand auf und gesellte sich zu ihrem Mann ans Ruder.
»Willst du das Anlegemanöver übernehmen?«, fragte er.
»Du kennst mich doch.« Sie lächelte.
Da die Kinder auf dem Anwesen ihrer Eltern auf Martha’s Vineyard von mehreren Kindermädchen betreut wurden, waren sie frei – nun ja, fast frei. Der Wahlkampf machte zwar viel Arbeit, aber sie diente den Idealen, die sie seit den Antikriegsdemonstrationen der späten 1960er prägten. Statt lediglich Nutznießerin des Reichtums zu sein, den ihre Familie angehäuft hatte, und ein Leben zu führen, in dem sie von einem gesellschaftlichen Ereignis zum nächsten zog, sicherte sie sich echten Einfluss. Sie konnte verhindern, dass sich Konflikte wie der Krieg in Vietnam wiederholten. Sie konnte dafür kämpfen, dass ihren Kindern und eines Tages auch ihren Enkelkindern ein strategisch unausgegorener Krieg erspart blieb, der Walts Brüder getötet hatte.
Martha stand souverän am Steuerrad und war mit dem Gewässer zwischen der Insel und Newport ebenso vertraut wie die meisten Menschen mit den Straßen ihrer Heimatstadt.
Sie ließ den Motor in den Leerlauf gleiten und navigierte zum Liegeplatz, während Walt auf das Steuerborddeck hinunterstieg und Gummifender über die Seitenwand schob, um das Anlegemanöver vorzubereiten. Sie waren eine Stunde zu früh dran, was ihnen Zeit gab, sich vor der Abendveranstaltung frisch zu machen. Martha legte den Rückwärtsgang ein und steuerte das Boot längsseits an den Pier. Walt sprang vom Boot auf den Steg, zog die Bugleine straff und befestigte sie fachmännisch an einer Klampe. Er tat dasselbe mit der Heckleine und überprüfte seine Bemühungen, um sicherzugehen, dass das Boot fest vertäut war, bevor er wieder an Bord ging.
»Gute Arbeit«, rief er seiner Frau auf der Flybridge zu.
»Ich weiß, Schatz.«
Walt verschwand unter Deck, um ihr Nachtgepäck zu holen. Martha schaltete die Motoren ab.
»Bereit?«, rief Walt, als er aus dem Inneren des Trawlers auftauchte.
»Gib mir eine Minute.« Sie durchwühlte ein Ablagefach auf der Suche nach ihrer Handtasche.
Das Tor zur Anlegestelle schwang auf. Beim Hochblicken sah sie den Hafenmeister mit einem Klemmbrett zum Dock hinuntergehen.
»Hallo«, hörte sie ihren Mann sagen. »Darf ich Ihnen unser Gepäck anreichen? Hat Alan heute Abend keinen Dienst?«
Als Martha sich das nächste Mal zum Steg umdrehte, hielt der Hafenmeister kein Klemmbrett mehr in der Hand, sondern eine Pistole mit langem zylindrischem Aufsatz, den sie als Schalldämpfer identifizierte.
Walt hob langsam die Hände und schüttelte den Kopf. »Tun Sie’s nicht.«
Der Attentäter feuerte. Aufgrund des nach unten gerichteten Winkels drang das Geschoss in der Nähe von Walters Oberkopf ein. Es bahnte sich einen Weg durch den Frontal-, Parietal- und Okzipitallappen und riss beim Austritt einen großen Teil der hinteren Schädeldecke mit. Graue Hirnmasse und Knochensplitter klatschten an die Unterseite der seitlichen Brückenfenster. Martha hörte, wie der leblose Körper ihres Mannes auf das Deck schlug.
Visionen von ihren beiden kleinen Kindern überwältigten sie und ließen sie erstarren. Gelähmt und unfähig zu reagieren, musste sie mitansehen, wie der Attentäter zwei weitere schallgedämpfte Schüsse auf ihren Mann abgab.
Als das Schaftende der Waffe nach oben schwang, blickte sie vom schwarzen Lauf der Pistole in die toten Augen ihres Vollstreckers. Italiener? Russe? Martha befand sich gut fünf Meter oberhalb von ihm. Die untergehende Sonne stand in ihrem Rücken. Er zielte mit der Pistole auf ihren Kopf, ließ die Mündung dann in den oberen Brustbereich absinken und drückte ab.
Es fühlte sich an, als hätte man sie mit einem Vorschlaghammer getroffen. Ihr Körper krümmte sich um die Eintrittsstelle.
Die Kinder.
Walter.
Meine Eltern.
Als ihr Körper herumgewirbelt wurde, ergriff eine Welle das Boot und ihre Knie knickten ein, sodass sie rückwärts und zur Seite stolperte. Sie spürte, wie eine weitere Kugel ihren linken Arm traf, und hatte das vage Gefühl zu fallen. Sie prallte gegen die Sicherheitsreling, die vom Schanzkleid des Hauptdecks ausging, und stürzte in das Wasser der Brenton Cove.
Als Martha schwarz vor Augen wurde, musste sie an jemand anderen denken. An einen Mann, von dem sie wusste, dass er Erfahrung mit Gewalt hatte. Einen Mann, mit dem Walter am späteren Abend verabredet gewesen war. Einen Mann mit Verbindungen zum Militär und zur Central Intelligence Agency. Einen Mann namens Thomas Reece.
TEIL 1
EXIL
Bei einem Attentat ( …) kommt es weniger darauf an, wer den Schuss abgegeben hat. Man muss vielmehr herausfinden, wer für die Kugel bezahlt hat.
