THE TERMINAL LIST - Die Abschussliste - Jack Carr - E-Book

THE TERMINAL LIST - Die Abschussliste E-Book

Jack Carr

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Beschreibung

THE TERMINAL LIST - jetzt als Amazon-Prime-Serie mit Chris Pratt in der Hauptrolle. Afghanistan: Bei einem Hinterhalt durch Taliban-Milizen wird fast das komplette Team von Navy-SEAL-Kommandant James Reece ausgelöscht. Geplagt von Schuldgefühlen kehrt er in die Heimat zurück. Doch nun muss er erleben, wie weitere Menschen aus seinem engsten Umfeld unter mysteriösen Umständen sterben. Wie sich herausstellt, litten alle Verstorbene an Hirntumoren. Schnell wird klar, dass keine feindliche Macht hinter den Anschlägen steckt, sondern machtgierige und skrupellose Amerikaner. Die Spur der Verschwörung führt bis in die höchsten Regierungskreise. Als Reece ebenfalls erkrankt, hat er nichts mehr zu verlieren. Ihm bleibt nur noch Rache. Sorgfältig erstellt er eine Liste mit allen Verantwortlichen und macht sich auf den Weg … Nervenkitzel von Anfang bis Ende. Für Fans von Vince Flynn, Tom Clancy und Stephen Hunter. Brad Thor: »Absolut großartig! So kraftvoll, so atemberaubend, so gut geschrieben. Selten liest man einen so verdammt guten Erstlingsroman.« Washington Times: »Definitiv das beste Thrillerdebüt 2018. Außergewöhnlich gut und authentisch. Packt einen sofort.« The Real Book Spy: »Eine beeindruckende neue Stimme unter den Polit-Thriller-Autoren. Die erbarmungslose Action von Jack Carr sollte man sich echt nicht entgehen lassen.« Steve Berry: »Aufpassen bei der Lektüre, sie hinterlässt Spuren.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 600

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Terminal List

erschien 2018 im Verlag Atria/Emily Bestler Books.

Copyright © 2018 by Jack Carr Enterprises, LLC

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Nutzung mit freundlicher Erlaubnis von Amazon Content Services LLC

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-017-5

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für die Soldaten, Piloten und Marines,

die es nicht nach Hause geschafft haben.

Und für unsere Kinder,

die noch nicht alt genug sind,

um das hier zu lesen.

Da macht so ein Kerl die Runde und schreibt sich alle Namen auf.

– unbekannter Autor

Vorbemerkung

In diesem Roman geht es um Rache.

The Terminal List beschäftigt sich mit der Frage, was passieren kann, wenn ein Spitzenprädator, ein Krieger auf dem Höhepunkt seines Wirkens, mit einer Situation konfrontiert wird, aus der es kein Entkommen gibt. Es geht darum, was passiert, wenn die Normen einer Gesellschaft, ihre Gesetze, Regeln und moralischen Vorschriften samt Ethik einem Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten weichen müssen, der sich gehärtet durch den Kampf auf den Pfad der Vergeltung begibt. Einem Mann, der nach allen gültigen Maßstäben bereits tot ist.

Dieses Werk würde ohne die Bemühungen meines guten Freundes und Schreibpartners Keith Wood überhaupt nicht existieren. Obwohl sein Name nicht auf dem Cover steht, ist es ebenso sein Buch. Mit einem Handschlag bei einer SHOT-Show in Las Vegas beschlossen wir, uns den gemeinsamen Lebenstraum zu erfüllen, einen Roman zu veröffentlichen. Dies ist das Ergebnis.

Aufgrund des weitreichenden Zugangs zu sicherheitsrelevanten Unterlagen, den ich durch meinen militärischen Dienst bei den Navy SEALs erlangt habe, muss ich alle in den Druck gehenden Texte, fiktive Berichte eingeschlossen, dem Verteidigungsministerium zur Freigabe vorlegen. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, wurde dieses Manuskript beim Office of Prepublication and Security Review des Ministeriums eingereicht und von dieser Stelle ›nach Abänderung freigegeben‹. Ich habe beim Schreiben große Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass keine Einsatztaktiken, Kampftechniken oder interne Prozeduren preisgegeben werden. Es wäre das Letzte, was ich will, dem Feind dadurch einen Vorteil auf dem Schlachtfeld zu verschaffen. Das Prüfverfahren wurde von der amerikanischen Regierung aus gutem Grund eingeführt. Nachdem mir die Ehre zuteilwurde, meine großartige Heimat im Krieg zu verteidigen, bin ich für meine Texte nach wie vor an diese Prozesse gebunden. Die redaktionellen Eingriffe wurden ebenso übernommen wie die Schwärzungen einzelner Textpassagen.

Obwohl es sich um ein fiktives Werk handelt, basiert jede Szene auf Emotionen, die ich im Rahmen meiner mehr als 20-jährigen Einsatzzeit beim Militär durchlebt habe. Diese Emotionen in Verbindung mit den realen Kampferfahrungen verleihen dem Roman einen Realismus, von dem wir hoffen, dass er beim Lesen für besondere Spannung sorgt.

Meine Zeit als SEAL hat unsere Ausgestaltung des Protagonisten natürlich beeinflusst. Trotzdem bin ich nicht James Reece. Er ist talentierter, cleverer und intelligenter, als ich es mir je erhoffen könnte. Obwohl ich nicht James Reece bin, verstehe ich, wie er tickt. Er bringt alle Erfahrungen, das notwendige Training und das Talent mit, um Selbstjustiz zu üben.

In diesem Buch geht es auch um das Thema Kontrolle. Die Konzentration von Befugnissen auf staatlicher Ebene unter dem Vorwand, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, ist ein klar erkennbarer Trend, dem mit Vorsicht zu begegnen ist. Die Aushöhlung von Bürgerrechten in winzigen Schritten zieht den schleichenden Verlust von Freiheit nach sich. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der Einfluss der Regierung Ausmaße angenommen hat, die grundsätzlich jeden angreifbar machen. Jüngste Behauptungen, wonach staatliche Einrichtungen gezielt politische Gegner attackieren, sollten alle Amerikaner unabhängig von ihrer Parteipräferenz aufschrecken. Revisionistische Interpretationen der Verfassung durch opportunistisch gesinnte Politiker und nicht gewählte Richter, deren Neuinterpretation der Bill of Rights die Bürger entmachtet und die Gewalt konzentriert in die Hände des Staates legt, bedrohen die Grundprinzipien der Vereinigten Staaten. Als freies Volk geht die Kontrolle der Staatsmacht uns alle an. Die Achtung der fundamentalen Werte der Freiheit unterscheidet uns von vielen anderen Ländern dieser Welt. Wir sind Bürger, keine Subjekte, und wir sollten wachsam bleiben, damit das so bleibt.

Jack Carr

6. August 2017

Park City, Utah

Prolog

Man muss kein taktisches Genie sein, um sich für den passenden Job zu entscheiden. Menschen sind Gewohnheitstiere, manche noch mehr als andere. Buchhalter und Verwalter klammern sich bei ihrer Arbeit fast schon sklavisch an feste Routinen.

Zwischen dem 1. Juni und dem 1. November zog es Marcus Boykin jedes Jahr zu seiner Residenz in Star Valley Ranch, Wyoming. Star Valley klang für die betuchte Immobilienklientel von der Ost- und Westküste natürlich deutlich attraktiver als die frühere Bezeichnung: Starvation Valley. Es handelte sich um eine Enklave für wohlhabende Auswärtige im ansonsten ländlich geprägten Westen von Wyoming, zwischen den Bergen eingeklemmt wie ein sauber manikürter Finger der Zivilisation. Mehrere Millionen Dollar teure Anwesen verirrten sich in einen Teil der Welt, der ansonsten Ranchern und Cowboys vorbehalten blieb.

An jedem Montag, Mittwoch und Freitag stand Boykin früh auf und stieg in seinen silbernen Mercedes G550 SUV, um die 50 Meilen zur nächstgrößeren Stadt Jackson zurückzulegen. Da sich dort im Sommer fast so viele Bankvorstände und Hedgefonds-Manager aufhielten wie in den Hamptons, war es der einzige Ort in mehreren Stunden Umkreis, in dem man ein Sterne-Menü mit einer 800-Dollar-Flasche Wein bekam. In Jackson konnte er Caffè Latte schlürfen und in Gesellschaft anderer Sommergäste aus New York, Greenwich, Boston und Los Angeles im Wall Street Journal schmökern. Drei Tage pro Woche traf er so mit echten Menschen zusammen, statt ungeduldig darauf zu warten, dass Freunde seine Facebook-Postings mit Likes versahen und kommentierten. Die Dinner im Rendezvous Bistro empfand er als wesentlich schmackhafter und die Unterhaltungen als deutlich stimulierender als seine üblichen Mahlzeiten auf der Sonnenterrasse, mochte das Panorama auch noch so spektakulär sein.

Der U. S. Highway 89 verlief in Nord-Süd-Richtung zwischen den steil aufragenden Felswänden, die an der Grenze zwischen Wyoming und Idaho kratzten. Bewässerte Heuwiesen am Straßenrand wurden von zerklüfteten Dreitausendern im Osten und etwas bescheideneren Anhöhen im Westen überschattet. Unmittelbar nördlich der 7000-Seelen-Gemeinde Alpine führte die Strecke östlich am Snake River entlang und wand sich hinauf in die Berge, die zum Bridger-Teton-Nationalforst gehören. An diesem Punkt der Route grenzten die schartigen Gipfel der Tetons direkt an die Straße, wie hoch aufragende Kreuzfahrtschiffe, die sich an einem gepflasterten Pier aneinanderreihen. Drei Meter neben der bestens in Schuss gehaltenen Asphaltdecke begann eine schroffe Einöde, bevölkert von trophäenwürdigen Großohrhirschen, Rotwild sowie jeder Menge Schwarzbären und dem gelegentlichen Elch. Weil er noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten hatte oder auf die Pirsch gegangen war, entzog es sich Boykins Kenntnis, dass der 15. September, der Beginn der Jagdsaison in Wyomings Region G, in diesem Jahr auf einen Montag fiel.

