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9/11 war erst der Anfang! 20 Jahre nach dem Attentat auf das World Trade Center bereiten sich die Feinde Amerikas auf ihren nächsten Vernichtungsschlag vor: Eine heimtückische Biowaffe soll den kompletten Kontinent entvölkern. Das Perfide an dem Plan: Der unerfahrene neue Präsident der USA soll persönlich den Befehl für die Tötung seiner Landsleute geben. Die Gegner lauern nicht irgendwo auf der Welt, sondern im eigenen Land. Der frühere Navy-SEAL James Reece muss sich ihnen in den Weg stellen. Publishers Weekly: »Beeindruckend ... Carr ist am besten, wenn Kugeln fliegen. Fans von Vince Flynn werden die explosive Action lieben.« Clint Emerson: »Ein Roman wie ein knallhartes Hochgeschwindigkeitsgeschoss.« Jetzt als Amazon-Prime-Serie The Terminal List mit Chris Pratt als James Reece in der Hauptrolle.
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Seitenzahl: 700
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Devil’s Hand
erschien 2021 im Verlag Atria/Emily Bestler Books.
Copyright © 2021 by Jack Carr, LLC
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder
auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.
Titelbild: Grafikstudio Müller
eISBN 978-3-98676-080-9
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Dr. Robert Bray, Major der United States Air Force – aus Gründen, die geheim bleiben müssen –, und die Wächter da draußen,
Gut versteckt im 9723 Wörter umfassenden Dokument von Executive Order 12333 der United States Intelligence Activities findet sich in Abschnitt 2, Absatz 13 folgender Passus:
2.11 Verbot von Attentaten. Keine Person, die bei der Regierung der Vereinigten Staaten beschäftigt ist oder in deren Namen handelt, darf sich an einem Attentat beteiligen oder in konspirativer Absicht ein solches planen.
Die Amerikaner und ihre Verbündeten – Zivilisten und Militärs – zu töten, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der dazu in der Lage ist; in jedem Land, in dem es möglich ist, dies zu tun …
– Fatwa von Al-Qaida, 1998
Im ba l’hargekha, hashkem l’hargo
Wenn jemand kommt, um dich zu töten, erhebe dich und komme ihm zuvor.
– Talmudisches Edikt
Vorbemerkung
Am Morgen des 11. September 2001 bestiegen 19 Männer vier Flugzeuge an den internationalen Flughäfen Logan, Newark und Dulles. Alle waren in Richtung Westküste unterwegs. Sie wurden ausgewählt, weil sie mit der für transkontinentale Verbindungen erforderlichen Treibstoffmenge betankt waren.
Zwei Stunden später befanden sich die Vereinigten Staaten im Krieg. Einem Krieg, der bis heute andauert.
In diesem Roman geht es nicht um die Ereignisse an jenem Septembermorgen. Vielmehr geht es um die Erkenntnisse, die unsere Gegner aus der Reaktion Amerikas auf den Terrorismus im Nahen Osten und in Europa von 1979 bis zur ersten Hälfte des Jahres 2001 gewonnen haben – und um das, was sie in den zwei Jahrzehnten nach dem vernichtenden Anschlag, der den Lauf der Geschichte veränderte, daraus gelernt haben.
Dies ist ein Roman über asymmetrische Kriegsführung.
Ich habe mich oft gefragt, welche Schlüsse der Feind daraus gezogen hat, uns auf den Schlachtfeldern der seit nunmehr 20 Jahren anhaltenden Kämpfe zu beobachten. Welche Lektionen hat er gelernt, und wie hat er Taktiken und Strategien angepasst, um die gezogenen Schlussfolgerungen zu berücksichtigen? Wäre ich der Feind, welche Erkenntnisse hätte ich daraus gewonnen?
Es sind Fragen, über die ich in Uniform nachgedacht habe und die mich auch als Autor weiterhin beschäftigen. Unsere Gegner haben uns 20 Jahre lang am Pokertisch bespitzelt und nutzten ihren Vorteil, uns in die Karten zu schauen. Sie haben unsere Taktiken studiert und analysiert, wie sich unsere Technologien weiterentwickeln; sie haben unsere wechselnden Ziele und Absichten im Blick behalten. Sie machten sich Notizen, während wir in Afghanistan, im Irak, in Syrien und an weiteren Brennpunkten rund um den Globus kämpften. Unsere Reaktion auf eine Pandemie und die zivilen Unruhen, die unsere Städte in einer Zeit heimsuchen, in der innenpolitische Differenzen unüberwindbar scheinen, blieb nicht unbemerkt. Die Gegner erleben ein geteiltes Land. Berücksichtigen sie diese Spaltung in ihren Schlachtplänen?
Seit jenem Septembermorgen sind exakt 20 Jahre vergangen. Der Feind blieb geduldig. Er hat uns beobachtet, gelernt und sich angepasst. Russland, China, Nordkorea, der Iran, terroristische Gruppierungen und Einzelpersonen mit enormem Einfluss haben abgewartet, Lücken in unserer Verteidigung aufgespürt und Strategien erarbeitet, die unsere Schwächen gezielt ausnutzen. Ich hoffe inständig, dass die Operation, über die Sie auf den folgenden Seiten lesen, nicht von einem ausländischen Geheimdienst geplant wird. Wir täten gut daran, uns in Erinnerung zu rufen, dass der athenische Geschichtsschreiber und Stratege Thukydides im Melianischen Dialog seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges die Hoffnung als ›Trösterin in Gefahr‹ bezeichnete. Im modernen militärischen und geheimdienstlichen Sprachgebrauch lässt sich der Text des antiken griechischen Generals so deuten, dass Hoffnung keine Handlungsoption ist. Das mag zwar zutreffen, aber in Zeiten der Verzweiflung ist Hoffnung oft alles, was bleibt. Die Mahnung bleibt nach all dieser Zeit aktuell: Sei stets vorbereitet.
Es gibt wohl keinen militärischen Text, der so einflussreich ist wie Die Kunst des Krieges. Der chinesische Militärstratege und Philosoph Sunzi wusste, dass »die höchste Kunst des Krieges darin besteht, den Feind ohne Kampf zu unterwerfen«. In einer asymmetrischen Konfrontation ist dies für den Feind, der nicht über ein nukleares Arsenal verfügt, von größter Bedeutung. Wie soll er dann eine Supermacht besiegen? »Alle Kriegsführung basiert auf Täuschung.« Die Lehren des Generals aus der Zeit der Streitenden Reiche sind unseren Gegnern nicht fremd – Gegnern, die einen langen Atem besitzen. Wenn euer Auftrag darin bestünde, ein modernes Imperium zu zerstören, wie würdet ihr mit diesen beiden Zitaten von Sunzi im Hinterkopf vorgehen?
Dies ist auch ein Roman über Ethik, Moral und Rechtmäßigkeit von gezielten Tötungen, die die Israelis als Chissulim oder Eliminierungen bezeichnen, als Instrument der Staatsmacht. Besteht ein Unterschied zwischen dem Einsatz einer Reaper-Drohne, die einen feindlichen Kämpfer mit einer AGM-114 Hellfire oder GBU-38 JDAM aus 15 Kilometern Höhe ausschaltet, und dem Perforieren des Hirnstamms desselben Terroristen mit einer 180-Grain 300 Winchester Magnum aus einem Kilometer Entfernung? Wie beurteilt der Feind diese unterschiedlichen Tötungsmethoden? Erzielt der vermehrte Einsatz von UAVs, die den Tod aus der Ferne herbeiführen, die beabsichtigte Wirkung? Wurden dadurch amerikanische Leben gerettet oder nur weitere jener Kämpfer rekrutiert, die Dr. David Kilcullen als ›Guerillas aus Zufall‹ bezeichnet?
Am 11. September 2001 gab es gewisse Gruppierungen, die Schulter an Schulter den Einsturz der Zwillingstürme im Fernsehen verfolgten. Männer mit speziellen Fähigkeiten; Männer, deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, auf den Krieg vorbereitet zu sein. Es wird nicht offen darüber gesprochen, aber innerhalb dieser Bruderschaft gab es solche, denen nur ein Gedanke durch den Kopf ging: Allah, ich wünschte, ich wäre in einem dieser Flugzeuge. Sie fühlen sich zum Kämpfen berufen, als Beschützer, Krieger und Wächter. Sie sind heute Nacht irgendwo da draußen. Sie sind auf der Jagd.
Wenn der Krieg an die Heimatfront zurückkehrt, wünscht man sich einen dieser Wächter an seine Seite, bewaffnet und zu allem bereit.
Vor dem 11. September hätten diese Männer Sitzplätze an den Fenstern der Flugzeuge gewählt. Basierend auf den Erfahrungen früherer Entführungen wussten sie, dass sie sich in dieser Position bei einer gewaltsamen Einnahme der Kabine in einer besseren Ausgangslage befanden. In Situationen, in denen Terroristen an einzelnen Passagieren ein Exempel statuierten, um den Rest in Schach zu halten. Fensterplätze verschafften ihnen Zeit, in Ruhe zu beobachten und das weitere Vorgehen zu planen. 9/11 hat das Paradigma von Flugzeugentführungen verändert. Seit jenem Dienstagmorgen nehmen dieselben Wächter Sitze am Gang ein, damit sie auf eine Bedrohung sofort reagieren können. Sie unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von den übrigen Passagieren. Es sei denn, man weiß, worauf man achten muss, oder man ist einer von ihnen.
Die Recherche zu diesem Roman war eine sehr emotionale Erfahrung: Ich hörte mir Aufzeichnungen von Anrufen der Menschen in den entführten Maschinen bei ihren Angehörigen zu Hause an, las Berichte von denen, die in den einstürzenden Gebäuden eingeschlossen waren und sich lieber in den Tod stürzten, als bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Ich empfehle jedem, dem 9/11 Memorial in Lower Manhattan einen Besuch abzustatten. Nehmt euch Zeit dafür und zieht eure Lehren daraus.
