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Ein Achterbahntrip rund um den Globus – brutal und atemberaubend. Eine Serie grausamer Terroranschläge erschüttert die westliche Welt und schickt die Börsen auf Talfahrt. Als verantwortlicher Drahtzieher erweist sich ein irakischer Exsoldat, der über ein Netzwerk des Schreckens regiert. Die US-Regierung hat die richtige Waffe gegen eine solche Bedrohung: den früheren Navy-SEAL und Killer James Reece. Nach seiner Racheaktion gegen führende Geheimdienstler und Politiker ist er jedoch in Ungnade gefallen und in die afrikanische Wildnis abgetaucht. Die CIA reaktiviert den Spezialisten, denn niemand sonst besitzt die nötigen Fähigkeiten, dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Doch Reece lässt sich keine Bedingungen diktieren. Lee Child: »Das ist unglaublich gut. Im Ernst, unglaublich!« Mark Greaney: »Ein packender, nachdenklicher, realistischer und beängstigender Thriller, den ich nicht zur Seite legen konnte. Eine fantastische Bereicherung für das Genre.« Real Book Spy: »Eine der heißesten Neuerscheinungen des Genres. Perfekt für Fans von Vince Flynn, Brad Thor und Daniel Silva.«
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Seitenzahl: 748
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe True Believer
erschien 2019 im Verlag Atria/Emily Bestler Books.
Copyright © 2019 by Jack Carr Enterprises, LLC
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Titelbild: www.bookcoversart.com
Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder
auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.
eISBN 978-3-86552-840-7
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Faith Carr und Emily Wood,
weil sie sich auf dieses verrückte
Abenteuer eingelassen haben.
Und für all jene, die weiterhin an
vorderster Front ihre Pflicht tun.
Irgendwo bereitet sich jemand aus voller Überzeugung darauf vor, dich zu töten. Er trainiert mit einem Minimum an Essen und Wasser, Tag und Nacht, unter asketischen Bedingungen. Es gibt nur eins an ihm, das sauber ist: seine Waffe. Das Gurtzeug hat er selbst hergestellt. Welche Strapazen er auf sich nimmt, ist ihm gleichgültig. Sein Rucksack wiegt, was er wiegt, seine Spurts enden, wenn der Feind aufhört, ihn zu jagen. Wer als True Believer aus voller Überzeugung handelt, kümmert sich nicht darum, wie schwer es fällt. Ihm ist klar, dass er entweder gewinnt oder stirbt. Er geht nicht um 17 Uhr nach Hause. Er ist zu Hause und kennt nichts als seine Aufgabe.
– überliefertes Zitat eines Ausbilders
der Special Forces der U. S. Army
Fort Bragg, North Carolina
Datum unbekannt
VORBEMERKUNG
In diesem Roman geht es um Rache.
Hass lotet die Psyche eines Mannes aus, der für sein Land und dessen marode Gesellschaft getötet hat, um einen heiligen Rachefeldzug zu starten. Kann dieser Mann, der damit zu einem ebensolchen Rebellen geworden ist, wie er ihn sonst bekämpft, seinen Frieden und seine Bestimmung finden und in ein normales Leben zurückkehren?
Das ähnelt den Fragen, die sich Veteranen der Kriege im Irak und in Afghanistan in Vorbereitung auf ihren Abschied aus dem Militärdienst stellen. Gelingt es ihnen, einen neuen Sinn für ihr Leben zu definieren? Können sie sich mit der bevorstehenden nächsten Aufgabe identifizieren und sie produktiv, mit einer positiven, inspirierenden Ausstrahlung für ihre Mitmenschen angehen?
Die Fragen, die sich um Veteranen in dieser Übergangsphase ranken, sind umfassend und komplex. Seit 9/11 sind sie ständig im Einsatz, ihre Auslandseinsätze erinnern an Vampire – sie sind nachtaktiv und gönnen sich nur tagsüber wenige kostbare Stunden Schlaf. Tote Freunde und Teamkameraden wecken in ihnen die Schuld des Überlebenden. Körperliche Verletzungen hinterlassen ebenso ihre Spuren wie traumatische Belastungen und posttraumatische Stresssyndrome. Das vermengt sich mit der Abhängigkeit von Schlafmitteln, exzessivem Alkoholmissbrauch und Eheproblemen. Ein ätzender Cocktail, den die wenigsten hinunterstürzen und sich später davon erholen. Jene, die ihr Leben in einem dauerhaften Stadium übersteigerter Wachsamkeit zugebracht haben, wie ihn unsere DNA vorgibt, um zu überleben und Dominanz an der Speerspitze auszustrahlen, tun sich schwer damit, in der Zeit nach dem Dienst eine neue Bestimmung zu finden. Das Team ist ihre Familie, es ist ihre Bestimmung – ihre Heimat. Die Rückkehr zu Ehepartnern, Kindern, Windeln, Fußballtraining und undichten Dächern verblasst gegenüber dem Adrenalinrausch und der Fokussiertheit, eine Operation zu planen und durchzuführen oder eine hochrangige Zielperson aus nächster Nähe zu töten.
Man studiert Fachtexte, tauscht Batterien in Nachtsichtgeräten oder beleuchteten Visieren und Ziellasern aus, betankt Fahrzeuge, studiert die Routinen des Opfers, das Zielgebiet und die Zufahrts- und Fluchtwege. Man setzt sich mit allen erdenklichen Eventualitäten auseinander. Luftunterstützung begleitet einen während der Mission, Elemente der Combined Joint Special Operations Task Force stellen Videofeeds zur Verfügung, aufgenommen durch unbemannte Predator-Drohnen oder AC-130-Transportflugzeuge. Eine schnelle Eingreiftruppe steht parat, um bei Bedarf Unterstützung zu leisten. Der Verstand ist vollkommen fokussiert, das Team steht bereit und wartet auf den entscheidenden Befehl. Man gehört zur erfahrensten, effektivsten und effizientesten Menschenjagd-Maschinerie, die im Special-Ops-Bereich je existiert hat.
Als Zivilist an so ein Leben anzuknüpfen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wer an der Heimatfront nach den spektakulären Erlebnissen auf dem Schlachtfeld Ausschau hält, lässt sich auf eine unproduktive und ungesunde Suche ein. Eine neue Mission mit konstruktiven Zielen wird notwendig. Eine, die dazu taugt, Teil eines größeren Ganzen zu werden, dessen Bedeutung die eigene Person übertrifft. Das alte Leben wird immer Teil von uns bleiben, aber wir müssen nach vorn schauen.
Obwohl entsprechende Erfahrungen natürlich in meine Romane einfließen, bin ich kein Kampfschwimmer mehr. Stattdessen setze ich mich auf den Seiten meiner Politthriller mit den Gefühlen aus meiner Zeit an den Kriegsschauplätzen dieser Welt auseinander. Ich hoffe, dass meine Erlebnisse aus erster Hand die Geschichte durch zusätzliche Tiefe, einen erweiterten Blickwinkel und gesteigerte Authentizität bereichern. Meinem Land als Navy SEAL zu dienen, ist ein abgeschlossenes Kapitel. Teil meiner Vergangenheit. Ich habe mein M4 und das Scharfschützengewehr gegen Laptop und Bibliothek eingetauscht und erfülle mir den Lebenstraum, Bücher zu schreiben.
Auf den Seiten von Hass sieht sich mein Protagonist James Reece mit einer ganz ähnlichen Transformation konfrontiert. Er fühlt sich für den Tod seiner Familien- und Teammitglieder verantwortlich, verraten von einem Land, auf dessen Fahne er Treue und heilige Pflichterfüllung geschworen hat. Was könnte seinem Leben einen neuen Sinn verleihen? Welche Mission könnte ihn dazu bringen, weiterleben zu wollen? Es sind dieselben Fragen, die Krieger beschäftigen, die in den Hängen des Hindukusch gekämpft haben, oder an den Ufern von Euphrat und Tigris, an der Wiege der Zivilisation. Obwohl es sich in diesem Fall um eine fiktive Erzählung handelt, sind die aufgeworfenen Probleme genauso fundamental wie in der Realität. Die Summe früherer Erfahrungen macht uns aus. Wie wir sie verarbeiten und ob wir auf unserem weiteren Weg die richtigen Schlüsse ziehen, ist von entscheidender Bedeutung.
›Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog.‹ So hat William Shakespeare es in Der Sturm formuliert. Der Satz ist auch auf einer Inschrift am Eingang des Nationalarchivs in Washington, D. C. zu lesen.
Wie zutreffend er ist.
Jack Carr
18. Dezember 2018
Park City, Utah
Obwohl es sich bei Hass um eine erfundene Geschichte handelt, machen es meine frühere Tätigkeit und die mit ihr verbundenen Sicherheitsauflagen notwendig, dass der Text vom Office of Prepublication and Security Review des US-Verteidigungsministeriums durchgesehen und freigegeben wird. Die notwendigen Auflagen wurden vollständig umgesetzt und betreffende Passagen im Roman durch XXXX unkenntlich gemacht.
Für das Nachschlagen unbekannter Begriffe verweise ich auf das umfassende Glossar am Ende dieses Buches.
PROLOG
London, England
November
Ahmed stellte den Kragen hoch und verfluchte den Schnee. Obwohl in seiner Heimatstadt Aleppo deutlich niedrigere Temperaturen herrschten, als es sich die meisten Bewohner der westlichen Welt vorstellten, behagte ihm Kälte überhaupt nicht. Die italienische Mittelmeerküste im Sommer entsprach seiner Vorstellung vom Paradies. Zu gern hätte er sich dauerhaft dort niedergelassen. Seine derzeitigen Chefs brauchten ihn jedoch in London. Ausgerechnet im eisigen, trostlosen, verschneiten London. Nur vorübergehend, hieß es. Ein halbes Jahr die Zähne zusammenbeißen und die Klappe halten, dann könne er sich aussuchen, wo er hinzog. Sein Plan lautete, in den Süden zurückzukehren, einen ehrlichen Job zu finden und die Familie hinterherzuholen.
