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Tief in der sibirischen Wildnis. Eine Frau ist auf der Flucht. Gejagt von einem Irren, davon besessen, sie zu töten. Eine halbe Welt entfernt in Montana erholt sich der frühere Navy-SEAL James Reece von seiner Gehirnoperation. Zusammen mit der Enthüllungsjournalistin Katie Buranek und seinem früheren Teamkollegen Raife Hastings gerät er zwischen die Fronten eines tödlichen Katz-und-Maus-Spiels. In seinem bisher eindringlichsten Thriller schildert Jack Carr durch die Augen von James Reece die Jagd nach einem mordenden Psychopathen. Beide sind Menschenjäger. Jetzt als Amazon-Prime-Serie The Terminal List mit Chris Pratt in der Hauptrolle. Marc Cameron: »Absolut fantastisch. Damit katapultiert Jack Carr sich ganz an die Spitze des Thriller-Genres!« Publishers Weekly: »Beeindruckend ... Carr ist am besten, wenn Kugeln fliegen. Fans von Vince Flynn werden die explosive Action lieben.« Clint Emerson: »Ein Roman wie ein knallhartes Hochgeschwindigkeitsgeschoss.« David Morrell: »Wieder verblüfft mich Jack Carr mit seinem neuen Roman. Da er selbst erlebt hat, worüber er schreibt, nimmt er das Beste, was Thriller zu bieten haben, und hebt es auf die nächste Stufe.«
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Seitenzahl: 630
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Savage Son
erschien 2020 im Verlag Atria/Emily Bestler Books.
Copyright © 2020 by Jack Carr Enterprises, LLC
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder
auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
eISBN 978-3-86552-996-1
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Brad Thor, ohne den dieses postmilitärische Kapitel meines Lebens nicht möglich wäre, und für alle, die zum Klang der Waffen marschieren.
Fortuna Favet Fortibus
»Es gibt keine Jagd, die der Jagd auf einen Menschen gleicht. Diejenigen, die einen bewaffneten Menschen lange genug gejagt haben und Gefallen daran fanden, interessieren sich danach für nichts anderes mehr.«
– Ernest Hemingway
Vorbemerkung
Ich war und bleibe ein Student des Krieges und der Jagd. Die Erfahrungen im Kampf und in der Wildnis haben mich zu dem Staatsbürger, Ehemann, Vater und Schriftsteller geformt, der ich heute bin. Das eine hat mich in dem anderen besser gemacht. Ich vermute, das war schon immer so. Die Gefühle und Emotionen aus dieser ursprünglichsten aller Unternehmungen bilden die Grundlage für Menschenjäger.
Mit Richard Connells Meisterwerk Das grausamste Spiel kam ich zum ersten Mal an der Junior High School in Berührung. Connell, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, veröffentlichte seine berühmteste Kurzgeschichte 1924 in Collier’s Weekly. Nach der ersten Lektüre war ich fest entschlossen, eines Tages einen modernen Thriller zu schreiben, der dieser klassischen Erzählung Tribut zollt und die Dynamik zwischen Jäger und Gejagtem erforscht.
Meine Familie und mein Land zu schützen und sie zu verteidigen ist in meiner DNA fest verankert. Vielleicht ist das der Grund, warum Das grausamste Spiel schon in jungen Jahren bei mir solchen Anklang fand. Vielleicht sind diese ursprünglichen Impulse sogar in uns allen verwurzelt. Es würde erklären, warum Richard Connells Werk fast ein Jahrhundert nach Erstveröffentlichung nichts an Relevanz verloren hat.
Spulen wir 30 Jahre vor. Als ich meinen Rückzug aus den SEAL-Teams vorbereitete, brachte ich alle Ideen für meinen ersten Roman, The Terminal List – Die Abschussliste, zu Papier. Der Plot von Menschenjäger war einer von mehreren Handlungssträngen, mit denen ich im Zuge der Überlegungen jonglierte, wie ich die Welt mit James Reece vertraut machen wollte. Mir wurde klar, dass mein Protagonist bei seinem ersten Auftritt noch nicht für alles bereit war, was ich mit ihm vorhatte. Ich musste ihn erst auf einen Rachefeldzug führen und anschließend Erlösung finden lassen, bevor ich die dunkle Seite des Menschen im Medium des modernen Politthrillers ausloten konnte. Ist James Reece ein Krieger, ein Jäger, ein Mörder? Womöglich ein bisschen von allem.
Jagd und Krieg sind untrennbar miteinander verbunden. Sie teilen einen gemeinsamen Ursprung. Tod führt zu neuem Leben. Um sich selbst, die eigene Familie, den eigenen Stamm oder sein Land zu verteidigen, ist Töten häufig Teil der Gleichung.
In den meisten Abschnitten der Menschheitsgeschichte sicherte der Sieg über einen Feind im Kampf das Überleben des Stamms und den Fortbestand der Erblinie. Werkzeuge, die entwickelt wurden, um Rivalen zu besiegen, erfüllen letztlich die gleiche Funktion wie jene, die der Suche nach Nahrung dienen.
Bei der Jagd auf Mensch und Tier kommen verwandte Taktiken zum Einsatz. Diejenigen, die einen Speer in die Hand nehmen, um ihre Sippe zu verteidigen, benutzen denselben Speer, um Nahrung für ihre Familie zu beschaffen. Dass jeder Einzelne von uns das Licht der Welt erblickt hat, verdanken wir den Fähigkeiten unserer Vorfahren im Kampf und bei der Jagd.
So wie der Jäger tief im Hinterland häufig an seine Familie daheim am Herd denkt, so sehnt sich auch der Krieger auf dem fernen Schlachtfeld nach seinem Zuhause. Den Jäger erfasst dieselbe Sehnsucht bei der Rückkehr in den Wald wie den Krieger nach der Schlacht. Hat es mit dem schlechten Gewissen zu tun, da man nicht länger Teil des Kampfgeschehens ist? Nicht mehr Schulter an Schulter mit Waffenbrüdern steht? Oder vermisst man ein Zugehörigkeitsgefühl, das nur entsteht, wenn man Teil eines Teams ist, das im Krieg Blut vergossen hat? Existiert sogar eine noch düsterere Erklärung? Ist es wegen des Tötens? Liegt es daran, dass das Schlachtfeld der einzige Ort ist, an dem man sich wahrhaft lebendig fühlt? Den Satz von Martin Sheens Figur in Apocalypse Now – dem Film, den meine BUD/S-Klasse sah, bevor ihre Hell Week begann – würde jeder unterschreiben, der diesem Ruf gefolgt ist: »Wenn ich hier war, wollte ich dort sein! Wenn ich dort war, dachte ich an nichts anderes als wieder in den Dschungel zurückzugehen!« Krieger können diese Sätze nachvollziehen.
Auf dem Schlachtfeld habe ich die besten und schlimmsten Seiten des Menschen kennengelernt. Ich war der Jäger, der Zielpakete zusammenstellte und Verhaltensmuster unserer Zielpersonen analysierte, indem ich auf menschliche Beobachter zurückgriff und ihre Erkenntnisse unter dem Einsatz technischer Hilfsmittel überprüfte. Auf diese Weise stellte ich sicher, dass der richtige Spieler vom Brett genommen wurde, bevor wir loszogen, um ihn in unsere Gewalt zu bringen oder zu töten. In anderen Fällen war ich der Gejagte, eingekesselt in einem Hinterhalt im Al-Rashid-Bezirk von Bagdad auf dem Höhepunkt der Kriegshandlungen.
Der globale Kampf gegen den Terror hat uns reichlich Übung verschafft und unsere Befähigung zum Jagen und Töten von Menschen perfektioniert. Direkte Aktionen, Spezialaufklärung, Aufstandsbekämpfung, unkonventionelle Kriegsführung, Auslandsverteidigung, Geiselbefreiung, Terrorabwehr und die Eindämmung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind allesamt wichtige Spezialdisziplinen, aber es ist die Menschenjagd, der in den letzten 30 Jahren das Hauptaugenmerk unserer Einsatzkräfte und Geheimdienste galt: Manuel Noriega, Mohammed Farrah Aidid, Ramzi Ahmed Yousef, Chalid Scheich Mohammed, Saddam Hussein, Osama bin Laden, Abu Musab Al-Zarqawi, Ayman Al-Zawahiri oder Mullah Omar – nicht zu vergessen die weniger bekannten HVIs, die im Laufe der Jahre anvisiert und getötet oder gefangen genommen wurden. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen ist Ayman Al-Zawahiri noch auf freiem Fuß, aber ihr könnt euch sicher sein, dass es Teams von Männern und Frauen gibt, die aktiv Jagd auf ihn machen. Eine Spezialisierung, bei der auf uns Verlass ist.
Meine Zeit an der Front war nur ein Kapitel meines Lebens. Ich bin jetzt Autor. Obwohl ich den Staffelstab an die nächste Generation weitergegeben habe, wird meine Zeit in Uniform immer ein Teil von mir bleiben; diese Erinnerungen, Lektionen und Reflexionen finden nun ihren Weg auf die Seiten meiner Romane.
Zu den faszinierendsten Passagen in Das grausamste Spiel gehört ein Wortwechsel zwischen dem Protagonisten, Sanger Rainsford, und dem Antagonisten, General Zaroff, in dem das zentrale Motiv der Erzählung enthüllt wird:
»Ich suchte das ideale Tier zum Jagen«, erklärte der General. »Also stellte ich mir die Frage: ›Über welche Eigenschaften muss eine ideale Beute verfügen?‹ Die Antwort lautet natürlich: ›Sie muss Mut besitzen, schlau sein und vor allem muss sie denken können.‹«
»Aber kein Tier kann denken«, wandte Rainsford ein.