Nun, wo wir den Jahrestag der Anschläge hinter uns lassen und in unser drittes Jahrzehnt kontinuierlicher Kriegsführung eintreten, verfügen wir da über eine klare Vorstellung, wie dieser Konflikt enden soll? Oder hat unsere auf einen Langzeitkonflikt angewendete Kurzkriegsstrategie unsere Kinder und Enkel dazu verdammt, gegen die Söhne und Enkel jener Männer zu kämpfen, die den tödlichsten Terroranschlag der Geschichte geplant und verübt haben? Tun wir uns immer noch schwer, die Natur des Konflikts zu erkennen, in den wir verwickelt sind?
Ich fürchte, wir alle kennen die Antwort.
Jack Carr
11. September 2020
Park City, Utah
CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE
1953: Von der CIA gesponserter iranischer Staatsstreich
1979: Iranische Revolution
1979: Beginn der Geiselkrise im Iran
1980: Operation Eagle Claw
1980: Beginn des iranisch-irakischen Krieges
1981: Ende der Geiselkrise im Iran
1983: Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Beirut (Libanon)
1983: Bombenanschlag auf die Kaserne der U. S. Marines in Beirut (Libanon)
1983: Bombenanschlag auf die Botschaft der Vereinigten Staaten in Kuwait City (Kuwait)
1984: Entführung des Leiters der CIA-Station in Beirut, William F. Buckley
1984: Bombenanschlag auf das Nebengebäude der US-Botschaft in Beirut (Libanon)
1985: Entführung von TWA-Flug 847
1985: Beginn der Iran-Contra-Affäre
1985: Entführung des Kreuzfahrtschiffs Achille Lauro
1985: Leiter der CIA-Station in Beirut, William Buckley, wird hingerichtet
1987: Ende der Iran-Contra-Affäre
1987: Beginn der Operation Earnest Will
1988: Entführung von Colonelleutnant William Higgins im Libanon
1988:U. S. S.Vincennes schießt Flug 655 von Iran Air ab
1988: Ende des iranisch-irakischen Krieges
1988: Ende der Operation Earnest Will
1988: Bombenanschlag auf Pan-Am-Flug 103
1990: Hinrichtung von Lieutenant Colonel William Higgins im Libanon
1990: Irakische Invasion in Kuwait
1990: Operation Desert Shield
1991: Operation Desert Storm
1993: Bombenanschlag auf das World Trade Center
1996: Bombenanschlag auf die Khobar Towers in Saudi-Arabien
1998: Bombenanschläge auf die Botschaft der Vereinigten Staaten in Ostafrika
2000: Bombenanschlag auf die U. S. S.Cole
2001: Ermordung von Ahmad Schah Massoud
2001: Terroristische Anschläge vom 11. September
2001: Invasion der Vereinigten Staaten in Afghanistan
2003: Invasion der Vereinigten Staaten im Irak
2006: Tötung von Abu Mussab Al-Sarkawi
2008: Ermordung von Imad Mughniyya
2011: Tötung von Osama bin Laden
2020: Tötung von Qasem Soleimani
2021: 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September
Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog.
– William Shakespeare
Prolog
Für diejenigen, die nicht an der Operation beteiligt waren, begann der Tag, der die Welt veränderte, nicht anders als jeder andere. Für einige wenige gab es eine kleine Abweichung von ihrer Routine. Aliyah Hajjar gehörte zu diesen wenigen.
Seit diesem Jahr war Aliyah bei JetClean Industries beschäftigt, einem Reinigungsdienstleister, der sich auf die Luftfahrt spezialisiert hatte und Flugzeuge am Logan International Airport in Boston vor dem nächsten Start reinigte. Sie verbrachte ihre Tage damit, zusammen mit ihrer Reinigungscrew durch die Gänge zu gehen, Abfälle aus Sitzrückentaschen einzusammeln, die Waschräume mit frischem Toilettenpapier zu bestücken sowie die Bordküchen zu desinfizieren und Sitzgurte zu entwirren.
Aliyah machte die Arbeit nichts aus. Sie verschaffte ihr eine Auszeit von zu Hause und die Möglichkeit, mit anderen muslimischen Frauen aus ihrem Team ein Schwätzchen zu halten. Vor allem sah sie ihren Mann in diesen Stunden nicht.
In Hamburg hatte er sie nie geschlagen. Mit den Prügeln fing es erst an, als sie in die Vereinigten Staaten zogen, nachdem sie ihre fünfjährigen Arbeitsvisa von der Botschaft in Berlin erhalten hatten. Anfangs vermutete Aliyah, es liege daran, dass sie ihm keine Kinder geschenkt hatte. Inzwischen wusste sie es besser.
Sie hatte nicht verstanden, warum ihr Mann, der in Deutschland zum Buchhalter ausgebildet worden war, in einem marokkanischen Restaurant außerhalb von Cambridge Tische abräumte und die Küche putzte. Ihr magerer Verdienst reichte kaum aus, die Miete zu bezahlen und das Essen in ihrer kleinen Wohnung in Watertown auf den Tisch zu bringen. Als sie ihn das erste Mal darauf ansprach, verpasste er ihr eine Ohrfeige. Selbst jetzt noch trieb ihr die Erinnerung an den Schlag und den anschließenden Schock Tränen in die Augen. Ihr Versuch, sich umzudrehen und wegzulaufen, endete damit, dass er sie am Hals packte und auf die zerschlissene Couch schleuderte, die nach Schimmel stank. Er quetschte das Leben aus ihr heraus, während er sie anschrie, sie solle nie wieder seine Handlungen hinterfragen.
Später in der Nacht hatte es an der Tür geklopft. Ihr Mann deutete daraufhin zum Schlafzimmer und forderte sie auf, dort zu warten, bis er ihr Bescheid sagte. Sie presste ihr Ohr gegen das Holz und versuchte, das kurze, im Flüsterton geführte Gespräch zu belauschen. Aliyah erkannte zwar ihre Muttersprache, bekam aber nicht mit, worüber gesprochen wurde. Sie legte sich aufs Bett und tat, als ob sie schlief. Am nächsten Tag, nach der Arbeit, durchsuchte sie die kleine Wohnung und fand in der Besenkammer neben dem Eingang einen unbekannten Koffer. Er war mit Bargeld gefüllt. Sie gab sich Mühe, ihn wieder exakt so hinzustellen, wie sie ihn vorgefunden hatte.
In dieser Nacht schlug er sie erneut. Diesmal dauerte es ein paar Tage, bis die Schwellung zurückging. Als sie zum Logan International zurückkehrte, verdeckte der Hidschab die Narben, nur ihre blutunterlaufenen Augen waren hinter den schwarzen Schlitzen zu erkennen.
Von da an rührte sie nie mehr einen fremden Koffer, Rucksack oder eine Tasche an, die sie in der Wohnung fand. Sie ahnte, dass Hawala im Spiel war; ein uraltes System des finanziellen Transfers, das seinen Ursprung in der Seidenstraße hatte. Es ermöglichte die Verteilung von Geldern rund um die Welt, ohne digitale Spuren zu hinterlassen, wie sie bei der Nutzung von Banken und Überweisungen auftraten. Hawalaladars behielten in der Regel einen Prozentsatz der Überweisung für den organisatorischen Aufwand ein, doch Aliyah bemerkte keine spürbare Verbesserung der Finanzen. Als muslimische Frau mit strenger islamischer Erziehung stand es ihr nicht zu, Einzelheiten ihrer wirtschaftlichen Situation zu kennen. Sie wusste lediglich, dass die Couch verschimmelt war und ihr Mann keine Anstalten machte, sie zu ersetzen.
Vor zwei Wochen war sie etwas früher als sonst von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie fühlte sich seit einigen Tagen nicht besonders wohl. Während sie die Schlüssel aus der Handtasche fischte, geriet sie ins Stolpern und ließ sie im Treppenhaus fallen. Hätte der Mann, der in diesem Moment die Stufen herunterkam, kurz gestoppt, um sie aufzuheben, gelächelt und ihr einen schönen Tag gewünscht, hätte sie sich nichts weiter dabei gedacht. Stattdessen schob er sich an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und trat mit dem Fuß nur wenige Zentimeter neben die Schlüssel. Er war etwas älter als sie, wenn auch nicht viel, und unauffällig, abgesehen von einem markanten Merkmal: Es waren seine Augen, die sie seitdem beschäftigten. Dieser leere Blick. Obwohl es hochsommerlich heiß war, spürte sie ein Frösteln. Vielleicht hatte sie sich wirklich etwas eingefangen.
Nein, dachte sie. Ich habe ihn schon mal irgendwo gesehen. In Hamburg? Kairo? Irgendwo.
Während sie den Reinigungswagen in die an Flugsteig B32 angedockte Linienmaschine schob, fragte sie sich, ob der Mann mit den leeren Augen etwas mit der Mission des heutigen Abends zu tun hatte.
Ihr Mann hatte sich im Restaurant krankgemeldet, was Aliyah seltsam vorkam, da er sich offenkundig bester Gesundheit erfreute. Doch sie akzeptierte es, wie so viele andere Dinge in ihrem Leben. Die regelmäßig erfahrene körperliche Gewalt hatte sie gelehrt, dass es besser war, keine unnötigen Fragen zu stellen. Ihr Mann erklärte ihr, Allah habe die Familie für eine wichtige Aufgabe auserwählt. Da verstand sie. Sie verstand, warum sie in Deutschland ein Arbeitsvisum für die USA beantragt hatten, warum ihr Mann diese niedere Arbeit in den Vereinigten Staaten angenommen hatte, warum sie nur zu Hause beteten und nicht in die Moschee gingen und warum er sie zwang, für ein Gehalt knapp über dem Mindestlohn Flugzeuge zu reinigen.
Die Boeing 767 war für einen morgendlichen Langstreckenflug nach Los Angeles vorgesehen und musste am Vorabend gesäubert werden, um am nächsten Tag direkt einsatzbereit zu sein.