James Reece war am Nachmittag über einen Pfad auf der anderen Seite der Berge zu seiner Wanderung aufgebrochen. Der Weg begann an einer Straße und führte schnurgerade davon weg, für Fahrzeuge gänzlich unpassierbar. Eine völlig andere Welt, die nichts mit der vermeintlichen ländlichen Idylle zu tun hatte, die Sommergäste wie Boykin auf dem Highway bei einem Blick aus dem Seitenfenster zu erhaschen glaubten. Obwohl sein Truck nur wenige Marschstunden entfernt parkte, hätte Reece genauso gut aus einem anderen Universum stammen können.

Er trug einen leichten Rucksack, hatte eine Gewehrhalterung aus Perlon seitlich an der Sitka-Jagdmontur mit Digicam-Muster festgeschnallt. Die Salomon-Wanderstiefel begleiteten ihn schon seit Jahren bei zahllosen Operationen in aller Welt. Mit dem traditionellen Tarnanzug aus Wolle und dem schweren Gewehr – das typische Scharfschützen-Outfit – wäre er hier im Hinterland von Wyoming aufgefallen wie ein Bergwanderer im Smoking, aber getarnt als Jäger verschmolz er ähnlich selbstverständlich mit der Umgebung wie ein Geschäftsmann im blauen Blazer in der Businessclass eines Flugzeugs. Sein anonymer telefonischer Hinweis zu Elchwilderern, die sich südlich von Jackson herumtrieben, würde die Jagdaufseher der Region fürs Erste auf Trab halten. Sollte er unerwarteterweise trotzdem kontrolliert werden, hatte er einen Jagdschein und die passende Waffe dabei, um als einer der vielen Grünröcke durchzugehen, die an einem der geschäftigsten Tage des Jahres auf die Pirsch gingen.

Er hätte bei Dunkelheit mit einer Stirnleuchte oder dem Nachtsichtgerät herkommen können, doch er wollte sein Ziel vor Einbruch der Dämmerung erreichen. Nicht dass er sich noch den Knöchel verstauchte oder ihm in dieser unwirtlichen Umgebung etwas Schlimmeres zustieß. Er hatte es eilig, endlich loszulegen. Nach einem ausgiebigen Studium des Terrains mithilfe von Karten und Satellitenbildern vor zwei Tagen hatte er es erstmals persönlich in Augenschein genommen. Nicht immer deckte sich die Realität mit den Luftaufnahmen.

Das Gebiet war steil und befand sich in einer Höhenlage. Ganz gleich, wie gut der Körper auf Normalnull funktionierte, 2400 Meter über dem Meeresspiegel herrschten völlig andere Regeln. Er blieb stehen, um zu verschnaufen und etwas Wasser aus dem am Schulterriemen festgeclippten Schlauch zu trinken. Seine Muskeln waren übersäuert und die Lunge gierte nach Sauerstoff. Das Kompressionsshirt fühlte sich klatschnass an, obwohl die Temperaturen um die Zehn-Grad-Marke pendelten. Er zog den Reißverschluss des Oberteils auf, um einen Teil der Körperhitze entweichen zu lassen. Ohne besondere Eile näherte er sich zielstrebig dem Ende seines Marschs. Definitiv nicht das erste Mal, dass er sich für den Abschuss einen Berg hinaufquälen musste.

Er fand seinen Ausguck so vor, wie er ihn zurückgelassen hatte: eine schmale, u-förmige Nische, in den Hang hineinerodiert, die sich nur von vorn betreten ließ. Das Risiko, dass sich ein Jäger oder Wildhüter unbemerkt von hinten anschlich, nachdem er auf Position war, lag bei nahezu null. Sollte jemand von vorn kommen, würde er ihn lange vor Erreichen seines Verstecks wahrnehmen. Von dieser Stelle aus ließ sich ein Sattelpunkt des Highways zwischen zwei steilen Hügeln ideal einsehen. Er selbst hielt sich ganz in der Nähe des zweiten Hügels auf, wenn man in Richtung Jackson fuhr.

Wie eine Höhle ohne Dach schirmte ihn der Ausguck vor neugierigen Blicken von Jägern ab, die das Terrain am Vorabend der Jagdsaison mit dem Fernglas sondierten, und schützte ihn vor dem kalten Wind, wenn sich die Temperaturen nachts dem Gefrierpunkt näherten. Er befreite die Waffe aus der Hülle und legte sie kurz hinter der Öffnung der Nische ab, sodass die Mündung vom Fuß des Hangs aus nicht zu sehen war. Bei dem Gewehr handelte es sich um ein Echols Legend, von einem wahren Meister in Utah gebaut, für dessen handgefertigte Flinten normalerweise mehrere Monate seines Navy-Gehalts draufgegangen wären. Ein Geschenk seines Vaters zum ersten Einsatz nach 9/11 und zugleich dessen kostbarster Besitz. Dad hatte nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst und dem Umsatteln auf den Privatsektor ursprünglich vorgehabt, selbst häufiger damit jagen zu gehen.

Das Gewehr war mit .300 Winchester Magnums geladen. Obwohl es deutlich weniger als die Scharfschützenwaffen wog, die er bei seinen Auslandseinsätzen benutzte, lag die Zielgenauigkeit sogar etwas höher. Statt eines traditionellen Zielfernrohrs für die Jagd verwendete er ein Nightforce NXS 2,5-10 × 32mm, genau wie im Job. Das Paket, auf dem er das Gewehr platziert hatte, diente als Unterbau für den Lauf. Ein kleiner Beanbag stabilisierte den Kolben. So konnte er in Bauchlage dank der Stabilität an beiden Enden das Gewehr so ruhig wie ein Schütze beim Benchrest-Schießen halten. Autos und Trucks krochen den Hügel im Westen hinauf und er visierte sie trocken an, um das Timing zu perfektionieren. Die Touristen und Stadtbewohner, die an diesem Herbstnachmittag den Highway benutzten, ahnten nicht, dass einer der tödlichsten Kämpfer des Landes sie ins Fadenkreuz nahm.

Zufrieden stellte er fest, dass seine Position ihm einen günstigen Schusswinkel auf das Ziel verschaffte. Er zog sich in den hinteren Teil seiner Enklave zurück und erhitzte Wasser mit dem Campingkocher aus dem Rucksack, um das Tiefkühlgericht fürs Abendessen aufzuwärmen. Als die Sonne hinter dem Horizont versank und die Temperatur deutlich nach unten ging, krabbelte er in den Schlafsack. Er musste an sein kleines Mädchen denken, wie sich die Tränen in den von blonden Locken eingerahmten blauen Augen sammelten, als Daddy sich zu seinem letzten Einsatz verabschiedete. Noch einmal sechs Monate, dann war endgültig Schluss. Das war fest versprochen. Er sah ihr Gesicht vor sich, wie es sich für einen letzten Gruß gegen die Scheibe auf dem Besucherdeck presste, während er ins Flugzeug einstieg. Die schwierigsten Momente bei einem Einsatz waren die ersten paar Wochen direkt nach dem Abschied und die letzten, wenn man der Rückkehr entgegenfieberte. Dass es sich um die letzte Mission handelte, ließ das Licht am Ende des Tunnels deutlich heller erstrahlen. Endlich ausbrechen aus dieser Trainieren/Ausrücken/Trainieren-Dauerschleife, die ihn und seine SEAL-Brüder seit über einem Jahrzehnt quälte.

Unter dem spektakulären Sternenhimmel, dessen Magie ein Großstädter nie begreifen würde, lag er zusammengerollt im Schlafsack und schlief tiefer als seit Wochen. Diesmal drohte er nicht mit der Erkenntnis aufzuwachen, dass der Albtraum real war. Tastete nicht quer über die Matratze nach einer Frau, die dort gar nicht lag. Hörte nicht das sanfte Schluchzen einer Tochter, die nie mehr in sein Bett kriechen würde, um sich vor dem schwarzen Mann beschützen zu lassen.

Als der Alarm seiner Uhr um 0500 losging, war er bereits wach und starrte auf das Orion-Sternbild. Ein Schluck aus der Wasserflasche und ein Energieriegel mussten als Frühstück genügen. Er bezog Posten hinter dem Gewehr und wartete geduldig auf den Sonnenaufgang.

Marcus Boykin gehörte wie die meisten Manager aus dem Finanzbereich zu den Frühaufstehern. Entweder saß man morgens zeitig am Schreibtisch im Büro oder man schlief aus und gehörte zu den Verlierern. Er verfolgte den Wetterbericht auf dem iPhone, bevor er in eine Designerjeans und italienische Halbschuhe aus hellbraunem Leder schlüpfte. Er trug einen Patagonia-Fleecepullover über dem pinken Lacoste-Polohemd und setzte ein Yankees-Cap auf, um die kahle Stelle vor der Kellnerin Mitte 20 zu verbergen, die er aktuell ins Bett bekommen wollte. Für ihn war sie nicht Sarah mit dem Abschluss in Umwelttechnik, die sich mit diesem Job Geld für ihr Master-Studium dazuverdiente, sondern nur ›die Kellnerin‹. Bisher hatte er es nicht geschafft, ihr an die Wäsche zu gehen, aber sie war chronisch pleite und er stinkreich. Früher oder später schaffte er es, sie besoffen zu machen und es auszunutzen. Das Leben in der Einöde schränkte die Zahl der potenziellen Hauptgewinne stark ein. Um seine Chancen zu steigern, musste er sich irgendwann wohl doch eine Eigentumswohnung in der Stadt leisten.