»Mein lieber Freund«, erwiderte der General, »es gibt eins, das dazu fähig ist.«
Menschenjäger erforscht die dunkelsten Triebe der menschlichen Psyche. Lauern sie in uns allen, unterdrückt von den Annehmlichkeiten und Technologien der Gegenwart? Haben wir diese ursprünglicheren Instinkte hinter uns gelassen – und wenn ja, wer wird für den Stamm sorgen und ihn verteidigen? Die zivilisierte Gesellschaft neigt dazu, Krieger auf Distanz zu halten und sich nur in Zeiten nationaler Bedrohungen an sie zu wenden. Porzellan wird nur im Kriegsfall zerbrochen.
Wir haben einen Großteil unseres Daseins als Jäger und Krieger verbracht. Erst in jüngster Zeit haben wir uns weiterentwickelt – oder doch zurückentwickelt? – zu Wesen, denen Berührungspunkte zur Umwelt oder den wilden Tieren fehlen, die sie besiedeln. Gleichzeitig haben wir die Pflicht, unsere Familien und unser Land zu verteidigen, an andere weitergegeben. Ob dies ein Fortschritt für unsere Spezies ist, sei dahingestellt.
Wird der Tag kommen, an dem wir für unser Überleben auf diese ursprünglichen Fähigkeiten angewiesen sind? Ich vermute es. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber es könnte dazu kommen.
In jedem Fall halte ich es für klug, sich auf eine solche Situation vorzubereiten. Aktuell ist es erst einmal an der Zeit, umzublättern und auf die Jagd zu gehen.
Jack Carr
22. August 2019
Halbinsel Kamtschatka, Russland
Hinweis zu Textänderungen durch das Verteidigungsministerium
In bestimmten Abschnitten von Menschenjäger werden Sie feststellen, dass Wörter und Sätze geschwärzt wurden. Genau wie bei The Terminal List – Die Todesliste und Hass habe ich das Manuskript dem Office of Prepublication and Security Review des US-Verteidigungsministeriums vorgelegt. Was die Zensoren der Regierung in meinen Romanen geschwärzt haben, ist insofern überraschend, als fast jedes Wort und jeder Satz in öffentlich zugänglichen Regierungsdokumenten zu finden und Teil des politischen Tagesgesprächs ist.
Gewisse Informationen sollten natürlich vertraulich behandelt werden, doch ich halte den derzeitigen Überprüfungsprozess für ineffizient und ineffektiv. Er verschwendet Zeit und Ressourcen, um Informationen zu verschleiern, die in keiner Weise der nationalen Sicherheit schaden. Es geht um Freiheit. Der erste Verfassungszusatz bildet einen der Kernpunkte unserer Bill of Rights. Nicht umsonst ist es der erste. Es handelt sich um ein natürliches Recht. Nicht um ein Recht, das uns von der Regierung ›gegeben‹ wird, und deshalb kann man es uns auch nicht ›wegnehmen‹.
Beim geschilderten Überprüfungsprozess geht es ausschließlich um das Ausüben von Kontrolle. Wie ich bereits in der Vorbemerkung zu The Terminal List schrieb: »Die Konzentration von Befugnissen auf staatlicher Ebene unter dem Vorwand, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, ist ein klar erkennbarer Trend, dem mit Vorsicht zu begegnen ist. Die Aushöhlung von Bürgerrechten in winzigen Schritten zieht den schleichenden Verlust von Freiheit nach sich.«
Genießen Sie Ihre Zeit auf den Seiten von Menschenjäger. Versuchen Sie, die geschwärzten Abschnitte zu ignorieren, oder noch besser, versuchen Sie zu entschlüsseln, was die Regierung für so geheim hält. Wenn Sie aufmerksam lesen, wette ich, dass Sie es herausfinden.
Jack Carr
10. Februar 2020
Park City, Utah
PROLOG
Insel Medny
Beringsee, Russland
Sie war stark. Die meisten hätten längst aufgegeben, denn der tiefe Schnee brachte selbst austrainierte Athleten schnell an den Rand der Erschöpfung. Seine Schneeschuhe waren nicht gerade die sportlichsten Fortbewegungsmittel, aber niemand hatte von einem fairen Wettlauf gesprochen. Sein Puls erhöhte sich, und er musste wegen der enormen Steigung eine Pause einlegen, um zu verschnaufen. Sie hatte sich für die härteste Route auf der Insel entschieden, auf direktem Weg zum höchsten Gipfel. Eine Premiere. Sie ist eine Wildkatze!
Dennoch ließ sich die Spur im hüfthohen Schnee fast schon unverschämt leicht verfolgen. Er rannte ihr nicht hinterher, sondern kostete die Verfolgung aus, wie man auch eine köstliche Mahlzeit in Ruhe genießt. Nein, das war kein passender Vergleich. Hier ging es um mehr als das; die Jagd war eine körperliche Angelegenheit.
Der Wind heulte, als er den ersten einer Reihe von Graten erklomm, die dem Gipfel entgegenstrebten. Die Spur seiner Beute hatte sich auf die windzugewandte Seite verlagert, wo der Sturm bereits dazu ansetzte, sie mittels Schneeverwehungen zu verwischen. Eine Wildkatze und sehr gewitzt!
Der Wind hatte gedreht. Nun wehte kalte, feuchte Luft von der Beringsee heran. Er blickte in Richtung der rasch verblassenden Spur und verfolgte, wie die weiße Nebelwand das erhöhte Gelände vor ihm einhüllte. Er genoss das erhabene Gefühl, sich endlich mit einem würdigen Gegner messen zu können.
Ihre Jeans waren vom Schnee durchnässt, die Füße in den Stiefeln wurden taub. Sie stapfte durch die tiefen weißen Verwehungen, jeder einzelne Schritt eine körperliche Herausforderung. Sie wusste, dass Anhalten den Tod bedeutete: den Tod durch Unterkühlung, den Tod durch jene, die sie jagten. Die Verfolgung schien ein Spiel zu sein. Warum hätte man sie sonst gehen lassen?
Sie befand sich auf einer Insel oder zumindest einer Halbinsel, konnte auf beiden Seiten der baumlosen Landschaft Wasser erkennen. Dort hinunterzusteigen wäre das Einfachste gewesen, aber bestimmt rechneten sie damit. Die Küstenlinie war eine Todesfalle. Sie kämpfte sich nach oben, während ihre Beinmuskeln wegen der Anstrengung, durch den Pulverschnee zu waten, vehement protestierten. Als erfahrene Ausdauersportlerin war sie an Schmerzen gewöhnt und ertrug solche Belastungen stoisch. Und aufgrund ihrer Heimat Montana kannte sie auch das Gefühl, ständig durchnässt zu sein und zu frieren.
Gott, ich wünschte, mein Bruder wäre hier. Er wüsste, was zu tun wäre, dachte sie und erinnerte sich an ihre legendären gemeinsamen Trailruns und wie sie sich gegenseitig in der Jiu-Jitsu-Akademie angefeuert hatten.
Die trostlose Tundra-Landschaft deutete darauf hin, dass sie irgendwo im hohen Norden war; Skandinavien oder Alaska vielleicht. Russland hielt sie für wahrscheinlicher. Die Männer, die sie mitgenommen hatten, sprachen selten, aber sie stanken nach türkischem Tabak. Der Zimmermann ihres Vaters, ein Einwanderer aus Weißrussland, müffelte auch nach verbranntem Laub und Schweiß. Sollte ihre Vermutung stimmen, hatte man sie mit dem Flugzeug nach Osten gebracht. Die Wirkung der verabreichten Betäubungsmittel war längst abgeklungen, über einen Mangel an Nahrung durfte sie sich nicht beschweren. Sie wollten offenbar, dass sie bei Kräften blieb. Sie blickte zum Himmel hinauf. Die Wetterlage blieb stabil. Neuschnee würde ihre Spuren verwischen und der dichte Nebel eine gute Tarnung bieten. Sie kletterte gegen den Wind über den Bergkamm, um von der Bildfläche abzutauchen.
Der Whiteout dauerte fast zwei Stunden. Der Jäger machte sich auf den Weg zurück zum Basislager, um am knisternden Kamin mit einem in Leder gebundenen Exemplar der Meditationen des großen römischen Kaisers und stoischen Philosophen Mark Aurel auszuharren. Sergej bot ihm einen Brandy an, doch er lehnte ab und entschied sich stattdessen für heißen Tee. Es gab später noch genug Gelegenheiten zum Feiern; er wollte nichts in den Adern haben, das die Freude am Bevorstehenden trübte. Er genoss das Aroma eines aus China eingeschmuggelten Tees. Er war auf einem seiner Posten auf den Geschmack gekommen, fasziniert von den Ritualen, der damit verbundenen Geschichte und einem Klassifizierungssystem, das es an Komplexität mit französischen Weinen aufnehmen konnte.
Er lehnte sich im bequemen Ledersessel zurück und nahm seine Umgebung in Augenschein. Über dem Kamin hing ein beeindruckender anatolischer Hirsch, den er in der Türkei erlegt hatte, ein Zeugnis von Glück und Ausdauer. Daneben starrte ihn ein Tian-Shan-Argali-Schaf aus leblosen Augen an, ein unter großem Aufwand erlegter Widder aus den extremen Höhenlagen Tadschikistans. Die steinerne Feuerstelle wurde von einem imposanten Paar botswanischer Elefantenstoßzähne eingerahmt, von denen jeder knapp unter der legendären 100-Pfund-Marke wog; er war mindestens so viele Meilen auf der Suche nach ihnen gelaufen. Obwohl er diese Trophäen liebevoll beäugte, hielt er sie für Relikte eines vergangenen Lebens; ähnlich wie die Medaillen, die er als Kind beim Sport gewonnen hatte. Seitdem hatte er sich anspruchsvolleren und befriedigenderen Beschäftigungen zugewandt.