Sie rückte ihren Hidschab zurecht und kniete sich hin, um mit der Klinge des Teppichmessers Kaugummi vom Teppich zu kratzen. Ekelhaft! Ihr und den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe war beigebracht worden, die kurze Stahlklinge zu benutzen, um das klebrige Zeug von der Unterseite der Sitze und vom Bodenbelag zu entfernen. Branchenübliche Praxis.
Was nicht zum Standardrepertoire der Branche gehörte, war das, was sie als Nächstes tat.
Sie hatte sich absichtlich zu einer Sitzreihe der ersten Klasse manövriert, von der aus sie sämtliche Kollegen im Auge behalten konnte. Zwei arbeiteten sich durch die Sitzreihen der Hauptkabine und füllten Müllsäcke mit dem Abfall des letzten Flugs des Tages. Ein anderer putzte die hintere Toilette. Ein Vorgesetzter saß in der Mitte der Kabine und überwachte ihre Fortschritte, während er auf der Checkliste die jeweiligen Kästchen als ›erledigt‹ abhakte.
Sie tat, als hätte sie etwas auf der anderen Seite des Ganges bemerkt, ging weiter zur zweiten Reihe und kniete sich hin. Als sie wieder aufstand, waren an der Unterseite der Sitze 2A und 2B Cutter mit Klebeband befestigt.
Während sich das Town Car mit Chauffeur langsam durch den morgendlichen Verkehr von New York City schlängelte, hörte Alec Christensen den vertrauten Nokia-Klingelton aus dem brandneuen Handy in der Umhängetasche. Er fischte es bei der dritten Strophe heraus, zeigte seiner Verlobten auf dem Sitz neben sich das Display und demonstrierte ihr lächelnd die auf den aktuellen Modellen verfügbare Anruferkennung.
»Du benutzt dieses Ding viel zu häufig«, schimpfte sie. »Du fängst dir noch einen Hirntumor ein.«
»Hey, Dad«, grüßte Alec, nachdem er mit dem Daumen auf die große Sprechtaste gedrückt hatte, sobald er sich das Gerät ans Ohr hielt. »Ich bin gleich da. Ach, wirklich? Das ist aber schade. Na gut. Dann treffen wir uns im Rainbow Room. Ja, genau. Um halb neun. Ja, ich sag ihr Bescheid. Wir sehen uns nachher.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Jen.
»Er muss unser Frühstück nach Midtown verlegen. Ihm kam ein Termin im Büro dazwischen, deshalb schafft er es sonst nicht rechtzeitig. Er sagt, ich soll dir sein tiefstes Bedauern ausrichten.« Er imitierte den mittelatlantischen Akzent, der in der Stimme seines Vaters so präsent war.
»Du klingst wie Julia Child.«
»Ach, komm schon, das war mindestens ein guter William F. Buckley. Hast du trotzdem Zeit, mit uns zu frühstücken?«
Jen sah auf ihre Uhr.
»Nun, mein Chef kommt heute später. Er will seinen Sohn am ersten Tag persönlich beim Kindergarten abliefern. Trotzdem sollte ich lieber nicht mitkommen. Ich befürchte, ich schaffe es sonst nicht rechtzeitig zurück. Wirst du es ihm sagen, obwohl ich nicht dabei bin?«, wechselte Jen das Thema.
»Was glaubst du denn?« Die Daumen von Alec bearbeiteten das kleine Tastenfeld.
»Warum rufst du nicht einfach an? Diese neumodischen Textmitteilungen sind mir irgendwie suspekt. Ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird. Und außerdem verpasst du den herrlichen Tag. Es ist keine einzige Wolke am Himmel.«
»Die Technikfreaks stehen drauf, und eigentlich ist es ziemlich effizient, wenn man den Dreh erst mal raushat. Man muss die Tasten einfach so oft drücken, bis der gewünschte Buchstabe erscheint. Ich wollte dem Team nur kurz Bescheid geben, dass ich mich mit ihnen um elf Uhr in der Immobilie an der 8th Street treffe.«
»Glaubst du, deine Firma wird das Gebäude kaufen?«
»Wahrscheinlich werden sie vorerst nur einen Teil davon anmieten, aber man weiß nie. Ich sage dir, die Blase wird platzen, Jen. Das nimmt kein gutes Ende, aber die Unternehmen, die überleben, werden gestärkt aus der Krise hervorgehen und massiv Marktanteile dazugewinnen.«
»Ich liebe es, wenn du über schmutzige Sachen sprichst.« Sie rutschte auf der Rückbank des Lincoln näher an den Mann heran, mit dem sie ihr weiteres Leben teilen wollte. Es wäre schneller gegangen, mit der U-Bahn nach Lower Manhattan zu fahren, aber wenn Alec in die Stadt kam, stellte ihm sein Vater immer einen Chauffeur zur Verfügung. Jen vermutete, dass es aus einem Beschützerinstinkt heraus geschah. Bei dem Gedanken, dass Alec jegliche Erinnerungen an seine Mutter fehlten, weil sie gestorben war, bevor er ins Krabbelalter kam, brach ihr das Herz.
»Was glaubst du, wie lange das Treffen dauern wird?«, erkundigte sie sich.
»Wahrscheinlich ein paar Stunden. Wenn es vorbei ist, möchte ich eine Runde joggen gehen, damit ich noch mal über das Besprochene nachdenken kann. Es ist eine große Sache für die Firma. Ich möchte sichergehen, dass wir die richtige Entscheidung treffen.«
»Ich werde nie verstehen, wie man in dieser Stadt überleben kann.«
»Ich bin damit aufgewachsen. Für mich ist es vollkommen normal.«
»Hauptsache, du bist vorsichtig. Ich mach mir immer Sorgen, wenn du allein durch die Straßen läufst. Es ist gefährlich.«
»Na ja, gefährlicher als Joggen auf dem Campus im Maloney Field bestimmt, das gebe ich zu. Aber vertrau mir, ich weiß, was ich tue.«
Sie hatten sich als Studenten an der Stanford kennengelernt, waren aber inzwischen seit zwei Jahren nicht mehr an der Uni. Alec hatte dort im Lacrosse-Team gespielt und den Vorteil genossen, an der Ostküste aufgewachsen und bestens vertraut mit einer Sportart zu sein, die auf der anderen Seite der USA noch in den Kinderschuhen steckte. Als er Jen kennenlernte, gefiel ihm auf Anhieb alles an ihr. Nach dem Abschluss entschied er, bei einem kleinen Start-up im Silicon Valley einzusteigen, das noch auf wackeligen Beinen stand und von anderen Stanford-Absolventen gegründet worden war. Wie fast alle anderen ließ er sich sein Gehalt in Form von Aktienoptionen auszahlen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen verfügte er über einen großzügigen Treuhandfonds, der es ihm ersparte, sich von Instantnudeln zu ernähren.
Jen hatte eine fantastische Einstiegschance bei Cantor Fitzgerald erhalten und startete gerade in ihr drittes Jahr als Investmentbankerin. Sie beabsichtigte, sich an der Harvard Business School zu bewerben und im nächsten Herbst mit dem Aufbaustudium zu beginnen; ein Schritt, den Alecs Vater voll und ganz unterstützte, da er hoffte, seinen Sohn so zurück an die Atlantikküste zu locken. Sie hatten sich in den letzten zwei Monaten verlobt. Alec hatte gewartet, um seinem Vater die frohe Kunde persönlich zu überbringen. Er hielt dieses behutsame Vorgehen für angebracht, nachdem sein Erzeuger ihn nach dem frühen Krebstod seiner Frau ganz allein großgezogen hatte. Dad hatte nie wieder geheiratet. Alec hatte eigentlich vorgehabt, es ihm an diesem Morgen im Windows on the World mit Jen an seiner Seite zu erzählen.
»Weißt du was?«, fragte Jen, bevor sie ihre eigene Frage beantwortete. »Es ist vermutlich besser so. Ihr beiden Männer habt euren besonderen Moment zusammen, und dann lasse ich mich zum Abendessen von ihm verwöhnen.«
»Worauf hast du Lust? Er wird mich bestimmt fragen.«
»Es ist Dienstag, wie wäre es mit dem Pool Room?«
»Dad ist zwar eher der Typ für Gegrilltes, aber für dich wird er bestimmt eine Ausnahme machen. Bist du sicher, dass ich es ihm ohne dich sagen soll?«
Sie schob ihre Hand unter Alecs Kinn und lenkte seinen Kopf sanft vom Handydisplay weg, auf dem gerade eine weitere dieser ›Textnachrichten‹ entstand.
»Ich bin mir ganz sicher.«
»Hey, Dad!«
»Auf die Minute pünktlich, mein Junge«, stellte sein Vater mit Blick auf die Patek Philippe am Handgelenk fest.
»Ich stelle meine Uhr immer fünf Minuten vor, wie du es mir früher beigebracht hast. Auf diese Weise kann ich mich fünf Minuten verspäten und trotzdem rechtzeitig da sein.«
»Das hast du falsch verstanden, mein Sohn. Es geht darum, dass man früher als die anderen da ist. Sich zu verspäten zeugt von Respektlosigkeit. Es verrät deinem Gegenüber, dass du unser wertvollstes Gut nicht schätzt …«
»Die Zeit«, vervollständigte Alec den Satz, den er im Laufe der Jahre so oft von seinem Vater gehört hatte.
»Ganz genau.«
»Siehst du, ich höre dir zu.«
»Mr. Christensen«, meldete sich der Oberkellner höflich zu Wort. »Ihr Tisch ist bereit.«
»Danke, Charles.«
Sie nahmen Platz an der ausladenden Fensterfront des legendären New Yorker Restaurants. Das Empire State Building dominierte den Blick nach Süden auf SoHo, Greenwich Village und die Zwillingstürme des World Trade Centers. An einem so klaren Tag konnte man aus dem 65. Stock sogar die Freiheitsstatue in der Ferne erkennen. Alec lächelte und stellte sich vor, wie Jen in der Lobby ihres Bürokomplexes gerade einen Happen zu sich nahm. Vielleicht hatte sie schon allein im Windows on the World gefrühstückt, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch machte, und schaute in diesem Moment zu ihm hinauf.