Heute bestand seine Aufgabe darin, den Van zu steuern. Fahrtziel war die mittelalterliche Marktgemeinde Kingston upon Thames im Südwesten Londons. Ahmed wusste nicht, was er für eine Fracht an Bord hatte. Es kümmerte ihn nicht, solange das Entladen schnell ging. Jedenfalls schien sie schwer zu sein. Die Bremsen mühten sich hörbar, wann immer er an einer der vielen Ampeln auf der Strecke anhalten musste. Er drehte die Heizung im weiß lackierten Lieferwagen, einem Ford Transit, voll auf und steckte sich eine Zigarette an. Der Verkehr war heftig, selbst für einen Freitagabend.
Ahmed zog das Handy aus der Tasche. 19:46. Er hatte extra genug Puffer einkalkuliert, um rechtzeitig am Marktplatz einzutreffen, aber die Witterung bremste ihn aus, ganz zu schweigen von den Massen an Fahrern und Fußgängern, die offenbar zu einer Art Festival wollten. Überall Kinder, dick eingepackt, von Eltern oder Geschwistern an die Hand genommen. Der Anblick ließ ihn an seine eigene Familie denken, die irgendwo in einem überfüllten Flüchtlingslager in der Türkei ausharrte. Wenigstens waren sie nicht mehr in Syrien.
Der Van schob sich mit Schrittgeschwindigkeit vorwärts. Ahmed hupte, um die Menschenmassen zum Ausweichen zu bewegen. Sein Fuß rammte das Bremspedal und er schnaufte laut, als ein kleines Mädchen in rosa Daunenjacke direkt vor seinen Scheinwerfern über die Straße huschte. Er bog links ab und rollte auf den Marktplatz. Vor der Adresse, die man ihm vorhin in der Werkstatt genannt hatte, blieb er stehen und setzte den Warnblinker. Er musste die Augen anstrengen, um durch die beschlagene Scheibe Einzelheiten zu erkennen. War er hier wirklich richtig? Seine Bosse hatten betont, dass er fürs Entladen genau an der richtigen Stelle halten musste.
Aus der Vogelperspektive wies der Marktplatz die Form eines großen Dreiecks auf, breit am einen Ende und schmal am anderen. Ahmeds Lieferfahrzeug stand an der Grundseite. Die fröhlichen Besucher des deutschen Weihnachtsmarkts, der hier stattfand, schienen ihn gar nicht wahrzunehmen. Schon an normalen Abenden herrschte im Einkaufsviertel Hochbetrieb, doch so kurz vor den Feiertagen waren noch deutlich mehr Menschen unterwegs. Kürzlich hatte ein Onlineartikel die malerische Veranstaltung angepriesen, weshalb Familien aus ganz London und den umliegenden Gemeinden herbeiströmten, um sich selbst ein Bild zu machen. Besucher strömten in die Läden, saßen in Cafés und Pubs und belagerten die Buden, die alles von Mützen und Schals über Glühwein, heiße Brezeln und Nussknacker bis hin zu Lichterbogen und traditionellem Holzschmuck für den Weihnachtsbaum anboten. Der ohnehin charmante Marktplatz glich nun einem kleinen Bergdorf mit Verkaufsständen unter schneeverzierten Giebeldächern, an denen sich Lichterketten wie Girlanden aufreihten, und einem riesigen Christbaum, der das gesamte Gelände überragte.
Ahmed schaute sich um und entdeckte keine Spur von den Männern, die den Van entladen sollten.
Sie verspäten sich bestimmt wegen des ganzen Tumults, überlegte er. Gemäß seinen Anweisungen wählte er eine Nummer und wartete ungeduldig, bis sich jemand meldete.
»Allo.«
»’Ana hunak.«
»Aintazar.«
Stille in der Leitung. Ahmed schaute aufs Display, um nachzusehen, ob die Verbindung zusammengebrochen war oder die Gegenseite aufgelegt hatte. Er runzelte die Stirn.
Die Explosion war ohrenbetäubend. Auf dem verschneiten Kopfsteinpflaster des Marktplatzes tummelten sich Tausende von Menschen. Jene, die dicht am Van standen, wurden durch die Detonation förmlich in Luft aufgelöst. Sie durften sich fast glücklich schätzen, denn die Stahlsplitter, mit denen die Sprengvorrichtung präpariert war, bohrten sich wie Tausende von Antipersonenminen in die übrige Menge – töteten, verstümmelten, zerfetzten und amputierten alles, was im Weg war, löschten künftige Generationen aus, bevor sie überhaupt geboren wurden. Ein ausgelassenes Vorweihnachtsfest hatte sich in ein perverses Schlachtfeld verwandelt. Zwischen den Trümmern der Holzbuden, Glassplittern, herabbaumelnden Lichterketten und zerbrochenen Tischen häuften sich Tote und Sterbende.
Jene, die sich noch rühren konnten und nicht vollkommen betäubt von der Druckwelle waren, drängten zum anderen Ende des Platzes, um der Verwüstung zu entfliehen. Die Fläche verengte sich zur Spitze hin deutlich. Die hochexplosive Sprengladung hatte zahlreiche Überbleibsel der ausgelassenen Festivitäten hier verstreut. Unbefugt an der Zufahrt abgestellte Autos sorgten für zusätzliche Engpässe. Die Welle aus Menschen blieb in dem schmalen Flaschenhals aus Gebäuden, Fahrzeugen und Schutt stecken, während von hinten panisch geschoben und gedrängelt wurde und alle mit den Hufen scharrten wie eine aufgescheuchte Herde. Jüngere wurden von Älteren umgerissen und niedergetrampelt, Schwache von Starken verdrängt. Die Verwirrung war so groß, dass zunächst niemand die Schüsse bemerkte.
Zwei Männer mit sowjetischen PKM-Maschinenpistolen, an denen Patronengurte baumelten, eröffneten vom Flachdach dreigeschossiger Häuser das Feuer auf die Menge, strategisch an beiden Seiten der engsten Stelle platziert. Zahllose 7,62x54-Millimeter-Projektile fraßen sich durch die Masse aus menschlichem Fleisch und ließen zerfetzte Leichen zurück. Den Flüchtenden unter ihnen, größtenteils bereits durch die tödliche Ladung des Transporters verletzt, blieb keine Chance. Es herrschte ein solches Gedränge, dass die Toten nicht mal umfielen, sondern wie Stöcke aus einem Bündel verzweifelter Menschen ragten. Die Schützen hatten jeweils mehrere Patronengurte gekoppelt, um nicht nachladen zu müssen. Der Stahlregen prasselte, bis ihnen der Nachschub ausging, was erst nach über einer Minute geschah. Dann ließen sie die Waffen fallen, deren Läufe nach dem Dauerfeuer förmlich glühten, und stürmten runter zum Chaos auf dem Platz. In den Rinnsteinen sammelte sich das Blut. Von der Vorfreude auf Weihnachten, die noch vor Kurzem die Stimmung dominiert hatte, war nichts mehr zu spüren.
Später zeigten Überwachungsvideos, wie die beiden Männer jeweils entgegengesetzte Enden des Platzes ansteuerten, um sich exakt dort einzufinden, wo Ersthelfer zur Behandlung der Verletzungen zunächst eintrafen. Sie mischten sich unter die Toten und verharrten mehr als eine Stunde, um dann ihre Sprengstoffwesten zu zünden und Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Sanitäter und Journalisten mit in den Tod zu reißen. Für das Europa des 21. Jahrhunderts begann damit eine neue Dimension des Terrors.
708 Kilometer südöstlich nahm Wassili Andrenow auf vier riesigen Flachbildschirmen, die vor ihm an der Wand hingen, befriedigt das Durcheinander zur Kenntnis. Laut Berichten handelte es sich um den tödlichsten Terrorangriff in der Geschichte Großbritanniens. Zuletzt waren 1940 bei einem Bombenangriff der deutschen Luftwaffe so viele Bewohner Londons auf einen Schlag umgekommen. Dass die Zahl der Opfer die 300er-Marke überstieg und weiter anzusteigen drohte, schien ihn nicht zu stören. Dass es sich bei der Hälfte der Toten um Kinder handelte und es nicht genug Krankenhäuser in London gab, um alle Verwundeten zeitnah zu versorgen, störte ihn noch viel weniger.
Im Raum herrschte absolute Stille. Andrenow war es so am liebsten. Er verfolgte die in den Laufschriften am unteren Bildschirmrand durchscrollenden Tickermeldungen und nippte am Wodka. Die Medien waren schon vor Evakuierung der meisten Verletzten auf der Bildfläche erschienen. Ihre Übertragungswagen trugen zur Vergrößerung des Verkehrschaos bei und behinderten das Vorankommen der Rettungswagen, die sich im Rahmen des Notfallplans aus ganz London und Umgebung auf den Weg zum Schauplatz des Geschehens machten.
Zuschauer auf der ganzen Welt verfolgten schockiert und entsetzt, was Reporter als ›das britische 9/11‹ bezeichneten. Der Gesichtsausdruck des Russen blieb gleichgültig, weder Atemfrequenz noch Blutdruck stiegen merklich an. Seine Augen glitten stoisch von Schirm zu Schirm und verarbeiteten die eingehenden Informationen in ähnlicher Weise wie der Hochleistungsrechner auf dem Schreibtisch vor ihm seine Daten. An und für sich nicht weiter erwähnenswert, wäre Wassili Andrenow nicht der Verantwortliche für das Blutbad in den Straßen Londons an jenem Dezemberabend gewesen.