Er zog eine Dunhill aus der Tasche des Wollhemds und zündete sie mit dem goldenen S. T. Dupont-Feuerzeug an, einem Geschenk seines Vaters. Er strich mit dem Daumen über das eingravierte doppelköpfige Reichsadler-Emblem der SWR, des russischen Auslandsgeheimdienstes; einige Relikte des Zaren hatten sogar den Kommunismus überlebt. Was sollte er nur mit seinem Vater anstellen? Nicht jetzt. Denk später darüber nach. Er nippte am Tee und visualisierte die anstehende Verfolgung. Ihm blieben noch einige Stunden Tageslicht. Er musste sie unbedingt finden, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Unter den aktuellen Wetterbedingungen überlebte sie die kommende Nacht nicht. Dampf stieg von den Stiefeln auf, als der nasse Schnee durch die Hitze des Feuers verdampfte. Das Wetter schlug bald um. Der Schnee dürfte ihre Spur bereits verwischt haben, zumal sie clever genug war, den Wind zu ihrem Vorteil zu nutzen. Er forderte Sergej auf, die Hunde bereit zu machen. Sein Opfer verdiente eine Lektion in Sachen Angst.
Sie hatte den höchsten Punkt erreicht, außerdem ging ihr langsam die Insel aus. Ihre Route führte sie über die exponierte hügelige Tundra hinaus zu einer Reihe zerklüfteter Klippen über dem eisigen Meer. Die Kälte dominierte alles andere und begann, ihren Flucht- und Überlebensinstinkt zu schwächen. Sie war von oben bis unten in eine Mischung aus Schnee und Schweiß getränkt und spürte von der Taille abwärts nichts mehr.
Der Schmerz in den Füßen hatte aufgehört, was auf das Einsetzen von Erfrierungen hindeutete. Sie rieb die gefrorenen Hände unter der Fleecejacke im vergeblichen Bemühen gegeneinander, sich zu wärmen. Der beißende Wind machte ihr zu schaffen, also bewegte sie sich auf die Leeseite der Insel und hangelte sich so gut es ging an den steilen Klippen nach unten. Einmal verlor sie den Halt und rutschte gut 15 Meter in die Tiefe, bevor sie ihren Sturz an einem kleinen Felsbrocken ausbremsen konnte. Ein Teil von ihr wünschte sich, weiterzufallen und der Sache ein Ende zu setzen. Sie wollte ihrem Verfolger die Genugtuung vorenthalten, sie zu töten. Sie schüttelte den Gedanken ab. So hatte man sie nicht erzogen.
Als sie sich verzweifelt an der grauen Klippe festklammerte, blieb ihr Blick an einer Felsnische unter einem Vorsprung hängen, der sie vor neugierigen Blicken verbarg und vor dem tödlichen Wind schützte. Sie tastete mit der Spitze ihres Stiefels nach Halt. Ihre Hand forschte nach einem stabilen Griff. Die Finger glitten in eine Felsspalte und sie arbeitete sich Millimeter um Millimeter zu ihrem Ziel vor. Die Nische war kaum groß genug, ihren Körper aufzunehmen, aber allemal besser als ohne Deckung zu bleiben. Sie zog die Knie an die Brust und verschränkte die Arme in der Jacke, wobei sie ihren Kopf in den Fleecestoff einkuschelte. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie durstig, erschöpft und ängstlich sie war. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erlaubte sie sich ein kurzes Weinen. Tränen und Schluchzen gingen in ein animalisches Brüllen über, als sie den Grund dafür erkannte: Sie betrauerte den eigenen Tod.
Die Wolkendecke hob sich und der Schneesturm wich einem zaghaften Aufwirbeln von weißen Flocken. Der Mann steuerte das Schneemobil zu der Stelle, an der er ihre Spuren vorhin zurückgelassen hatte, und gab Sergej ein Zeichen, die Hunde vom Heck des sechsrädrigen KAMAZ-Truppentransporters abzuladen. Sein Untergebener schielte sehnsüchtig auf den traditionellen Bogen seines Volkes, bevor er ihn an Ort und Stelle zurückließ und den Anweisungen des Vorgesetzten folgte. Obwohl die Angriffe der Kosaken, die erzwungene Migration und der Krieg das Korjakenblut in seinen Adern im Laufe der Jahrhunderte verdünnt hatten, fühlte er sich unverändert von der Heimat im Norden angezogen.
Die beiden bärenartigen Kaukasischen Schäferhunde sprangen von der Ladefläche und prüften die Luft nach dem Geruch ihrer Beute. Sergej hatte sie ausgiebig am Schal der Frau schnuppern lassen; hier gab es fast keine anderen Gerüche, die sie ablenkten. Jedes der Tiere wog rund 70 Kilogramm und wies eine Schulterhöhe von gut 75 Zentimetern auf. Diese besonderen Exemplare, die beide einer Gebirgsrasse entstammten, konnten auf eine militärische Blutlinie verweisen, die bis in die frühen Tage der Sowjetunion zurückreichte. Sie wurden aufgrund ihrer Entschlossenheit, Wildheit und ihrer Vorliebe für Menschenfleisch ausgewählt.
Er nickte Sergej zu, der den Hunden ein geflüstertes Kommando erteilte. Sie hörten auf zu pinkeln, zu schnüffeln und sich zu winden. Stattdessen spurteten sie über den Weg den Hang hinauf. Die zwei Männer mit ihren Schneeschuhen folgten dicht dahinter. Die Tiere nahmen die Witterung der Frau zügig auf und stürmten voran, wobei sie die massige Gestalt von Sergej regelrecht hinter sich herzogen. Die Tiere führten sie in die Nähe des höchsten Gipfels der Insel, bevor sie bergab und aus dem Wind drehten. Er bewunderte ihren Überlebenswillen. Das war auch sein Rezept gegen die Langeweile, die ihn befiel, solange er denken konnte. Seine Hand wanderte unbewusst zur Armbrust, die er auf dem Rücken trug, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Nicht mehr weit bis zum Ziel.
In der windgeschützten Öffnung der Felswand fiel ihr auf, wie still es war. Die Tränen hatten nach ein paar Minuten nachgelassen; ein gutes Gefühl, sie herauszulassen. Behalt die Nerven, Kleines!, erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters, in dessen Akzent die rhodesischen Wurzeln mitschwangen. Genau das hatte sie vor, um für den bevorstehenden Kampf gerüstet zu sein.
Sie sammelte eine Handvoll schwammige dunkle Erde zusammen und rieb die Kleidung damit ein, bis sie die Farbe der Umgebung aufwies. Beim Wühlen stieß sie auf etwas Hartes und Glattes. Entschlossen fuhr sie mit den Fingern hin und her, um die Konturen nachzuzeichnen. Sie setzte einen kleinen Stein als Spaten ein und grub etwas aus, das sich als Knochen entpuppte, wahrscheinlich ein Stück Seehundrippe, das ein Aasfresser zu diesem Hochsitz geschleppt hatte. Gut zehn Zentimeter lang, gebogen und mit gezackter, scharfer Kante, wo sie sich vom Rest des Knochens abgespalten hatte. Sie drehte den Fund in der Hand; jetzt war sie bewaffnet.
Die Stille wurde vom Geräusch bellender Hunde durchbrochen. Diesmal rührte der Schauer, der ihr den Rücken hinunterlief, nicht von der Kälte her. Es spielte keine Rolle, ob die Hunde sie erreichten. Es genügte, dass sie ihr Versteck witterten. Sie saß in der Falle. Vorsichtig spähte sie über den Vorsprung jenseits der Stiefelspitzen. Mehrere Hundert Meter unter ihr schlugen die Wellen gegen die Felsen. Das Bellen war plötzlich ganz nahe. Sie sah und hörte, wie kleine Kieselsteine an ihr vorbeirollten, während ihre Verfolger sich einen Weg über den steilen Abhang zu ihr bahnten. Sie nahm einen tiefen Atemzug, hielt kurz die Luft an und atmete dann tief aus, während sie ihren Griff um den behelfsmäßigen Dolch nachjustierte.
Für einen Moment vermutete der Mann, dass seine Beute in den Tod gestürzt war, aber das massive Interesse der Hunde an der Felswand ließ etwas anderes vermuten. Er streifte sich die Schlinge über den Kopf und machte die Waffe bereit. Der lange Kohlefaserschaft des Pfeils ruhte perfekt in der Schiene, das dünn geflochtene Kabel hielt die kinetische Energie der Gliedmaßen in Schach. Er klappte die Kappen des Zielfernrohrs nach oben und schulterte die moderne Version des traditionellen Jagdutensils, um sicherzustellen, dass die Linsen nicht von der Kälte beschlugen. Seine Beute befand sich in Reichweite; jetzt musste er nur noch warten, dass sie sich zeigte.
Sergej löste die Messinghaken von den dicken Halsbändern der Hunde und befreite sie vom Joch der Lederleine. Sie stürmten zur Klippe, dann verlangsamten sie ihr Tempo auf winzige Schritte und erkundeten den Felsvorsprung. Ihr tiefkehliges Bellen klang ohrenbetäubend laut. Das Leittier schaute zu seinem Herrn und schien dem Terrain, das vor ihm lag, zu misstrauen. Sergej erteilte ein Kommando und jegliche Zweifel wurden ausgelöscht. Die Hunde glitten kontrolliert nach unten. Jeder normale Hund wäre ins Meer gestürzt, aber diese trittsichere Spezies hatte man genau für solche Aufgaben gezüchtet.
Sie konnte sie nicht sehen, aber das durchdringende Bellen verriet ihr, dass sie direkt außerhalb ihres Sichtfeldes lauern mussten, verdeckt von den Wänden ihres steinernen Gefängnisses. Sie zog die linke Hand zurück in den Ärmel der Jacke, sodass der Stoff unterhalb des Ellbogens lose schlackerte. Der blanke Horror! Eine knurrende Schnauze mit wolfsähnlichen Zähnen materialisierte sich vor ihr. Sie schleuderte den Ärmel in Richtung Angreifer. Er schnappte instinktiv danach. Sie befreite ihre Hand aus dem Stoff und packte das Tier am Genick, während sie ihm den Seehundknochen in den Hals stieß. Sie schrie laut, stach in unbändiger Wut wieder und wieder zu, spürte, wie ihr das heiße Blut des Tieres auf Hände und Gesicht spritzte. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge des Hundes und setzte ihre geballte Kraft ein, um den Panzer aus dickem Fell zu überwinden. Ihr erster Stich streifte eine Rippe, der zweite und dritte fand den Weg in die Brusthöhle. Der Hund löste sich ruckartig aus ihrem Griff und stolperte beim Rückzug. Er verlor den Halt und taumelte außer Sichtweite.