– Eric Ambler, Die Maske des Dimitrios
1
US-Bundesgefängnis ADX Florence, Hochsicherheitsanstalt
Sektion 13, Special Housing Unit
Fremont County, Colorado
Dunkelheit.
Leid.
Eingesperrt.
Im eigenen Verstand.
Seine Seele in Ketten.
Sein Körper in Isolationshaft.
Nichts als Dunkelheit.
Alles Leben ist Leiden, erinnerte sich Reece.
Wie lange bin ich schon hier drin? Tage? Wochen? Bestimmt noch keinen Monat.
Es war schwer festzumachen, wenn man in totaler Dunkelheit lebte.
Aber er lebte nicht in Stille.
Die Stimmen waren seine Gefährten.
Wonach suchst du?
»Nach Erlösung«, flüsterte Reece.
Worum geht es dir?
»Um eine Abrechnung.«
Du hast sie bekommen.
»Hab ich das?«
Du wirst hier drin sterben, Reece. Du verdienst es, hier drin zu sterben. In Dunkelheit. Allein. Deine Frau ist auch allein gestorben.
»Nein, ist sie nicht. Lucy war bei ihr.«
Und ein ungeborenes Kind. Du hast sie im Stich gelassen, Reece. Du hast sie alle im Stich gelassen. So wie du deine Männer in Afghanistan im Stich gelassen hast. Freddy starb deinetwegen auf dem Dach in Odessa. Du verdienst, was dich erwartet.
»Und was erwartet mich? Ein Grab?«
Der Tod wäre zu gnädig für dich. Du hast sie auf dem Gewissen, Reece.
»Nein!«
Du bist nicht mehr zu retten. Du hast den Tod deiner Frau und deiner Tochter verschuldet. Wärst du zu Hause gewesen oder hättest die Waffe Jahre früher an den Nagel gehängt, wären sie heute noch am Leben. Es war ein Krieg, den du nicht gewinnen konntest. Das wusstest du von Anfang an. Du hast dich mit deiner Geschichte auseinandergesetzt. Die, die dich geschickt haben, haben es versäumt, ihre eigene zu studieren.
»Imperiale Hybris«, flüsterte Reece.
Sie haben dich und jene, die sie in den Kampf geschickt haben, im Stich gelassen. 20 Jahre lang. Sie haben die Kassen ihrer Verbündeten aus der Rüstungsindustrie gefüllt und Dinner und Drinks mit Lobbyisten genossen, von denen keiner den Mut aufbrachte, dem Ganzen ein Ende zu machen. Du hast es gewusst. Du hast trotzdem gekämpft. Und du hast es definitiv nicht für Gott und Vaterland getan.
»Für wen habe ich es dann getan?«
Du hast es für dich getan.
»Nein.«
Wo bleibt dein Vertrauen?
»Es ist weg.«
Endgültig oder nur vorübergehend?
»Ich weiß es nicht.«
Es lässt einen nie ganz im Stich.
»Ich fühle mich aber im Stich gelassen.«
Das solltest du auch. Durch den überlebten Hinterhalt in Afghanistan hast du deine Familie zum Tode verurteilt. Wärst du am Hindukusch gestorben, wären sie nicht in deinem Haus gestorben. Du weißt, dass es stimmt.
»Ich wollte die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.«
Aber Rechenschaft war nicht genug, richtig?
»Es musste Konsequenzen geben.«
Konsequenzen?
»Ja. Ich glaube an Konsequenzen. An Verurteilung.«
Dunkelheit.
Schmerz.
Leid.
Hast du deine Rache bekommen? Wie fühlt es sich an?
»Ich habe getan, was notwendig war.«
Hast du das?
»Ja.«
Oder hast du es getan, weil es das Einzige ist, was du kennst? Weil es das ist, was du am besten kannst? Weil du dich damit am lebendigsten fühlst?
»Ich wollte sterben.«
Du musstest sterben. Der Tod steht dir gut, Reece. Krieg – er liegt dir im Blut. Du wurdest zum Krieg.
»Es war die einzige Möglichkeit.«
Und du bist nicht mehr zu retten.
»Ich weiß.«
Du hast ihn nach Hause geholt. Du hast den Krieg zu denen nach Hause geholt, die eine ganze Generation in den Kampf geschickt haben. Du hast denen, die von den Dividenden des Todes profitiert haben, Gottesfurcht eingeflößt. Du hast bekommen, was du wolltest.
»Ich wollte Gerechtigkeit.«
Nein, wolltest du nicht.
»Ich wollte Rache.«
Du wurdest zur Rache.
»Eine Abrechnung.«
Hast du sie bekommen? Und was ist mit Katie?
Reece verkrampfte.
Wenn du bei Katie bleibst, wird sie sterben.
»Ich werde sie beschützen.«
So wie du deine Frau und deine Tochter beschützt hast? So wie du deine Truppe beschützt hast? So wie du Freddy auf diesem Dach Deckung gegeben hast?
»Ich muss hier raus.«
Du wirst diese Zelle nicht verlassen. Die Wände rücken bereits näher. Bald wirst selbst du hier nicht überleben können.
»Doch, das werde ich.«
Bist du ein Überlebender, Reece?
»Ich bin ein Kämpfer.«
Jeder Kämpfer geht irgendwann zu Boden.
»Aber er steht wieder auf.«
Die Dunkelheit. Heiße sie willkommen. Werde eins mit ihr. Mach es dir damit bequem, unbequem zu sein. Du bist in deiner Gruft eingeschlossen. Für immer.