Dobson Christensen war tadellos gekleidet in einem dunklen Dreiteiler. Kein einziges graues Haar wirkte fehl am Platz. Seinem Schneider gelang es hervorragend, die Tatsache zu kaschieren, dass er sich körperlich nicht unbedingt in bester Verfassung befand. Wie bei vielen Männern seiner Generation beschränkte sich die sportliche Betätigung auf das Flanieren über die Golfplätze von Maidstone und gelegentliche Ausflüge in den Clove Valley Rod and Gun Club, was beides zu gleichen Teilen aus Arbeit und Vergnügen bestand.
Alecs übliches Sandhill-Road-Outfit, bestehend aus sportlich-eleganter Anzughose und blauem Button-down-Hemd, wurde durch einen dunkelblauen Blazer und eine Krawatte komplettiert. In New York kleidete er sich aus Gewohnheit förmlicher, denn er traf sich mit seinem Vater zum Essen in Lokalitäten, die den in Palo Alto üblichen, etwas legereren Kleidungsstil nicht gutgeheißen hätten.
Sein Vater legte ihm feierlich eine weiße Serviette in den Schoß, während ein Kellner eine French Press mit Kaffee abstellte. Der ältere Christensen war hier Stammgast.
»Für Sie, Sir?«
»Ich nehme das Gleiche, bitte.«
»Erzähl mir etwas über das Potenzial des Internets«, forderte Dobson seinen Sohn auf. »Und überspring nicht den Teil, in dem es darum geht, wo ich das Geld anderer Leute am besten investieren sollte.«
Dobson Christensen galt in der Geschäftswelt als Anomalie. Während die meisten, die über Geld und Mittel verfügten, in der akademischen Welt Zuflucht gesucht hatten, um dem Vietnamkrieg zu entgehen, hatte Dobson den exakt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Er brach sein Studium in Princeton ab und verpflichtete sich freiwillig beim Marine Corps. Jahre später behauptete er, das nur getan zu haben, um ›es hinter sich zu haben‹. Alec wusste es besser. Hinter dem Anzug, den glänzend polierten Schuhen und dem Country-Club-Gehabe verbarg sich ein leidenschaftlicher Patriot, der jedes Schlachtfeld einem Dienst bei der Nationalgarde oder der Beurlaubung als eingeschriebener Student vorzog. Er fand sich als Bordschütze in einem Huey-Kampfhubschrauber wieder, der beim ersten Einsatz vom Himmel geholt wurde, bevor er überhaupt einen Schuss abgeben konnte. Pilot und Co-Pilot wurden dabei getötet. Lance Corporal Christensen überlebte mit Frakturen an Wirbelsäule, Becken, Hüfte und Oberschenkel. Er verbrachte den Rest der Dienstzeit beim Marine Corps mit der Genesung, zunächst in Okinawa, später dann im Walter Reed. Gehstock und Hinken erinnerten ihn tagtäglich daran. Sprach man ihn jedoch darauf an, behauptete er, sein Purple Heart sei eine VC-Schützenmedaille. Er scherzte oft, mehr Zeit im Ausbildungslager als in Vietnam verbracht zu haben.
Der Kellner kam zurück und reichte ihnen die Speisekarten. Dobson legte seine direkt auf die Seite. »Ich nehme das Omelette Forestière mit einer dicken Scheibe von Ihrem besten Bacon.« Er war jemand, für den Verzicht ein Fremdwort war.
»Ähm, und ich nehme …« – Alec überflog die Auswahl – »die …«
Ein Geräusch, das er nur mit einem in Höchstgeschwindigkeit vorbeirauschenden Güterzug in Verbindung bringen konnte, erschütterte den Raum. Die Gäste klammerten sich fassungslos an den Tischen fest und wappneten sich für das, was einige für ein Erdbeben hielten, obwohl die linke Gehirnhälfte ihnen einflüsterte, dass es auf keinen Fall stimmte.
Alec schaute zu seinem Vater, dessen Augen nach Südosten gerichtet waren. Alec folgte dem Blick, stand auf und presste Hände und Gesicht an die Scheibe.
Er beobachtete, wie das Flugzeug von der anderen Seite des Hudson River zwischen den Gebäuden in die Stadt eintauchte. Im Sinkflug kollidierte es mit dem Nordturm des World Trade Centers.
Feuer, Rauch, Gemetzel, Tod. Jen.
Alec sprintete zum Aufzug.
»Komm schon!«, rief er. Er schielte Richtung Treppe und überlegte, ob er sie benutzen sollte, zwang sich aber zur Geduld, weil der Aufzug ihn trotz der zusätzlichen Wartezeit deutlich schneller ins Erdgeschoss brachte.
Die meisten Gäste blieben an den Fenstern sitzen und starrten auf den Rauch, der aus dem Nordturm aufstieg. Als die Türen des Fahrstuhls zur Seite glitten, war Alec der Einzige, der einstieg.
Bitte, Gott, lass sie am Leben sein. Lass sie in der Lobby sein. Lass sie einfach leben!
Er kämpfte gegen die bittere Gallenflüssigkeit in der Kehle an, kniff die Augen zusammen und wünschte sich, der Aufzug würde nicht so lange brauchen.
Wo genau ist das Flugzeug eingeschlagen?
Er wusste, dass Cantor Fitzgerald die Stockwerke 101 bis 105 nutzte und das Windows on the World ganz oben im Nordturm angesiedelt war.
Mach schon! Mach schon!
Die Aufzugtüren öffneten sich. Alec stürzte durch eine Gruppe von Geschäftsleuten, die nichts von der Katastrophe ahnten, die sich in diesem Moment wenige Kilometer weiter südlich ereignete. Er erreichte die Straße im Vollsprint. Er steuerte auf die U-Bahn-Station zu, blieb kurz stehen und blickte auf die Stufen, die nach unten führten, dann zurück auf den dunklen Qualm, der den blauen Himmel über seiner geliebten Stadt ausfüllte. Er fasste einen Entschluss und rannte los.
Er stürzte auf den Rauch und die Flammen zu und wich denen aus, die noch nicht wussten, dass die Welt sich verändert hatte. Sein Herz pochte, die Lungenflügel brannten, die Beine trieben ihn vorwärts. Er spurtete von Kreuzung zu Kreuzung, ohne auf das Hupen und die Flüche derjenigen zu achten, die er dabei behinderte oder umstieß.
Sirenen. Ihr Geräusch würde er nie mehr vergessen.
Als das unrettbar beschädigte Gebäude vor ihm an Größe zunahm, schob er sich an den Menschen vorbei, die in die entgegengesetzte Richtung stolperten, etliche in Panik, andere wie in Trance. Er passierte Polizeibeamte und Feuerwehrleute, die ihn aufforderten, sofort umzukehren. Dann hörte er die kreischenden Triebwerke von United-Airlines-Flug 175, der von Süden her einschlug. Der Aufprall erschütterte ihn tief in der Seele.
Zwei Flugzeuge. Er musste sich zu Jen durchkämpfen. Lieber Gott, lass sie in Ordnung sein.
Er drängte weiter, näher an das zerbrochene Glas und das verbogene Metall, in Richtung des Kerosins, das sich einen Weg durch das stählerne Herz der Struktur brannte. Er spurtete auf die Toten und Sterbenden zu. Er spurtete auf die Körper zu, die vom Himmel stürzten. Er spurtete auf Jen zu. Er spurtete auf die Hölle zu.
»Setz dich«, befahl ihr Mann.
Aliyah tat es. Der muffige Geruch der Couch, auf der er sie zum ersten Mal gewürgt hatte, stieg ihr in die Nase.
Sie hatten bereits das Fadschr, ihr Morgengebet, getrennt voneinander erledigt, er im Hauptraum und Aliyah im Schlafzimmer. Der Islam verbot es Männern und Frauen, die zweite der fünf Säulen des Islam gemeinsam zu praktizieren.
Sie verrichtete die rituelle Wudhu-Teilwaschung am Becken im Bad, während er es in der Küche tat, und reinigte rituell den Körper: Mund, Nasenlöcher, Hände, Arme, Kopf und Füße bis zu den Knöcheln. Es war zwar kein reines Wasser, wie es der Koran vorschrieb, aber sie befanden sich auf feindlichem Boden, sodass Allah ihnen diese Abweichung sicherlich verzieh. Statt an jenem Morgen das Salāt zu verrichten, hatte sie auf dem Bett gesessen und durch das kleine, schmutzige Fenster gestarrt, während ihr Mann Koranverse auf Arabisch rezitierte. Im Haus wurde Farsi gesprochen, aber die wahren Anhänger des Islam beteten in der Sprache des Propheten. Sie betrat den Hauptraum erst, als sie hörte, dass er fertig war und den kleinen Fernseher einschaltete.
Schweigend verfolgten sie die Berichterstattung von CNN.
Als das erste Flugzeug in das World Trade Center einschlug, erinnerte sie sich. Sie erinnerte sich an Muhammad Haidar Zammar aus der Al-Quds-Moschee während ihrer Zeit in Deutschland. Sie erinnerte sich an seinen Hass auf Amerika. Sie erinnerte sich an sein nicht enden wollendes Dozieren. Sie erinnerte sich an den harten Boden und die abblätternde Farbe an den Wänden des Gebetsraums der Frauen. Und sie erinnerte sich an den Mann mit den leeren Augen. Obwohl sein Bild erst in ein paar Tagen über die Fernsehbildschirme in aller Welt flimmern würde, erinnerte sie sich daran, wie sie ihm im Treppenhaus zum ersten Mal begegnet war. Sie erinnerte sich, wie er in der Hamburger Wohnung neben ihrem Mann gesessen hatte. Wortkarg, fast unnahbar. Er ignorierte sie damals völlig. Sie hatte ihnen Tee gekocht. Sie redeten über Flugzeuge. Sein Name war Mohammed Atta.