Sergej schrie auf, als sein bester Jagdhund in die Beringsee stürzte und vor Schmerzen jaulte. »Ataka«, befahl er dem jüngeren Rüden, die Stimme ließ die übliche Vehemenz vermissen. Zum ersten Mal schien er zu zögern, das Tier seine Arbeit erledigen zu lassen. Die Unsicherheit, die der vierbeinige Begleiter verspürte, wurde verdrängt, blinder Gehorsam übernahm die Oberhand. Knurrend stürzte er sich auf den Gegner.
Sie fand kaum Zeit, sich zu sammeln, bevor der zweite Hund heranstürmte, ein Bündel aus Fell und Wut. Was ihm an Erfahrung fehlte, machte er durch Aggression wett. Er ignorierte den Matador-Schwung des Jackenärmels und stürzte sich direkt auf ihre Kehle. Sie wich so weit zurück, wie es der Berg im Rücken zuließ, der Atem des Hundes und der moschusartige Geruch des Fells drängten in den engen Spalt. Speichel spritzte über ihr Gesicht, während das donnernde Bellen in ihrer Seele widerhallte. Sie zog das Kinn an die Brust, um den entblößten Hals zu schützen, und schob den linken Arm vors Gesicht. Mächtige Kiefer schnappten nach dem Ellbogen, die Eckzähne durchbohrten ihr Fleisch bis auf die Knochen.
Sie stach nach der Flanke des Hundes und fühlte, wie die Haut nachgab, als der Seehundknochen sein Ziel fand. Der Hund erkannte die Bedrohung und verlagerte den Angriff auf den Arm, der das Instrument des Schmerzes hielt, riss Fleisch heraus und zermalmte Haut, Knochen und Sehnen. Der behelfsmäßige Knochendolch fiel zu Boden. Mit der freien Hand ergriff sie einen kleinen Stein und schlug immer wieder auf den animalischen Gegner ein, doch dieser ließ nicht locker. Stattdessen zerrte er sie in Richtung der Öffnung, seinem wartenden Herrn entgegen. Der Hund wog bestimmt 20 Kilo mehr als sie. Ihr blutiger, geschundener Körper war dem bösartigen Gegner nicht gewachsen. Ihr Verstand wollte von einer Niederlage jedoch nichts wissen.
Behalt die Nerven, Kleines!
Da sie wusste, dass ihr in Sekundenschnelle die Entdeckung drohte, flüsterte sie ein kurzes Gebet und packte mit der rechten Hand das Halsband des Tiers. Sein Verhalten beruhte auf purem Instinkt, sie hingegen konnte mit Intelligenz kontern. Sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht, winkelte die Knie an und arbeitete sich mit den Füßen in Richtung Öffnung vor.
Freiheit.
Er hatte das Zielfernrohr direkt am Auge und wollte den ersten Pfeil versenken, sobald Sergejs Jagdhund sie aus der Deckung schleifte. Sein Plan lautete, sie zunächst zu verwunden. Es gab keinen Grund, den Höhepunkt zu überstürzen. Er löste die Sicherung und legte den behandschuhten Finger auf den gebogenen Metallabzug der Ravin-Armbrust. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs tanzte, die unvermeidliche Folge von Blut, Atmung und Adrenalin, aber auf diese Distanz verfehlte er das Opfer auf keinen Fall. Er wollte sie am Oberschenkel treffen, vorsichtig, um nicht die Arterie zu treffen und ihr ein vorzeitiges Ende zu bereiten.
Das Tier hatte sie erwischt. Er sah, wie sich die Hinterbeine rückwärts bewegten. Die Vorfreude durchflutete seinen Körper mit Energie. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf die schmutzige Jacke, bevor der Hund seine Position veränderte und stolperte. Er keuchte schockiert. Der Körper der Frau wurde kopfüber in die Luft geschleudert, die Kiefer des Tiers hatten sich darin verhakt. Einen Moment lang schien das ungleiche Paar in der Luft zu schweben, dann stürzte es den zerklüfteten Felsen in 400 Metern Tiefe entgegen.
Das egoistische Miststück hatte ihn seiner Beute beraubt. Wütend ließ er die Armbrust in den Schnee fallen und griff nach einer Zigarette, ehe er sich der Hütte zuwandte und Sergej befahl, die Leiche zu bergen. Dann stapfte er davon.
Nicht so schlimm. Die Frau diente lediglich als Köder. Er hatte es auf eine größere Beute abgesehen. Ihr Tod erfüllte trotzdem einen Zweck.
TEIL 1 –DIE FALLEN
»Man jagt nicht, um zu töten; im Gegenteil, man tötet, um gejagt zu haben.«
– José Ortega y Gasset,
Meditationen über die Jagd
1
Kumba Ranch
Flathead Valley, Montana
Drei Monate früher
James Reece saß schweigend auf dem Beifahrersitz des 1997er Land Rover Defender 110 und ließ die betuliche Schönheit der Landschaft auf sich wirken. Die Straße führte mitten durch einen dicht gewachsenen Bestand von Ponderosa-Kiefern, die zu allen Seiten aufragten. Sein College-Freund und ehemaliger Navy-SEAL-Teamkollege Raife Hastings steuerte den britischen Geländewagen und wollte Reece nicht verraten, wohin genau sie unterwegs waren. Raifes Familie gehörte die weitläufige Ranch, seit sie in den 80er-Jahren aus dem südlichen Afrika ausgewandert waren. Was als kleiner und bescheidener Rinderbetrieb begonnen hatte, dehnte sich mittlerweile auf Zehntausenden Hektar erstklassigem Weideland und unberührter Wildnis aus. Die Erfolge des Clans im Rinder- und Immobiliengeschäft hatten es ihnen ermöglicht, den Betrieb schrittweise zu erweitern. Sie besaßen inzwischen Ländereien im gesamten Bundesstaat. Trotz des hart erarbeiteten Reichtums achtete Raifes Vater darauf, dass die Familie ihre bescheidenen Anfänge nie vergaß und die Möglichkeiten, die ihnen ihre Wahlheimat bot, nie als selbstverständlich hinnahm.
Als ehemaliger Navy SEAL hatte Reece in jüngster Zeit seine enorme Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Erst trickste er einen nationalen Sicherheitsapparat aus, der ihm ans Leder wollte, danach deckte er ein Komplott auf, das den Präsidenten der Vereinigten Staaten als Opfer ins Visier nahm. Ein Mann namens Vic Rodriguez leitete den paramilitärischen Zweig der Central Intelligence Agency als Direktor der Special Activities Division. Er hatte Reece seinerzeit für die Mission rekrutiert, die dem Präsidenten das Leben rettete und die Ukraine vor einem Angriff mit chemischen Waffen bewahrte.
Vic erkannte rasch Reece’ Begabung für aggressive Problemlösungen und wollte ihn weiter an Bord behalten. Infolgedessen war Reece technisch gesehen vorübergehend bei der paramilitärischen Bodenabteilung der CIA angestellt, obwohl seine einzige Aufgabe momentan darin bestand, sich von seiner jüngsten Operation an einem Ort zu erholen, an dem er durchatmen und einen Neustart in die Wege leiten konnte. Ohne dass seine neuen Herren in Langley davon wussten, besaß er ganz persönliche Gründe, sich ihnen anzuschließen. Noch zwei weitere Männer standen auf seiner Todesliste.
Reece lüftete das Basecap und fuhr sich mit den Fingern durch das kurz geschnittene Haar. Seit BUD/S hatte er keine Fastglatze mehr getragen. Sie hatten ihm im Walter Reed den Schädel rasiert. Obwohl es langsam nachwuchs, fiel es ihm schwer, sich daran zu gewöhnen. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über die Narbe auf der Kopfhaut, nach wie vor erstaunt über ihre geringe Größe. Der Eingriff zur Entfernung des gutartigen Hirntumors war ein voller Erfolg gewesen. Er war erleichtert, dass er sich keiner Bestrahlung oder Chemotherapie unterziehen musste und die Sache überlebt hatte. Die Toten der letzten zwei Jahre reichten ihm.
Die Reifen des Geländewagens knirschten auf dem Schotter, als Raife eine Reihe von unbefestigten Serpentinen hinaufkurvte, die über einen Bergrücken führten.
»Diese Teile waren schon immer untermotorisiert«, kommentierte Reece trocken. Mit der Land Rover/Land Cruiser-Debatte zogen sich die beiden Freunde ständig gegenseitig auf. Keiner von ihnen ließ eine Gelegenheit aus, das Lieblingsgefährt des jeweils anderen in den Dreck zu ziehen.
»Ich lass dich gleich aussteigen und laufen«, lautete Raifes Konter.
Raife brachte den betagten Defender am oberen Ende des Pfads zum Stillstand. Der Blick auf die endlosen grünen Baumreihen, die zum riesigen Alpensee im Tal führten, war atemberaubend; selbst für jemanden, der seit Jahrzehnten in dieser Gegend lebte.
