Die Caravaggio-Verschwörung - Nicole C. Vosseler - E-Book

Die Caravaggio-Verschwörung E-Book

Nicole C. Vosseler

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Beschreibung

Caterina und Riccardo sind ein heimliches Liebespaar. Als Riccardo in die Dienste des berühmt-berüchtigten Malers Caravaggio treten muss, flieht Caterina von zu Hause und schließt sich den beiden an. Und schon bald müssen Caterina und Riccardo erkennen, dass nicht die buntschillernde Welt eines begnadeten Künstlers auf sie wartet, sondern Verrat und tödliche Intrigen.

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Seitenzahl: 540

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Nicole C. Vosseler

Die Caravaggio-Verschwörung

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2012 by Nicole C. Vosseler

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-211-5

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Prolog

Erstes Buch

I Bacchus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

II Der kranke Bacchus

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

III Natura morta – Stillleben

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Zweites Buch

I Judith und Holofernes

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

II Medusa

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

III David und Goliath

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Nachwort

Die Wahrheit war immer nur eine Tochter der Zeit. Leonardo da Vinci

Prolog

Anno Domini 1606, am achtundzwanzigsten Tag des Monats Mai

Rom feierte. Böller explodierten krachend, deren Schall sich hallend an den Wänden der Häuserschluchten vervielfältigte. Rote Feuerblumen zerplatzten am pechschwarzen Himmel; blaue Funkenfontänen, goldene Leuchtkugeln und silberne Zauberfäden löschten mit ihrer Pracht sogar die Sterne aus. Ihr farbiger Widerschein fiel über die Dächer der Stadt, troff an den Fassaden herunter und verglomm im Zwielicht aus Finsternis und Laternenschimmer.

Im Campo Marzio, dem Herzen der Stadt – manche sagten auch, ihr Gedärm –, wurde besonders kräftig gefeiert. Zwischen den Donnerschlägen des Feuerwerks dröhnte Musik durch die Gassen, darin verwoben Gelächter und schnelle Wortwechsel, die den drohenden Keim einer Rauferei in sich trugen.

Durch den Trubel marschierten vier Männer, forsch, ihre Stiefel bei jedem Schritt fest auf dem Straßenpflaster auftreffend, obwohl auch sie nicht mehr nüchtern waren. Berauscht waren sie nicht so sehr vom Wein der letzten Stunden, sondern allein vom Durst nach dem Mark des Lebens. Eine nie nachlassende Gier, der sie jede Stunde aufs Neue nachgaben, rastlos, schlaflos. Bei Tag und bei Nacht, im Kartenspiel, im Trinken und Feiern, im Kampf und in der Kunst. Nec spe, nec metu war ihr Wahlspruch, weder Hoffnung noch Furcht. Nur Kühnheit und Leidenschaft regierten ihre Welt.

»Merisi!«

Ein Ruf, der sie haltmachen ließ, zuallererst den Mann in ihrer Mitte, dem dieser Ruf gegolten hatte. Es war nicht das vertraute »Michele«, mit dem seine Freunde ihn ansprachen, nicht das singende »Michelangelo«, das so weich und sehnsüchtig über die Lippen der Frauenzimmer kam. Und nichts hätte ihm ferner sein können; ihm, dem stolzen »Caravaggio«, wie man ihn allerorts respektvoll nannte, nach dem verschlafenen Städtchen in der Lombardei, nahe Bergamo, aus dem er vor vierzehn Jahren nach Rom gekommen war. Er – Michelangelo Merisi da Caravaggio.

Seine Augen, schwarz wie Kohlestücke, in denen es beständig glomm, wurden schmal, als sie den Mann erfassten, von dem der Ruf ausgegangen war. Edel gekleidet, der akkurat gestutzte Spitzbart und das Haar unter dem Barett golden aufschimmernd, war er in allem das Gegenteil Caravaggios. Trotzdem hatten sie früher zusammen getrunken, gefeiert und gelacht. Lang, lang ist’s her. . .

»Ranuccio.« Eine nüchterne Feststellung, die wie das Knurren eines Hundes klang.

Drei Männer rahmten Ranuccio Tomassoni da Terni ein, versperrten Caravaggio und seinen Freunden den Weg. Vier gegen vier, wie auf eine geheime Verabredung hin.