»Blödsinn.«
Das Leben ist Schmerz. Alles Leben ist Leid. Warum haben sie dich nicht einfach umgebracht? Warum hast du dich nicht selbst umgebracht? Rette Katie. Sie hat ihr Leben verdient.
»Es gibt ein Schließfach, das ich finden muss.«
Was sich darin befindet, ist Gift. Und jetzt hat Katie den Schlüssel zu diesem Schließfach. Den Schlüssel zu einem Schließfach, das du niemals finden wirst. Du hast sie erneut in Gefahr gebracht. Wenn sie stirbt, bist du dafür verantwortlich.
»Was ist drin?«
Dein Vater wusste es.
»Welche Verbindung hatte er zum russischen Geheimdienst?«
Was glaubst du?
»Ich weiß es nicht.«
Du wirst in dieser Zelle verrotten, Reece. Du wirst in Dunkelheit sterben. Du wirst niemals Antworten bekommen.
»Wo Dunkelheit ist, ist auch Licht.«
Irgendwo, aber du wirst es nie wieder sehen. Der Tod liegt in der Luft.
»Nein.«
Doch.
»Dann ist es das, was ich verdiene.«
Es ist das, was du verdienst.
Leid.
Dunkelheit.
Diese Zelle wird dich in den Wahnsinn treiben.
»Ich weiß.«
Alles, was dir bleibt, ist dein Verstand. Dein Verstand und eine Mahlzeit am Tag. Warum sperren sie dich ein?
»Wer sind ›sie‹?«
Hat Alice dich verraten?
»Sie hat mich gewarnt.«
Vielleicht hat sie beides getan. Ist sie Freund oder Feind?
»Alice, wo bist du?«
Alle, die Lauren und Lucy getötet haben, sind tot.
»Ich weiß.«
Du hast sie getötet. Den Mann, der hinter 9/11 steckte, hast du ebenfalls getötet.
»Das habe ich.«
Der Mann, der für den Tod von Freddy Strain verantwortlich ist.
»Tot.«
Der Mann, der für den Tod deines Vaters verantwortlich ist?
»Tot.«
Ist er das?
»Sie sind alle tot.«
Und was ist mit dem russischen Geheimdienst? Warum sollte sich Michail Gromyko das Leben nehmen? Der Chef der SWR, des russischen Auslandsgeheimdienstes, ging mit der Liste deines Vaters auf den Lippen ins Grab. Die Liste und Thomas Reece. Was wollte Gromyko schützen? Wen hat er geschützt? Du wirst es nie erfahren, Reece.
»Doch, das werde ich.«
Du wirst diese Zelle nicht lebend verlassen. Ob es ein Tag oder Jahrzehnte sind, du wirst hier sterben. Dein Gehirn wird abbauen und du wirst die Zeit, die dir noch bleibt, damit verbringen, dem Wahnsinn anheimzufallen. Du solltest deinen Kopf gegen die Wand schlagen, bis der Tod dich erlöst. Bring dich dazu, an dem zu ersticken, was hier als Essen durchgeht. Sei kreativ. Bring es zu Ende. Alle werden ohne dich besser dran sein.
»Das werden sie.«
Keiner weiß, wo du bist.
»Jemand weiß, dass ich hier bin.«
Du existierst nicht.
»Das Essen, das einmal am Tag kommt, verrät mir, dass jemand weiß, wo ich bin. Zu existieren, ist genug.«
Ist es das?
»Das muss es. Es gibt noch viel zu tun.«
Du wirst nie dazu kommen.
»Katie sucht nach mir. Sie wird mich finden.«
Dann wird sie sterben.
»Nein.«
Genau wie alle, die du geliebt hast. Tot.
»Nein!«
Du bist wie Granit, Reece. Du wirst dich nicht ändern. Aber die, die dich lieben – Katie, die Hastings-Familie –, werden beim Versuch, dich zu beschützen, den Tod finden. Erlöse sie jetzt.
»Das ist nicht wahr.«
Es spielt keine Rolle. Du bist in dieser Zelle eingesperrt. Ein Gefangener deines eigenen Verstands.
»Freiheit.«
Nein.
»Hoffnung.«
Nein.
»Zu existieren. Das ist genug.«
Schmerz ist Leben. Leben ist Schmerz. Leid und Schmerz. Das war dein Leben da draußen. Das ist dein Leben hier drinnen.
»Jemand hat den Präsidenten getötet.«
Jemand hat ihn getötet und dir das angehängt.
»Warum?«
Die Antworten sind da draußen.
»Ich bin hier drin.«
Du musst hier raus.
»Das muss ich.«
Du wirst niemals herauskommen. Das ist deine Wahrheit.
»Was ist schon wahr?«
Gib auf.
»Nein.«
Beende es.
»Nein.«
Scheitere.
»Nein.«
Stirb.
»Heute nicht.«
Leid.
Nichts als Dunkelheit.
Leben ist Dunkelheit.
Alles Leben ist Leid.
»Es muss reichen, zu existieren.«
Für den Moment. Aber wenn du wieder einmal Tageslicht erblickst, wird existieren allein nicht ausreichen.
Reece spürte die kalte Betonwand im Rücken.