»Es ist wunderschön.«
»Ich dachte mir, dass es dir gefällt.«
»Das Panorama?«
»Nein, dein neues Zuhause.«
»Wovon redest du?«
»Siehst du die Hütte unten am See?«
»Klar.«
»Du kannst von Glück sagen, dass mein Vater und mein Schwiegervater so große James-Reece-Fans sind. Sie haben sie für dich hergerichtet, damit du dich an einem ruhigen Plätzchen fernab vom Trubel erholen kannst. Sie gehört dir.«
»Ist das dein Ernst?«
Raife nickte vergnügt. Es kam nicht jeden Tag vor, dass man seinen besten Freund mit einem neuen Haus überraschen konnte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ein kleines ›danke‹ reicht.«
»Okay … danke.«
»Du wolltest doch schon immer in Robins Gästehaus wohnen.« Raife grinste, als er den zweiten Vornamen seines Vaters benutzte. Er ging davon aus, dass sein Freund die Anspielung verstand. »Ich bin mir sicher, dass er dich früher oder später zur Arbeit abkommandiert und für deinen Unterhalt schuften lässt, also rate ich dir, so lange wie möglich den Patienten zu mimen.«
»Guter Tipp.«
»Greif mal unter den Sitz.«
Reece tastete nach unten und stieß auf eine SIG P320 X-Compact in einem Black Point Tactical Mini-Wing-Holster.
»Mato fand, du könntest so eine gebrauchen.« Raife bezog sich auf ihren ehemaligen Command Master Chief, der jetzt die Trainingsakademie für SIG Sauer leitete.
»Hat denn wirklich jeder mitbekommen, dass ich wieder da bin?«
»Du weißt, wie es in der Community läuft, Bruder.« Raife lächelte. »Wir sind schlimmer als alte Ladys bei einem Nähkränzchen.«
Raife schaltete in einen niedrigeren Gang. Der Motor heulte protestierend auf, während sie das Gefälle zur Hütte passierten. Eine gewundene Schotterpiste zweigte von der unbefestigten Straße ab. Das Gebäude mit der Holzfassade war ursprünglich eine kleine Pionierhütte gewesen. Man hatte den Grundriss erhalten und in den neueren, größeren Bau integriert. Auf diese Weise passte er sich in die Umgebung ein und war geräumig, ohne protzig zu wirken. Raife bremste vor der breiten Veranda. Die beiden ehemaligen Soldaten sprangen aus dem Fahrzeug.
Sie trugen Jeans und verblichene T-Shirts mit Pistolen in Holstern an der Taille. Reece griff auf die gewohnten Salomon-Trailrunning-Schuhe zurück, während Raifes Courtney-Stiefel aus Kapbüffelleder deutlich altmodischer wirkten. Ein Mitbringsel aus seiner Heimat Simbabwe. In vielerlei Hinsicht war die Wahl des Schuhwerks typisch für ihre Persönlichkeiten. Obwohl er viel herumgekommen war, blieb Reece im Herzen Kalifornier und orientierte sich bei der Ausrüstung stets am neuesten Stand der Technik, die einem den entscheidenden Leistungsvorteil verschaffte. Raife hingegen bevorzugte als Traditionalist die Aura und Seele früherer Tage. Wo Reece Kydex, Nylon und Kevlar war, war Raife Leder, Messing und Walnuss.
Der athletische Körperbau der Männer blieb selbst dem oberflächlichen Betrachter nicht verborgen. Voluminöse Brustkörbe und kräftige Arme, was sie jahrzehntelangem, intensivem körperlichen Training verdankten. Obwohl sich Outfit und Körperbau ähnelten, hätte sie niemand für Brüder gehalten. Das Haar von Reece war dunkel mit grauen Einsprengseln in den Bartstoppeln. Raife war gut fünf Zentimeter größer als der Freund mit seinen 1,83. Die breiteren Schultern in Verbindung mit der schmaleren Taille ließen ihn insgesamt schlanker wirken. Die etwas längeren Haare wiesen ein von der Sonne gegerbtes Blond auf. Sie hingen hinten aus der Mütze heraus und berührten fast den Kragen. Die Augen leuchteten in einem schillernden Grün, das einen Kontrast zum gebräunten Gesicht bildete. Eine verfärbte Narbe zog sich über die gesamte Wange.
Kurz vor dem Betreten der hölzernen Veranda blieb Raife stehen und forderte Reece mit einer ausladenden Geste auf, die Führung zu übernehmen.
Die Tür, aus einheimischer Douglasie gefertigt, trug die Narben von mehr als einem Jahrhundert, in dem sie den Launen der Natur ausgesetzt gewesen war. Reece drückte die aufgearbeitete Eisenklinke hinunter, woraufhin sie auf frisch geölten Scharnieren leichtgängig aufschwang. Die offene Fläche auf zwei Ebenen wurde dank der großen Fenster an der gegenüberliegenden Wand großzügig in Tageslicht getaucht. Der Boden bestand aus Montana-Schiefer, einem Mosaik aus Grau- und Brauntönen, das mit den hellbraunen Holzdielen kontrastierte, die die Wände verkleideten. Ein Steinkamin erhob sich zu den offenen Tannensparren hin. Reece musste gegen einen Kloß in der Kehle ankämpfen, als er sah, was über der Feuerstelle hing.
»Ist das der Bulle von meinem Vater?«
»In der Tat, das ist er. Er starb, bevor wir ihm seine Beute schicken konnten. Wir fanden, das ist ein würdiger Platz für seinen Elch.«
Die Familien hatten sich näher kennengelernt, als die Freundschaft von Reece und Raife an der Universität von Montana aufgeblüht war. Reece’ Vater Tom hatte der Ranch im Herbst 2000 einen Besuch abgestattet. Zu dieser Zeit hatten Reece und Raife bereits BUD/S erfolgreich absolviert und waren SEAL-Teams an entgegengesetzten Küsten zugeteilt worden. Tom Reece, selbst Kampftaucher-Veteran aus Vietnam, war während des Besuchs auf Elchjagd gegangen und hatte dabei den imposanten Bullen erlegt, der nun im neuen Zuhause seines Sohnes hing. Es war ihre letzte gemeinsame Jagd gewesen. Das Jahr darauf bescherte die 9/11-Anschläge, und Reece verbrachte die nächsten anderthalb Jahrzehnte damit, Al-Qaida, IS und Konsorten bis in die hintersten Winkel der Welt zu jagen. Tom Reece war plötzlich und unter tragischen Umständen während eines Irak-Einsatzes seines Sohns verstorben. Er kam 2003 im Rahmen seiner Tätigkeit für die CIA bei einem Überfall in Buenos Aires um.
Ein bequem wirkendes Ledersofa mit Polsternägeln stand vor dem Kamin, ein gelbbrauner Teppich aus Kuhfell bedeckte den Steinboden und trennte die Sitzecke optisch ab. Reece erkannte das erhabene Familienwappen der Hastings darauf. Raife blieb einen Schritt zurück, während der Freund seine Unterkunft begutachtete, sichtbar beschämt aufgrund der Großzügigkeit, die ihm die Familie Hastings entgegenbrachte. Es gab eine große Küche mit antikem gusseisernen Herd, flankiert von modernen Geräten. Außerdem fanden sich ein gemütliches Schlafzimmer mit rustikalem Kingsize-Bett aus massiver Kiefer, ein Gästezimmer, Bäder und ein Dachboden, der als Büro eingerichtet war. Fast jedes Zimmer im Haus bot einen Ausblick auf den See.
»Ich muss dir noch was zeigen.« Raife brach das Schweigen und winkte in Richtung der Tür, die aus der Küche ins Freie führte. Er stieg die Stufen hinunter und näherte sich einem scheunenartigen Verschlag. Er zog die beiden großen Tore auf und trat mit einem seltenen Grinsen zur Seite. Im Inneren der frei stehenden Garage wartete ein perfekt restaurierter 1988er FJ62 Toyota Land Cruiser, dessen bläulich schimmernde Klarlackierung von den LED-Lampen an der Decke zum Glänzen gebracht wurde. Die Vintage-Lackierung bildete einen geschmackvollen Kontrast zu flachen schwarzen Aluminiumrädern, Offroad-Stoßstangen und dem Dachgepäckträger.
Reece’ Augen weiteten sich beim Anblick des aufgemotzten Geländewagens. Mehr als ein Jahr zuvor hatte er seinen geliebten Land Cruiser im Rahmen seiner Ein-Mann-Rachemission opfern müssen, die von Küste zu Küste eine Spur aus Leichen zurückließ. Danach stellte ihm Raifes Onkel in Mosambik für Patrouillen zur Jagd auf Wilderer zwar ein Fahrzeug zur Verfügung, aber es war eben nicht sein eigenes gewesen.
»Es gehört zum Haus. Du weißt, ich würde es nie fahren, also kannst du es haben.«
»Jetzt bin ich echt sprachlos.«
»Und ich dachte, ich wäre der Ruhige«, scherzte Raife und bezog sich auf seinen Shona-Spitznamen Utilivu, den ihm die Fährtenleser in Afrika gegeben hatten. »Steh nicht rum wie ein verdammter Idiot, spring schon rein.«
Reece setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als ob er sich einem außerirdischen Objekt näherte. Die Türklinke entriegelte sich mit einem hörbaren, aufmunternden Klicken; wer auch immer die Restaurierungsarbeiten durchgeführt hatte, hatte den Job außergewöhnlich gut erledigt. Der dunkel gehaltene Innenraum kombinierte zweckmäßige Oberflächen und Materialien mit Stil und Komfort. Der Schlüssel steckte in der Zündung. Ein 6,2-Liter-V8-Motor von General Motors erwachte lauthals zum Leben. Das kehlige Dröhnen wurde von einer effektiven Auspuffanlage mit Keramikbeschichtung gebändigt, die es dem Fahrzeug ermöglichte, ein in Anbetracht der imposanten Leistung angemessenes Maß an Unauffälligkeit zu bewahren.
»Nicht schlecht für einen japanischen Import, was?« Politische Korrektheit gehörte nicht zu Raifes Stärken.
»Ich bin verliebt.«
»Der ist von Thorn«, gestand Raife und benutzte den Spitznamen für seinen Schwiegervater. »Er hatte Mitleid mit dir in deinem geschwächten Zustand.«
»Wo hat er ihn aufgetrieben?«
»Erkennst du ihn nicht?«
Reece schaute fragend auf die Sitze und zurück zu seinem Freund.