»Wir haben über unseren ungerechten Feind gesiegt«, stellte ihr Mann fest, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.
»Gepriesen sei Allah für diesen Sieg«, antwortete sie pflichtschuldig.
»Dies«, sagte er und deutete auf die Rauchwolken, die aus dem Gebäude emporstiegen, das bis zu diesem Zeitpunkt ein Symbol für die wirtschaftliche Macht Amerikas in der Welt gewesen war. »Dies ist erst der Anfang.«
TEIL 1
URSPRÜNGE
»Einer der auffälligsten Beweise für die tatsächliche Existenz Satans … findet sich in der Tatsache, dass er den Verstand vieler Menschen in Bezug auf seine Existenz und seine Taten auf eine Weise beeinflusst, dass sie glauben, er existiere nicht.«
– William Ramsey
1
CIA-Bewerbungsstelle
Dulles Discovery Building
Chantilly, Virginia
Gegenwart
»Ist Ihr Vorname James?«
»Ja«, antwortete Reece.
»Haben Sie jemals gelogen, um sich aus einer schwierigen Lage zu befreien?«
Reece zögerte.
»Ja.«
»Beabsichtigen Sie, diese Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten?«
Eine weitere Pause.
»Ja.«
»Ist heute Mittwoch?«
»Ja.«
»Sind wir in Virginia?«
»Ja.«
»Haben Sie jemals einen Mord begangen?«
»Äh …«
»Nur ja oder nein, bitte.«
»Nein.« Reece sah, wie der Prüfer eine Notiz machte.
»Sind Sie Bürger der Vereinigten Staaten?«
»Ja.«
Im peripheren Sehen registrierte Reece, wie der Prüfer einen weiteren Vermerk und eine Anpassung am Laptop vornahm.
Großartig.
»Haben Sie jemals einer Gruppe angehört, die die Regierung der Vereinigten Staaten stürzen wollte?«
Reece saß in einem unscheinbaren Raum in einem Bürokomplex, wie sie in zahllosen amerikanischen Städten existierten. Dieser befand sich in Chantilly im Bundesstaat Virginia und gehörte einer von der CIA gegründeten Scheinfirma. Reece hatte den ersten Tag seiner dreitägigen Evaluierung zur Hälfte hinter sich gebracht. Trotz früherer Erfahrungen und Kontakte mit der Agency musste er die medizinischen und psychologischen Tests bestehen, um offiziell in das Ground-Branch-Team aufgenommen zu werden. Vorschrift war Vorschrift.
»Versuchen wir es noch einmal«, meinte ›John‹ in einem Tonfall, der Verzweiflung suggerieren sollte. »Antworten Sie ehrlich mit Ja oder Nein. Und bleiben Sie ganz ruhig. Konzentrieren Sie sich auf einen Punkt an der Wand vor Ihnen, sonst müssen wir wieder von vorn anfangen.«
Reece spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er war schon einmal Opfer eines Verhörs gewesen, und damals wie heute hätte er dem Vernehmenden am liebsten die Kehle durchgeschnitten. Im Wartebereich hatte er ein Formular ausgefüllt, auf dem exakt dieselben Fragen standen, die ihm gerade gestellt wurden. Er hatte sie sogar mit seinem ›Prüfer‹ durchgesprochen, ehe man ihn an die Maschine anschloss.
»Haben Sie jemals einer Gruppe angehört, die die Regierung der Vereinigten Staaten stürzen wollte?«, fragte der Prüfer ein zweites Mal.
»Nein.«
»Haben Sie jemals für einen ausländischen Geheimdienst gearbeitet?«
Reece versuchte, die Frage im Kopf umzuformulieren. Stattdessen drängte sich eine Erinnerung auf: Iwan Scharkow stand im Schnee vor seiner Datscha in Sibirien, hinter ihm loderten die Flammen des abgestürzten Mi-8-Transporthubschraubers, um ihn herum verteilten sich die Leichen seiner Sicherheitsleute, die Reece getötet hatte.
Bieten Sie mir an, für mich zu spionieren, Mr. Reece?
»Nein«, antwortete Reece.
Der Prüfer machte eine weitere Notiz.
Eine Blutdruckmanschette drückte gegen Reece’ linken Arm, zwei mit Pressluft gefüllte Schläuche, sogenannte Pneumografen, umgaben Brust und Bauch, um die Atmung aufzuzeichnen, und Galvanometer waren am ersten und dritten Finger der rechten Hand angebracht, um Schweißabsonderungen zu erfassen. Dank Ana Montes, einer hochrangigen kubanischen Analystin der Defense Intelligence Agency, die während ihres Studiums an der Johns Hopkins University vom kubanischen Geheimdienst angeworben worden war, war sein Stuhl mit einem Sensorkissen ausgestattet. Von 1985 bis zu ihrer Verhaftung wegen Spionagevorwürfen im Jahr 2001 gab sie routinemäßig geheime Informationen nach Havanna weiter, von wo aus sie bei den Sowjets landeten. Später wurden sie dann an China, Nordkorea, Venezuela und den Iran verkauft. Ihre kubanischen Betreuer hatten ihr beigebracht, den Lügendetektor zu manipulieren, indem sie den Schließmuskel anspannte, weshalb Reece nun auf einem solchen Sensor hockte. Er trug Socken, die Füße ruhten auf zwei einzelnen Pads. Jede Bewegung wurde vom Lügendetektor akribisch aufgezeichnet.
Der Raum war klein, ohne Platzangst zu erzeugen, geschätzt doppelt so groß wie das Behandlungszimmer in einer Arztpraxis. Reece hielt es für denkbar, dass die cremefarben getünchten Wände aufgrund der Angst, die hier fast täglich Einzug hielt, zu ihrem jetzigen Farbton verblasst waren. In der oberen linken Ecke erspähte er eine Kamera, ging aber davon aus, dass die CIA noch ein paar weitere versteckt hatte, damit ihnen bloß kein Augenzucken oder eine subtile Muskelanspannung entging. Obwohl er auf eine leere Wand starrte, war etwas abseits der Mitte ein Polizeispiegel montiert worden, natürlich nur von der anderen Seite transparent, um ihn beobachten zu können. Ansonsten gab es keinerlei Ablenkungen, abgesehen von dem kleinen Tisch zu seiner Linken, an dem der Prüfer vor dem Rechner saß. Der Raum war zweifellos so gestaltet, dass sich die CIA-Anwärter darin so unwohl wie möglich fühlten.
»Haben Sie jemals ein Verbrechen begangen, für das Sie nicht gefasst wurden?«
Visionen von seiner toten Frau und seiner Tochter beschleunigten den Herzschlag. Reece schluckte, als er sich erinnerte, wie er den silbernen Mercedes G550 SUV auf der Bergstraße außerhalb von Jackson durch die Vergrößerung des Nightforce NXS 2,5-10 × 32-Zielfernrohrs beobachtete; kurz bevor er den Abzug drückte, um eine Barnes Triple Shock .300 Winchester Magnum durch den Hirnstamm von Marcus Boykin zu schicken – der ersten Person, die Reece eliminierte, um den Tod seiner Familie und der SEAL-Kameraden zu rächen.
»Mr. Reece?«, meldete sich sein Prüfer zu Wort.
»Was?«
»Wir müssen diese Fragen lückenlos abarbeiten. Haben Sie jemals ein Verbrechen begangen, für das Sie nicht gefasst wurden?«
Reece vollzog in Gedanken nach, wie sich das scharfe Ende seines Winkler/Sayoc-Tomahawks in den Knochen und der Hirnmasse von Imam Hammadi Ismail Massouds zertrümmertem Schädel verfing, bevor er es mit einer Drehung befreite und sich an den Knorpeln der Nackenmuskulatur des Terroristen zu schaffen machte. Reece hatte den Kopf vom Körper des Terroristen getrennt, um ihn als Warnung an seine Mitstreiter auf den Stacheldrahtzaun der Moschee zu spießen.
»Nein«, log Reece.
»Haben Sie antipolygraph.org besucht, um sich auf diese Prüfung vorzubereiten?«
»Ja.«
Diese Antwort beunruhigte den Prüfer sichtlich.
»Sitzen Sie im Moment?«
»Ja.«
»Haben Sie jemals einen Mord begangen?«
»Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
»Nur Ja- oder Nein-Antworten.«
Wieder entfesselte Reece’ Gedächtnis Erinnerungen, die sich nicht verdrängen ließen. Detailliert entstand vor seinem inneren Auge die Szene, wie er am Handy die Sendetaste betätigte, die die Selbstmordweste des politischen Lobbyisten Mike Tedesco explodieren ließ und ihn und SEAL Admiral Gerald Pilsner in menschlichen Sprühnebel verwandelte.
Er sah vor sich, wie er Josh Holder die HK-Pistole in den Mund rammte und spürte, wie dessen Zähne um den langen Schalldämpfer herum brachen, bevor die Kaliber-45-Waffe den Hinterkopf des Mannes vom Defense Criminal Investigative Service zerfetzte.
»Nein.«
»Haben Sie jemals geplant, die US-Regierung zu stürzen?«
Reece dachte an den EFP-Sprengsatz, den er gebaut hatte. In Übersee war er ein Instrument des Terrors, aber in der Heimat hatte Reece die Taktiken und Techniken des Feindes adaptiert und war selbst zum Aufständischen geworden. Der Sprengsatz schickte ein Geschoss aus geschmolzenem Kupfer durch den gepanzerten Suburban des Kongressabgeordneten J. D. Hartley in SoHo, weidete den Verräter aus und verlagerte die Realität des Krieges an die Heimatfront. Reece ließ den entsetzten Blick in den Augen von Verteidigungsministerin Loraine Hartley Revue passieren, während er der Politikerin in ihrem Haus auf Fishers Island zweimal in die Brust und einmal in den Kopf schoss.