»Nein. Aber es reicht für heute. Ich werde freikommen und meine Antworten erhalten. Und wenn ich sie habe, wird es eine Abrechnung geben.«
2
Residenz am Kap Idokopas
Region Krasnodar, Russland
Auf einer Klippe mit Blick auf das Schwarze Meer, auf einem 68 Hektar großen, dicht mit Kalabrischen Kiefern bewachsenen Grundstück befindet sich ein üppiges Anwesen, geschützt von Mauern, Sensoren und Drohnen. Die Sicherheitsvorkehrungen und Barrikaden entlang der Verbindungsstraßen sind mit so vielen bewaffneten und uniformierten Wachen besetzt, dass sie es mit jedem Militärstützpunkt der Welt aufnehmen können.
Die Bewohner des nahe gelegenen Ferienortes Gelendschik vermuteten anfangs, dass es sich um einen neuen Hotelkomplex handeln könnte, und schlossen daraus, dass sich einer der Oligarchen hier ein Feriendomizil bauen ließ. Mit zunehmendem Baufortschritt verdichteten sich die Gerüchte, dass dieses Anwesen für einen ganz bestimmten Mann gedacht war, nämlich für den Präsidenten der Russischen Föderation. Die Eigentümerschaft des Anwesens wurde durch eine Vielzahl von Unternehmen, Briefkastenfirmen und Offshore-Holdings verschleiert, was allein dem Zweck diente, dass der tatsächliche Eigentümer den Besitz abstreiten konnte. Durchaus naheliegend, wenn man berücksichtigte, dass der Bau das russische Volk umgerechnet 1,4 Milliarden US-Dollar gekostet hatte.
Abgeschirmt durch ein natürliches Riff in der Nähe der Klippen und einen gesperrten Luftraum, der offiziell als ›Flugverbotszone‹ bezeichnet wird, ist der Komplex von der italienischen Architektur des 19. Jahrhunderts inspiriert. Die weitläufige, 17.700 Quadratmeter große Residenz bietet eine Vielzahl von Annehmlichkeiten, darunter Swimmingpools, Spas, Saunen, ein Gewächshaus, Bars, ein Casino, ein unterirdisches Eishockeyfeld, einen Schießstand, mehrere Weinkeller, eine Shishabar, mehrere Spielzimmer, Theater, eine Bibliothek mit Lesesaal, ein 260 Quadratmeter großes Hauptschlafzimmer, Gästezimmer, die den gesamten russischen Sicherheitsrat beherbergen könnten, und einen Strip-Club, der sie bei Laune hält. Auf dem Grundstück befinden sich mehrere Hubschrauberlandeplätze, eine Landebahn, eine Kapelle, ein Teehaus, das über eine Brücke mit dem Hauptgebäude verbunden ist, ein Freiluft-Amphitheater, Kasernen und Verwaltungsbauten. Die angrenzenden Flächen befinden sich entweder im Besitz russischer Oligarchen oder des FSB, des russischen Inlandsgeheimdienstes. Ein Jachthafen am Fuß der Klippen ermöglicht den Sicherheitsbooten des Föderalen Schutzdienstes FSO die Zufahrt zu den umliegenden Gewässern. Zusätzlich zu den beeindruckenden oberirdischen Bauten führt ein in den Hang vor dem Jachthafen gegrabener Zugang in einen unterirdischen Bunkerkomplex, der einer nuklearen Detonation standhalten soll. In einem dieser unterirdischen Räume warteten Pawel Daschkow und seine langjährige Sekretärin Kira Borissowa.
Ein elektrisches Schienensystem hatte sie vom Eingangsbereich tiefer in das Bunkersystem zu einem der Konferenzräume befördert. Kira hatte sich an die Wand zurückgezogen. Sie wusste, wann sie ihren Chef besser in Ruhe nachdenken ließ und wann sie sich einmischen musste, damit er seinen Terminplan einhielt. Heute war einer der seltenen Fälle, in denen ihm andere den Ablauf diktierten.
Der Krieg in der Ukraine lief aus taktischer Sicht nicht gut. In strategischer Hinsicht übertraf er ihre Erwartungen. Die Amerikaner wurden in den Disput hineingezogen und finanzierten die korrupte ukrainische Regierung in einem Ausmaß, das selbst den Höhepunkt ihrer Dummheiten im Irak und in Afghanistan überstieg. Unglücklicherweise war die Risikobereitschaft des Kalten Krieges wieder erwacht. Nukleare Optionen lagen auf dem Tisch, was selbst Daschkow verblüffte. Bis vor Kurzem hatte er sich auf seine Aufgaben als Direktor des FSB und Mitglied des Sicherheitsrats beschränkt. Solange er die internen Unruhen auf ein Minimum beschränkte, konnte er sich mit erstklassigem Wodka, üppigen Mahlzeiten und jungen Nutten beschäftigen.
Es war kein schlechtes Leben. Falls die inneren Spannungen aber zu stark wurden oder den russischen Präsidenten in einer Weise bedrohten, die seine Machtposition schwächte oder sogar seine Autorität in den Augen der Oligarchie minderte, wusste Daschkow, dass ihn der Präsident nicht nur abservieren würde, sondern er sich möglicherweise bald in einer seiner eigenen Arrestzellen wiederfand oder, noch wahrscheinlicher, unfreiwillig von einem Moskauer Hochhaus stürzte oder Opfer einer ominösen Vergiftung wurde. Vergiftungen kamen bei denen, die sich mit dem Präsidenten anlegten, auffallend häufig vor. Daschkow musste es wissen. Er und sein ehemaliger Kollege in der SWR, Russlands äußerem Sicherheitsapparat, erteilten die entsprechenden Befehle zur Beseitigung von Bedrohungen für das Vaterland. Es war Daschkow nicht entgangen, wie schnell man den Präsidenten auf dem falschen Fuß erwischen konnte.