»Das ist deiner. Der alte Clint brachte es nicht übers Herz, ihn nach deinem Abschied aus Kalifornien zu verschrotten. Er hat ihn aufgehoben, nur für den Fall. Als er mitbekam, dass du noch lebst, kontaktierte er Thorn über die Special Operations Association. Auf das Vietnam-Netzwerk ist Verlass. Thorn ließ den Wagen herbringen, nachdem er ihn für dich repariert hatte.«
»Das ist ein bisschen mehr als nur ›repariert‹. Das ist ein Kunstwerk!«
»Schön, dass er dir gefällt. ICON 4×4 hat die Restaurierung durchgeführt, also sollte er es im Gegensatz zu deinem Original tatsächlich bis in die Stadt schaffen. Fast hätte ich es vergessen, schau mal hinter die Lehne.«
Reece schaltete den Motor aus und spähte über die Schulter. In einem speziell angefertigten taktischen Greyman-Rack am Fahrersitz hing ein Daniel Defense MK12 mit SilencerCo-Omega-Schalldämpfer und Nightforce-1 8 × 24 Millimeter ATACR-Optik, die auf der oberen Schiene des Empfängers montiert war.
»Der Ärger scheint dich zu finden. Ich dachte mir, es wäre klug, mehr als diese 9-Millimeter-Erbsenschleuder im Holster zu haben.«
»Damit liegst du definitiv richtig«, erwiderte Reece mit echter Dankbarkeit.
»Fühl dich wie zu Hause und entspann ein bisschen. Die Familie fliegt morgen ein. Dad schmeißt eine große Dinnerparty zu deinen Ehren.«
»Es wird toll sein, alle wiederzusehen.«
»Fast alle. Meine jüngere Schwester Hanna ist gerade in Rumänien unterwegs und rettet die Welt, aber ich glaube, sie will an Weihnachten nach Hause kommen.«
»Ich freu mich auf sie. Damit bleiben mir ein paar Monate, um in Form zu kommen. Wenn ich mich richtig erinnere, steht sie auf Ultramarathons.«
»Genau. Sie hat vor ein paar Jahren die Grand Traverse gewonnen, es liegt also eine Menge Arbeit vor dir.«
»Echt jetzt? Daran wollte ich mich schon immer mal versuchen. Von Crested Butte nach Aspen, richtig?«
»Ganz genau. 40 Meilen Skibergsteigen über die Elk Mountain Range.«
»Dafür braucht man einen Partner. Mit wem ist sie angetreten?«
»Mit mir.« Raife lächelte. »Und wenn sie deine Leber nicht zusammen mit deinem Hirntumor entfernt haben, solltest du sie besser mitbringen, zusammen mit einer Ersatzleber. Du weißt ja, wie meine Familie drauf ist.«
»Wenn ich bis dahin ein Spenderorgan auftreibe, pack ich es auf jeden Fall ein.«
»Ich bin in der Werkstatt, falls du was brauchst.«
»Hey, Raife«, rief Reece seinem Freund hinterher, als er auf den eigenen Land Rover zuging.
»Ja?«
»Du solltest besser den Ölstand bei deinem Defender checken. Die Kiste steht schon seit ein paar Minuten rum, also ist wahrscheinlich alles ausgelaufen.«
Raife drehte sich um und zeigte seinem Freund den Mittelfinger.
2
Bangui, Zentralafrikanische Republik
Roman Dobrynin war kein Mann, der es gewohnt war, dass man ihn warten ließ. Normalerweise verhielt es sich genau umgekehrt. Andere Menschen warteten auf ihn: Untergebene, Sicherheitspersonal, selbst ausländische Würdenträger. Er war die rechte Hand des russischen Präsidenten in Afrika, zumindest in der Zentralafrikanischen Republik. Der Mittfünfziger galt als erfahrener Diplomat, der sich in den chaotischen Verhältnissen in Tschetschenien einen Namen gemacht hatte. Er genoss einen Ruf als aggressiver Verhandlungsführer, scheute sich nicht, seinem Gegenüber zu drohen und die dunklen Künste der Manipulation einzusetzen, um eigene strategische Zielsetzungen und die von Mütterchen Russland zu erreichen. Auf dem Papier war er ein ranghoher politischer Berater im russischen Außenministerium, de facto aber die Nummer eins in der ZAR. Sein offizieller Titel lautete nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten für die Zentralafrikanische Republik.
Russland war eine aufstrebende Macht in Afrika. Dobrynin verfügte über Ansprechpartner im Kongo, in Äthiopien, Guinea, Eritrea und Mosambik. Da Frankreich die ehemalige Kolonie nahezu aufgegeben hatte, füllten Russland und China zügig die entstandene Lücke. Mit Waffengeschäften, Unterstützung bei der Sicherheitsausbildung, regionalen Verhandlungen, dem Export von Holz, Diamanten, Öl, Gold, Kobalt und – für Russland am wichtigsten – Uran. Moskau verschleierte seine Absichten auf internationaler Bühne nur vage und verwies auf das eigene Engagement in der Region seit 1964. Strategisch günstig im Herzen des dunklen Kontinents gelegen, bildete die Zentralafrikanische Republik den idealen Knotenpunkt, von dem aus Russland Truppen in die Nachbarländer verlegen und gleichzeitig Bodenschätze ausbeuten und außer Landes transportieren konnte. Dobrynin hielt sich dort auf, um dafür zu sorgen, dass Russland und nicht China sowohl die natürlichen Ressourcen dieser Binnennation als auch, fast noch wichtiger, ihre Stimmen bei den Vereinten Nationen kontrollierte.
Obwohl reich an Rohstoffen, zählte die ZAR zu den zehn ärmsten Ländern der Welt. Der Grad an Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtlichen Hinrichtungen, Foltern, weiblicher Genitalverstümmelung, Sklaverei, Menschenhandel, Prostitution, Kinderarbeit, Vergewaltigung und Völkermord machte das Land zur perfekten Angriffsfläche für eine fremde Macht, die diese Umstände für sich nutzen wollte. Ein entrechtetes Land, reif für Ausbeutung jeder Art.
Der Anruf war vom Stabschef des Generaldirektors persönlich gekommen, was bedeutete, dass es sich um einen der wenigen Anrufe handelte, die Dobrynin zwingend entgegennehmen musste. Er wurde darauf hingewiesen, dass seinem Gast jede erdenkliche professionelle Höflichkeit zu gewähren sei und er auf Geheiß des Präsidenten komme. In Russland verwischten sich die Grenzen zwischen offiziell, inoffiziell und privat bis zur Unkenntlichkeit. Das galt ganz besonders für diesen Besuch. Dobrynin wusste, dass Aleksandr Scharkow als stellvertretender Direktor der Direktion S des russischen Auslandsgeheimdienstes aus einer Vielzahl von Gründen nach Zentralafrika reisen konnte. Der Name Scharkow sagte ihm durchaus etwas. Mehr noch als der Anruf des eigenen Oberkommandos war allein das schon ein Grund, den Geheimdienstoffizier zuvorkommend zu behandeln. Dobrynin wollte auf keinen Fall einen Kopf kürzer gemacht werden. Man beleidigte einen Pakhan aus der russischen Bratwa nicht, ohne zeitnah auf dem Friedhof zu landen.
Dobrynin beobachtete, wie die monströse Antonow AN-225 über dem Flugplatz kreiste und zum Landeanflug ansetzte. Er blieb im Wagen, bis das sechsstrahlige Frachtflugzeug aufgesetzt hatte und auf die von Russland kontrollierte Seite des Geländes rollte. Erst dann stieg er aus dem gepanzerten und klimatisierten Toyota Hilux, richtete die Krawatte des Armani-Anzugs und lief dem Gast entgegen, um ihn zu begrüßen.
Der stellvertretende Geheimdienstdirektor wartete geduldig, während das massive Luftfahrzeug zur Landung ansetzte. Es verharrte in der Luft, bis es einen Winkel von 90 Grad erreicht hatte, und setzte den Rumpf dann dem Einfluss der Elemente aus. Die meisten Flugzeuge besaßen Frachtrampen im Heck, bei der AN-225 fand man sie dagegen am Bug. Ein einzigartiges Konstruktionsmerkmal, das es dem größten Frachtflugzeug der Welt erlaubte, eine schwindelerregende Menge an Ladung an Bord zu nehmen. Langsam sank die stählerne Bestie dem Boden entgegen. Der Hitzeschwall auf dem Rollfeld raubte ihm beim Ausstieg fast den Atem; ein deutlicher Hinweis darauf, dass er sich nicht länger in Moskau befand. Die intensiven Temperaturen trugen den unverwechselbaren Geruch eines Konflikts heran. Sein Verstand überschlug sich beim Abklopfen der möglichen Szenarien.
Als er das Rollfeld mit Blicken abscannte, entdeckte er einen Lkw-Konvoi aus vier Fahrzeugen, flankiert von einem bewaffneten Sicherheitsdienst. Speznas! Einst als führende Spezialeinheit der Sowjetunion auf der ganzen Welt gefürchtet in Anbetracht dessen, was als härteste je von modernem Militär entwickelte Ausbildung angepriesen wurde. Vor allem aufgrund ihrer Aktionen – der Westen sprach von Gräueltaten – in Afghanistan in den 1980er-Jahren. Jetzt wurden sie zu Schutzaufgaben für diejenigen degradiert, die sich mit dem Mythos Speznas umgeben wollten.
Ein Mann im scharf gebügelten schwarzen Anzug trat auf ihn zu, begleitetet von zwei Männern aus seinem Sicherheitsstab, die AKM-Gewehre über der Schulter trugen.