»Nein.«
»Ist die Wand weiß?«
»Irgendwie schon.«
»Noch einmal: nur Ja oder Nein.«
»Ja.«
»Waren Sie jemals an der Folterung von feindlichen Kämpfern beteiligt?«
Der Geruch von Erbrochenem und Pisse auf dem Boden von Saul Agnons Hotelzimmer weckte Erinnerungen an das Waterboarding des Anwalts und sein vorzeitiges Ableben durch eine Mischung illegaler Präparate, die Reece erworben hatte, um den Mord wie einen Tod durch Überdosis zu inszenieren. Das hatte ihm ausreichend Zeit verschafft, die verbleibenden Ziele zu eliminieren.
Reece wurde in Gedanken erneut mit dem Entsetzen in den Augen von Captain Howard konfrontiert, während er den JAG-Offizier mit der grotesk gebogenen Klinge des Half-Face-Karambits ausweidete. Als ihm die Eingeweide durch die Finger glitten und auf dem weichen Dschungelboden landeten, hatte Howard verzweifelt versucht, sie zurück in den Körper zu schieben. Reece spießte sie daraufhin an einem Baum auf und zwang den Anwalt, um den Stamm herumzulaufen, bis er davor zusammenbrach und von den Kreaturen des Sumpfes bei lebendigem Leib gefressen wurde.
Reece dachte an den Moment, als er den Wodka an General Kassim Jedid in Athen weiterreichte; ein Glas, das mit einem flüssigkeitslöslichen Nowitschok-Vorläufer versetzt war.
Und ihm fiel wieder ein, wie er die Spritze mit Capsaicin aufzog, die er Dimitri Maschkow injizierte, um Informationen zu erhalten, die ihn zum Aufenthaltsort von Oliver Grey führten.
»Nein«, antwortete er stoisch.
»Haben Sie illegale Drogen konsumiert, die Sie bisher nicht erwähnt haben?«
Reece schloss die Augen und rief sich die Medikamente in Erinnerung, die seine Truppe vor ihrem letzten Einsatz erhalten hatte. Diese PTBS-Betablocker verfügten über unheilvolle Nebenwirkungen; Nebenwirkungen, die eine Gruppe von militärischen, politischen und privaten Verschwörern brauchte, um einen Hinterhalt in Afghanistan und die Ermordung von Reece’ Familie in ihrem Haus in Coronado zu vertuschen.
»Nein.«
»Haben Sie in Ihren Bewerbungs- oder Sicherheitsunterlagen vorsätzlich falsche Angaben gemacht?«
»Nein.«
»Haben Sie jemals etwas von Ihrem früheren Arbeitsplatz entwendet?«
Reece fiel ein, wie er den Rollwagen durch den Flur zum Waffenschrank seiner Truppe in der Waffenkammer von SEAL Team Seven rollte und ihn mit Gewehren, NODs, AT-4s, LAW-Raketen, einem Maschinengewehr, Claymores und C4-Sprengstoff für seine Rachemission belud. Er schaffte alles vom Gelände, bevor der Admiral und der JAG seine Sicherheitsfreigabe aufhoben.
»Nein.«
»Haben Sie jemals etwas im Wert von mehr als 500 Dollar gestohlen?«
»Nein«, sagte Reece und versuchte erfolglos, die Vision von sich selbst zu verdrängen, wie er die entwendeten Waffen in den Kofferraum seines Land Cruisers lud.
»Unterhalten Sie geheime Beziehungen zu ausländischen Staatsangehörigen?«
Die Gesichter von Iwan Scharkow, Marco del Toro und Mohammed Faruk blitzten vor seinem geistigen Auge auf.
»Nein.«
»Haben Sie jemals eine Kriegstrophäe behalten?«
Reece hielt inne.
»Nein.«
»Haben Sie jemals staatliches Eigentum verkauft?«
»Nein.«
»Haben Sie jemals feindliche Waffen aus Übersee mitgebracht oder kennen jemanden, der das getan hat?«
»Nein.«
»Gibt es Punkte in Ihrem Werdegang, die Sie für diese Stelle disqualifizieren?«
Reece musste an seinen besten Freund und ehemaligen Teamkollegen Ben Edwards denken, wie er den Zünder hochhielt, der an einer um den Hals der Journalistin Katie Buranek gewickelten Zündschnur befestigt war, die mit zerschrammtem Kopf, Tränen in den Augen und einem Tuch um den Mund auf dem Boden kauerte. Ben hatte ungläubig mitverfolgt, wie Reece den Finanzier Steve Horn und die amerikanische Verteidigungsministerin aus dem Verkehr zog, ehe er sein M4 auf das Gesicht des CIA-Attentäters richtete und abdrückte, um das letzte Ziel von seiner Abschussliste zu eliminieren.
»Mr. Reece?«
»Nein. Nichts.«
›John‹ nahm die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.
Dann tat er, als ob er den Computer ausschaltete, obwohl Reece genau wusste, dass er weiterhin die Vitalwerte überwachte und Audio- und Videoaufzeichnungsvorrichtungen nicht gestoppt waren. Er fragte sich, wer ihn durch die Zweiwegescheibe beobachtete.
»Mr. Reece, das läuft nicht gut.«
»Wirklich? Ich bin schockiert.«
»Sie müssen das ernst nehmen. Ich muss Ihnen sagen, dass fast jede Antwort, die Sie gegeben haben, auf eine Täuschung des Lügendetektors hindeutet, selbst bei der Frage nach Ihrem Namen.«
»Nun, ich habe oft Pseudonyme benutzt.«
»Das ist uns bewusst, Mr. Reece. Allerdings scheinen auf dem Fragebogen etliche dieser Decknamen zu fehlen.«
»Es waren ein paar ereignisreiche Jahre, John.«
»Lassen Sie mich kurz mit meinen Vorgesetzten sprechen. Ich bin gleich wieder da.«
›John‹ ließ Reece allein zurück, weiterhin an den Computer angeschlossen und überwacht.
Reece schielte zur Kamera unter der Decke und schüttelte den Kopf.
Was für Wichser!
Reece wusste, dass der Lügendetektor weitgehend Show war. Sicher, das Gerät erfasste Blutdruck, Atmung, Schweißabsonderungen und Muskelbewegungen, aber es gab einen Grund dafür, dass die Ergebnisse eines Lügendetektortests von keinem Gericht der zivilisierten Welt anerkannt wurden. Sein Nutzen bestand darin, dem Probanden vorzugaukeln, er könne Täuschungen aufdecken. Letztlich handelte es sich um ein sündhaft teures Requisit, das im Laufe der Jahre mehr als einen Verdächtigen dazu gebracht hatte, Verbrechen einzugestehen, mit denen er sonst mit ziemlicher Sicherheit davongekommen wäre.
Reece hatte der Website antipolygraph.org vor Jahren im Rahmen eines Gefechtsfeldverhörkurses bei den SEAL-Teams einen Besuch abgestattet. Einem anerkannten Lehrgang für ›taktische Verhöre‹, der dem Zweck diente, Einsatzkräften vor Ort, denen nicht der Luxus eines Battlefield Interrogation Teams der Einheit zur Verfügung stand, die Grenzen des Erlaubten aufzuzeigen. Die Techniken, die im Kurs vermittelt wurden, entsprachen eher den Methoden, die ein polizeilicher Ermittler in den Vereinigten Staaten bei der Befragung eines Verdächtigen anwendete. Reece lernte die dunklen Seiten der Verhörkunst erst kennen, als er auf dem Höhepunkt des Krieges zu einer verdeckten CIA-Einheit in den Irak versetzt wurde. Dort vermittelte man ihm zahlreiche Kniffe, die sich im Laufe der Jahre als nützlich erwiesen, Kniffe, die in keinem Handbuch standen und sich nicht über Google recherchieren ließen.
Reece schloss die Augen.
Beruhig dich, James. Das ist alles Teil des Spiels. Eines Spiels, das du gewinnen musst.
Denk dran, warum du hier bist: Du hast der Witwe von Freddy Strain ein Versprechen gegeben.
»Ich finde heraus, wer dafür verantwortlich ist, Joanie. Ich spüre jeden auf, der eine Mitschuld an seinem Tod trägt, das verspreche ich dir.«
Der Attentäter atmete noch: Nizar Kattan, ein syrischer Scharfschütze, den Reece unter die Erde bringen wollte. Um den Attentäter ausfindig zu machen, war Reece auf die soliden nachrichtendienstlichen Methoden der CIA angewiesen.
Dann gab es da noch den Brief. Einen Brief und einen Schließfachschlüssel von seinem Vater. Einen Brief aus dem Grab.
Das kann warten, Reece. Übersteh erst mal diesen Tag.
Er hatte zu nachtschlafender Stunde mit einer Blutabnahme begonnen. Zunächst gab er eine Urinprobe ab, daran schlossen sich Seh- und Hörtests an. Morgen sollte er einen Termin in der medizinischen Abteilung wahrnehmen, um die Untersuchung abzuschließen. Er hatte den psychologischen MMPI-2-Test mit 567 Fragen absolviert, die er als gleichermaßen amüsant und irritierend empfand. Am dritten Tag würde er sich mit einem Psychologen der Agency zusammensetzen müssen. Reece wusste, dass der MMPI-Test dazu diente, psychologische Schwachstellen aufzudecken, die einen Bewerber um eine Stelle bei der Central Intelligence Agency unter Umständen aus dem Spiel nahmen. Er zielte darauf ab, unterdrückte Aggressionen, Psychosen, Alkoholprobleme, Angstzustände, Eheprobleme, Ängste, Depressionen, Wut, Zynismus, Minderwertigkeitskomplexe, Abwehrhaltungen, antisoziales Verhalten, Schizophrenie und Paranoia aufzuspüren.