Gromyko. Warum er sich mit einer der Zyanid-Zigaretten, die zu Zeiten von KGB und GRU zum Schutz nationaler Geheimnisse ausgegeben wurden, das Leben nahm, blieb ein Rätsel. Seine Leiche war in einem besonders dunklen Abschnitt des Gorki-Parks im Gebüsch entsorgt worden. Daschkow hatte seinen Kollegen dort im Laufe der Jahre viele Male getroffen, auf neutralem Boden. Er hatte ihre Rivalität sehr genossen. Was er gar nicht genoss, war das Geheimnis, das sich um seinen Tod rankte. Offiziell war Gromyko dem Krebsleiden erlegen, das ihn seit Jahren innerlich zerfraß. Ein natürlicher Tod. Inoffiziell wurde in dem als Verschlusssache eingestuften Polizeibericht bestätigt, dass man ihm eine Plastikhaube über den Kopf gestülpt hatte. Im Mund waren Tabakreste gefunden worden. Die Autopsie bestätigte, dass die Todesursache Ersticken lautete, und zwar nicht, weil die Haube die Blutzufuhr zum Gehirn und die Luftzufuhr zur Lunge behindert hatte, sondern als Folge einer Zyanidvergiftung. Gromyko hatte sich auf die Art und Weise das Leben genommen, wie man es ihnen als Rekruten im Ausbildungszentrum auf der Elchinsel außerhalb von Moskau beigebracht hatte. Warum? Das war die entscheidende Frage. Und was hatte er vor seinem Tod ausgeplaudert? Könnte James Reece sein Henker gewesen sein?
In einer geheimen Sitzung mit dem Präsidenten waren sie zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei dem Mörder Gromykos mit hoher Wahrscheinlichkeit um den legendären CIA-Killer handelte. Ihre bisherigen Versuche, James Reece unter die Erde zu bringen, waren allesamt gescheitert, was bedeutete, dass die – wenn auch geringe – Möglichkeit bestand, dass er auf die Liste und die Dokumente stieß, die Thomas Reece vor seinem Tod versteckt hatte. Der ehemalige SEAL war ihnen ein noch größerer Dorn im Auge als dessen Sohn. Immer wieder diese Reece-Sippe! Thomas Reece war dem KGB und der GRU erstmals in Vietnam aufgefallen. Bis zu seinem Tod blieb er auf dem Radar der russischen Geheimdienste. Der Sohn knüpfte nahtlos an die Familientradition an. Wie passend, dass ihn dasselbe Schicksal in den Händen derselben Organisationen ereilen würde.
Russland plagte noch ein weiteres Problem. Sie mussten die Aufmerksamkeit der USA vom Krieg in der Ukraine ablenken. Wie bei der Ermordung von JFK eine Generation vorher wollten die russischen Marionettenspieler die Aufmerksamkeit der USA auf einen einheimischen Feind lenken. Und sie lieferten ihnen James Reece.
Ausgestattet mit Informationen, die SWR und FSB von einem redseligen Edward Snowden erhalten hatten, der inzwischen russischer Staatsbürger war, und aufbauend auf dem Fachwissen der Bot-Farmen des Spezvias und der russischen Internet Research Agency hatten sie eine elektronische Signatur erstellt, die James Reece in den Mittelpunkt einer Verschwörung zur Ermordung des Präsidenten der Vereinigten Staaten rückte. Natürlich war dieser Plan, ohne das Element des Sündenbocks James Reece, von Gromyko bereits vor einem Jahrzehnt ausgearbeitet worden. Für Attentate außerhalb des Staates war SWR zuständig, aber als eines der drei ranghöchsten Mitglieder des Sicherheitsrats kam Daschkow in diesem Fall nicht an einer Beteiligung vorbei. Obwohl er dem russischen Präsidenten stets vollstes Vertrauen entgegenbrachte, staunte er insgeheim, dass es tatsächlich geglückt war.
Es lief ganz wunderbar. Amerika rieb sich innerlich auf. Die Verschwörungstheorien, die in den sozialen Netzwerken kursierten, verstärkten die internen Zwiespalte, die die Amerikaner untereinander austrugen: Rassenunruhen, galoppierende Inflation, Abhängigkeit von ausländischen Energiequellen, offene Grenzen und das Anzweifeln der eigenen Wahlergebnisse – und das bei Wahlen, die einst als Vorbild für aufstrebende demokratische Republiken überall auf der Welt dienten. Sie konnten sich auf nichts einigen. Sie fraßen sich gegenseitig auf und wurden Opfer ihres eigenen Erfolgs. Die Amerikaner, die sich selbst gern als »Greatest Generation« bezeichneten, hatten gekämpft und die Vereinigten Staaten zu einem Leuchtturm demokratischer Ideale gemacht. Die heutige Generation hatte diese Errungenschaften geerbt und vergeudete die Opfer vergangener Generationen nutzlos. Nur gut, dass die Amerikaner sich nicht für historische Entwicklungen interessierten. Hätten sie ihren Kopf mal kurz von ihren Social-Media-Posts losgerissen, wären sie sonst vielleicht auf die Idee gekommen, sich mit dem Schicksal des Römischen Reiches zu beschäftigen und zu erkennen, dass sich ihr Land auf demselben fatalen Kurs befand.