Er schnappte sich die Schlüssel vom Küchentresen aus Marmor und drückte auf den Knopf der Fernbedienung. Draußen war es schweinekalt und Boykin wollte einen kuschelig warmen SUV mit laufender Sitzheizung vorfinden, wenn er in ihm gleich mit dem To-go-Kaffeebecher einstieg. Er öffnete die massive Haustür aus Eiche und zog sein Smartphone aus der Tasche, um eine Aufnahme des malerischen Sonnenaufgangs zu posten, bevor er hinter dem Hügel kein Netz mehr hatte. Die Abdeckung wurde erst wieder besser, wenn man Jackson erreichte. Im Prinzip ließ ihn die Aussicht kalt. Was ihn betraf, wiederholte sich das Schauspiel jeden Tag aufs Neue, aber er genoss die Vorstellung, seine Freunde an den Küsten eifersüchtig zu machen. Er rollte mit dem Geländewagen die Bergstraße zum U. S. Highway 89 entlang und überlegte, mit welchem Anmachspruch er heute bei der Kellnerin landen könnte.

Kampf ist eine Überforderung aller Sinne, totales Chaos. Das gilt vor allem, wenn man das Kommando führt. Ohrenbetäubender Lärm, sowohl vom eintreffenden als auch vom abgehenden Beschuss. Der Überdruck der Gewehrmündungen und Explosionen erschüttert den Körper bis ins Mark. Männer schreien, nicht aus Furcht oder Panik, sondern um den Krach zu übertönen. Sonden schwirren durch die Luft, Raketen schießen vorbei, aufgewirbelter Staub von Detonationen und Projektileinschlägen hüllt die unmittelbare Umgebung ein. Der Funkverkehr im Ohr mischt sich darunter und verlangt bewusste Reaktionen, weshalb sich ein Großteil des Handelns ins Unterbewusstsein verlagert. Ziele identifizieren, zielen, feuern, Magazine wechseln – rein instinktive Handlungen, ähnlich fordernd wie das gleichzeitige Steuern eines Autos, Schalten, Gasgeben und Bremsen, während man parallel mit dem Handy am Ohr telefoniert. Als Anführer muss man sich noch stärker von Ablenkungen frei machen und über das eigene Überleben hinausdenken. Man muss Feuerkraft und Bewegungen des Gesamtapparats dirigieren und der Verlockung widerstehen, sich auf die eigenen Aktionen zu beschränken. Das Ganze ist eine psychisch-taktile Kette ständiger Entscheidungen.

Dies war das genaue Gegenteil von Chaos. Die Sinne von Reece registrierten nichts Ungewöhnliches, nichts als das gleichmäßige Schaukeln der Espen im Wind und die entspannende Melodie der Natur, die sich im Glanz des Sonnenaufgangs in den Bergen auf einen weiteren Tag einrichtete. Es gab keine Funkverbindung, niemanden, mit dem er kommunizieren musste, nur das gelegentliche Motorengeräusch eines Autos oder Pick-ups auf dem Asphalt des Highways. Die Entfernung zur Senke in der Straße belief sich auf exakt 571,5 Meter, was einer Absenkung von 2,18 Metern entsprach, der die Kugel von der Mündung bis zum Ziel ausgesetzt war. Das Fernrohr war auf 100 Yard justiert, weshalb er die Differenz manuell ausgleichen musste. 1,4 Mildot-Punkte im Absehen, keine Vorhaltezeit. Also konnte er das Zentrum des Fadenkreuzes direkt auf das Ziel richten. Nutz im Kampf jeden Vorteil, der sich bietet. Heute blies nur eine leichte Brise, ein klarer Vorteil. Abschüsse bei starken Böen waren vor allem in den Bergen knifflig, selbst für einen Profi. Der Kestrel wies eine Windgeschwindigkeit von zwei Meilen pro Stunde von links aus, ein sogenannter Vollwind, der 15 Zentimetern Abweichung entsprach. Da sich das jederzeit ändern konnte, entschied er sich für eine Anpassung um weitere 0,3 Mildots.

Er hörte das Reifengeräusch schon, bevor die Halogenscheinwerfer des SUVs beim Erklimmen der Anhöhe sichtbar wurden. Der silberne Mercedes gehörte eindeutig Boykin. Glücklicherweise fuhr der Kerl keinen F-150 wie jeder Zweite hier. Das Fahrzeug hielt genau auf ihn zu, was das Zielen erleichterte, aber die hohe Geschwindigkeit machte den Vorteil zunichte. Ihm blieb kaum Zeit, sich über die erfolgreiche Planung zu freuen. Er verfolgte den Geländewagen mit dem Visier, während er den Hügel hinunterrollte, genau wie bei den beiden Übungsobjekten vorher. Er holte tief Luft, hielt sie an und atmete aus, um seine natürliche Atempause nach dem Entleeren der Lunge zu ermitteln, ehe er sich voll auf die bevorstehende Aufgabe konzentrierte. Dabei geriet die Zieloptik leicht ins Wanken. Selbst mit der stabilen Unterlage bekam man es nie so ruhig hin wie im Film. Der Mercedes erreichte die flachste Stelle und schien für einen Moment fast stehen zu bleiben. Auf diese Entfernung konnte er den Fahrer nicht erkennen, schon gar nicht bei diesen Lichtverhältnissen. Er peilte einen Punkt leicht rechts vom Zentrum der Windschutzscheibe an und erhöhte langsam den Druck auf den Abzug.

Seine Ohren hörten den Schuss, doch sein Gehirn registrierte das Geräusch kaum. Die sinnliche Wahrnehmung des Rückstoßes beschränkte sich auf das leicht verwischte Sichtfeld des Fernrohrs, als das Gewehr nach oben gerissen wurde. Obwohl er unzählige Männer in den schrecklichsten Winkeln der Welt umgelegt hatte, schaltete sein Körper in den archaischen ›Kampf oder Flucht‹-Modus um. Adrenalin schoss wie eine Dosis Heroin durch seinen Körper. Er hatte in der Vergangenheit zahlreiche Opfer mit dem Segen seines Vaterlands getötet, doch diesmal kam das Abdrücken einem Verstoß gegen die heiligste Regel der Gesellschaft gleich: Er hatte soeben einen Mord begangen.

Das gewaltige Projektil war ein Barnes Triple-Shock aus solidem Kupfer, so raffiniert konstruiert, dass die Hohlspitze bei Kontakt mit dem Ziel nach vier Seiten aufpilzte wie eine tödliche Blume. Auf diese Weise richtete sie selbst bei großen Wildtieren massiven Schaden an, was dermaßen gut funktionierte, dass Special-Ops sie bald als Instrument für den globalen Krieg gegen den Terror entdeckten. Als das Geschoss die fast senkrecht eingelassene Glasscheibe des Mercedes touchierte, entfaltete sich die Spitze und formte einen fast acht Millimeter breiten Zylinder aus Kupfer. Trotzdem bewegte sie sich schneller als die meisten Pistolenkugeln direkt nach Verlassen der Mündung. Sie traf auf Boykins Nasenrücken und setzte ihre leicht nach unten geneigte Flugbahn fort, wobei sie Knorpelgewebe, Hirnmasse und Knochen in Brei verwandelte. Nach dem Durchschlagen des ersten Rückenwirbels trat sie hinten am Hals aus, bot optisch ein ähnliches Bild wie beim Eindringen, klatschte in das lederne Kopfteil der Rückenlehne und beendete ihren Flug im Hartschaum des Rücksitzes.

Der Bordcomputer des Mercedes war auf knapp 100 km/h eingestellt, als das Gehirn des Fahrers aufhörte, Befehle an den Körper zu übermitteln. Seine Gliedmaßen zuckten und bebten, wie es bei den meisten Tieren und Menschen nach Schädigung des zentralen Nervensystems der Fall ist, doch die deutsche Ingenieurskunst ließ den SUV weiter die Anhöhe hinaufrollen, als wäre nichts geschehen. Als das Fahrzeug an Reece’ Position vorbeirauschte, glaubte er zunächst an einen Fehlschuss. Doch dann erklomm das Gefährt den steilen Hügel und Boykins lebloser Körper kippte trotz Gurt nach vorn und sorgte dafür, dass das Steuerrad scharf nach links gerissen wurde. Die Kombination aus Vorwärtsimpuls, Böschung und hohem Schwerpunkt des Geländewagens führte zu einem Dominoeffekt. Der Mercedes schlitterte auf einem Vorderrad über den Straßenbelag, überschlug sich und rutschte den Abhang hinunter. Das Geräusch von Gummi und Stahl im Clinch mit Asphalt und Felsen war ohrenbetäubend laut, doch nur ein Mann hörte es.

Reece lächelte zum ersten Mal seit vielen Monaten und holte einen Ziploc-Beutel aus der Innentasche der Jacke. Darin befand sich ein gefalteter Zettel mit einer Wachsmalzeichnung auf der einen Seite und einer Liste von Namen auf der anderen. Mit einem Bleistiftstummel strich er den obersten Namen durch und verstaute ihn wieder an der Brust.

TEIL EINS: DER HINTERHALT

1

Drei Monate früher

Provinz Chost, Afghanistan

0200 Ortszeit

Keinem der Jungs von der Bodentruppe hatte der Einsatz sonderlich geschmeckt. Jetzt, weniger als einen Kilometer vom Ziel entfernt, hatten sie ihr ungutes Bauchgefühl verdrängt und konzentrierten sich ausschließlich auf die tödliche Herausforderung, die vor ihnen lag. Lieutenant Commander James Reece schaute auf das am Gewehrschaft befestigte GPS-Display und sondierte das Terrain. Er forderte seine Leute zu einer Erkundung der direkten Umgebung auf. Die Scharfschützen bezogen bereits Stellungen in erhöhter Position, während die Teamführer vor dem entscheidenden Vorstoß einen letzten kurzen Bericht bei Reece ablieferten. Trotz all der Technik, die ihnen zur Verfügung stand, konnte binnen eines Herzschlags alles scheitern. Der Feind war gerissen und enorm anpassungsfähig. Nach 16 Jahren Krieg klang das afghanische Sprichwort »Die Amerikaner haben zwar mehr Uhren, aber wir haben mehr Zeit« deutlich überzeugender als zu Beginn der Auseinandersetzung.