Paranoia.
Reece fiel auf, dass der zweite Tag im ausgedruckten Zeitplan einen längeren ›Freizeit‹-Block enthielt. Er wusste, dass es sich dabei um einen Platzhalter handelte, um den Lügendetektortest zu ›wiederholen‹. Im Laufe der Jahre hatten so viele SEALs das CIA-Verfahren durchlaufen, dass sich die Einzelheiten längst herumgesprochen hatten. Am Abschlusstag stand ferner ein Besuch im Büro von Victor Rodriguez an, dem Direktor des sogenannten Special Activities Center. Das SAC leitete den paramilitärischen Flügel der Agency. Vic hatte bei ihrer ersten Begegnung versucht, ihn für die Abteilung Ground Branch zu rekrutieren. Damals war Reece auf der U. S. S. Kearsarge in der Adria gelandet, nachdem er und Freddy Strain Amin Nawaz ausgeschaltet hatten, den als Osama bin Laden Europas bekannten Terroristen. Reece erklärte sich seinerzeit bereit, den Auftrag zu Ende zu bringen, den er im Auftrag der US-Regierung begonnen hatte – nämlich einen ehemaligen CIA-Agenten aufzuspüren und umzudrehen oder zu töten. Er kannte ihn von einem gemeinsamen Einsatz in Bagdad, bei dem sie sich angefreundet hatten. Dieser Auftrag führte zu Freddys Tod durch die Kugel eines Scharfschützen in Odessa.
Seine Beziehung zu Katie erlitt einen kleinen Rückschlag, als er für sechs Monate in der sibirischen Tundra verschwand, um den für den Tod von Reece’ Vater verantwortlichen CIA-Verräter aufzuspüren. Einen legendären SEAL aus der Vietnam-Ära und CIA-Agenten aus dem Kalten Krieg. Reece blickte auf die Rolex Submariner am Handgelenk; eine Uhr, die sein Vater im PX in Saigon gekauft hatte und die ihm schließlich in einem Hinterhof in Buenos Aires von der toten Hand gerissen worden war. Er hatte sie dem dafür verantwortlichen Mann abgenommen, bevor er ihn mit 700 Gramm RDX aus einer russischen Claymore ins Jenseits schickte.
Der Lügendetektorspezialist war bereits seit zehn Minuten verschwunden.
Hat er wirklich ein Treffen mit einem Vorgesetzten? Unwahrscheinlich. Sie wollten ihn bloß ins Schwitzen bringen. Das gehörte alles zum Plan: ahnungslose Personen dazu zu verleiten, kompromittierende Verbrechen zuzugeben, wodurch sich der Prüfer, der sie dabei ›erwischte‹, eine goldene Nase verdiente. Mit Vorliebe ertappten und sortierten sie Leute mit Special-Ops-Background aus.
Katie hatte Reece’ Entscheidung unterstützt, sich auf eine provisorische Anstellung bei der CIA einzulassen. Sie begleitete ihn seit den ersten Schritten und hatte geholfen, die Verschwörung aufzudecken, die zum Hinterhalt seines SEAL-Teams in den Bergen des Hindukusch und der Ermordung seiner kleinen Tochter und seiner schwangeren Frau führte. Sie hatte abgewartet und sich um ihn gesorgt, als er nach der Rettung ihres Lebens vor der Küste von Fishers Island, New York, vorübergehend verschwand, und harrte am Krankenbett aus, während er sich im Walter Reed Army Medical Center von den Folgen einer Gehirnoperation erholte. Ihre Beziehung hatte in den Bergen von Montana eine romantische Wendung genommen, bevor sie auf heimischem Boden von einem Killerkommando der russischen Mafia unter der Leitung von Oliver Grey ins Visier genommen wurden. Sie hatte viel durchgemacht. Dass er in Russland untergetaucht war, machte sie zwar nicht gerade glücklich, aber sie konnte die Gründe nachvollziehen. Reece befand sich auf einer Mission, die noch nicht beendet war.
Er hörte den Türmechanismus klicken und drehte den Kopf. Der Direktor des Special Activities Center der CIA betrat den Raum.
»Mein Gott, Reece, können Sie denn gar nichts auf die simple Tour erledigen?«, fragte Victor Rodriguez.
Vic war ein Agent der zweiten Generation. Ein ehemaliger Offizier der Army Special Forces, dessen Vater eine Einheit der Brigade 2506 angeführt hatte, der von der CIA ausgebildeten Gruppe von Exilkubanern, die sich 1961 am Sturz von Fidel Castro in der sogenannten Schweinebucht versucht hatte.
Vic hatte sich in den Rängen hochgearbeitet und mit der Rekrutierung von Reece begonnen, als er die Special Operations Group leitete, den paramilitärischen Teil der Abteilung, die bis 2016 Special Activities Division hieß. Er bevorzugte nach wie vor die frühere Bezeichnung. Mittlerweile zeichnete er für die SOG und die Political Action Group verantwortlich, zwei Einheiten, deren Arbeit eng miteinander verknüpft war. In den dunkleren Winkeln der Agency fühlte er sich am wohlsten. Das allgegenwärtige Schreckgespenst der Bahía de Cochinos hatte Spuren bei ihm hinterlassen. Daraufhin schwor er sich, nie wieder ein Scheitern an der Schnittstelle zwischen Geheimdienst und verdeckten Einsätzen zuzulassen. Victor Rodriguez war für den dritten Arm der US-Außenpolitik zuständig. In Fällen, in denen Diplomatie und offener militärischer Druck oder Intervention versagten oder aus politischen Gründen nicht möglich waren, offerierte das Special Activities Center die tertia optio: die dritte Option.
Vic hatte Reece davon überzeugt, sich als Auftragnehmer zu verpflichten, und nach dessen Rückkehr aus Russland alle notwendigen Hebel in Bewegung gesetzt. Er wollte den ehemaligen Kampftaucher als paramilitärischen Einsatzoffizier der SOG an Bord haben. In einem nächtlichen Telefonat vor einem Monat hatte Reece dem Vorschlag zugestimmt. Dieses dreitägige Screening gehörte zum Einstellungsverfahren. Wenn Reece bestand, erhielt er ein offizielles EOD-Datum für den Dienstantritt, gefolgt von einer Ausbildung auf der Farm.
»Können Sie diesem Idioten ausrichten, dass er mit den albernen Spielchen aufhören soll, damit wir es hinter uns haben?«
»So funktioniert das nicht. Wir haben über den Lügendetektor gesprochen, Reece. Sie müssen bestehen, wie alle anderen auch. Was ist daran so schwer? Ein paar Checks bei den Ärzten, in einen Becher pinkeln, einige Fragen beantworten. Denken Sie daran, Sie wurden vom Präsidenten begnadigt. Selbst wenn Sie bei der Prüfung lügen, sagen Sie eigentlich die Wahrheit.«
»Das heißt aber nicht, dass es mir gefallen muss.«
»Egal. Sie müssen es nur tun. Ist das nicht sogar ein SEAL-Spruch?«
»Man muss es nicht mögen, man muss es nur tun«, bestätigte Reece.
»Gut. Also ziehen Sie es durch. Man nimmt die Sache nicht allzu genau, nachdem Sie und Freddy den ehemaligen Präsidenten gerettet haben. Und auch wenn es nicht offiziell bestätigt oder gebilligt wird, kursieren Gerüchte, dass Sie Oliver Grey ausgeschaltet haben. Die CIA und insbesondere die Spionageabwehr mögen keine Verräter in den eigenen Reihen. Nicholson, Ames und Grey sind ihnen durchgerutscht. Es wird gemunkelt, dass Sie Grey die Bestrafung verpasst haben, die sich die meisten in der Agency für einen Verräter wie ihn wünschen.«
»Ich beantworte die Fragen, so gut ich kann, Vic.«
»Das sind bloß harmlose Gegenspionage- und Lifestyle-Polyfragen. Sie wissen, wie es läuft. Ihr Prüfer wird Sie auffordern, morgen wiederzukommen. Spielen Sie mit und wir verschaffen Ihnen einen Platz auf der Farm.«
»Verstanden. Sagen Sie ›John‹ einfach, er soll aufhören, mir auf die Nerven zu fallen.«
»Spielen Sie mit«, wiederholte Vic, bevor er sich umdrehte, um den Polygraphenraum zu verlassen. »Und bitte schleudern Sie ihn nicht durch den Zweiwegespiegel. Die Teile sind teurer, als man denkt.«
Als ›John‹ zurückkam, drosselte Reece den Herzschlag, wie er es vor einem Scharfschützenschuss aus großer Distanz tun würde. Er konzentrierte sich auf Katies Lächeln und parierte mit den richtigen Ja- und Nein-Antworten. Immerhin bot sich nicht jeden Tag die Chance, einen Lügendetektor auszutricksen.
Das Bestehen des Tests bedeutete für Nizar Kattan, dass er dem Tod einen Schritt näher kam.
Zwei Tage später sichtete Vic die Testergebnisse von Reece. Er hatte keine Drogen im Blut, keine sexuell übertragbaren Krankheiten, und das Seh- und Hörvermögen übertraf die Vorgaben der Agency deutlich. Es waren der Lügendetektor- und der MMPI-Test, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Der MMPI hatte paranoide und aggressive Persönlichkeitsmerkmale zutage gefördert, was nicht völlig unerwartet kam, wenn man bedachte, was Reece in den letzten drei Jahren durchgemacht hatte. Vic lenkte seine Aufmerksamkeit vom multiphasischen Persönlichkeitsinventar auf die Auswertung des Lügendetektors:
IST IHR VORNAME JAMES?