Hatten sie denn nichts aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt? Sie gaben weiterhin Geld aus, das sie nicht hatten, gossen Benzin auf die Kohlen der Inflation und schürten offenbar mit Absicht die Kluft zwischen Arm und Reich. Es schien keinen Konflikt zu geben, in den sie sich nicht einmischten. Politiker auf beiden Seiten des Parteienspektrums stimmten, nicht zuletzt ermutigt durch die Lobbyisten der Rüstungsindustrie, für massive finanzielle Beihilfen zur Unterstützung des korrupten Regimes in der Ukraine. Milliarden von Steuergeldern flossen. Was für Dummköpfe! Die US-Rüstungsindustrie hatte während Amerikas zwei Jahrzehnte dauernder Fehltritte in Afghanistan und im Irak unglaubliche Gewinne eingefahren. Die steil nach oben gerichteten Gewinn- und Wachstumskurven durften nicht abebben. Ein Krieg in der Ukraine kam da gerade recht. Neue NATO-Mitgliedsstaaten mussten NATO-kompatible Rüstungsgüter anschaffen. Die perfekte Entwicklung, um den Profitexpress in der Spur zu halten. Die konzerngesteuerten Medien erkannten eine gute Sache, wenn sie sie vor sich hatten. Selbst Experten, die Jahre zuvor gegen die Invasionen in Afghanistan und im Irak Sturm gelaufen waren, forderten nun, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine bedingungslos unterstützen sollten. Jeder, der unbequeme Fragen zu dieser Unterstützung stellte oder einforderte, genauer zu prüfen, wohin US-Steuergelder flossen, wurde sofort als ›Russland-Apologet‹ oder ›russischer Agent‹ abgestempelt – oder als Diener von Kremls Gnaden.
Die blau-gelbe Flagge wurde in den Profilbildern der meisten Amerikaner in sozialen Medien fast obligatorisch, und der Hashtag #SupportUkraine schmückte die Posts von Amerikanern, die Monate zuvor die ehemalige sozialistische Sowjetrepublik nicht einmal auf einer Landkarte gefunden hätten. Tugendhaftigkeit lautete die Devise des Tages. Der Congressional Progressive Caucus zog sogar einen Brief, den er Monate zuvor an den amerikanischen Präsidenten geschickt hatte, stillschweigend zurück. In dem Schreiben hatte er darauf gedrängt, den Krieg in der Ukraine auf dem Verhandlungsweg zu beenden und direkt mit Russland zusammenzuarbeiten. Ein solches Vorgehen wäre den Profiten der Rüstungsindustrie allerdings nicht dienlich gewesen. Die Lobbyisten hatten ganze Arbeit geleistet. Die Kriegsmaschinerie rumpelte ungehindert weiter.
Der Sicherheitsrat der Russischen Föderation hatte die Reaktion der USA auf das russische Vorgehen in der Ukraine völlig falsch eingeschätzt. Das Gremium setzte sich aus den ranghöchsten Mitgliedern des Geheimdiensts und des Verteidigungsapparats sowie aus hochrangigen Staatsbeamten und Vertretern der Föderalbezirke zusammen. In Wahrheit lag die Macht beim Direktor des FSB, dem Direktor der SWR und dem stellvertretenden Vorsitzenden. Allein ihre Empfehlungen beeinflussten die Entscheidungsfindung des Präsidenten. Die anderen dienten nur als Staffage.
Die Untätigkeit der Vereinigten Staaten und der North Atlantic Treaty Organization (NATO) nach der russischen Invasion in Georgien 2008 und der Invasion der Krim 2014 sowie der Bluff mit der ›roten Linie‹ in Syrien 2013 deuteten darauf hin, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten auch in diesem Fall mit Verurteilungen und Sanktionen drohen würden. Der Rat übersah dabei allerdings, dass die Vereinigten Staaten 2008, 2013 und 2014 in Zentralasien und im Nahen Osten involviert waren. Damit die Amerikaner Russland in der Ukraine freie Hand gewährten, musste Amerika zwingend durch einen weiteren Kriegsschauplatz abgelenkt werden. Darin war sich der Rat einig. Was fehlte, war ein konkreter Plan, wo man ihn herzaubern sollte.
Die ›Sanktionen‹ der USA erzielten eher den gegenteiligen Effekt, ungeachtet dessen, was Politiker in Washington auf den Nachrichtensendern gebetsmühlenartig verkündeten. Die russische Zentralbank hatte in der ersten Jahreshälfte einen Haushaltsüberschuss von mehr als 110 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Der Rubel notierte so stark wie seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr und das Land verzeichnete einen massiven Handelsüberschuss, der um Milliarden Dollar höher lag als vor Beginn der Sonderoperation zur Rückeroberung der Ukraine. Russlands Exporte überstiegen aktuell die Importe, was zu einem Zufluss inländischer Devisen führte; in den Vereinigten Staaten war genau das Gegenteil der Fall. Kein Wunder, dass die etablierte politische Elite in Washington die Bevölkerung durch die russische Bedrohung ablenken wollte, obwohl sie eine halbe Welt entfernt in der Ukraine stattfand. Die Amerikaner waren dumm. Aber waren sie dumm genug, Russland in eine nukleare Konfrontation zu treiben? Das blieb abzuwarten.