»Was meinst du, Reece?«, fragte ein Bär von einem Mann, der in seiner Montur mit braun-beigem AOR1-Tarnmuster, Körperpanzerung und Ops-Core-Halbschalenhelm mit fest montiertem Nachtsichtgerät wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte.

Reece musterte seinen erfahrensten Teamleiter. Das hellgrüne Leuchten des NOD enthüllte ein leichtes Lächeln hinter dem dichten Bartwuchs, das die professionelle Zuversicht eines Special-Operations-Soldaten verriet.

»Es ist direkt hinter dem Hügel«, antwortete Reece. »Die Predator-Drohnen zeigen keine Bewegung. Keine Wachen. Nichts.«

Sein Truppenchef nickte.

»Alles klar, Jungs!«, wandte er sich an die übrigen vier Mitglieder ihres Zirkels. »Ziehen wir’s durch.«

Sie standen entschlossen auf und bewegten sich mit der Gelassenheit von Männern, die sich im Chaos wohlfühlten. Sie erklommen die schroffe Kammlinie, um ihre Teams in Position zu bringen, bevor sie zum Ziel vordrangen.

Das geht zu einfach. Ach was, denk nicht zu viel nach. Es ist eine Mission wie jede andere. Warum dann dieses komische Gefühl? Vielleicht liegt’s an den Kopfschmerzen.

Die Migräne quälte Reece schon seit Monaten. Irgendwann hatte er beschlossen, dem Balboa Naval Medical Center einen Besuch abzustatten, um sich durchchecken zu lassen. Bisher hatte er von den Ärzten keine Rückmeldung bekommen.

Möglich, dass du es dir nur einbildest. Möglich, dass mehr dahintersteckt.

Reece wusste aus Erfahrung: Wenn sich für ihn etwas nicht richtig anfühlte, bestätigte sich der Eindruck in der Regel. Dieser Instinkt hatte ihm und seinen Männern mehr als einmal das Leben gerettet.

Bei dieser Mission passte alles ein bisschen zu gut zusammen – die Aufklärungsbilder der Drohnen, die zeitversetzt eingeleitete Sondierung des Terrains, der aktuelle Zustand des Gebiets. Und warum bekamen sie so viel Druck von oben, sich ausgerechnet um dieses Ziel zu kümmern? Wann hatte sich zum letzten Mal jemand aus der höchsten Kommandoebene in ihre taktischen Planungen eingemischt? Irgendwas passte hier nicht zusammen. Kann sein, dass es gar nichts ist. Kann sein, dass es nur an deinen Kopfschmerzen liegt. Oder an deiner Paranoia. Wirst du langsam zu alt für diesen Scheiß? Konzentrier dich, Reece.

Nicht die erste Gelegenheit, bei der sie ein Ziel angriffen, das sie als potenziellen Hinterhalt einstuften. In einer ähnlich gelagerten früheren Situation, bei der sowohl menschliche als auch technische Quellen auf einen Hinterhalt hindeuteten, hatte Reece die Tür mit einem thermobarischen AT-4 zerfetzen lassen, unterstützt durch ein paar 105-mm-Haubitzen eines AC-130 Gunship. Diesmal wurden ihnen die taktischen Vorgaben erstmals von Vorgesetzten diktiert. Von Männern, die selbst nicht vor Ort waren. Bleib mit den Gedanken bei der Mission, Reece.

Ein weiterer Check beim Tactical Operations Center, einem vorgelagerten Kommandoposten, den sie intern ebenfalls TOC nannten, und ein kurzer Blick auf den Livefeed der Drohne. Nichts. Eine letzte Überprüfung durch die Sniper-Teams. Keine beweglichen Ziele.

Reece schielte zum militärischen Aufgebot auf dem Bergrücken. Ein kurzer Blick durchs NOD verriet ihm, dass die Angriffsteams bereit waren. Die Sniper entdeckte er nirgends, was ihm ein zufriedenes Lächeln entlockte. Die Jungs sind halt die besten.

Seine Hand wanderte zum Funkgerät. Er öffnete den Mund, um den Befehl für den Vorstoß zu geben.

Dann wurde alles dunkel.

Die Explosion schleuderte Reece fast zehn Meter nach hinten und riss ihm den Helm vom Kopf. Das komplette militärische Arsenal auf dem Hügel vor ihm verwandelte sich in eine Orgie aus Gewalt und Tod. Teamkameraden, Freunde, Ehemänner und Väter, eben noch die Krone der weltweiten Special Forces, verschwanden in Sekundenbruchteilen von der taktischen Bühne.

Reece bekam gar nicht mit, dass ihn die Wucht des Aufpralls kurzfristig ohnmächtig werden ließ. Der Schmerz in seinem Schädel holte ihn in die Schlacht zurück, bevor sich der Staub verzog und die Erschütterungen der Explosion die Hügelkuppen verließen.

Der Profi in ihm vergewisserte sich zuallererst, dass er seine Waffe noch bei sich trug. Check. Als Nächstes arbeitete er im Kopf eine Liste seiner Körperfunktionen ab. Alles schien noch an der richtigen Stelle zu sein und zu funktionieren.

Sie haben es gewusst. Woher? Später, Reece. Kümmer dich erst mal drum, in eine bessere Kampfposition zu kommen.

Sein Kopf ruckte auf der Suche nach Helm und Headset vergeblich hin und her. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Finsternis. Die Hände wühlten hektisch herum, bis sie im aufgewirbelten Dreck fündig wurden.

Na also. Nein, Moment, zu schwer, um mein Helm zu sein. Muss dran liegen, dass es nicht mein Helm ist, sondern der von jemand anders. Allerdings steckt sein Kopf noch drin.

Selbst im Dunkeln gab es für Reece keinen Zweifel, dass er in das Gesicht seines langjährigen Freundes und Teamkameraden blickte. Das Gesicht des Bären mit dem dichten Bart und dem zuversichtlichen Lächeln. Er war bei der Explosion enthauptet worden. Reece konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen aus den Augen liefen. Rasch wischte er sie weg. Konzentrier dich. Trauern kannst du später. Nutz alle technischen und taktischen Vorteile aus. Check.

Reece löste den Kinnriemen und ließ den Skalp des Freundes auf den Boden fallen, bevor er den Helm selbst aufsetzte. Erstaunlicherweise funktionierte das Nachtsichtgerät noch. Sein Funker lag einige Meter weiter mit dem Gesicht auf dem Boden. Die unnatürliche Körperhaltung verriet ihm, dass der Mann nicht mehr lebte. Er spurtete hinüber, drehte ihn auf den Rücken und prüfte Atmung und Puls, obwohl ihm klar war, dass die Splitter, die aus dem rechten Augapfel und der Stirn ragten, ihn sofort getötet hatten.

Er riss ihm den Funkhelm mit integriertem Multiband-Inter-/Intra-Team-Empfänger und Mikro ab, um sich mit dem Support-Flugzeug und dem TOC in Verbindung zu setzen.

Auf dem Hügel rührte sich nichts. Das Schwert des Todes schien ihre komplette Streitmacht erdolcht zu haben. Reece hörte Schritte hinter sich und wirbelte mit erhobener, entsicherter Waffe und aktiviertem Infrarot-Laser herum, um nach Bedrohungen Ausschau zu halten. Er brachte den M4-Karabiner mit 5,56er-Kaliber in Anschlag, als er feststellte, dass drei seiner Operators aus den zurückgezogenen Sicherheitspositionen zu ihm gerannt kamen.

Die Versuchung, den Hügel raufzustürmen, war groß, aber ein weiterer Gedanke drängte sich bei allen Überlebenden in den Vordergrund: Gewinnt diesen Kampf!

Seine Rear-Security-Leute bezogen wortlos neue Positionen, um ihren Anführer abzuschirmen.

Reece verdrängte das Gemetzel und die Leichen aus seinen Gedanken. Es wurde Zeit, eine Reaktion zu zeigen.

»SPOOKY Four Seven, hier SPARTAN Zero One«, funkte Reece, während er ihre Position mit dem Koordinatensystem der Referenzkarte am Handgelenk abglich. »Freigabe zum Feuern auf Gebäude D3. Setzt eure 105er ein, um es plattzumachen.« Vergleichbar mit dem Wrist Coach, den ein Quarterback beim Football trug, um darauf während des Matchs taktische Spielzüge ablesen zu können, lieferte ihm das GRG eine Luftaufnahme des Zielgebiets, um Vorstöße mit den übrigen Streitkräften abzustimmen, die sich allesamt auf dasselbe Koordinatensystem stützten.

»Empfange Sie deutlich, Zero One. Bin sechs Mikes entfernt.« Das AC-130-Gunship hatte sich auf eine Distanz von sechs Kilometern – etwa zehn Flugminuten – zurückgezogen, um ihren Vorstoß in der Stille der afghanischen Nacht nicht zu verraten.

»Break. RAZOR Two Four, RAZOR Two Four. Benötige schnellen Eingreifverband und medizinische Unterstützung an meiner Position, ECHO Three. Haltet euch von den Hügeln fern. Mehrere Verwundete durch vergrabene Sprengfallen.« Todesopfer wurden im Funkverkehr generell nicht thematisiert.

»Roger, Zero One. Kommen rein für Extraktion unter Beschuss auf Planquadrat ECHO Three. Sind zehn Mikes entfernt.« Beim QRF, der schnellen Eingreiftruppe, handelte es sich um zwei CH-47-Helis, bemannt mit jeweils 15 Rangern.

»MAKO«, sprach Reece ins Mikro. »Liefert der Pred-Feed was Neues?«

»Nichts, Zero One. Keine Bewegung am Ziel.«

»Copy.«

Reece wandte sich den vier überlebenden Operators zu.