Seine Augen lösten sich von dem brutalen Spektakel, das sich auf der Bildschirmwand seiner persönlichen Kommandozentrale entfaltete, und konzentrierten sich auf den Monitor des Computers. Andrenow vergewisserte sich noch einmal, dass An- und Verkäufe der von ihm ausgewählten Aktien zum Handelsbeginn der weltweiten Börsenschauplätze am Montagmorgen über einen programmierten Automatismus abgewickelt wurden. Zufrieden stellte er fest, dass alles vorbereitet war, weidete sich ein weiteres Mal am Anblick des neuen Londons, das er erschaffen hatte, bevor er die Geräte abschaltete und früh zu Bett ging. Zu Beginn der neuen Woche würde Wassili Andrenow ein unverschämt reicher Mann sein.
TEIL 1: FLUCHT
1
An Bord der Bitter Harvest
Atlantik
November
Es gibt einen Grund dafür, dass Freizeitsegler nicht den Atlantik überqueren, wenn der Winter sich von Norden her nähert: Ihnen steht ein heftiger Ritt bevor. Lieutenant Commander James Reece fand es ziemlich amüsant, dass er als Ex-SEAL nur minimale Erfahrung darin besaß, mit einem Schiff über das offene Meer zu segeln. Die schlechte Neuigkeit war, dass der heftige Wellengang die Überquerung gleichermaßen gefährlich wie körperlich anstrengend gestaltete. Die gute Nachricht war, dass die heftigen Böen den Trip merklich verkürzten und die Gefahr einer Entdeckung reduzierten. Wenige Tage nach Aufbruch von Fishers Island vor der Küste Connecticuts bekam Reece die 14,6 Meter lange Beneteau Oceanis, von den ursprünglichen Besitzern auf den Namen Bitter Harvest getauft, immer besser in den Griff. Die täglichen Aufgaben auf der Jacht wurden mehr oder weniger zu Routine. Die Eigentümer hatten den AIS-Transponder deaktiviert, was es erschwerte, ihn zu finden, falls denn jemand mitten im Atlantik nach ihm Ausschau hielt. Zur Orientierung blieb ihm sein Garmin 401 GPS, das am Lauf des M4 befestigt war. Er setzte es sparsam ein, um den Akku zu schonen. In Verbindung mit den Seekarten an Bord und dem Kompass genügte es zum Verfolgen der Reisefortschritte.
Es war nicht perfekt, aber es verschaffte ihm eine klare Vorstellung von der derzeitigen Position. Allemal besser als die Sterne zur Orientierung zu nutzen, weil sie ständig hinter einer Wolkendecke verschwanden. Die Jacht verfügte über eine kleine nautische Bibliothek und einen modernen Sextanten. Reece nutzte die Freizeit, um sich neue Kenntnisse anzueignen. Ihm schwebte kein konkretes Ziel vor. Er brauchte keins, fand er. Der tödliche Hirntumor, der bei ihm vor Kurzem diagnostiziert worden war, lieferte ihn so oder so in naher Zukunft im Jenseits ab.
Noch vor wenigen Monaten war Reece Truppenführer eines Elements von SEAL Team Seven auf einer Mission in Afghanistan gewesen, die in einem Desaster endete. Reece und seine Leute waren absichtlich in einen von korrupten Offizieren aus der eigenen Befehlskette aufgestellten Hinterhalt geschickt worden. Seine Männer, im Nachgang auch seine schwangere Frau und Tochter, hatte man ermordet, um die Nebenwirkungen eines Medikaments im Versuchsstadium zu vertuschen. Wie sich herausstellte, führten die Spuren in die höchsten Etagen Washingtons, ins Establishment der Macht. Zu den Nebenwirkungen gehörten auch Hirntumoren – so wie jener, der sich in Reece ausbreitete. Um sich zu rächen, war er zu einer Einmannmission aufgebrochen, deren Spur aus Leichen sich von Küste zu Küste zog. Nun fand sich Reece auf dem offenen Meer wieder, weit entfernt von Tod und Zerstörung, die er auf amerikanischem Boden entfesselt hatte.
Das Innere der Bitter Harvest war auf eine deutlich größere Crew ausgelegt, weshalb er über mehr als genug Platz unter Deck verfügte. Das Boot war mit üppigen Vorräten bestückt, die nicht nur einen Großteil der Kombüse, sondern auch eine komplette Gästekabine beanspruchten. Die Situation erinnerte ihn an die wenigen Male, die er während Trainingseinsätzen auf militärischen Kampf-U-Booten verbracht hatte. Sie besaßen autarke Reinigungsanlagen für Luft und Wasser. Die einzige Einschränkung betraf die Nahrung. Deshalb marschierte die Besatzung quasi über Vorratskartons und fraß sich tageweise durch die Bestände.
Um die Reichweite des 200-Liter-Tanks zu erhöhen, hatte Reece in der Jacht Plastikbehälter mit Treibstoff an der Reling festgeschnallt. Trotzdem bemühte er sich, den Verbrauch auf ein Minimum zu beschränken.
Draußen heulte der Wind und Reece mummelte sich in seine dickste Kleidung ein, um das Wasserfahrzeug Tag und Nacht zu steuern. Selbst nach ausgiebigem Studium der Dokumentation fiel es ihm schwer, dem Autopiloten von NKE Marine Electronics zu vertrauen. Man musste trotzdem alle 20 Minuten an Deck nach dem Rechten schauen. Wie es im Handbuch so schön hieß: Unter Normalbedingungen bei fünf Knoten entspricht die Sicht etwa einer Viertelstunde Fahrt. Alles, was danach folgte, war eine unbekannte Größe. Er wusste zwar nicht, wie lange er noch zu leben hatte, aber er wollte lieber nicht in der Kälte sterben. Daher schlug er einen Kurs südwärts Richtung Bermudas ein.
Kopfschmerzen kamen und gingen in willkürlichen Abständen. Obwohl er nachts kaum Schlaf bekam, fühlte er sich besser als seit langer Zeit. Allein auf dem Meer, blieb ihm genug Zeit, über die vergangenen Monate nachzudenken – über die brutale Marschroute, die ihn nun in diesen vergleichsweise friedlichen Abschnitt des Atlantiks führte. Das nächtliche Sternenzelt ließ ihn an seine Tochter Lucy denken, die endlosen Weiten des Wassers an Lauren. Lucy hatte sich jedes Mal fasziniert vom Nachthimmel gezeigt, wenn sie der Lichtverschmutzung des südlichen Kaliforniens den Rücken kehrten, und Lauren hatte seit jeher das Meer geliebt. Er versuchte, sich an die guten Zeiten mit den beiden Menschen zu erinnern, die er mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte, doch die freudigen Erinnerungen bescherten ihm auch Momente von unerträglichem Schmerz. Er wurde von Visionen ihres viel zu frühen, blutigen Ablebens vor einer AK-Mündung heimgesucht, die eigentlich für ihn bestimmt war, entfesselt von einer finanziellen und politischen Maschinerie, die Reece Stück für Stück enttarnt hatte.
Mit einem stechenden Schuldgefühl dachte er an Katie. Das Schicksal oder eine göttliche Macht hatte die investigative Journalistin Katie Buranek in sein Leben geführt. Genau zur richtigen Zeit, um die Verschwörung zu enthüllen, die den Tod von Teamkameraden und Familie nach sich zog. Sie hatten im Rahmen ihrer kurzen Freundschaft viel zusammen durchgemacht. Wie er sie am Ende zurücklassen musste, nagte an ihm. Seine letzten Worte und Handlungen. Er fragte sich, ob sie es verstand oder ihn für ein Monster hielt, besessen von Vergeltung und ohne Rücksicht auf die Opfer seines Blutrauschs.
Man sprach in den Teams oft von Bruderschaft. Ein Begriff, der in den vergangenen Monaten, in denen das Leben von Reece oft an seine Grenzen stieß, mehrfach auf eine harte Probe gestellt worden war. Er hatte seine Waffenbrüder beim Hinterhalt im dunklen afghanischen Gebirge verloren, war von einem seiner engsten Freunde in der Heimat hintergangen worden. Nachdem sein Trupp und seine Familie nicht mehr lebten und da er den Atem des Todes im eigenen Nacken spürte, hatte Reece sich in einen jener Aufständischen verwandelt, wie er sie seit 16 Jahren erbittert bekämpfte. Er war zu seinem eigenen Feind geworden. Und wie jeder Aufständische brauchte er eine sichere Zuflucht, um sich zu sammeln, die Ausrüstung aufzustocken und die nächsten Schritte zu planen. Er musste zu seinen Wurzeln zurückkehren.
Sein engster Freund hatte Reece vor Kurzem, als er seine Unterstützung am dringendsten brauchte, zur Flucht aus New York verholfen und ihn bei seiner Strandmission auf Fishers Island eingeschleust, damit er die letzten Verschwörer auf seiner Liste ermorden konnte. Raife Hastings zögerte keine Sekunde, als Reece ihn um Unterstützung bat, und setzte alles für den Ex-Kameraden aufs Spiel, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.
Sie hatten sich im Herbst 1995 auf dem Rugbyfeld der University of Montana kennengelernt. Reece stand als Outside Center auf dem Platz, Raife füllte die Nummer-acht-Position aus, mit Abstand der talentierteste Akteur seiner Mannschaft. Rugby galt für die meisten Amerikaner in den frühen 90ern als Obskurität, entsprechend verschworen präsentierten sich die Spielergemeinschaft und die Kultur, die sie umgab. Oft wurde gewitzelt, sie seien ein Team von Alkoholikern mit einem Rugby-Problem.