Merkte die NATO denn nicht, dass die Sanktionen den russischen Präsidenten und die von ihm protegierte Oligarchie ungewollt reicher gemacht hatten, als sie es sich je hätten erträumen lassen? Jeder, der auch nur über ein grundlegendes Verständnis von Wirtschaft und Geopolitik verfügt, ganz zu schweigen von gesundem Menschenverstand, weiß, dass Russland der größte Gasexporteur und der zweitgrößte Ölexporteur weltweit ist. Und wer ist der Hauptabnehmer für dieses Gas und Öl? Die Europäische Union, dieselbe EU, die auch Geld aus ihren Kassen an die Ukraine überwies, ohne eine Möglichkeit zur Überprüfung, wie dieses Geld verwendet wurde. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischer Energie schickte die EU mehr Geld nach Russland, um die Sonderoperation in der Ukraine zu finanzieren, als sie in die Ukraine schickte, um das russische Militär zu bekämpfen. In den ersten 100 Tagen des Krieges hatte die Russische Föderation 98 Milliarden US-Dollar mit Energieexporten verdient, aktuell kam täglich über eine Milliarde dazu.
Oligarchen, hochrangige Politiker, Geheimdienstchefs, Militärs und andere Freunde des russischen Präsidenten hatten bereits ein Jahr vor dem Eingreifen in der Ukraine Vermögenswerte in der ganzen Welt angelegt. Ein Teil dieser Mittel wurde durch Investitionen in Technologieunternehmen mit Sitz in den USA diversifiziert. Obwohl sie ihre Zentrale in den Vereinigten Staaten hatten, handelte es sich in Wahrheit um globale Unternehmen ohne Loyalität zu dem Land, das ihnen den kometenhaften Aufstieg ermöglicht hatte. Ob es die amerikanische Öffentlichkeit überhaupt interessierte, dass Milliarden aus den Taschen der russischen Elite in jene Unternehmen flossen, die ihre Kinder moralisch vergifteten und ihre Nation spalteten? Sie hatten es ja kaum zur Kenntnis genommen, als ein ehemaliger Präsident 2010 500.000 Dollar für eine Rede bei der Renaissance Capital Bank in Moskau erhielt, während seine Frau noch als Außenministerin im Amt war. Sie sprach sich damals gegen Sanktionen gegen Russland aus, und ihre Familie strich eine halbe Million Dollar für eine 45-minütige Rede ein, bei der auch Daschkow anwesend war. Den Inhalt hatte er weitestgehend verdrängt; irgendwelche halb garen Binsenweisheiten über globale Zusammenarbeit.
Die massive Zunahme des Reichtums der Eliten hatte es dem russischen Präsidenten ermöglicht, seine Macht zu festigen. Es stimmte zwar, dass die Oligarchen gewisse Unannehmlichkeiten plagten. Ihre Jachten und Häuser wurden teilweise beschlagnahmt. Der Preis, den sie für ihren Erfolg zahlen mussten. Plötzliche und unerwartete Todesfälle hatten nicht wenige Andersdenkende ereilt, was andere, die sich über einen verpassten Urlaub auf Ibiza ärgerten, ermutigte, dem Präsidenten erneut bedingungslose Treue zu schwören. Schlaganfälle, Herzinfarkte, Vergiftungen, Selbstmorde, Ertrinken, Stürze und Krankheiten hatten nicht wenige Kritiker dahingerafft.
Und wie stand es um Amerika? Einst war es ein geachteter Feind gewesen. Jetzt stand die einst große Nation am Rand eines Abgrunds, so schwach wie nie seit ihrem Aufstieg in den dunklen Tagen des Großen Vaterländischen Krieges.
Die amerikanische Vizepräsidentin hatte kurz nach der Ermordung von Präsident Christensen die Regierungsgeschäfte übernommen und ihr Bestes getan, um die Stimmen der Unruhe zu unterdrücken und das Land zu einen. Gale Olsen kämpfte diesbezüglich allerdings auf verlorenem Posten. Außerdem war sie eine Unbekannte ohne jahrzehntelange Erfahrung auf dem tückischen politischen Parkett. Der frühere Amtsinhaber hatte sie ausgewählt, um sich die Stimmenmehrheit in ihrem Heimatstaat Florida zu sichern. Die Welt wusste Bescheid, genau wie das amerikanische Volk. Sie musste sich erst noch beweisen. Wie weit würde sie dafür gehen? Daschkow wusste es nicht genau.
Durch den Abwurf von zwei Atombomben auf Japan hatte Amerika die Welt in ein neues Zeitalter geführt. Sie blieben die einzige Nation der Welt, die offensive Atomwaffen eingesetzt hatte. Das anschließende Wettrüsten führte zur Entwicklung und Erprobung von Atomwaffen, die 6600 Mal stärker waren als die 1945 in Hiroshima und Nagasaki eingesetzten. Russland hatte erst kürzlich Informationen über die Zar-Bombe freigegeben, einen 50-Megatonnen-Test, der 1961 über der Doppelinsel Nowaja Semlja im Nordpolarmeer durchgeführt worden war.
Daschkow hatte die als geheim eingestuften Berichte des Lawrence Livermore National Laboratory gelesen und wusste, dass sich die Vereinigten Staaten im Frühstadium der Entwicklung einer 10.000-Megatonnen-Bombe befanden; einer Waffe, von der es hieß, sie werde ›die Erde verseuchen‹. Dabei war es ein kleines Wunder, dass überhaupt jemand die US-amerikanischen und sowjetischen Atomtests in den 1950er- und 1960er-Jahren überlebt hatte. Obwohl Frankreich, das Vereinigte Königreich, Indien, Pakistan, Israel, der Iran, Nordkorea und China über Nuklearwaffen verfügten, besaßen einzig die Arsenale der USA und Russlands das Potenzial, den Planeten gleich mehrfach zu entvölkern.