»Direktor Scharkow, ich bin …«
»Roman Dobrynin«, vollendete der stellvertretende Direktor den Satz für ihn. »Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich zu treffen. Ich bin sicher, es gibt dringende Angelegenheiten, die Ihre Aufmerksamkeit erfordern. Ich habe flammende Berichte über Ihre Fortschritte als nationaler Sicherheitsberater gelesen. Sie sollen entscheidend dazu beitragen, Russlands Interessen in dieser Region voranzutreiben.«
»Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich zu sein«, entgegnete Dobrynin. Sein Blick wanderte zu dem imposanten Fluggerät, dann zurück zum Besucher. »Sind Sie allein gekommen, Direktor Scharkow?«
»Da«, bestätigte der Gast mit einer Handbewegung, als wäre es nichts Ungewöhnliches, dass er als einziger Passagier im schwersten jemals gebauten Flugzeug anreiste. Mit einer Nutzlast von bis zu 450 Tonnen intern und extern hatte das Flugzeug einen 14-stündigen Flug von Moskau ins Zentrum des afrikanischen Kontinents absolviert und den hochrangigen Geheimdienstler erfolgreich in das Herz der Finsternis gebracht.
»Keine Security?«, hakte Dobrynin mit Blick auf die Antonow nach.
»Ich ziehe es vor, mit leichtem Gepäck und ohne die Bürden zu reisen, die meine Position mit sich bringt. Das sorgt nur für unerwünschte Aufmerksamkeit.«
Scharkow trug eine legere braune Hose und ein beiges Safarihemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Über der Schulter hing ein Rucksack aus Segeltuch.
»Außerdem gehe ich davon aus, dass Sie mit Ihrem Einfluss und Ihrer Kontrolle in der Region für meine Sicherheit sorgen werden.«
»Natürlich, Herr Direktor. Wollen wir?« Dobrynin winkte in Richtung der wartenden Fahrzeugkolonne und hatte Mühe zu entschlüsseln, ob die Worte des Direktors ein Kompliment, eine Warnung oder einfach nur herablassend waren.
Scharkow nickte. »Ich habe gehört, Sie wurden über meine Wünsche informiert?«
»Da, wir bringen Sie jetzt ins Hotel. Morgen gehen wir in die Minen.«
Scharkow nahm die Sehenswürdigkeiten der geschäftigen Stadt in Augenschein und lauschte Dobrynin höflich, der von seinen jüngsten diplomatischen Erfolgen erzählte. Eine 5000 Mann starke Truppe russischer Militärs und vertraglich verpflichteter Berater war im Land und unterwies die ZAR-Spezialeinheiten in den Feinheiten der Aufstandsbekämpfung. Scharkow nahm zu Recht an, dass es sich dabei um eine systematische Terrorkampagne handelte, die darauf abzielte, Dissidenten in Schach zu halten und die Macht des amtierenden Präsidenten zu stützen, der mit den russischen Interessen sympathisierte.
An jeder Ampel wurden die Wagen von Kindern umschwärmt, die bettelnd die Arme ausstreckten und mit hoffnungsvollen Gesichtern auf eine Münze oder ein Bonbon spekulierten. Der Verkehr verlief im üblichen Stop-and-go. Liegen gebliebene Fahrzeuge behinderten das Vorankommen, während Motorroller vorbeischwirrten wie Insektenschwärme, die den nahen Dschungel bevölkerten. Eindeutig ein Land, das in den letzten Zügen lag.
Vor der Hotelanlage wartete ein Konvoi von Taxis, jedes mit einer kleinen russischen Flagge an der vorderen Stoßstange, und wartete sehnsüchtig auf die Chance, Gäste zum und vom Flughafen zu befördern. Als sie sich der Grundstücksgrenze näherten, schwangen die bewachten Zufahrtstore des Hotels Ledger auf und die Verwahrlosung der Straßen blieb hinter ihnen zurück. Die Auffahrt schlängelte sich bis zum Eingang und die Außenwelt war vergessen. Die Opulenz der alten Welt, zweifellos ein Überbleibsel aus französischen Kolonialzeiten, durchdrang jeden Winkel von Banguis vornehmstem Hotel; reichlich Marmor und kunstvolle Wandteppiche, akzentuiert durch afrikanisches Holz, das bis zur Perfektion poliert war und dessen goldene Intarsien das Licht des späten Nachmittags reflektierten.
»Meine Männer werden Sie zu Ihrem Zimmer begleiten. Ich vertraue darauf, dass Sie Ihre Unterkunft als akzeptabel empfinden. Wäre Ihnen ein Abendessen in zwei Stunden recht?«
»Das ist in Ordnung, danke.« Scharkow nickte höflich und betrat den separaten Aufzug der Penthouse-Suite, zwei Speznas und einen Pagen im Schlepptau. Als die Doppeltür des Lifts am Ziel zur Seite glitt, forderte ihn sein neuer Security-Mann auf, kurz zu warten.
»Nur einen Moment, Sir.«
»Öffnen Sie«, befahl man dem Pagen.
Sie betraten die 560-Quadratmeter-Suite mit erhobenen Waffen und durchsuchten jeden Winkel, bevor sie erklärten, dass es für ihren Schutzbefohlenen sicher sei.
Scharkow trat ein und war kaum überrascht, zwei junge Mädchen, bestimmt keinen Tag älter als 15, in dünnen weißen Leinenkleidern gehorsam neben dem Kingsize-Bett warten zu sehen. So lief das in Afrika. Er beäugte ihre schlanken, unterernährten Körper, deren dunkle Haut einen sinnlichen Kontrast zu den knappen Kleidern bildete. Eine Flasche Dom Pérignon, Jahrgang 1987, und frische Erdbeeren mit Schokoglasur warteten auf dem Tisch daneben. Er stellte den Rucksack ab, goss sich ein Glas kalten Champagner ein, genoss den Geschmack und schielte auf den danebenliegenden Zeitplan.
Er blickte zurück zu den Mädchen, die nervös zappelten. Ihre noch nicht gänzlich empfindungslosen Augen strahlten Angst aus. Und einen Schimmer Resthoffnung.
Er nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Ukhady«, sagte er. »Von«, schob er im Befehlston hinterher, als sie sich nicht von der Stelle rührten.
Ohne ein Wort Russisch zu verstehen, standen die Mädchen da und wussten nicht, was sie tun sollten. Scharkow wies auf die Tür.
»Raus!«, sagte er, diesmal auf Englisch.
Die beiden Mädchen, denen zumindest die internationale Sprache der Gesten und Betonungen bekannt war, bahnten sich langsam einen Weg an ihm vorbei, weiterhin unsicher, was genau von ihnen erwartet wurde. Sie machten sich Sorgen, den Mann, dem sie gehorchen und gefallen sollten, irgendwie verärgert zu haben. Er scheuchte sie hinaus und verkündete den Sicherheitsleuten, dass er bis zum Abendessen nicht gestört werden wolle.
Er hatte in jüngeren Jahren mit genug Prostituierten in diesem Teil der Welt geschlafen und wollte seine Gesundheit nicht unnötig aufs Spiel setzen. Um seine Mission zu erfüllen, musste er topfit bleiben.
3
Akyan Hotel
Sankt Petersburg, Russland
Für Iwan Scharkow bedeuteten Informationen alles. Informationen und die Bereitschaft, sie um jeden Preis für sich zu nutzen, hatten ihm zu seiner Machtposition in der Bratwa, der Bruderschaft, verholfen, die dem Rest der Welt als russische Mafia bekannt war. Die Konsolidierung des Sankt Petersburger Tambow-Clans gelang ihm aufgrund minutiös zusammengetragener Informationen, die ihm sein ältester Sohn Aleksandr beschafft hatte. Manche glaubten sogar, dass Iwan über Aleksandr die Verhaftungen in Spanien organisiert hatte, die die ehemalige Führungsspitze der mächtigen Verbrecherorganisation ausschalteten. Allerdings traute sich niemand, diese Vermutung laut auszusprechen. Iwan war der Vor v Zakone. Keiner, nicht einmal die Regierung in Moskau, hätte es gewagt, ihm in die Quere zu kommen.
Iwans Gier nach Wissen veranlasste ihn auch dazu, einen Abgesandten nach Argentinien zu schicken, wo ihm ein CIA-Offizier wertvolle Informationen angeboten hatte. Diese Aufgabe fiel Dimitri Maschkow zu, einem vertrauenswürdigen Bratoc, der während seiner Laufbahn als Fallschirmjäger im 104. Guards Airborne Regiment genug Tschetschenen verhört hatte, um zu wissen, wann ein Mann log. Wenn er einen fanatischen Moslem brechen, im Kresty-Gefängnis am Leben bleiben und Mitglieder der rivalisierenden Solnzewo-Bruderschaft ausschalten konnte, fand er mit Sicherheit auch heraus, ob dieser Amerikaner der war, für den er sich ausgab.
Dimitri verhörte den angeblichen Geheimdienstler drei Tage lang in einem Bauernhaus in Córdoba und gelangte zu der Überzeugung, dass der Kerl die Wahrheit sagte. Ein solcher Aktivposten dürfte für Scharkows Operationen von unschätzbarem Wert sein. Der Trick bestand darin, ihn von Argentinien nach Russland zu bringen, was kritische Faktoren wie Flughäfen und Zollbeamte einschloss. Über seinen Sohn Aleksandr verfügte der ältere Scharkow über die nötigen Kontakte, den Mann mit einem sauberen Pass zu versorgen, aber das Problem, ihn durch eine Abfolge internationaler Flughäfen zu schleusen, blieb bestehen. Heutzutage erschwerten die allgegenwärtigen Überwachungskameras mit Gesichtserkennungstechnologie diskrete Reiseaktivitäten.
Glücklicherweise waren Scharkows Freunde im südamerikanischen Drogenhandel die Besten der Welt, wenn es darum ging, Schmuggelware zu bewegen; sie lieferten schließlich die Lösung. Der ehemalige Spion wurde auf dem Landweg von seinem argentinischen Versteck nach Caracas gebracht, wo Korruption bei der scheiternden Regierung fröhliche Urstände feierte. Für eine erstaunlich niedrige Summe wurde er durch die ohnehin laxen Sicherheitsvorkehrungen des Flughafens geschleust und ohne Zwischenfälle in eine Maschine nach Havanna verfrachtet. Vom Aeropuerto Internacional José Martí ging ein Direktflug nach Moskau mit einer Aeroflot SU-151. Eine Pflichtübung für einen Mann, der einen legitimen Pass der Russischen Föderation bei sich trug. Aleksandr konnte die Abläufe am Scheremetjewo, einem der vier internationalen Flughäfen Moskaus, reibungslos beschleunigen. Nur wenige Stunden und einen schnellen Inlandsflug später wurde der Mann bei Iwan abgeliefert.