Raife war eine Klasse höher als Reece, wirkte aber so ernsthaft wie ein doppelt so alter Mann. Die Andeutung eines Akzents, den Reece nicht genau zuordnen konnte, wies auf eine Vergangenheit jenseits der nordamerikanischen Grenzen hin. Reece wurde es schnell langweilig, sich mit der üblichen Partymeute am College abzugeben. Er stellte fest, dass Raife seine Freizeit entweder in der Bibliothek verbrachte, um sich mit Wildtiermanagement zu beschäftigen, oder allein in einem Jeep Scrambler aufbrach, um das Hinterland von Montana zu erkunden.
Irgendwann fand Reece, er habe sich genug Lorbeeren auf dem Platz verdient, um Zeit mit dem Teamcaptain verbringen zu dürfen, und wagte einen Vorstoß. Auf einer der berüchtigten Rugby-Team-Partys in Raifes Haus außerhalb des Campus machte er den ersten Schritt.
»Bier?«, rief er über die laut aufgedrehte Musik hinweg und schwenkte einen roten Becher, den er gerade am Fass auf der Terrasse gefüllt hatte.
»Nee, bin versorgt, Kumpel«, antwortete Raife und hielt ein Glas hoch, von dem Reece vermutete, dass es Whiskey enthielt.
»Hübscher Augspross«, kommentierte er mit einem Nicken in Richtung eines Hirschgeweihs an der Wand. Die Größe deutete an, dass das Tier von Kopf bis Rumpf bestimmt drei Meter gemessen hatte.
»Ah, das war eine tolle Jagd. Hinten in den Breaks. Ein weiser alter Bursche.«
»Kommst du ursprünglich aus der Gegend?«
»Ja. Winifred war die nächstgrößere Stadt.«
»Großartige Gegend da oben, aber nicht unbedingt bekannt für gutes Rugby. Wo hast du dich vorher rumgetrieben?«
Raife zögerte, nippte an seinem Drink und antwortete: »Rhodesien.«
»Rhodesien? Du meinst Simbabwe?«
Raife schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht durchringen, es so zu nennen.«
»Wieso nicht?«
»Die marxistische Regierung reißt sich Bauernhöfe unter den Nagel, die seit Generationen in Familienbesitz waren. Deshalb sind wir in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Damals war ich noch ein Kind.«
»O Mann, davon bekommen wir hier drüben nicht viel mit. Mein Vater hat vor meiner Geburt ein bisschen Zeit in Afrika verbracht. Er redet nicht drüber, aber in seinem Arbeitszimmer stand ein Buch über die Selous Scouts im Regal. In der High School hab ich mal drin geschmökert. Die Typen waren echt Hardcore.«
»Du hast von den Scouts gehört?« Raife blickte ihn überrascht an.
»Ja, mein Vater war beim Militär, als Kampfschwimmer in Vietnam. Ich hab so gut wie jedes Buch über Special Operations gelesen, das ich in die Finger bekam.«
»Mein Vater war bei den Scouts, als ich noch klein war«, verriet Raife. »Wir bekamen ihn bis Kriegsende nur selten zu Gesicht.«
»Echt jetzt? Wow! Mein Dad war auch viel unterwegs. Nach der Navy hat er für das Außenministerium gearbeitet.«
Raife beäugte seinen jüngeren Teamkameraden misstrauisch. »Du hast eben den Augspross am Geweih erwähnt. Gehst du auf die Jagd?«
»Früher oft mit meinem Dad, wenn sich eine Gelegenheit ergab.«
»Na, dann sollten wir es aber auch stilvoll angehen. Trink dein Bier aus«, meinte er, holte eine Flasche Whiskey aus dem Schrank, deren Etikett Reece nichts sagte, und goss ihnen beiden mehrere Fingerbreit davon ein.
»Worauf wollen wir anstoßen?«
»Mein Vater rief immer ›Auf die Jungs!‹. Ich nehm an, das stammte aus seiner Zeit bei den Scouts.«
»Na, das hört sich richtig an für mich. Also dann: Auf die Jungs!«
»Auf die Jungs!« Raife nickte ihm zu.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Reece, überrascht, wie sanft die Flüssigkeit die Kehle hinunterfloss.
»Hat mir mein Vater mitgegeben, als ich hierherzog. Nennt sich ›Three Ships‹. Eine südafrikanische Marke. Ich glaube, die bekommt man hier nirgends.«
Ermutigt von einem Abend, der sich wie der Beginn einer neuen Freundschaft anfühlte, und von reichlich Alkohol fing der sonst so wortkarge Raife an, von seinem Aufwachsen in Afrika zu erzählen, von ihrem Landgut im ehemaligen Rhodesien, ihrem Umzug nach Südafrika am Ende des Kriegs und dem späteren Auswandern in die Vereinigten Staaten.
»Ich fahr morgen früh zum Block Four. Hab eine Abschusserlaubnis für einen Elch. Kommst du mit?«
»Bin dabei«, sagte Reece sofort.
Um halb fünf am nächsten Tag waren die zwei unterwegs. Reece erkannte schnell, dass der Captain seines Rugby-Teams die Jagd auf Hirsche und Elche mit der gleichen Entschlossenheit anging wie seine Kurse und Matches. Ihm war noch nie jemand mit so ausgeprägten Instinkten in freier Natur begegnet. Er schien in solchen Momenten mit der Umgebung zu verschmelzen.
Aus Herbst wurde Winter und sie machten sich nach den Kursen am Donnerstagnachmittag auf den Weg, um von Einbruch der Dämmerung bis zum Morgengrauen auf die Pirsch zu gehen, die Compoundbogen samt minimalistischer Campingausrüstung auf den Rücken geschnallt. Raife drängte jedes Mal, sich von den ausgetretenen Pfaden zu entfernen und tiefer in den Wald vorzudringen, höher in die Berge. Sie redeten kaum, um die geschärften Sinne ihrer Beute nicht zu alarmieren, und waren bald in der Lage, allein durch Körpersprache, Handzeichen und subtile Mimikveränderungen miteinander zu kommunizieren.
Bei einem ihrer Trips im Herbst hatte Reece einen mächtigen Elchbullen kurz vor Einbruch der Dunkelheit am Grund eines Canyons erlegt. Es war Sonntagabend und am nächsten Morgen standen Kurse an, die beide nicht verpassen durften. Sie arbeiteten zügig, um den Bullen im Kegel der Stirnlampen zu schlachten, zerlegten ihn und schleppten das Fleisch etappenweise, jeweils rund 50 Kilo auf einmal. Sie brauchten fast drei Stunden, um aus dem Tal zurück zum Ausgangspunkt des Wanderwegs zu gelangen. Dort hängten sie das Fleisch auf und gingen zurück, um den Rest zu holen. Es dauerte die ganze Nacht, die Beute zu sichern. Sie hatten nicht eine Sekunde geschlafen, als sie in den Klassenraum stolperten, die Klamotten verkrustet von getrocknetem Schweiß und Elchblut. Selbst in Montana bescherte ihnen das irritierte Blicke von Professoren und Klassenkameraden. Mit ihrem Auftritt an jenem Morgen sicherten sie sich den Spitznamen ›Blood Brothers‹, der sie für den Rest ihrer Collegezeit verfolgen sollte.
Um die massiven Mengen an Fleisch einzulagern, die sie während der Jagdsaison aus der Wildnis anschleppten, stellte sich Raife eine zusätzliche Gefriertruhe in die Garage. In den kälteren Tagen perfektionierten sie die Kunst, das Brät perfekt zuzubereiten. Ihre ›wilden Orgien‹, bei denen sie zum Spachteln einluden, wurden zu legendären Events. Mitstudenten brachten Beilagen und Nachspeisen zur Ergänzung von Elchlende, Wildgulasch oder Entenbrust mit, die von den Blood Brothers serviert wurden. Die Behauptung, an solchen Abenden sei auch Schwarzgebrannter in Strömen geflossen, gilt bis heute als unbestätigtes Gerücht.
Im nächsten Frühjahr besuchte Reece den Hof von Raifes Verwandten vor den Toren Winifreds und staunte über die enormen Ausmaße des Anwesens. Es wirkte zwar nicht überkandidelt, aber man merkte sofort, dass es bei den Hastings gut lief. Das erklärte auch, warum Raife sich einen Jeep und ein Haus außerhalb vom Campus leisten konnte. Mr. Hastings erklärte dem jungen Besucher, dass er von dem in Rhodesien erworbenen Know-how der Landwirtschaft hier in Montana stark profitierte. Daheim in Afrika ergab sich nur selten die Gelegenheit, teure, gut aufgezogene Kühe auf Auktionen zu ersteigern. Oft genug mussten sie daher schwaches oder sogar krankes Vieh aufpäppeln. Während sich also die Rancher in Montana gegenseitig überboten, um die besten Tiere zu ergattern, pickten sich die Hastings gezielt die weniger begehrten Exemplare heraus und erzielten so später mit minimalem Einsatz maximalen Profit. Andere Landwirte mussten Teile ihrer Ländereien abstoßen, was die finanziell solide aufgestellten Eltern von Raife in die Lage versetzte, zusätzliche Flächen zu spottbilligen Preisen zu erwerben. Nicht unbedingt, um noch mehr Vieh zu züchten, sondern um ihr Geschäft zu diversifizieren. Das neu erworbene Land versetzte sie in die Lage, Jagdlizenzen zu vergeben und den Wert ihres Besitzes nachhaltig zu steigern. Bald hatten sie sich den Ruf einer Familie erworben, die etwas vom Geschäft und vom Bewirtschaften verstand.
In den nächsten drei Jahren wuchsen die Blood Brothers zu einem untrennbaren Duo zusammen. Im Herbst gingen sie auf die Jagd, im Winter zum Skifahren in den Bergen. Der Frühling war fürs Klettern und Kajakfahren reserviert. Bei einem Besuch der Reece-Familie in Kalifornien traf Raife die Entscheidung, sich der Navy anzuschließen. Sein Vater hatte ihm eine tiefe Wertschätzung für ihre neue Wahlheimat vermittelt und der Militärdienst der männlichen Vorfahren im rhodesischen Buschkrieg ließ es wie ein logisches Anknüpfen an alte Traditionen erscheinen. Als Mr. Reece ihm erklärte, dass die Ausbildung von Navy SEALs zu den härtesten im modernen Militär gehörte, stand für Raife fest, dass er sich der Feuerprobe beim BUD/S stellen wollte.