Die verketteten Sprengkörper, die Präsident Christensen getötet hatten, wiesen die gleichen Merkmale auf wie die im Irak weitverbreiteten improvisierten Sprengsätze (IEDs). Deutete das darauf hin, dass islamistische Extremisten für seinen Tod verantwortlich zeichneten? Oder enttäuschte Veteranen des globalen Krieges gegen den Terror? Oder steckte jemand ganz anderes dahinter? Das war das Geniale an ihrem Plan: Verwirrung, Spaltung, Fehlinformationen streuen. Einen oder zwei Tage lang säumten amerikanische Flaggen wieder jede Hauptstraße des Landes, so wie nach den Anschlägen vom 11. September. Aber noch schneller als von Daschkow prognostiziert wurde mit dem Finger auf andere gezeigt, wurden schwere Anschuldigungen erhoben und wüste Beleidigungen ausgestoßen. Die Nation spaltete sich einmal mehr entlang der Parteigrenzen.
Die Gruppe der Mitwissenden wurde absichtlich überschaubar gehalten. Selbst Daschkow kannte nicht alle Details. Für die Operation war seine Zustimmung erforderlich, aber wer würde es schon wagen, sich gegen den russischen Präsidenten zu stellen? In den sozialen Netzwerken wurden rasch Sündenböcke, die ihr Misstrauen gegenüber der Bundesregierung bereits online und bei Protesten kundgetan hatten, ausfindig gemacht. Die Amerikaner kreisten rein um sich selbst und schienen nicht länger in der Lage zu sein, eine gemeinsame politische Basis zu finden. Die Opposition musste vernichtet werden. Der freie Austausch auf dem Markt der Ideen, die Grundlage, die Amerika während des Kalten Krieges zu einem so beeindruckenden Gegner gemacht hatte, gehörte der Vergangenheit an. Untergeschobene digitale und physische Beweise reichten aus. Die russischen Aktivposten und Trollfabriken erledigten den Rest.
Daschkow beunruhigte, dass man James Reece nicht öffentlich als Mitverschwörer des Attentats benannt hatte. Die besten und klügsten Köpfe vom Spezvias, dem Special Communications and Information Service, und der russischen Internet Research Agency hatten ihn auf dem Silbertablett serviert, wie die Amerikaner zu sagen pflegten. Seine Vergangenheit spielte in diese Geschichte hinein: ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber dem Staat und einer Regierung, die er für den Tod seines SEAL-Teams in Afghanistan verantwortlich machte. Er verfügte über die notwendige Ausbildung und Erfahrung, um so etwas durchzuziehen. Er verfügte über die Mittel. Er verfügte über ein Motiv. Die Russen hatten nur für die entsprechende Gelegenheit sorgen müssen.
Die SWR berichtete, dass es in der Nacht des Attentats einen großen Polizeieinsatz im nördlichen Montana gegeben hatte – nur wenige Stunden nachdem Präsident Alec Christensen für tot erklärt worden war und die Vizepräsidentin den Amtseid abgelegt hatte. Danach verschwand James Reece vom Radar. Das psychologische Profil seiner Akte deutete darauf hin, dass er sich nicht kampflos geschlagen geben würde. Einige im Rat vermuteten, dass man ihn getötet hatte. Daschkow wusste es besser und hatte vor einigen Stunden die Bestätigung erhalten. Was der Rat wohl mit der Information anfangen würde, dass Reece noch lebte? Daschkow gedachte, sein Wissen in Kürze weiterzugeben. Er wollte dem neu ernannten Interimsdirektor der SWR unter die Nase reiben, dass Daschkow zwar den inneren Sicherheitsapparat der Russischen Föderation leitete, aber lange genug im Geschäft war, um über verlässliche Quellen im Ausland zu verfügen.
Rostja Lewitski hatte zuletzt als stellvertretender Direktor der SWR unter Michail Gromyko gedient. Daschkow verfügte über ein umfangreiches Dossier zum kommissarischen SWR-Direktor und folgerte aus dem Inhalt, dass Lewitski allein aufgrund seiner Loyalität gegenüber Vorgesetzten und vor allem gegenüber dem russischen Präsidenten aufgestiegen war, nicht aufgrund konkreter Erfolge oder nennenswerter Leistungen.
Daschkow hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und blickte auf. Sein Kollege von der SWR betrat den Raum. Lewitski war gut zehn Jahre jünger als Daschkow und meisterte den Spagat zwischen Respekt und Arroganz mit der angemessen diskreten Andeutung eines Lächelns, das an der linken Seite des Mundwinkels nach oben kroch. Der eng geschnittene Anzug und die blutrote Krawatte bildeten einen krassen Gegensatz zu Daschkows zerknittertem dunklen Sportmantel und weißem Hemd, das sich über die kräftige Körpermitte spannte. Man munkelte, dass Lewitski jeden Morgen um halb vier aufstand und den Tag mit einem flotten Zehn-Kilometer-Lauf einläutete, bevor er 30 Minuten Krafttraining absolvierte, gefolgt von Saunagängen und Wechselbädern.
Daschkow rieb sich unbewusst über die Bartstoppeln und bemerkte, dass Lewitski sich offenbar kurz vor dem Treffen rasiert hatte.
Lewitski streckte die Hand aus und nickte dem älteren FSB-Direktor, der sitzen blieb, ehrerbietig zu.
»Guten Abend, Genosse.«