»Du schuldest mir noch Geld, Merisi.«

»Ich schulde dir gar nichts«, spie Caravaggio seine Widerworte aus, »keinen einzelnen Soldo!«

»Zehn Scudi, wenn ich dich Hohlkopf daran erinnern darf«, blieb Ranuccio beharrlich. »Dein Einsatz im Pallacorda-Spiel, das du neulich gegen mich verloren hast. Mit deinen Wurstfingern wirst du nie geschickt genug den Ball über das Netz zurückschlagen, genauso wenig, wie du damit deinen Malerpinsel sinnvoll gebrauchen kannst. Geht das nicht in deinen lombardischen Bauernschädel?«

Caravaggios Hand fuhr zu dem Rapier an seiner Seite, doch Petronios Finger gruben sich von hinten in seine Schulter. »Bleib ruhig, Michele«, raunte er ihm zu. »Sie sind uns überlegen – alle vier tragen Waffen; von uns jedoch nur du und ich. Spiel ihnen nicht noch den Trumpf in die Hände, uns schmachvoll im Kampf untergehen zu sehen!«

Caravaggios Atemzüge gingen noch immer schnell und flach und sein voller Mund krümmte sich zu einem verächtlichen Bogen abwärts. Doch Petronio spürte, wie sich die Muskeln seines Freundes entspannten, und er lockerte seinen Griff.

»Du hast recht«, stimmte Caravaggio ihm grimmig und hörbar halbherzig zu, »kein spanischer Speichellecker ist es wert, dass wir uns von ihm den Abend verderben lassen. Schon gar keiner, der sich wie ein greinendes Kleinkind an die Hosenbeine der mächtigen Farnese und Cresczeni klammern muss!«

»Oho«, höhnte Ranuccio, »da reißt aber jemand die Schnauze ganz schön weit auf! Aber ich sag dir was, Merisi: Lieber küsse ich den päpstlichen Hintern von Spaniens Gnaden, als mich überall als Franzosenfreund zu preisen und mich dann doch demjenigen anzudienen, der am besten zahlt. Ich möchte nicht wissen, welch verdorbene Gefälligkeit du dem Heiligen Vater erwiesen hast, damit er dir erlaubte, sein Porträt auf die Leinwand zu schmieren!«

Metall schliff über Metall, als Caravaggios Rapier aus seiner Scheide flog. Klirrend traf die Spitze in der Luft mit dem Ende von Ranuccios Waffe zusammen, der ebenso schnell gezogen hatte. Die Klingen gekreuzt, umkreisten sich die beiden Kampfhähne.

»Schau dich doch an, Merisi: Sobald du für deine Klecksereien einen gut gefüllten Beutel erhältst, lässt du dir ein edles Wams schneidern – und das trägst du dann, bis es auseinanderfällt, weil du dir bis zum nächsten Auftrag kein neues leisten kannst. Der Affe bleibt immer ein Affe, kleidet er sich auch in Samt und Seide.«

»Besser ein Affe als ein ehrloser, putzsüchtiger ruffiano – ein Kuppler, der seine Dirnen meistbietend verschachert!«

Ranuccio schnaubte. »Du hast doch die Gunst meiner Mädchen immer gerne genossen! Für ein paar Soldi hast du sie Modell stehen lassen und für umsonst sind sie dann in dein Bett gestiegen.«

»Bene – dann kannst du mir ja demnächst dein angetrautes Eheweib vorbeischicken, Tomassoni. Oder lässt du ausgerechnet sie nicht für dich anschaffen?«

Ein zischender Laut entfuhr Ranuccio, wie das Fauchen eines Katers, und er trat einen Schritt zurück, hielt aber die Spitze seines Rapiers nach wie vor auf Caravaggio gerichtet. »Pass auf deine lose Zunge auf, du Straßenköter, wenn du sie behalten willst!«

»Forderst du mich etwa?« In einer dramatischen Geste schwang Caravaggio das Rapier quer vor seinem Körper und verbeugte sich mit einem tiefen Kratzfuß darüber. »Es soll mir eine Ehre sein, diese Forderung anzunehmen.«

Es gab kein Zurück mehr. Keiner von beiden konnte jetzt noch auf dem Absatz kehrtmachen und seines Weges gehen, ohne das Gesicht dabei zu verlieren.

»Wohlan.« Entschlossen schob Ranuccio seine Waffe zurück in die Scheide. »Du hast es so gewollt. Auf zum Pallacorda-Feld!«, rief er mit einem Rucken des Kopfes seinen Begleitern zu.

Bis zur Via della Pallacorda war es nur ein Katzensprung. Nachdem sie eine krumme Gasse entlanggeeilt waren, gelangten die Männer durch einen Torbogen auf den Innenhof des Spielfelds. Die Farbexplosionen des Feuerwerks ließen den Sandboden hell leuchten.