Lediglich in den Sommermonaten gingen die Blood Brothers getrennte Wege. Raife flog zum Arbeiten nach Simbabwe. Sein Vater wollte, dass er den Kontakt zu seinen Wurzeln nicht verlor, und verschaffte ihm einen Job im Safariunternehmen seines Onkels in der alten Heimat. Raife fühlte sich unter den Fährtenlesern auf Anhieb wie zu Hause. Ihr Talent und ihre Instinkte, Tieren nachzuspüren, grenzten ans Übernatürliche. Mit ihrer Hilfe schaffte er es, seine Begabung in der afrikanischen Wildnis zu perfektionieren und nebenbei den örtlichen Shona-Dialekt fließend zu sprechen.
Reece reiste in einem Sommer während der College-Zeit ebenfalls nach Simbabwe und verbrachte einen Monat als Buscharbeiter bei seinem Freund. Man halste ihnen vor allem Hilfsarbeiten auf: Reifenwechsel, die Wartung der Safari-Trucks und das Häuten von erlegten Tieren. Kurz vor der letzten Woche von Reece’ Besuch kam Raifes Onkel nach einem besonders harten Tag zu ihnen und händigte ihnen ein offizielles Dokument auf gelbem Papier aus. Darauf war die Restquote festgehalten: Tiere, deren Abschuss die Biologen des Reservats vorschrieben, um das biologische Gleichgewicht zu erhalten, die im Rahmen der Jagdsaison aber nicht erlegt worden waren. Die Jungs aus Montana gingen also auf die Pirsch und lieferten das Fleisch in den Kühlräumen ab, die Hunderte von Arbeitern in Diensten der Tabakplantagen, Rinderzucht und Safariaktivitäten der Hastings ernährten.
»Schnappt euch einen Cruiser und packt einen Tracker ein. Ihr habt freie Hand. Versaut’s bitte nicht, okay?«
Eine kalte Brise, die ihm ins Gesicht schlug, riss Reece jäh aus seinen Erinnerungen. Er blickte zum Himmel. Eine Gewitterfront zog rasch näher. Glutroter Himmel, stellte er fest. Irgendetwas an diesem Sturm gefiel ihm ganz und gar nicht. Er schien noch kräftiger als jener zu sein, den er zu Beginn der Reise durchsegelt hatte. Er schlüpfte in seine Regenkluft und vergewisserte sich, dass an Deck alles gut gesichert war. An Deck hatte er sich angewöhnt, immer eine Sicherheitsleine zu tragen. Er überprüfte, ob sie an beiden Enden fest saß. Wenn es gleich richtig ungemütlich würde, müsste er die Segel einholen. Bis dahin nutzte er den Wind voll aus. Er ging in die Kombüse, um einen Kaffee zu kochen. Ihm stand eine lange Nacht bevor.
Als die Front eintraf, meldete sie sich mit voller Wucht. Die Überdachung der Kabine hielt zwar einen Großteil des Regens vom Cockpit fern, aber es war utopisch, trocken zu bleiben. Reece hatte inzwischen die Segel vertäut, um sie vor den heftigen Böen zu schützen. Aktuell nutzte er den Dieselmotor zur Fortbewegung. Ein erfahrener Segler hätte sich die Mächte des Sturms zunutze gemacht, doch Reece hielt die Risiken für größer als die zu erwartenden Geschwindigkeitsvorteile. Über das Navigieren machte er sich in diesem Stadium weniger Gedanken. Sein Fokus lag darauf, ohne nennenswerte Schäden am Boot durch dieses Unwetter zu kommen. Wo er sich befand, konnte er in Ruhe klären, wenn alles heil überstanden war. Der Himmel hatte sich verdunkelt und die Wogen tosten mit enormer Wucht. Dass sich nicht voraussagen ließ, wann die nächste hohe Welle gegen den Bug krachte, machte ihm am meisten Sorgen.
Reece musste unweigerlich an sein letztes Mal in schwerer See denken. Es war Jahre her, auf einem Klasse-3-Tanker am nördlichen Persischen Golf. Damals war es ebenfalls stockfinster gewesen. Kurz nach Mitternacht verfolgten die erfahrenen Steuermänner von Special Boat Team 12 ihren Gegner an Bord des schweren Kampfschiffes, während der auf kürzestem Weg Richtung iranische Gewässer flüchtete. Damals hatten ihn absolute Profis begleitet, jetzt musste er sich allein durchschlagen.
Obwohl die familiäre Erblinie bis zu den Wikingern im alten Dänemark zurückreichte, stellte Reece fest, dass die genetische Prägung für die Seefahrt spätestens im 9. Jahrhundert erloschen sein musste. Das Wasser schwappte an Steuerbord über den Bug. Wenigstens leisteten die Bilgenpumpen ganze Arbeit und hielten die Bitter Harvest unter Deck trocken. Das Boot tanzte wie ein Korken auf den Strudeln aus Wind und Wasser. Reece fühlte sich den Elementen und der Arbeit der Bootsbauer vollkommen ausgeliefert. Selbst an Bord eines so modernen Schiffs waren die Bedingungen beängstigend. Reece stellte sich vor, wie seine nordischen Vorfahren solche Überfahrten in offenen Holzbooten bewältigt hatten, und entschied, dass sie dafür deutlich mehr Talent mitgebracht haben mussten als er. Mit seinen längeren Haaren und dem von Regen und Meerwasser durchweichten Bart wäre er auf einem ihrer Langboote allerdings nicht weiter aufgefallen. Er fragte sich, welches Opfer sie Ägir wohl in einer solchen Situation dargeboten hätten, dem Riesen der See und Freund der Götter, dem man nachsagte, die Männer mit ihren Schiffen in die Tiefe zu reißen.
Als Reece gerade dachte, schlimmer könne es nicht werden, legte der Sturm noch mal eine Schippe drauf. Ein Lichtblitz flackerte über das Wasser und der Bug ruckte in die Höhe. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Reece fest, jetzt werde der Tumor ihn holen. Die Jacht schoss direkt auf den Gipfel eines Wellenkamms zu, der hoch über dem Mast drohend aufragte.
Wie bei einer Achterbahnfahrt verharrten sie kurz an der Spitze der Woge, bevor eine rasante Schussfahrt hinab in die Schwärze des Meeres begann. Reece fühlte sich schwerelos und umklammerte das Steuer aus rostfreiem Stahl mit beiden Händen, während er sich für den Aufschlag wappnete. Wie ein verängstigtes Tier brüllte er aus voller Kehle. Die gesamten 13.000 Kilo der Bitter Harvest schlugen mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf das Wellental. Reece’ Körper krachte mit der Wucht eines Fahrers bei einem Frontalcrash gegen das Steuerrad und wurde in die Dunkelheit gerissen.
Eine eiskalte Welle, die über das Dollbord fegte, riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. Er fand sich an Deck liegend wieder. Sein Schädel brummte nach dem Zusammenstoß mit dem Ruder. Instinktiv tastete er das Gesicht ab. Die Finger kehrten blutverschmiert zurück, wurden von dem Wasserguss aber augenblicklich abgespült. An der Stirn klaffte eine offene Wunde und die Nase fühlte sich gebrochen an. Wenigstens lebte er, der Kiel hatte gehalten. Er zog sich am Steuerpult hoch und blieb davor stehen. Blut lief ihm in die Augen und schränkte die ohnehin bescheidene Sicht zusätzlich ein. Er konzentrierte sich darauf, den Kompass auf Süden auszurichten, um die Sturmfront so bald wie möglich hinter sich zu lassen. Es wurde zwar nicht merklich besser, aber wenigstens auch nicht schlimmer. Er hoffte, dass die Riesenwelle der Höhepunkt gewesen war. Vielleicht hatte er sich bloß an die Umstände gewöhnt, aber es kam ihm vor, als wurde das Wetter langsam besser. In den nächsten Stunden wischte er sich ständig das Blut aus den Augen, checkte den Kurs, passte die Takelage an und wischte sich erneut das Gesicht ab. Seine Nase pochte und die offene Wunde brannte wegen der unbarmherzigen salzigen Gischt, die die Atlantikwinde herantrugen.
2
Savé Valley
Simbabwe, Afrika
August 1998
Reece hatte an diesem Morgen einen sehr beeindruckenden Kudu-Bullen erlegt. Eine Antilopenart mit Spiralhörnern, die viele wegen ihres ausgeprägten Fluchttalents als ›grauen Geist‹ bezeichneten. Er, Raife und die Späher hatten sich seit dem Morgengrauen an die Fährte des Tiers geheftet, bis der alte Bulle schließlich den Fehler beging, stehen zu bleiben und sich nach den Verfolgern umzusehen. Den fast 300 Kilo schweren Torso auf die Ladefläche des kleinen Pick-ups zu wuchten erwies sich als Herausforderung, aber dank des Einfallsreichtums der Späher und der auf dem Cruiser montierten Winde schafften sie es. Mit dem sorglosen Lächeln der Jugend näherten sie sich dem Wohnhaus der Ranch. Raife saß neben Gona, dem jüngeren Fährtenleser, auf dem Beifahrersitz, Reece und Gonas älterer Kollege begnügten sich mit dem Befehlsstand, der am hinteren Teil der Ladefläche festgeschweißt war. Sie schlürften ihr Bier und genossen die herrliche Aussicht auf die Landschaft.