»Identifizieren.«

»Hey, Sir. Ich bin’s, Boozer. Ich hab Jonesey und Mike bei mir. Was zum Teufel war das gerade?«

»Hinterhalt. Diese Bastarde wussten, dass wir kommen. Die Luftunterstützung ist in etwa fünf Minuten hier, die QRFs brauchen etwas länger.«

»Sir, wir haben denen vorher gesagt, dass es ein Hinterhalt sein könnte. Was für eine Scheiße. Mit so was hätt ich allerdings nie gerechnet. Lebt da oben noch jemand?«

»Keine Ahnung. Finden wir’s raus.«

»Roger, Sir. Aber wir sollten aufpassen. Die könnten da Hunderte von Sprengfallen und Minen verbuddelt haben.«

»Jonesey, Sie und Mike bleiben hier, um die Vögel reinzuwinken. Boozer und ich suchen nach Überlebenden. Boozer, folgen Sie mir in etwa zehn Metern Abstand. Treten Sie genau dahin, wo ich hintrete. Wir arbeiten uns langsam vor. TOC sagt, auf der anderen Seite vom Hügel rührt sich nichts. Trotzdem sollten wir wachsam bleiben.«

»Alles klar, Reece.«

»Gehen wir.«

Gemeinsam erklommen sie den Hügel, obwohl es sich unter diesen Voraussetzungen eher um einen Berg handelte. Mit rund 20 Pfund Ausrüstung und Körperpanzerung einen steilen Felsgrat zu überwinden, ist ein hartes Stück Arbeit. Erst recht, wenn man sich durch mutmaßlich vermintes Gelände vorarbeitet.

»SPOOKY, wir rücken von GRG ECHO Three vor zu ECHO Eight. Alles auf der Nordseite des Hügels ist für euch zum Abschuss freigegeben.«

»Roger, Zero One. Da rührt sich nach wie vor nichts.«

Sehr seltsam.

»Verstanden.«

Reece und Boozer quälten sich den Hügel hinauf. Der Geruch von Kordit, Blut, Staub und Tod hing schwer in der Luft. Bewegung an der linken Flanke.

»B, da rührt sich was. Nichts überstürzen. Weiterhin langsam folgen«, flüsterte Reece ins Funkgerät. Boozer bestätigte, indem er zweimal kurz den Mikrotaster drückte und wieder losließ. Ein stummes Okay.

Reece näherte sich der Quelle der Bewegung. Ein leises Stöhnen. Donny Mitchell, eins der jüngsten Mitglieder seines Teams, lag im Sterben zwischen den Felsen des östlichen Afghanistans. Sein Körper war von der Hüfte abwärts abgetrennt. Zitternd streckte er eine Hand nach Reece aus.

»Haben wir Sie erwischt, Sir?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Ich hab noch mein Gewehr.«

»Ja, das hast du, Kumpel. Das hast du. Die Luftunterstützung ist unterwegs. Wir werden diese Schweine kriegen.« Reece setzte sich neben Donny und wiegte seinen Kopf sanft in den Händen. Als die erste 105er in die Anlage einschlug, erhaschte Reece den Anflug eines seligen Lächelns auf Donnys Lippen, während er das Walhall erreichte.

Reece schaute hoch. Boozer arbeitete sich langsam auf der mit Geröll übersäten Hügelflanke voran. Hinter ihm hörte er zunächst nur die Rotoren der beiden CH-47, dann sah er, wie die tiefschwarz lackierten Hubschrauber tiefer gingen, eingewiesen von Jonesey und Mike.

Wir werden die Anlage aus der Luft bombardieren und dann mit den Rangers vorrücken, um eine Wirkungsaufklärung und vollständige Durchsuchung vorzunehmen.

Erst in diesem Moment wurde ihm die gesamte Tragweite der Geschehnisse bewusst.

Ich habe mein Team verloren. Ich trage die Verantwortung.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht schob sich ein Schleier vor seine Augen. Dabei ahnte er nicht, dass alles noch viel schlimmer werden würde.

2

Bagram Air Base

Bagram, Afghanistan

Reece wachte auf dem Rücken liegend mit verschwommener Sicht auf. Er blinzelte mehrmals, um besser sehen zu können und gegen das Pochen im Schädel anzukämpfen.

Wo bin ich?

Langsam drehte er den Kopf, um die Schleier zu vertreiben. Die Augen fokussierten sich auf eine Kanüle im Arm. Ihm wurde bewusst, dass etwas auf Mund und Nase drückte.

Infusion. Sauerstoffmaske. Krankenhaus.

Er wollte sich auf die Ellbogen stützen, doch ein betäubendes Ziehen hinter der Stirn ließ ihn sofort davon Abstand nehmen.

»Reece … Reece … ganz ruhig, Kumpel. Mach langsam.«

Er erkannte die Stimme sofort. Boozer.

»Doc, er will aufstehen!«, brüllte der Kamerad in den Korridor hinaus.

Mit den primitiven Feldlazaretten von früher hatte dieses Krankenhaus kaum etwas gemeinsam. Hätte man nicht gewusst, dass man sich noch in Afghanistan aufhielt, wäre man eher davon ausgegangen, in einem Klinikum der Navy in Bethesda oder Balboa gelandet zu sein. Den einzigen Hinweis, dass man sich mitten im Kriegsgebiet aufhielt, lieferte das allgegenwärtige Brummen des Dieselgenerators, der in diesen Breitengraden rund um die Uhr für das Betreiben der Klimaanlage herhalten musste.

Ich versteh dich gut, Kumpel. Ich würd auch brummen, wenn ich seit über 15 Jahren hier schuften müsste.

Reece zog die Atemmaske vom Gesicht und sah den Freund an.

Boozer trug noch Flecktarn, war dreckig und verschwitzt. Verkrustete weiße Ränder vom Schweiß der nächtlichen Mission rangen mit dem Staub Afghanistans um die Vorherrschaft. Ansonsten schien er in guter Verfassung zu sein. Boozer gehörte zu den Jungs, die in der Regel nicht mal einen Kratzer kassierten. Körperpanzerung und Waffe hatte er abgelegt, aber Reece kannte ihn. Garantiert versteckte er irgendwo griffbereit eine Pistole.

»Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen?«

Boozer holte tief Luft und bemühte sich, die Traurigkeit und einen Anflug von Mitleid aus seiner Miene zu verbannen. Er scheiterte kläglich.

»Reece, NCIS ist schon vor Ort. Sie haben mich aufgefordert, dir nichts zu sagen. Scheiß drauf, ich werd dir trotzdem erzählen, was hier läuft.«

NCIS?

»Es ist übel, Reece«, fuhr Boozer fort. »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«

Reece kniff die Augen zusammen und durchwühlte sein Kurzzeitgedächtnis.

»Wir standen oben auf dem Hügel und warteten auf den Luftangriff unserer Jungs. QRF und CASEVAC waren unterwegs …« Seine Stimme wurde wacklig. »Donnys Kopf … auf meinem Schoß.«

»Jawohl«, bestätigte Boozer. »Ganz genau. Und direkt danach flog das komplette Tal in die Luft. Sie haben uns in eine Falle gelockt, Reece. So clever sind sie bisher noch nie vorgegangen. Sie wussten ganz genau, was wir nach der Sprengung auf dem Hügel als Nächstes machen wollten. Sie wussten, dass wir die Anlage in die Luft jagen wollten und dann die Kavallerie rufen, um Tote und Verletzte zu bergen. Der komplette Untergrund dieses Tals, unsere Position auf dem Spielbrett, war vermint und mit Sprengladungen präpariert. Sie wussten sogar, wann unsere Helis landeten, und haben sie geröstet. Dash One hat die Rangers abgeladen und flog weg. Als Dash Two in den Sinkflug überging, haben sie dann alles gesprengt. Den zweiten Heli und sämtliche Rangers. Sie haben alle erwischt.«

Reece ließ Boozer keine Sekunde aus den Augen.

»Jonesey und Mike?«, fragte er, obwohl er die Antwort längst kannte.

Boozer schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Reece. Ich wollte es dir sagen, bevor die Typen vom NCIS hier reinplatzen. Ich hab ein mieses Gefühl, was diese Clowns betrifft. Das Merkwürdigste ist, dass es bei ihren Fragen nicht um die Mission ging. Sondern um dich.«

Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf Reece’ Gesicht breit, doch er verdrängte ihn sofort. »Um mich?«

»Ich glaube, die suchen nach einem Bauernopfer. Jedenfalls war das mein Eindruck, Reece. Bleib stark. Du hast nichts Falsches getan. Die da oben haben uns diese Mission aufgedrückt. Die haben die Taktik vorgegeben. Diese abgehobenen Vögel sollte man sich vorknöpfen. Sitzen im sicheren Hauptquartier und schicken uns in den Tod. Fick dich doch ins Knie!«

Boozer besaß ein Talent, in jeder Situation die passenden Worte zu finden. Er hielt nichts davon, alles in Watte zu packen, sondern nannte die Dinge ehrlich beim Namen. Als Teamleiter erfüllte er alle Erwartungen von Reece. Er fand, das waren sie den Truppen und der Befehlskette schuldig. Die Dinge immer ehrlich beim Namen nennen. So baute man als Anführer Vertrauen auf. Ohne Vertrauen konnte man direkt einpacken.

Deine Männer haben dir vertraut, Reece. Jetzt sind sie tot. Denk nach. Hier läuft was verkehrt. Und zwar total verkehrt.

3

»Lieutenant Commander Reece«, unterbrach eine Stimme vom Flur her ihr Gespräch. Es klang mehr nach Feststellung als nach Frage.

Boozer wechselte einen Blick mit Reece, der seinem Commander verriet: Das ist das Arschloch, von dem ich eben geredet habe.

»Der bin ich«, antwortete Reece und richtete sich auf dem Krankenbett auf.