FALSCH POSITIV
HABEN SIE JEMALS GELOGEN, UM SICH AUS EINER SCHWIERIGEN LAGE ZU BEFREIEN?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
BEABSICHTIGEN SIE, DIESE FRAGEN WAHRHEITSGEMÄSS ZU BEANTWORTEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
IST HEUTE MITTWOCH?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
SIND WIR IN VIRGINIA?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS EINEN MORD BEGANGEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
SIND SIE BÜRGER DER VEREINIGTEN STAATEN?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS EINER GRUPPE ANGEHÖRT, DIE DIE REGIERUNG DER VEREINIGTEN STAATEN STÜRZEN WOLLTE?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE JEMALS FÜR EINEN AUSLÄNDISCHEN GEHEIMDIENST GEARBEITET?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS EIN VERBRECHEN BEGANGEN, FÜR DAS SIE NICHT GEFASST WURDEN? WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE ANTIPOLYGRAPH.ORG BESUCHT, UM SICH AUF DIESE PRÜFUNG VORZUBEREITEN? WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
SITZEN SIE IM MOMENT?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS EINEN MORD BEGANGEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE JEMALS GEPLANT, DIE US-REGIERUNG ZU STÜRZEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
IST DIE WAND WEISS?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
WAREN SIE JEMALS AN DER FOLTERUNG VON FEINDLICHEN KÄMPFERN BETEILIGT?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE ILLEGALE DROGEN KONSUMIERT, DIE SIE BISHER NICHT ERWÄHNT HABEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE IN IHREN BEWERBUNGS- ODER SICHERHEITSUNTERLAGEN VORSÄTZLICH FALSCHE ANGABEN GEMACHT?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE JEMALS ETWAS VON IHREM FRÜHEREN ARBEITSPLATZ ENTWENDET?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE JEMALS ETWAS IM WERT VON MEHR ALS 500 DOLLAR GESTOHLEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
UNTERHALTEN SIE GEHEIME BEZIEHUNGEN ZU AUSLÄNDISCHEN STAATSANGEHÖRIGEN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
HABEN SIE JEMALS EINE KRIEGSTROPHÄE BEHALTEN?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS STAATLICHES EIGENTUM VERKAUFT?
WAHRHEITSGEMÄSS SCHLÜSSIG
HABEN SIE JEMALS FEINDLICHE WAFFEN AUS ÜBERSEE MITGEBRACHT ODER KENNEN JEMANDEN, DER DAS GETAN HAT?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
GIBT ES PUNKTE IN IHREM WERDEGANG, DIE SIE FÜR DIESE STELLE DISQUALIFIZIEREN?
TÄUSCHUNG ANGEZEIGT
ABSCHLIESSENDES ERGEBNIS DES LÜGENDETEKTORTESTS:
NICHT SCHLÜSSIG
Vic schloss die Akte und betrachtete das verblasste, gerahmte Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. Die Männer trugen Tarnfleck mit Entenjägermuster aus dem Zweiten Weltkrieg und eine Reihe von Handfeuerwaffen, darunter ein Johnson M1941, das Vics Vater in der Hand hielt.
Nie wieder, dachte Vic.
Auf der Vorderseite der Akte unterzeichnete er mit seinem Namen über dem Unterschriftsfeld des Direktors und kreuzte das Kästchen vor der Option ANGENOMMEN an.
2
Angola, Afrika
Angola war nicht besonders nett mit Ismail Tehrani umgesprungen.
Er wurde langsam ungeduldig.
Es war sechs Jahre her, dass er den Libanon verlassen hatte, um einer der acht Millionen Diaspora-Libanesen zu werden, die jenseits der Grenzen lebten. Das Besondere an dieser Gruppe war, dass sie ihre zurückgebliebenen Landsleute, die das Chaos der letzten 40 Jahre in der kleinen Republik am Mittelmeer weiterhin ertragen mussten, zahlenmäßig weit übertrafen.
Er vermisste seine Heimat, aber er war auf einer Mission. Al-Sajid Hassan hatte ihn persönlich rekrutiert. Nun, nicht ganz, aber ein Befehl eines Abgesandten des Generalsekretärs der Hisbollah war quasi gleichbedeutend mit einem Edikt Gottes. Es hieß, Hassan Nasrallah sei ein direkter Nachfahre des Propheten Mohammed. Wer war Ismail Tehrani, dass er die Gelegenheit ausschlug, Allah auf Geheiß des Mannes zu dienen, der die israelischen Hunde aus dem Südlibanon vertrieben hatte?
Ismail war noch ein Kind gewesen, als die israelischen Raketen und Artilleriegeschosse auf die schiitischen Slums im Süden Beiruts niederprasselten. Zusammen mit seiner Mutter und seinen Cousins hatten sie in einer Ecke der Einzimmerwohnung gehockt, fast ohne Strom, wagten es aber trotzdem nicht, eine Kerze anzuzünden. Mutter hatte eine dicke Decke über ihm ausgebreitet. Den Lärm des herannahenden Bombardements und der anschließenden Explosionen musste er in völliger Dunkelheit über sich ergehen lassen. Die Verwüstungen am nächsten Morgen, als er sich nach draußen wagte, bestärkten ihn in seinem Entschluss, das Heimatland gegen die Invasoren zu verteidigen.
Der Krieg, in dem mehr als 4000 Katjuscha-Raketen auf Israel abgefeuert und wichtige Infrastrukturen im Libanon durch israelische Kampfflugzeuge zerstört wurden, polarisierte die arabische Welt nicht nur, sondern verschaffte dem Dschihad-Rat der Hisbollah einen massiven Zustrom junger Rekruten, die bereit waren, für die Sache zu sterben. Ismail erinnerte sich, wie sein Vater zu Beginn des Juli-Krieges von der Arbeit in Afrika zurückkehrte, um die Familie zu schützen. Er berichtete ihnen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten die israelischen Aktionen als Teil seines ›Kriegs gegen den Terror‹ bezeichnete und der amerikanische Kongress sogar für den israelischen Angriff gestimmt hatte. Für Ismail und seine Familie war das Ganze nichts anderes als ein von den USA finanzierter Völkermord.
Ismail sammelte erste Kampferfahrungen unerwarteterweise nicht gegen die Israelis, wie er insgeheim gehofft hatte, sondern gegen muslimische Mitbürger in Syrien, wenngleich es sich bei ihnen um takfiris handelte – Abtrünnige. Sein Brigadekommandeur erklärte ihm, die Hisbollah könne nicht zulassen, dass Syrien kollabierte und unter die Kontrolle der Vereinigten Staaten und Israels geriet. Allah brauchte seine Krieger, um stark zu sein. Syrien dürfe nicht fallen, schon gar nicht infolge eines zionistischen Komplotts zum Sturz von Baschar Al-Assad. Die meisten Waffen der Hisbollah kamen über Syrien aus dem Iran, und dieser Kanal musste offen bleiben. Es war ihr Lebenselixier. Er hatte gehört, dass Nasrallah in den Golanhöhen Territorien einnehmen und eine weitere Front gegen Israel eröffnen wollte. Ismail unterstützte dies voll und ganz und wiederholte die Slogans, die ihnen die Ausbilder bei den Märschen während der Indoktrination und später bei der formellen Ausbildung in der westlichen Bekaa-Ebene eingebläut hatten: »Tod für Israel, Tod für Amerika, Ausrottung der Juden.«
Bei den Kämpfen in der syrischen Stadt Al-Qusair empfand Ismail das Getümmel auf dem Schlachtfeld als verwirrende Mischung aus Schreien, Schießen und Chaos. Generell richtete er seine Waffe in dieselbe Richtung wie die Kameraden. Er schoss, wenn sie schossen, und rannte, wenn sie rannten. Ein Freund, den er von Geburt an kannte, trat auf eine Landmine. Sie hielten nicht einmal an, um seine Überbleibsel aufzusammeln. Ein anderer Gotteskrieger kassierte mitten im Satz eine Kugel ins Gesicht, als er gerade aufstand, um der Miliz den Befehl zum Weitermarsch zu geben. Er ließ Ismail mit Knochen- und Hirnbrocken übersät zurück. Trotzdem kämpfte er weiter, ohne eine Sekunde zu zögern. Er schöpfte Kraft aus dem Spruch, der auf ihrer gelb-grünen Fahne geschrieben stand. Sie zeigte eine Faust, die ein ähnliches Gewehr umklammerte, wie er es selbst in den Händen hielt:
fa-innaḥizbu llāh hum al-ġālibūn
Jeder soll wissen, dass Allahs Schar es ist,
die siegreich sein wird.
Die Hisbollah setzte sich durch.
Ismail hatte von der Einheit 910 gehört, dem externen Sicherheitsapparat der Partei, der für Anschläge auf israelische Einrichtungen im Ausland zuständig war, es allerdings nie gewagt, danach zu fragen oder gar darüber zu sprechen. Man munkelte, dass sie auch für die Ermordung des libanesischen Premierministers verantwortlich war, obwohl die Hisbollah diese Behauptung abstritt und die Schuld auf Israel schob.
Als sie ihn aus seiner Einheit abzogen, war es weniger eine Bitte als ein Befehl. Ismail wurde eine Aufgabe zugewiesen, für die er eine zusätzliche Ausbildung bei der Revolutionsgarde der Quds-Truppe im Iran absolvieren musste.
Die Quds-Truppe war eine paramilitärische Eliteeinheit, zuständig für externe Operationen und auf den Einsatz von Stellvertreterkräften spezialisiert, die sich nicht dem Iran zuordnen ließen. Der Westen stufte sie unabhängig von ihrer Zielsetzung als Terroristen ein. Die aus der iranischen Revolution von 1979 hervorgegangene Einheit war allein dem Ajatollah persönlich unterstellt. Ihr Geheimdienstapparat lehrte Ismail, wie man Aktivposten einschätzte und rekrutierte, Vermittler identifizierte, sichere Unterschlüpfe einrichtete, Aufklärung und Überwachung betrieb und Informationen über ein geheimes Kommunikationsnetz an die Hisbollah weiterleitete.
Und sie lehrten ihn den Bau von Lkw-Bomben.