Als sie um die Ecke zum Haus bogen, merkte Raife sofort, dass etwas nicht stimmte. Drei lädierte Trucks standen kreuz und quer auf dem gepflegten Rasenstück des Hauptgebäudes. Eine Gruppe von knapp einem Dutzend Männern schwärmte auf dem Hof aus, die meisten von ihnen offenkundig bewaffnet. Raife hielt direkt vor den Fahrzeugen in unmittelbarer Nähe der Fremden.
Reece fühlte sich auf dem Sitz hinten am Truck ziemlich exponiert. Er beäugte die Männer, die eindeutig feindlich gesinnt wirkten, und rätselte, was gerade vor sich ging. Er zählte sie durch, achtete darauf, wer welche Waffen trug, und schielte auf das .375 H&H-Gewehr, das horizontal am Gestell vor seinen Knien hing. Die Kräfteverhältnisse sprachen eindeutig gegen sie.
Raife sagte etwas auf Shona zu den Eindringlingen. Sie ignorierten ihn. Die Späher zuckten auf den Sitzen wie gescholtene Hunde zusammen und starrten ihre Füße an. Reece hatte im letzten Monat gelernt, sich auf ihr Urteil zu verlassen, und beschloss, dass Augenkontakt mit den Besuchern keine gute Idee war.
Ihre Bekleidung reichte von Fußballtrikots bis zu abgewetzten Hemden. Ihre einzige Uniform schien die fehlende Uniformität zu sein. Überwiegend Teenager, der Rest Anfang 20. Bei ihren Waffen handelte es sich um einen wilden Mix aus AKs, Schrotflinten, machetenähnlichen Pangas und ramponierten alten Jagdgewehren. Reece hatte keine Ahnung, wen er da vor sich hatte, aber besonders glücklich wirkten sie nicht. Nach einigen Sekunden kam Raifes Onkel aus dem Haus, dicht gefolgt von einem Mann in ähnlichem Alter. Im Gegensatz zu den anderen war er übergewichtig und gut gekleidet. Er trug eine Ray-Ban-Fliegersonnenbrille und ein violettes Hemd mit kurzen Ärmeln. Eine dicke Goldkette baumelte ihm um den Hals und die Halbschuhe bestanden offenbar aus Krokodilleder. Geschwollene Finger entfernten eine halb gerauchte Zigarette aus dem Mundwinkel und schnippten sie auf die Veranda der Hastings, als ob sie ihm gehörte. Eindeutig der Boss.
Die Schultern der Jüngeren strafften sich bei seinem Erscheinen, sie wirkten nun deutlich selbstbewusster und aggressiver. Er war der Alphawolf, sie seine Meute. Er näherte sich zielstrebig dem weißen Pick-up, der Rest der Bande trottete hinterher. Reece ignorierte er, lief zum Fenster auf der Fahrerseite und sagte etwas auf Shona, das Reece nicht verstand. Auf Raifes ruhig klingende Erwiderung hin riss der Dicke eine gespannte und gesicherte Pistole hinten aus dem Gürtel. Der Vater von Reece hatte dasselbe Exemplar in seiner Sammlung, eine Browning Hi-Power 9 Millimeter. Er zielte mit der Mündung auf Raifes Kopf und ließ den Finger lässig am Abzug ruhen. Reece starrte auf das Gewehr zu seinen Füßen und erkannte, dass er es niemals rechtzeitig erreichte. Selten zuvor hatte er sich so hilflos gefühlt und beschloss, wenn Raife starb, würde sein Killer kurz danach diese Welt verlassen.
Der Mann hielt die Pistole eine gefühlte Ewigkeit. Ein goldenes Armband baumelte lose am schwitzigen Handgelenk. Die ganze Episode spielte sich im Kopf von Reece wie in Zeitlupe ab. Der Späher neben ihm murmelte leise ein Gebet und Reece ertappte sich bei dem Gedanken, welchen Gott er wohl verehrte. Raifes Onkel stand drei Meter entfernt, unfähig, etwas gegen die bewaffneten Folterer zu unternehmen.
Schließlich beugte sich der Fettwanst dicht an Raifes Gesicht heran, ein gemeines Funkeln im Blick, bevor er leise »peng« flüsterte und tat, als kämpfte er gegen den Rückstoß der Waffe an. Er stieß ein kehliges Lachen aus, wobei der Bauch das teure Hemd spannte, und drehte sich zu seinen Männern um. Sie stimmten in das Lachen ein und die Bewaffneten feuerten zur Einschüchterung in den klaren blauen Himmel. Er winkte sie mit der Pistole zu den Fahrzeugen. Sie drängten hinein. Einer von ihnen hielt die Beifahrertür auf, damit der Boss seine korpulente Gestalt auf den Sitz zwängen konnte.
Die Räder der Trucks drehten beim Beschleunigen durch und hinterließen tiefe rote Furchen auf der Grasnarbe. Rich Hastings schüttelte den Kopf und verfluchte die bewaffneten Störenfriede.
»Elende Bastarde!«
Raife öffnete die Tür des Trucks und eilte zu seinem Onkel. Die Tuchfühlung mit dem eigenen Tod schien ihn nicht im Geringsten aus dem Konzept zu bringen. »Wer zum Teufel waren die, Onkel Rich?«
»Kriegsveteranen.« Er zog das Wort so zusammen, dass es aus deutlich weniger Silben bestand.
»Kriegsveteranen? Diese Typen waren so jung, die dürften bei Kriegsende nicht mal auf der Welt gewesen sein.«
»Sie nennen sich bloß so. Eigentlich haben sie mit dem Krieg nichts zu tun. Mugabe und seine Leute halten bloß an den Begrifflichkeiten der Revolution fest, damit niemand merkt, wie sie das Land ausrauben. Eine Bande von Dieben ist das, nichts weiter. Erpresser.«
»Was wollten sie?«
»Geld natürlich. Irgendwann werden sie den kompletten Hof fordern, vorerst geben sie sich mit Schutzgeld zufrieden. Ich würde diese Bastarde zu gern über den Haufen schießen, aber genau darauf spekuliert die Regierung. Sie schicken diese Banden los, um Gutsbesitzer zu schikanieren. Sobald wir uns wehren, rennen sie zu den internationalen Medien und jammern denen was von Kolonialismus vor. Wenn ich mich wehre, rückt spätestens bei Sonnenuntergang die Armee an, um alles zu beschlagnahmen.«
»Was ist mit der Polizei?«, schaltete sich Reece ein. Sein demokratisch geprägter Verstand rebellierte gegen diese Ungerechtigkeit.
»Die Polizei? Die hat ihnen vermutlich erklärt, wie sie am schnellsten hinfinden. Nein, Jungs, wir können nichts weiter tun, als den geforderten Betrag zu zahlen und so lange wie möglich durchzuhalten. Ich könnte gleich morgen in die USA ziehen und für deinen Vater arbeiten, Raife, aber was würde dann aus diesem Anwesen? Dieser Hof ist seit 150 Jahren im Besitz unserer Familie. Ich gebe ihn nicht einfach auf. Wir beschäftigen mehr als 100 Leute. Denkst du, diese Bastarde kümmert es, was aus denen wird? Verdammt, wir haben sogar eine eigene Schule, um sie zu unterrichten.«
Als 20-Jähriger wusste Reece nicht so recht, was er davon halten sollte, begriff jedoch, dass er aus einer deutlich anderen Kultur stammte. Auf der einen Seite lebte hier ein einheimisches Volk, das einen Anführer gewählt hatte, den ein Großteil der Welt als legitim betrachtete, obwohl es bereits Gerüchte über Morde und Menschen gab, die spurlos verschwanden, weil sie sich dem mittlerweile etablierten Diktator entgegenstellten. Auf der anderen Seite gab es die etablierten Besitzansprüche der Familien, die ihre Farmen seit über einem Jahrhundert mit Zustimmung der britischen Krone unterhielten und rechtmäßig auf dem Land lebten. Beide Parteien glaubten, sie seien im Recht, und keine wollte auch nur einen Zentimeter von dieser Überzeugung abrücken. Für den jungen Amerikaner sah es danach aus, dass bald ein Krieg ausbrechen würde.
3
An Bord der Bitter Harvest
Atlantik
November
Reece befand sich inzwischen auf der Kehrseite der Gewitterfront. Der Wellengang war nicht länger tödlich gefährlich, sondern nur noch turbulent. Er startete das GPS und ermittelte seine Position. Der Sturm hatte ihn ein gutes Stück nach Süden abgedrängt, was er für eine gute Nachricht hielt. Er beschloss, die Segel zu setzen, um Treibstoff zu sparen. Nachdem alles mehr oder weniger unter Kontrolle schien, aktivierte er den analogen Autopiloten und ging gefühlt zum ersten Mal seit Tagen unter Deck. Er schaute in den Spiegel und musste unwillkürlich lachen, was für ein ramponiertes Gesicht ihm entgegenblickte. Der tiefe Riss an der Stirn blutete nicht mehr, musste aber vermutlich genäht werden. Nun, ein paar Klammern sollten fürs Erste reichen. Beide Augenhöhlen waren wegen der gebrochenen Nase angeschwollen und blauschwarz verfärbt, die durchgeweichten Haare klebten wie eine zweite Haut am Rücken. Er wusch sich das Gesicht im Waschbecken, frottierte die Haare und zog sich aus, um trockene Kleidung überzuziehen. Beim Wühlen im Medizinschrank fand er, wonach er suchte: Bandagen und Ibuprofen.