»Hi, ich bin Special Agent Robert Bridger vom NCIS.« Der andere betrat das Zimmer, nickte Boozer kurz zu und hielt Reece dabei den Ausweis unter die Nase.

Diese Typen lieben es, sich auszuweisen. Reece fragte sich, ob sie wohl wussten, dass in den Baracken die Story kursierte, dass jeder, der nicht das Zeug fürs FBI oder die CIA hatte und nicht taff genug war, um Streife zu laufen, am Ende beim NCIS landete, um 18-jährigen Rekruten das Leben zur Hölle zu machen, die bei den monatlichen Drogentests der Navy erwischt wurden.

Selbst die Bezeichnung ihrer Behörde war irreführend. Obwohl das Kürzel mit einem N für Naval anfing, gehörte der NCIS offiziell gar nicht zur Navy. Vielmehr handelte es sich um eine Bundesbehörde, in der zivile Spezialagenten sich mit der Untersuchung von militärischen Zwischenfällen beschäftigten. Niemand mochte diese Kerle.

Boozer stand auf. Obwohl er eindeutig mit Reece redete, starrte er Agent Bridger direkt in die Augen, während er sprach: »Bis später, Sir. Ich bin in der Nähe, falls Sie mich brauchen.« Er verschwand im Flur und ließ den Ermittler mit seinem Boss allein.

Reece schwang die Beine über die Bettkante und kämpfte dabei ums Gleichgewicht. Er schielte auf seinen Arm, riss den Infusionsschlauch ab und stand auf, bevor er dem schmächtigeren Gegenüber die Hand hinstreckte. Agent Bridger wirkte eigentlich ganz freundlich und erledigte bloß seinen Job. Der NCIS-Mann lächelte und schüttelte sie.

Braver Cop.

Bridger trug die ›Uniform‹ derjenigen, die in einem Kriegsgebiet nicht wirklich Uniform trugen: gebügelte olivfarbene Hosen mit dem vorgeschriebenen grünen Anzughemd im Safaristil samt Schulterklappen und gewienerten beigen Kampfstiefeln. Reece hatte sich schon immer gefragt, wofür die Schulterklappen da waren. Die .40 SIG Sauer P229 wurde demonstrativ in einem abgewetzten Lederholster am Gürtel zur Schau gestellt. Vermutlich rührten die schadhaften Stellen daher, dass er mehrere Male am Tag vom Schreibtisch aufstand, um sich frischen Kaffee zu holen.

»Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, Commander, möchten wir Ihnen gern einige Fragen zum Ablauf der Mission stellen. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis, dass wir die Angelegenheit so schnell wie möglich abhaken und Sie zurück zu Ihren Männern bringen wollen.«

Zu dem, was von ihnen übrig ist, dachte Reece.

»Sie sind ziemlich schnell aufgetaucht, oder?«, fragte er laut und sah sich im Krankenzimmer um.

»Nun ja, das ist eine bedeutende Episode, Sir. Wir wollen Washington so bald wie möglich Antworten liefern.«

Reece nickte und wappnete sich innerlich dafür, die Schuld auf sich zu nehmen, die tatsächlich bei ihm lag. Seine Philosophie lautete, dass man als Vorgesetzter Erfolge teilte, Fehlschläge jedoch komplett auf die eigene Kappe nahm. Wenn ein Plan aufging, sorgte man dafür, dass die Jungs von den Lorbeeren etwas abbekamen. Sie hatten es am meisten verdient. Hier ging es jedoch um völliges Versagen. Sein Versagen.

»Was dagegen, wenn ich mich umziehe?«, fragte er.

»Kein Problem, Commander. Ich warte draußen.«

Reece holte tief Luft und inspizierte die Umgebung. Ganz und gar nicht das, was man in Afghanistan erwartete. Modern und steril, ein krasser Kontrast zur Welt draußen vor der Tür. Allein mit seinen Gedanken atmete er entspannt ein und aus und suchte nach seiner Kleidung: Einsatz-Cam, durchgeschwitzt und voller dunkelroter Flecken. Er griff nach dem Crye-Pro-Oberteil und rieb das blutgetränkte Material zwischen den Fingern, während er überlegte, von welchem seiner Männer das Blut stammen mochte.

Reece wusste, falls etwas mit ihm absolut nicht in Ordnung gewesen wäre, hätten sie ihn in den OP gekarrt. Allerdings befand dieser sich in einem anderen Flügel des Krankenhauses hinter einer weiteren Reihe von Schwingtüren, stets vorbereitet auf die nächste Massentötung, was bei der Bekämpfung der Aufständischen viel zu häufig vorkam. Er vermisste Waffen und Schutzweste. Boozer dürfte beides mitgenommen haben.

»Fertig«, rief er und ging in den Flur.

»Okay«, kam die Antwort des NCIS-Typen.

Diesmal war er nicht allein, sondern in Gesellschaft eines groß gewachsenen, teilweise uniformierten Navy-Waffenmeisters. Die Beretta 92F des Chiefs steckte in einem transparenten Nylonholster. Aus welchem Grund die klobige 9-Millimeter-Pistole den Colt 1911A1 .45 als offizielle Dienstwaffe des US-Militärs abgelöst hatte, verstand Reece nach wie vor nicht.

Toll, noch mehr falsche Polizisten.

Reece trabte neben Agent Bridger in Richtung Ausgang. Sie bildeten ein denkbar ungleiches Gespann. Reece überragte den 1,70-Meter-Zwerg um fast 15 Zentimeter. An den sauberen Hosen und dem adretten Hemd des Ermittlungsbeamten zeigte sich anders als bei ihm keine Spur von Schweiß, Dreck, Staub, Ruß oder Blut. Das sauber rasierte, blässliche Gesicht bildete einen starken Kontrast zu den Bartstoppeln des Größeren, die aus der ledrigen, gebräunten Haut ragten und verrieten, dass er sein Leben überwiegend außerhalb eines Büros zugebracht hatte.

Reece und seine Gefolgschaft schoben eine Doppeltür auf, die den medizinischen Kosmos vom afghanischen Staub trennte, der unweigerlich in jede Faser vordrang – ganz egal, wie viel Kies das US-Militär auf Straßen und Wegen verteilte. Er kniff die Augen vor der grellen Sonne zusammen und schirmte sie mit der Hand ab. Bisher hatte er gar keine Zeit gefunden, auf die Uhr zu schauen, und irrtümlich unterstellt, es sei noch Nacht. Fast wäre er ins Stolpern geraten, weil ihm schlimmere Kopfschmerzen als je zuvor zu schaffen machten. Bevor er darauf reagieren konnte, waren sie verschwunden. Was haben die da bloß hochgejagt? Langsam gewöhnten sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse. Bridger winkte ihn zu einem abgestellten Side-by-Side-Quad, quasi der Militärvariante eines Golfwagens. Bridger kletterte hinters Steuer, Reece auf den Beifahrersitz. Ihr stummer Waffenmeister, offenbar als Begleitschutz abgestellt, machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Sie setzten sich in Richtung eines Bürokomplexes in Bewegung, in dem er die Räumlichkeiten des NCIS vermutete.

Sie verschmolzen mit dem täglichen Trubel auf der Bagram Air Base. Soldaten gingen zu ihren Fahrzeugen und bereiteten sich auf Patrouillenfahrten mit afghanischen Partnern vor, Piloten lösten Kollegen auf dem Rollfeld ab, vor dem Speisesaal bildete sich eine Schlange von Militärs und zivilen Hilfskräften. Ein typischer Mittwochnachmittag im Krisengebiet.

Sie fuhren den Disney Drive entlang und Reece schüttelte den Kopf, als er feststellte, dass alle Nase lang Offiziersanwärter Vorgesetzten salutierten. Selbst in einem Kampfgebiet schien irgendein Würdenträger Wert darauf zu legen, dass dieser Aspekt der militärischen Etikette eingehalten wurde. Umso mehr schätzte er in diesem Moment die neutrale Uniform, die er trug. Ohne Rangabzeichen blieb es ihm erspart, die gefühlt 50 Salute auf dem morgendlichen Weg zum PX oder Trainingsraum zu erwidern.

Bridger trat auf die Bremse und lenkte ihr Gefährt vor ein Gebäude, das noch aus Zeiten der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979 stammte. Ob die Einschusslöcher an der Außenmauer von der damaligen Besetzung herrührten oder vom aktuellen Konflikt, ließ sich schwer beurteilen. Amüsanterweise erinnerte die Architektur Reece an einen alten Zweimaster aus Moskauer Beständen. Irgendwie passend.

Bridger ließ den Navy-Chief draußen warten und lotste ihn durch einen Gang an etlichen Büros vorbei, in denen einheitlich gekleidete Agenten auf Tastaturen einhackten, Akten durchblätterten oder etwas ins Telefon murmelten. Reece ließ die Eindrücke auf sich wirken, merkte sich, in welche Richtung die Türen aufschwangen, welche Büros Fenster hatten und welche der Agenten bewaffnet waren, bis Bridger vor dem letzten Raum am Ende des Korridors stoppte.

»Bitte warten Sie hier, Sir«, bat er, bevor er im Inneren verschwand.

Reece blieb allein zurück. Er ging davon aus, dass unter der Decke eine versteckte Überwachungskamera hing und ihn beobachtete. Die Fahndungsplakate an den Wänden weckten seine Aufmerksamkeit. Auffallend viele frühere afghanische Handlanger, die Jobs erledigten, für die sich Amerikaner zu fein waren, beispielsweise das Reinigen der mobilen Plumpsklos, deren Inhalt den ganzen Tag in der hiesigen Hitze gegrillt wurde. Ihm war bewusst, dass diese Männer für die Rebellen ideale Informanten waren. Immerhin kannten sie sich in jedem Winkel der Basis aus und wussten deshalb, wo Mörser oder Raketen die größten Schäden anrichteten.