Der CIA-Mann wartete nun in einer Hotelsuite ungeduldig auf einen Termin, der im Prinzip einem Vorstellungsgespräch entsprach.
Oliver Grey schaute auf die Uhr, das ikonische Tauchinstrument, das Tausende von Imitaten inspiriert hatte. Gehäuse und Armband aus rostfreiem Stahl waren abgenutzt und wiesen Kratzer auf, die sich allerdings schon angesammelt hatten, bevor der Chronometer in Greys Besitz gelangt war. Das Acrylglas war von der Zeit abgeschliffen, die Lünette und das Zifferblatt nach vielen Monaten in der Sonne ausgeblichen. Ein bleibendes Zeugnis der Berufung des ursprünglichen Besitzers. Hinter dem ramponierten Äußeren arbeiteten die Zeiger des Schweizer Präzisionsinstruments unbeirrt weiter.
Er wusste, dass es sich bei der Uhr um eine Rolex Submariner handelte und dass ihr früherer Besitzer der verstorbene Thomas Reece gewesen war – nicht allerdings, dass Tom Reece sie während seiner ersten Tour in Vietnam mit dem SEAL Team Two in Saigon erworben hatte. Er trug sie zu Lebzeiten bei Hunderten von Einsätzen, sowohl als Kampftaucher als auch als Geheimdienstoffizier, und beabsichtigte ursprünglich, sie in einem geeigneten Moment an seinen Sohn James weiterzugeben.
Er erhielt nie die Chance dazu. Grey hatte sein Ableben akribisch geplant, indem er den legendären CIA-Falloffizier überlistete, dessen beste Jahre weit hinter ihm lagen und der seine Nase in Angelegenheiten steckte, die ihn nichts angingen. Warum war er nicht angeln oder golfen gegangen – oder was immer pensionierte Spione so in ihrer Freizeit trieben?
Grey nutzte das Verschwinden der Uhr, um den Mord als simplen Raubüberfall in einer südamerikanischen Stadt zu inszenieren, in der solche Delikte zum Alltag zählten. Er hatte ihn nicht eigenhändig getötet, sondern seinen Cajun-Pitbull Jules Landry auf die Aufgabe angesetzt, der ihm die Uhr als Trophäe aushändigte, um sich beim neuen Boss einzuschmeicheln. Das lag inzwischen 15 Jahre zurück. Mittlerweile war auch Landry tot – kastriert und zum Ausbluten auf einem schmutzigen Boden im Nordirak zurückgelassen. Grey hegte keine Illusionen, was seine eigene Zukunft für ihn bereithielt. James Reece hatte ihn längst ins Visier genommen. Wollte er überleben, musste er bald zuschlagen, bevor der Kampftaucher die Gelegenheit nutzte, ihn aufzuspüren.
Er wird mich und diesen syrischen Scharfschützen Nizar, der seinen SEAL-Freund durchsiebt hat, zur Strecke bringen.
Grey hatte in den Zeitungen gelesen, dass zwei Amerikaner das Attentat auf den US-Präsidenten in der Ukraine vereitelt und Odessa im letzten Moment vor einem Chemiewaffenangriff bewahrt hatten. Der Coup, den der verstorbene Wassily Andrenow inszeniert hatte, Greys russischer Kontaktmann, war gescheitert. Reece gelang es allerdings nicht, den russischen Präsidenten zu retten, und Senior Chief Freddy Strain war bei dem Versuch umgekommen.
Er musste James Reece ausstechen, bevor der SEAL ihn aufspürte und ihm eine Kugel in den Kopf jagte oder Schlimmeres. Grey gab sich keinen Illusionen über den wahren Grund hin, warum James Reece aktuell für die CIA arbeitete: Er brauchte ihre Ressourcen, um den Mörder seines Freundes zu finden. Seit sein ehemaliger Arbeitgeber und der Mensch, der für Grey einem Vater am nächsten kam, in ein feuriges Grab geschickt worden war – niedergestreckt durch eine der unzähligen Waffen, mit denen er die Saat der Revolution rund um den Globus gesät hatte –, galt Grey als Ronin und musste sich einen neuen Lehnsherrn suchen. Grey war ganz sicher, dass der Sohn von Tom Reece in die Ermordung von Wassily Andrenow verwickelt war, und er wusste, dass er als nächstes Opfer auf dessen persönlicher Abschussliste stand.
Grey hatte das brutale Verhör durch den Kriminellen namens Dimitri ebenso ertragen wie die strapaziöse Überlandreise, die ihn quer durch den gesamten südamerikanischen Kontinent führte; beides allein erträglich gemacht durch den süßen Tabak, den er in seine betagte Billardpfeife stopfte. Wenn man dann noch die internationalen Flüge in veralteten Flugzeugen mit billigem Schnaps dazunahm, befand Grey sich in schlechter Verfassung. Sie hatten ihm nicht mal einen Kaffee angeboten. Als gelernter Buchhalter strebte er nach Ordnung im Leben, und an dieser Ordnung mangelte es im Moment völlig. Die Uhr war das Einzige, was ihn bei Verstand hielt. Ihre Zeiger bewegten sich stetig und vorhersehbar, was für sein Umfeld ganz und gar nicht galt. Die Ironie war, dass die Zeit nicht einmal stimmte. Er hatte sie seit der Abreise aus Buenos Aires nicht umgestellt.
Grey war keine sonderlich imposante Erscheinung, und die Reise hatte sein Äußeres eher weiter ins Negative verkehrt. Der Bart musste dringend gestutzt werden und war in den letzten Monaten fast schneeweiß geworden. Auf der Matte aus schütterem Haar prangte ein schweißnasser Wollfilzhut, und der abgetragene Tweedmantel musste dringend in die Reinigung. Seit Venezuela hatte sich keine Gelegenheit zum Baden oder Duschen geboten. Er sah aus wie ein zerzauster Universitätsprofessor, der einen bitteren Heiligenschein aus abgestandenem Schweiß und metabolisiertem Wodka mit sich herumtrug. Ein heftiger Kontrast zur weitläufigen, adrett hergerichteten Unterkunft in diesem Hotel. Die Räumlichkeiten waren als ›White Suite‹ bekannt; ein Name, den sie den schneeweißen Überzügen des luxuriösen Mobiliars verdankten. Eine große frei stehende Badewanne thronte wenige Meter neben dem runden Bett auf einem gewachsten Parkettboden. Was hätte er für eine heiße Wanne und etwas Schlaf gegeben!
Sein Begleiter sprach kein Wort und gab ihm allein durch Gesten zu verstehen, dass er in einem mit weißem Leder gepolsterten Sessel Platz nehmen sollte, der gegenüber von einem bequem wirkenden Loveseat an der Wand stand. Von dort aus hatte er über den Balkon eine wunderbare Aussicht auf den Tsentralny-Bezirk. Obwohl er geistig erschöpft war, tröstete es ihn, im Land seiner Vorfahren zu sein. Ursprünglich hatte er geplant, an der Seite seines Mentors, Oberst Wassily Andrenow, der rechten Hand des zurückkehrenden Staatsoberhaupts, aufzusteigen. Stattdessen saß er nun wegen James Reece hier, um bei einem Kriminellen um einen Job zu betteln.
Grey sah sich in seiner Erwartung getäuscht, dass die Sicherheitsleute wie Club-Türsteher in Lederjacken aussahen. Die Vory-Bodyguards, die den Mafiaboss beschützten, trugen feinsten maßgeschneiderten Zwirn. Mit ihrer gepflegten Erscheinung wären sie auch als Agenten des FSO durchgegangen, und tatsächlich hatten einige von ihnen eine Vergangenheit in dieser Organisation vorzuweisen, die den Schutz des russischen Präsidenten verantwortete. Vier von ihnen betraten nun den Raum und gesellten sich zu der stoischen Gestalt, die bereits über ihn wachte. Grey wurde zum dritten Mal gefilzt, gründlich und professionell. Ein paar Sekunden später folgten zwei weitere Bodyguards und postierten sich neben der Tür.
Obwohl Grey dank seiner früheren Tätigkeit als leitender Analyst beim Russian Desk der CIA so gut wie alles über den Mann wusste, der den Raum betrat, versetzte ihn sein Anblick gehörig in Erstaunen. Schriftliche Berichte und Langzeitaufnahmen von Überwachungsfilmen lieferten nur ein blasses Abbild der Realität, weshalb Grey insgeheim die Männer und Frauen vor Ort beneidete, die für Human Intel zuständig waren und die Zielpersonen mit eigenen Augen zu Gesicht bekamen. Statt einer imposanten Gestalt, die Angst einflößte, erblickte er einen Mann von schlanker Statur und mittlerer Größe; dies war kein Schläger im Trainingsanzug. Iwan Scharkow war auch älter als von Grey vermutet, mit einem attraktiven Gesicht und nachdenklichen blauen Augen.
Ein Wolf im Schafspelz?
Grey hatte mit übertriebenem Selbstbewusstsein und prahlerischem Gehabe gerechnet. Stattdessen schritt Scharkow mit Anmut und Gelassenheit durch die Suite. Er trug einen Anzug aus dickem anthrazitfarbenem Kaschmir mit ordentlich gebundener burgunderroter Seidenkrawatte. Den Bart hatte er adrett gestutzt, den Schnurrbart absichtlich buschiger und markanter gelassen. Die Haare waren mittlerweile fast weiß, sorgfältig frisiert und oberhalb des rechten Auges ordentlich gescheitelt. Grey konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Scharkow aussah wie Zar Nikolaus II. mit 60, wäre er nicht vorher von Bolschewiken in einem Keller zusammen mit Frau und Kindern erschossen worden.