Der Hunger kam als Nächstes dran. Die Essensvorräte würden ihn vermutlich überdauern, aber so langsam wurde er die Tiefkühlkost und den Dosenfraß leid. Er öffnete einen Tupperware-Behälter mit Oreos und stopfte sich für einen schnellen Zuckerschub zwei auf einmal in den Mund. Für richtiges Kochen fehlte ihm derzeit die Energie, also beschränkte er sich darauf, eine Packung Ramennudeln in der Mikrowelle zuzubereiten. Er schaufelte sich eine Gabel voll hinein und bereute es sofort. Das heiße Essen brannte am Gaumensegel und er atmete hastig mehrmals ein und aus, um die dampfende Nahrung abzukühlen. Dann stocherte er in der Plastikschüssel herum und sein erschöpftes Hirn kämpfte mit dem Zwiespalt von Hungergefühl und der Angst, sich erneut zu verbrennen. Der Hunger setzte sich durch und er pustete ausgiebig auf den zweiten Happen, bevor er ihn sanft auf der Zunge zergehen ließ. Bevor die Nudeln auf Esstemperatur abgekühlt waren, hatte er die Schüssel bereits geleert.
Reece trank etwas Wasser und ging zurück an Deck, um den aktuellen Kurs zu überprüfen. Zufrieden, dass alles war, wie es sein sollte, stellte er an der Uhr den Timer auf zwei Stunden und ließ sich mit dem Gesicht voran auf das Bett in der Hauptkoje fallen.
Reece steuerte das Boot über den ruhigen See. Lauren sonnte sich an Deck. Für die Mutter einer Dreijährigen eine kostbare Gelegenheit zur Entspannung. Er quittierte die seltene Zeit mit der Familie mit einem Lächeln und stellte fest, dass er glücklich war. Lucy saß auf seinem Schoß und half beim Steuern. Dabei entwickelte sie auffälliges Interesse für die Beschriftung am Flüssigkeitskompass.
»S steht für Sisi«, verkündete die Kleine. Der Kosename für ihre Großmutter mütterlicherseits.
»Das stimmt, Süße. Du bist so klug! Was fängt mit einem E an?«
»Elmo!«
»Ganz genau, Lucy!«
»Und was ist das, Daddy?«
»Was denn, Baby?«
Reece drehte den Kopf, um zu sehen, worauf seine Tochter hinter dem Heck zeigte. Eine massive Welle rollte wie in Zeitlupe auf das Segelboot zu.
Reece rief Lauren zu, sie solle sich festhalten, aber er schaffte es nicht, dass sie ihn hörte. Die gefährliche Bedrohung brach über sie herein, flutete das Boot und riss Lucy aus seinen Armen. Sie starrte ihn flehend an, griff vergeblich nach seiner ausgestreckten Hand und wurde vom Wasser fortgerissen. Er bewegte die Beine, doch es fühlte sich an, als watete er durch nassen Beton. Nach Luft und Vergebung schnappend, mit Salzwasser in der Lunge, wurde er in die Tiefe gerissen. Fort von seiner Familie, fort von seinem Leben.
Ein schreckliches Piepen wurde lauter und lauter und riss ihn aus dem Schlaf. Er fuhr hoch, in Schweiß gebadet, blinzelte hektisch und betrachtete die ungewohnte Umgebung. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Dann schwang er die Beine auf den Boden und fuhr mit den Fingern beider Hände durch die Haare. Nicht mehr lang, Mädels, versprach er. Bald bin ich bei euch. Vielleicht sogar noch heute.
Er fischte mit den Füßen nach den Flip-Flops, stand auf und streckte sich, bis die Hände gegen die Decke stießen. Langsam durchquerte er Kombüse und Salon, schnappte sich die Sonnenbrille von einem Tisch und ging zurück an Deck, um sich seinen persönlichen Dämonen zu stellen.
4
Al-Hasaka, Syrien
November
Rojava, besser bekannt als Demokratische Föderation Nordsyrien, erstreckte sich über die nordwestlichen Ausläufer der kriegsgebeutelten Nation. Der multiethnische Verbund hatte sich relativ erfolgreich von der zentralen Regierung losgesagt und operierte als autonome Republik mit eigener Verfassung. Nach der Vertreibung der IS-Truppen, in dieser Region als Daesh bekannt, herrschten für Einwohner und Flüchtlinge aus dem Südteil des Landes halbwegs erträgliche Lebensbedingungen. In Rojava hatte man gleiche Rechte für beide Geschlechter, Religionsfreiheit und individuelle Besitzrechte im Gründungsdokument verankert. Die Prinzipien einer säkularen Demokratie vereinten Araber, Kurden und Türken in Frieden und Stabilität und der Hoffnung einer Ausdehnung auf weitere Gebiete. Die meisten hielten das für einen erfreulichen Fortschritt, andere für eine Bedrohung ihrer angestammten Macht. Das syrische Innenministerium hatte deshalb einen Scharfschützen namens Nizar Kattan losgeschickt, um dieser gefährlichen Schlange den Kopf abzuschlagen.
Die Föderation und ihre fast fünf Millionen Einwohner wurden von zwei Präsidenten regiert: einem Araber, Mansour Haddad, und einer Kurdin, Hediya Fatah. Nizar war kein besonders frommer Moslem, aber ein Araber, der eine Frau an der Spitze einer Nation als Anmaßung empfand. Obwohl man ihm freie Wahl gelassen hatte, welches der beiden Staatsoberhäupter er ins Visier nahm, entschied er sich für den Mann. So gern er dieser kurdischen Hure eine Lektion erteilt hätte, für so vielversprechend hielt er es umgekehrt, eine Frau als alleinige Präsidentin zurückzulassen, damit dieses kleine Lehnsgut endgültig in sich zusammenfiel.
Präsident Haddads Haus befand sich in einer der besseren Gegenden von Al-Hasaka, einer Großstadt dicht an der Grenze des Landes sowohl zur Türkei als auch zum Irak. Urban, dicht besiedelt und trotz der Lage auf einer Ebene mit hügeligen Abschnitten schieden Abschüsse aus größerer Entfernung wegen der schwierigen Planung und Umsetzbarkeit aus. Obwohl die Erledigung der Zielperson aus kurzer Distanz die Flucht erschwerte, liebäugelte er daher mit dieser Option. Er hatte die Luftaufnahmen und Berichte der in die Stadt eingeschmuggelten Spione des Regimes sorgfältig studiert, ohne auf ein geeignetes Versteck zu stoßen. Einer der älteren Männer aus seiner Einheit wies ihn auf eine Technik der sogenannten D. C. Snipers hin – eine Gruppe von Kriminellen, die ein Jahr nach 9/11 in der amerikanischen Hauptstadt für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Nizar war zu jung, um sich an die Angriffe zu erinnern, aber ein Online-Artikel versorgte ihn mit allen notwendigen Informationen für einen eigenen mobilen Unterschlupf.
Der zerbeulte weiße Kia Frontier unterschied sich kaum von den anderen Fahrzeugen, die am Straßenrand parkten. Er hatte sich Kennzeichen aus der Region beschafft, um nicht ins Visier der Asayish zu geraten – der örtlichen Sicherheitsbehörde. Auf der Ladefläche stapelte sich Baumaterial, abgedeckt mit einer Plastikplane. Auf den ersten Blick schien es sich um einen der Trucks zu handeln, die zur nahe gelegenen Baustelle gehörten.
Um kurz nach 21 Uhr ließ Nizar den Truck am Bordstein ausrollen, den Aufleger in Richtung Haus der Zielperson ausgerichtet. Die Straße war verlassen, trotzdem tat er, als ob er zwischen den Betonblöcken und Holzlatten am Heck etwas suchte, bevor er in den eigens dafür geschaffenen Hohlraum der Ladung kroch und die Öffnung mit einem der Blöcke verschloss. Er war nicht besonders groß, trotzdem wünschte sich Nizar, etwas mehr Platz zu haben. Er musste die Knie stark anwinkeln, um in die Lücke zu passen. Die Nachtluft war kühl und er zog eine Wolldecke über den Körper, um sich zu wärmen und seine gekrümmte Form besser zu tarnen.
Nizar war auf der dünnen Schaumstoffmatratze kurz eingenickt. Das Geräusch eines Motors ganz in der Nähe riss ihn aus dem Schlummer. Der Kia ächzte auf den abgenutzten Stoßdämpfern, als jemand die hintere Stoßstange nach unten drückte. Die Plane raschelte und mit einem kratzenden Geräusch wurden Betonblöcke verschoben. Sein Herz begann zu rasen und er fand mit den Fingern den Plastikgriff seines Gewehrs.
Bin ich aufgeflogen?
Langsam schob er den Wahlhebel der Waffe auf Halbautomatik und erzeugte dabei deutlich mehr Lärm, als ihm lieb war. Wer immer da kam, schien es nicht mitzubekommen. Nur das Schaben der Blöcke, zur Tarnung über einem Stapel Holzlatten direkt oberhalb von Nizars Kopf aufgeschichtet, ging weiter. Sobald jemand einen oder zwei der Steine entfernte, würde man ihn entdecken. Innerhalb weniger Sekunden drohte seiner Mission ein vorzeitiges Ende.
»Was machst du da?«, fragte eine befehlsgewohnte Stimme auf Arabisch, zehn oder 20 Meter entfernt.
Das Rumoren an den Blöcken stoppte abrupt.
»Ich seh mir nur diese Betonsteine an. Die sind perfekt zum Bauen«, hörte er direkt über sich.
»Die gehören dir nicht, alter Mann. Und jetzt lass diesen Truck in Ruhe, bevor ich dich festnehme.«
»Hab doch nur geguckt.«
Ein kurzes Erzittern verriet Nizar, dass der Mann von der Stoßstange geklettert war.
»Tut mir leid, Sir.«
»Hau ab!«
»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.«
Nizar hörte, wie sich der Mann auf Sandalen entfernte. Schwerere Schritte kamen näher und ein grelles Licht drang durch die Spalte zwischen den Blöcken. Nizar senkte den Kopf und schloss die Augen. Er wagte nicht mal zu atmen und verkroch sich vor der Taschenlampe des Polizisten wie ein verängstigtes Kind unter der Bettdecke. Langsam tickten die Sekunden herunter, bevor ein Schalter betätigt wurde, Dunkelheit folgte und sich nach kurzer Pause Stiefeltritte entfernten. Der Scharfschütze stieß hörbar die Luft aus. An Schlaf war heute Nacht nicht mehr zu denken.