Die Tür schwang auf und Agent Bridger forderte ihn mit einem Nicken zum Eintreten auf. Der Raum war nicht besonders groß. Ihm fiel sofort auf, dass es weder Fenster noch einen weiteren Zugang gab. An einem rechteckigen Klapptisch saß ein Mann, der ihm zwar nicht die Hand gab, sich jedoch als Special Agent Dan Stubbs vorstellte, indem er ihm wortlos Dienstmarke und Ausweis unter die Nase hielt. Böser Cop.

Reece setzte sich gegenüber von Agent Stubbs, Bridger neben den Kerl, der offenbar sein Vorgesetzter war. Stubbs ordnete umständlich einen Stapel Papiere, bevor er die schmalrandige Lesebrille auf dem Nasenrücken hochschob und sich dem SEAL zuwandte. Er wollte von Anfang an klarstellen, wer hier die Zügel in der Hand hielt.

Es war deutlich dunkler als im Korridor oder den angrenzenden Büros. Reece’ Augen mussten sich einmal mehr umstellen. Beiläufig inspizierte er alles. Ein Haufen Dokumente lag vor Agent Stubbs, ein Diktiergerät daneben. In einer Ecke war eine Videokamera auf einem Stativ aufgebaut, schien jedoch nicht eingeschaltet zu sein.

Agent Stubbs gehörte zu jenen Männern, die genauso gut 40 wie 60 sein konnten. Die Farbe der wild zerzausten Haare einzuordnen erwies sich als unmöglich. Das markante Doppelkinn ließ sich kaum übersehen, ebenso wenig wie die Wampe, die auf einen Mangel an Bewegung hindeutete, obwohl er nicht mal stand. Er trug ein schwarzes Poloshirt unter einem billig wirkenden dunklen Jackett. Etwas an seiner Haltung deutete auf eine militärische Vorgeschichte hin, ohne dass Reece sich genauer hätte festlegen können.

»Commander Reece«, begann er in einem um Ernsthaftigkeit bemühten Tonfall und schob Zettel auf dem Tisch hin und her, »bevor wir anfangen, möchte ich Sie bitten, dieses Dokument zu unterzeichnen, das Sie auf Ihre Rechte hinweist.«

Reece wusste, dass man einem Regierungsangestellten nie etwas unterschreiben sollte, ohne es vorher von einem Anwalt gegenlesen zu lassen. Er wusste aber auch, dass seine Männer tot waren und er es zu verantworten hatte. Also zeichnete er den Zettel ab und schob ihn dem anderen hin.

»Wir zeichnen dieses Gespräch nicht auf Video auf, Commander.«

Erste Lüge, dachte Reece, nickte jedoch trotzdem. Ihm war klar, dass der abgeschaltete Camcorder in der Ecke genau wie das Diktiergerät auf dem Tisch eine Finte war. In Wirklichkeit wurde die Befragung von unsichtbaren Kameras und Mikros mitgeschnitten. Der abgeschaltete Camcorder diente zur Beruhigung, das Diktiergerät wurde später garantiert mit einer dramatischen Geste abgeschaltet, um etwas ›inoffiziell‹ zu besprechen. Eine Floskel, wie sie in einer solchen Konstellation hohler kaum sein könnte.

»Ich lasse das Band für mein Protokoll mitlaufen, wenn es Ihnen recht ist«, fuhr der Fettwanst fort. Reece nickte erneut, womit er eher die Armseligkeit des ganzen Szenarios kommentierte, als seine Zustimmung zu erteilen.

Stubbs fummelte übertrieben lang am Gerät herum, um es einzuschalten, und stellte es auf den Tisch. »Hier spricht Special Agent Daniel Stubbs vom Naval Criminal Investigative Service. Zeit« – er schielte auf seine schmucklose Analoguhr – »12:56 Uhr am Mittwoch, den 14. Juni 2017. Neben mir sitzt Special Agent Robert Bridger für eine Befragung von Lieutenant Commander James Reece, Truppenkommandant von SEAL Team Seven. Gesprächsthema ist Mission 644, Odins Schwert. Commander Reece, bitte schildern Sie uns die Ereignisse rund um Odins Schwert.«

Reece erörterte, wie er den Befehl für die Mission erhalten und weitere Einzelheiten angefordert hatte. Da es sich um ein TST, ein zeitkritisches Ziel, handelte, war es notwendig gewesen, rasch zu agieren. Die Erkenntnisse der Ermittler beruhten auf einer einzigen Quelle. Unter normalen Umständen hätte er eine Aktion deswegen überhaupt nicht in Erwägung gezogen, sondern zunächst weitere Bestätigungen abgewartet. Reece hielt es für entscheidend, alle Daten über unabhängige Kanäle gegenzuchecken: mindestens zwei HUMINTs, also menschliche Informanten, in Verbindung mit SIGINT, also Signalaufklärung. Ein Tandem aus traditionellen und technischen Methoden, um sicherzustellen, dass sie keiner gezielten Irreführung aufsaßen, weil jemand eine politische oder persönliche Rechnung mit Amerika begleichen wollte. Als er bei der nächsthöheren Stelle nachhakte, hatte man ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es sich um Hinweise von nationaler Bedeutung handelte. Eine verklausulierte Formulierung dafür, dass es ihn nichts anging, woher sie stammten. Reece besaß die nötige Freigabe für Top-Secret- und SCI-Informationen, was hieß, dass er bei Bedarf auf interne Dossiers zugreifen konnte. Da es hier um das Leben seiner Männer ging, hielt er den Bedarf definitiv für gegeben.

Reece’ Einheit war auf einem Außenposten in Chost stationiert gewesen. Die Stadt befand sich in der Nähe der Stammesgebiete, unweit von Miranshah, einer Brutstätte für aufständische Aktivitäten sowie Zufluchtsort für Terroristen und ihre Unterstützer. Sie unterstand der Verwaltung der pakistanischen Regierung. Seit die Tötung Osama bin Ladens auf pakistanischem Staatsgebiet weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, wurden grenzüberschreitende Operationen nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt, was dem Feind natürlich bekannt war. Ursprünglich hatte ihr Auftrag gelautet, in Chost ein Netzwerk aus einheimischen Informanten aufzubauen, dabei mit den Partnerstreitkräften der Gastgeber zu kooperieren und Transportwege für Menschen, Waffen und Drogen zwischen Afghanistan und Pakistan aufzuspüren. Deshalb schrillten bei ihm sofort die Alarmglocken, als wie aus dem Nichts die TST-Mission auf seinem Tisch landete. Keiner kannte das Gebiet besser als Reece und sein Team. Sie hatten dort fünf Monate lang jeden Winkel ausgekundschaftet. Weder Informanten noch abgehörte Telefonate oder Funksprüche deuteten auf die Existenz eines Taliban-Lagers in ihrem Operationsgebiet hin. Die Taliban waren dafür viel zu clever. Zumal ihre Führungskräfte in Pakistan sorglos leben und Anschläge planen konnten. Nein, hier stimmte etwas nicht.

Reece erwähnte seinen Anruf bei Lieutenant Colonel Duke Bray, dem Special Forces Commander der Army, Mitglied der Special Operations Task Force, der auch Reece’ Einheit zugeordnet war. Duke Bray galt als lebende Legende und einer der fähigsten Soldaten der Neuzeit. Er hatte nach dem 11. September 2001 zur Vorhut gehört, die in Afghanistan einmarschierte. Als Mitglied der legendären ›Triple Nickles‹ der Fifth Group hatten sie Kabul als Teil der afghanischen Nordallianz innerhalb von Tagen befreit, nachdem die Eierköpfe in Washington Monate dafür veranschlagt hatten. Reece und er hatten im Lauf der Jahre wiederholt miteinander zu tun gehabt und tiefen Respekt füreinander entwickelt. Im Rahmen einer privaten Videokonferenz über eine gesicherte Verbindung hatte er gegenüber dem Mann, den er als Freund und Mentor gleichermaßen schätzte, kein Blatt vor den Mund genommen.

»Was soll die Scheiße, Sir?«, platzte es aus ihm heraus, sobald sie beide hinter verschlossenen Türen vor ihren Rechnern saßen.

»Ich weiß, Reece. Das stinkt zum Himmel. So was hab ich noch nie erlebt, na ja, sagen wir, schon lange nicht mehr. Ich hab der CJSOTF gesagt, das können sie vergessen, das machen wir nicht. Das Verrückte ist, es sind nicht ihre Analysten, die auf den Einsatz drängen, sondern höhere Stellen. ›Hinweise von nationaler Bedeutung‹. Sie wissen, was das bedeutet.«

Reece wusste, dass es CIA bedeutete. Also stammten die Informationen aus den Strategieabteilungen, nicht aus einer Vor-Ort-Aufklärung. Wenn sie so schnell von der Quelle an die Front weitergegeben wurden, musste es enorm wichtig sein.

»Reece, ich hab ein paar Gefallen in Langley eingefordert, um Licht ins Dunkel zu bringen. Keiner weiß was davon. Was für einen Eindruck haben Sie vom Zielpaket?«

»Sieht alles astrein aus. Genau deshalb bin ich ja so misstrauisch. Ich hab noch nie so schlüssige Akten von ganz oben auf dem Tisch gehabt. Und wir hören zum ersten Mal von dieser Zielperson, obwohl im Dossier eine Menge Unterlagen darauf hindeuten, dass es sich um einen ernst zu nehmenden Akteur mit Verbindungen zum pakistanischen ISI handelt.« Hinter dem Kürzel verbarg sich Inter-Service Intelligence, der nationale Nachrichtendienst.

»Was hat Stevens dazu gesagt?«, wollte Reece wissen und bezog sich auf den Colonel, der in der CJSOTF-Kommandostruktur eine Ebene über Bray angesiedelt war.