Seine Gedanken wanderten zu Erinnerungen aus der Jugend. Sein Vater, der ihm unter dem dünnen Blechdach auf dem Bauernhof der Familie die Vorzüge von Geduld vermittelte. Der Verschlag unterschied sich nicht großartig von seinem aktuellen Aufenthaltsort. Beengt und feucht, trotzdem behaglich dank einer Schicht aus Heu. Ein goldbrauner Schakal umkreiste stumm den Ziegenstall, doch Nizar sah ihn im Schein der einsetzenden Dämmerung nur undeutlich. Das alte Jagdgewehr aus britischen Armeebeständen fühlte sich in den Fingern riesig an und wegen des langen Laufs musste er den Hals schmerzhaft weit vorbeugen. Er konnte es überhaupt nur halten, ohne zu zittern, wenn er das vordere Ende auf einer zusammengerollten Decke ablegte. Er konnte den Tabak in Vaters Atem riechen, der ihm zuflüsterte, ganz ruhig zu bleiben. Nizar bebte vor Aufregung, aber die Stimme des Älteren verlangsamte die Atmung und stoppte das Zittern am eisernen Visier. Als der Schakal zur nächsten Umrundung ansetzte, hatte das fahle graue Licht eine dezente Rosafärbung angenommen. Er erspähte den Holzpfosten durch die Kimme. Die gebetsmühlenartig wiederholte Aufforderung seines Vaters wurde zu einem monotonen Brummen, während er den schweren Abzug betätigte. Ruhig …
Der Morgen dämmerte und die Stadt erwachte zum Leben. Motoren ächzten, Hunde bellten, Vögel zwitscherten und Kinder krähten vergnügt. Selbst im Krieg ging das Leben weiter. Unter den vielen Geräuschen urbanen Lebens stach eins für Nizar besonders hervor: das Läuten der Kirchenglocken. Al-Hasaka beherbergte christliche Kirchen ebenso wie Moscheen. Statt den Ruf zum Morgengebet vom Turm des Minaretts zu hören, lauschte er den fernen Glocken einer syrisch-orthodoxen Kirche.
Im Schutz der Dunkelheit hatte Nizar den Betonblock vor seinem Gesicht um 90 Grad gedreht, damit er durch die seitlichen Öffnungen spähen konnte. In der Mitte gab es spezielle Aussparungen, damit weder Schalldämpfer noch Zielfernrohr beeinträchtigt wurden. Er observierte die zunehmend hellere Umgebung von Haddads Haustür durch die 4-fach-Vergrößerung des russischen PSO-1-Scopes, das seitlich am VSK-94-Gewehr montiert war. Ein hässliches schwarzes Teil, das wie das missratene Stiefkind des omnipräsenten AK-47 wirkte. Der röhrenförmige Schalldämpfer vorn war gut einen halben Meter lang, der kistenförmige Schaft am anderen Ende machte es nicht besser. Nizar störte sich nicht an der Optik. Für ihn ergab sich die Schönheit aus der Funktion.
Das Haus des Präsidenten wirkte überraschend bescheiden. Der einstöckige Komplex wurde von einer niedrigen Steinmauer eingerahmt, auf der ein Eisenzaun die Straße in 2,40 Metern Höhe überragte. Es gab keine Anzeichen von Wachposten, weder bewaffnet noch anderweitig, obwohl Nizar davon ausging, dass die Pforte zumindest abgeschlossen war.
Die Entfernungsangaben, eingearbeitet in das Fadenkreuz des Zielfernrohrs, gestatteten es dem Schützen, die Größe der Zielperson und deren ungefähre Entfernung zu ermitteln. In Nizars Blickfeld rührte sich nichts, doch er visierte die Haustür an, ermittelte, dass sie etwas höher als ein durchschnittlich gewachsener Mann war, und stellte sich auf die Bedingungen ein. Etwas mehr als 100 Meter, für einen Scharfschützen mit Nizars Talenten eine unglaublich kurze Distanz, vor allem aus einer derart stabilen Schussposition. Dieses Gewehr samt Magazin war für bestmögliche Tarnung optimiert. Der Schalldämpfer maskierte den Knall, und das Geschoss flog mit weniger als Schallgeschwindigkeit, um auf dem Weg zum Ziel kein hörbares Krachen zu hinterlassen. Das 16,8 Gramm schwere Unterschallprojektil sackte auf dem Weg zum Ziel wie ein Stein ab, weshalb es entscheidend war, den Abstand korrekt zu bestimmen.
Nizar musste dringend pinkeln, wagte es aber nicht, sich von der Stelle zu rühren. Sein Opfer konnte jeden Moment am Eingang erscheinen. Er hatte nicht die ganze Mühe auf sich genommen, um im entscheidenden Moment die Hand am Sack zu haben. Mit dem Aufsteigen der Sonne hielt lästige Hitze Einzug, drang in das beengte Versteck ein und nässte den um den Kopf gewickelten Schal zügig durch. Schweiß brannte ihm in den Augen. Das Warten war der unangenehmste Teil des Jobs, doch daran musste man als Sniper gewöhnt sein.
5
An Bord der Bitter Harvest
Atlantik
November
Die Tage nach dem schweren Sturm bescherten Reece viel Zeit zum Nachdenken. Ein herrlicher Sonnenaufgang folgte dem nächsten, während er die Fahrt fortsetzte. Die Kopfschmerzen, von denen er wusste, dass sie ihn früher oder später umbringen würden, kamen und gingen. Es fühlte sich an, als ob Millionen kleiner Glassplitter im Kopf gegeneinanderschabten. Es gab keinen erkennbaren Rhythmus bei den Attacken, deshalb konnte er sich auch nicht dafür wappnen. Er dachte viel über seine Familie nach, seine bildhübsche Frau und seine Tochter. Er dachte an alle, die ihn in den letzten Monaten auf seinem Rachefeldzug unterstützt hatten, vor allem an seine Freunde Marco del Toro und Liz Riley. Er hoffte, dass es ihnen gut ging. Dann fielen ihm wieder Katie und seine letzten Worte an sie ein. Und Raife Hastings …
Im letzten Jahr am College widmete sich Raife ernsthaft seinem Traum, ein SEAL zu werden. Reece hatte noch ein weiteres Jahr vor sich, trainierte aber trotzdem hart mit dem Freund, um ihn bei der Vorbereitung auf die bevorstehenden Strapazen zu unterstützen. Raifes Vater begegnete der Aussicht, dass sein einziger Sohn in seine Fußstapfen als Soldat trat, mit gewisser Skepsis, erklärte sich aber unter der Bedingung einverstanden, dass er sich zunächst seine Sporen in den niederen Rängen verdiente, bevor er sich auf eine Offizierslaufbahn einließ.
Reece folgte seinem Beispiel ein Jahr später. Er wollte sich zunächst auf die Verbesserung der taktischen Fähigkeiten konzentrieren, bevor er eine Führungsposition anstrebte. In der heutigen Navy gibt es spezielle Ausbildungsprogramme, die es angehenden SEALs ermöglichen, sich konkret auf BUD/S vorzubereiten – das brutale sechsmonatige Auswahlverfahren und Trainingsprogramm mit 80-prozentiger Abbruchquote. In den späten 1990ern lief es noch anders. Damals durchliefen SEAL-Rekruten eine normale Basisausbildung in Great Lakes, Illinois, ehe sie auf eine ›A-Schule‹ wechselten. Früher hatte Reece geglaubt, das A stehe für ›Ausbildung‹. Er schoss sich auf Aufklärung und Nachrichtendienst ein. Seine 16 Wochen Training absolvierte er nach dem Bootcamp in Virginia. Er musste also erst mal die Schulbank drücken, bevor er sich überhaupt als SEAL bewerben durfte. Die Bürokraten aus der Führungsebene dachten sich das so, dass letztlich nur 20 Prozent BUD/S abschlossen. Also musste man dafür sorgen, dass die restlichen 80 Prozent vorher ausreichend spezialisiert wurden, um andere Personallücken bei der großen blauen Navy schließen zu können.
Es lief darauf hinaus, dass Reece und Raife zwar ähnliche Pfade einschlugen, jedoch ein Jahr voneinander getrennt wurden. Reece traf gerade rechtzeitig zum BUD/S-Auftakt in Coronado ein, um den erfolgreichen Abschluss von Raifes SEAL Qualification Training mit dem Freund zu feiern. Als er bei der Zeremonie verfolgte, wie der Mann, der ihm wie ein Bruder ans Herz gewachsen war, einen Händedruck vom befehlshabenden Offizier empfing, wusste er, dass er nicht lockerlassen würde, bevor er ebenfalls an einer solchen Veranstaltung teilnahm. Wenn die Ausbilder nicht wollten, dass er ein SEAL wurde, musste er sie wohl töten.
Nach den Geschichten, die sie von Reece’ Vater über SEAL-Teams in Vietnam gehört hatten, rechneten beide damit, zu geheimen Missionen entsendet zu werden, sobald sie mit ihrem ersten Team auf dem Quarterdeck eintrafen. Die Realität sah anders aus: keine verdeckten Einsätze, bei denen sie Terroristenführer umlegten und Geiseln befreiten. Es herrschte Frieden, und Frieden bedeutete viel Zeit fürs Training. Das, merkten sie schnell, war ihre eigentliche Aufgabe. Trainieren. Vorbereitet sein. Jederzeit bereit für den Einsatz. Dann, an einem sonnigen Dienstagmorgen im September 2001, kam der Befehl.