»Sie kennen Stevens. Ein fähiger Offizier mit guten Absichten, dem es am Ende aber vorrangig ums Verbessern der eigenen Karrierechancen geht. Er meinte, Tampa habe ihm persönlich versichert, dass es sich um eine höchst priorisierte Mission handelt, die ohne Verzögerung durchgeführt werden muss.«

In Tampa befanden sich sowohl das Hauptquartier des Central Command, das die US-Militäroperationen im Nahen Osten steuerte, als auch des Special Operations Command zur weltweiten Koordination aller Spezialeinheiten.

»Ich frag mich, von wem diese Versicherung stammt«, überlegte Reece laut.

»Mir gefällt das nicht, Reece«, meinte Bray und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wäre bei Ihnen vor Ort, Commander. Ich werde von hier aus dafür sorgen, dass Ihnen die komplette Manpower und Ausrüstung der Task Force zur Verfügung gestellt wird. Ihre Operation genießt heute absoluten Vorrang.«

»Danke, Sir. Eine eigene AC-130 und eine Pred mit Hellfire-Raketen wären ein guter Anfang.«

»Meine Leute haben sie bereits Ihrer Mission zugeteilt.«

»Verstanden, Sir. Wir machen uns besser an die Arbeit. Danke für Ihre Unterstützung.«

»Viel Glück, Commander.«

Reece überraschte, dass Agent Stubbs überhaupt nicht nachbohrte, woher die aus dem Nichts aufgetauchten Informationen zur Mission stammten. Es schien für ihn kein Thema zu sein.

Interessant.

Es fiel ihm zwar schwer, aber er schilderte in minutiösen Details, was sich beim Einsatz zugetragen hatte. Das Vordringen auf feindliches Gebiet. Die Berichte der vorgelagerten Beobachtungsposten, wonach sich am Ziel nichts rührte. Die Explosionen. Der Tod.

Als er fertig war, bezog sich Stubbs’ erste Frage nicht mal auf den konkreten Vorfall. Stattdessen zog er ein Blatt aus dem Stapel, der vor ihm lag, und schob ihn Reece über den Tisch zu.

»Haben Sie diese E-Mail geschrieben, Commander?«

Reece versuchte gar nicht erst, die Wut aus seinem Blick zu vertreiben. Er sah erst Agent Stubbs an, dann Agent Bridger, der recht nervös wirkte.

»Die eigentliche Frage lautet eher, was zum Teufel Sie meine persönlichen E-Mails angehen.«

»Ich frage noch mal, Commander: Haben Sie diese E-Mail geschrieben?«

Zu den wichtigsten Regeln bei einem Verhör gehörte, dass man die Antwort auf eine Frage bereits kannte, ehe man sie stellte. Hier handelte es sich definitiv nicht um eine Routinebefragung, sondern um ein Verhör.

»Das ist ein privater Schriftverkehr zwischen mir und meiner Frau.«

»Sie tauschen sich nicht nur mit Ihrer Frau aus, Commander, sondern auch mit Mitarbeitern wissenschaftlicher Einrichtungen. Sie thematisieren darin die militärischen Aktionen in Afghanistan.«

Er konnte es sich gerade noch verkneifen, mit den Augen zu rollen. »Sie meinen Dr. Anna Scott von der Marineforschungsakademie in Monterey und Dr. David Elliot von der Johns Hopkins? Die Diskussion über Aufständische und diplomatische Beziehungen?«

»Wie genau ist dieser unterstrichene Satz hier zu verstehen?«, fragte Stubbs, der den Einwurf komplett ignorierte und auf den Ausdruck deutete, der vor Reece lag. »Da steht: ›Ich bezweifle, dass die taktischen Ziele überhaupt mit unserer nationalen Strategie in Einklang zu bringen sind.‹«

»Genau so, wie es da steht.«

»Und was ist mit dieser Passage hier?«, bohrte Stubbs nach. »Warten Sie, ich lese Ihnen den Satz vor. Sie haben es am 9. April an Anna Scott geschrieben. ›Ich könnte nicht mal einen Fußgänger wegen Verletzung der Verkehrsregeln zur Verantwortung ziehen, wenn ich mich dabei auf die Qualität und Menge an nachrichtendienstlichen Hinweisen verlassen müsste, die uns für die Invasion des Iraks vorlagen.‹ Zitat Ende.«

»Wissen Sie, Stibbs, …« Er ärgerte sein Gegenüber absichtlich, indem er den Namen falsch aussprach. »Anna Scott ist eine gute Freundin und eine der führenden Autoritäten weltweit, wenn es um die Bekämpfung von Rebellionen geht. Sie hat einen Großteil ihres Lebens in Krisengebieten verbracht und sich mit der Komplexität von Umsturzbemühungen auseinandergesetzt. Was man von denen, die die politischen Leitlinien vorgeben, nicht unbedingt behaupten kann.«

Stubbs’ Hand griff zum Diktiergerät und drückte auf die Stopp-Taste. Reece ahnte, was als Nächstes kam. »Commander Reece, unter uns, was für eine Beziehung haben Sie zu Dr. Scott?«

Nicht zu fassen.

»Eine rein berufliche, Stibbs. Das wissen Sie auch, nachdem Sie meine kompletten privaten E-Mails gelesen haben.«

»Ich verstehe.« Ein erneuter Druck auf die Aufnahmetaste. »Und welche Erklärung haben Sie dafür, dass Sie sich als Marineoffizier im aktiven Dienst für Auftragsmorde aussprechen?«

»Wovon reden Sie?«, fragte er ungläubig.

»Im Jahr 2014 haben Sie Dr. David Elliot eine E-Mail geschrieben und die gezielte Tötung von Gegnern als tragfähige Regierungspolitik bezeichnet. In Ihrer Eigenschaft als Offizier ist das ein klarer Verstoß gegen den Uniform Code of Military Justice.«

Reece blickte zwischen den beiden NCIS-Agenten auf der anderen Seite des Tischs hin und her. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte er laut aufgelacht.

Er führte zahlreiche Diskussionen zu diesen und ähnlichen Themen mit Experten auf dem Gebiet der strategischen Kriegsführung. Er hielt es für seine Pflicht als Offizier, die Hintergründe seiner Handlungen ständig infrage zu stellen, sich nicht blind der vorherrschenden Meinung anzuschließen, sondern Behauptungen grundsätzlich anzuzweifeln und mit den kompetentesten Experten auf den jeweiligen Gebieten in Dialog zu treten, damit er so gut vorbereitet wie möglich in jeden Konflikt eintrat. Er fand, dass er das den Familien der Opfer, der Mission und seinem Land schuldete.

»Ich sehe keinen Grund, mich mit zwei Idioten wie Ihnen noch länger zu unterhalten. Darf ich gehen?«

»Sie sollten besser keine konkreten Pläne für den Heimflug schmieden.« Stubbs lehnte sich auf dem Stuhl zurück und präsentierte dabei seine wohlgenährte Hüftpartie. »Es wird eine Weile dauern, bis wir das ganze Durcheinander sortiert haben. Gegen Sie wird eine offizielle Ermittlung wegen subversiver Aktivitäten, Weitergabe geheimer Informationen und eines Verstoßes gegen Artikel 13 eingeleitet: ungebührliches Verhalten eines Offiziers.« Stubbs leierte die Sätze so emotionslos wie ein Roboter herunter.

Reece erhob sich langsam. Bridger machte den Eindruck, als wäre er gerade lieber überall, nur nicht hier. Stubbs schob die E-Mail-Ausdrucke in den Papierstapel zurück. Beim Aufstehen streifte Reece’ Hand instinktiv die Stelle rechts hinten am Rücken, wo seine Dienstwaffe, eine SIG P226 9 Millimeter, im Halfter steckte. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass sich die Regierung vor 150 Jahren jetzt nach zwei neuen Beamten hätte umsehen müssen.

4

Dr. Peter O’Halloran verströmte das Selbstvertrauen eines Mannes, der beruflich alles erreicht hatte. In den Wochen nach dem 11. September 2001 hatte er die Leitung seiner hochgradig erfolgreichen chirurgischen Klinik an ein Ärzteteam übertragen und sich der Armee angeschlossen, um das zu tun, was er für seine bürgerliche Pflicht hielt.

Als einer der besten Wirbelsäulen-Chirurgen des Landes hatte er so gut wie jeden unter dem Messer gehabt. Angefangen bei Athleten auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bis hin zu alternden Politikern, die sich Linderung von chronischen Leiden erhofften. Er wusste, dass Männer im Kampf für ihr Land schwer verwundet wurden, und wollte seine beträchtlichen Talente einsetzen, um sie am Leben zu halten. Mit einem flugs aufgesetzten Dokument wurde die Haftungsfrage aufgrund seines fortgeschrittenen Alters aus dem Weg geräumt. Zum Entsetzen seiner Frau und Kinder fand sich Dr. Peter O’Halloran kurz darauf als Reservist in der U. S. Army wieder und verbrachte fortan mehr Zeit als Uniformierter im Irak und in Afghanistan als in seiner Rückenklinik in La Jolla, Kalifornien.

Der Hinterhalt und die anschließende Befragung lagen erst zwei Tage zurück. Rein körperlich fühlte sich Reece in der Lage, das Krankenhaus zu verlassen. Man hatte ihn gebeten, vorher noch einmal bei Doc O’Halloran vorbeizuschauen. Pünktlich zur geplanten Entlassung kam die diensthabende Schwester, um ihn in das Büro des Chirurgen zu bringen. Nach einer warmherzigen Begrüßung forderte dieser ihn auf, Platz zu nehmen, wandte sich auf dem Drehstuhl dem Rechner zu und rief eine Datei auf, bevor er den Monitor zum Besucher hindrehte. Reece sah, dass es sich bei dem Bild um einen Hirnscan handelte. Er fühlte sich an die Schwarz-Weiß-Bilder der Infrarotgeräte im Einsatz erinnert, bei denen ebenfalls leuchtende weiße Punkte vor dem dreidimensionalen Relief eines schwarzen Hintergrunds aufflackerten. Der Mediziner lenkte den Mauszeiger auf einen weißen Fleck.