»Bedenke noch einmal, worauf du dich einlässt, Merisi«, spottete Ranuccio, als er sich aus seinem Wams schälte. »Ehe ich dich Tölpel aufspieße und dein Gekröse im Sand verteile.«

Caravaggio schwieg, während er Onorio sein zerschlissenes Wams in die Hand drückte und sich in die Mitte der einen Platzhälfte begab. Ohne ein weiteres Wort griff er zu seinem Rapier und streckte es Ranuccio entgegen. »Engarde.«

Dieser ließ den Blick auf seinem Gegner ruhen, nachdenklich, fast bedauernd, zuckte er dann mit einer Schulter und zog betont langsam seine Waffe. »Engarde.«

Sie Umschriften einander im Kreis. Eine gespannte Stille lag über dem Platz, bevor von einem Pulsschlag zum nächsten Klinge auf Klinge schlug. Die Rapiere klirrten gegeneinander und glitten pfeifend übereinander hinweg, lösten sich und begannen erneut ihren gefährlichen Reigen. Die eisernen Töne erstarben in den Pausen, in denen die Duellanten voneinander zurücktraten, mit den Handrücken den Schweiß von ihren Gesichtern wischten und sich unter den anfeuernden Rufen ihrer Zuschauer keuchend wieder aufeinanderstürzten.

Es ratschte, als Ranuccios Waffe Caravaggios Hemdsärmel aufschlitzte und in Haut und Fleisch darunter schnitt; ein Schmerzenslaut war zu hören, dann ein mehrstimmiges Raunen, als dieselbe Klinge quer über Caravaggios Gesicht peitschte.

Rot. Caravaggio sah rot, selbst im Wechselspiel von Nachtlicht und Finsternis, das alle Farben mit Grau überschwemmte. Ein dunkles, sattes Rot, wie die üppige Stoffbahn in seinem Atelier, die ihm als Requisite für seine Gemälde diente.

»Hast du schon genug, Merisi?«

Caravaggio löste die Hand von seiner Stirn, die nass war von Schweiß und Blut.

»Wer keinen Kopf hat, hat Beine, wie es so schön heißt. Vielleicht solltest du die deinen in die Hand nehmen, du nichtsnutziger Farbenkleckser!«

Er sah Ranuccio nur schemenhaft durch den roten Schleier vor seinen Augen. War das sein Blut, das seine Sicht trübte, oder der jäh in ihm emporschießende Zorn? Ein Zorn, der seine Eingeweide zum Kochen brachte und sein Herz lichterloh brennen ließ, bis in seine Kehle hinauf.

Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.

Ranuccios Lachen ging in dem Brüllen unter, mit dem Caravaggio auf ihn zustürmte wie ein verwundeter Stier. Die Wucht der Hiebe brachte Ranuccio aus seinem sicheren Stand ins Taumeln. Er fiel und schlug rücklings im Sand auf.

Einer der Stiefel Caravaggios nagelte ihn an der Schulter fest und die Spitze des Rapiers schwebte über seiner Nasenwurzel.

»Sag, Ranuccio«, mit dem Ärmel der freien Hand rieb sich Caravaggio über die Stirn, um klar sehen zu können, um sich keinen kostbaren Augenblick dieses Triumphs entgehen zu lassen, »wie sehr hängst du an deinem goldenen Engelsgesicht? Meinst du, du vermagst noch irgendein Weib in dein Bett zu locken, wenn nichts mehr davon übrig ist? Oder –«, die Klinge wanderte hinab zur Magengrube, »magst du zusehen, wie ich nun derjenige bin, der Innereien hier auf dem Platz verteilt?«

»Basta, Michele, es ist genug«, rief Petronio dazwischen, doch er vermochte ebenso wenig einen Finger zu rühren wie die anderen Männer. Dieser Kampf würde bis zum Ende ausgefochten werden, bis der Ehre Genüge getan war.

Ranuccio kniff die Augen zusammen und atmete nur flach, um so viel Abstand zum Rapier zu halten wie nur möglich.

»Betest du, Ranuccio?« Ein verächtliches Schnauben entfuhr Caravaggio und er ließ seine Waffe weiter abwärts wandern. »Daran tust du wohl! Denn viel wird dein Leben nicht mehr wert sein, wenn ganz Rom morgen früh weiß, dass du kein richtiger Mann mehr bist«

Die Spitze der Klinge senkte sich herab, und noch ehe sie sanft, beinahe neckend die Ausbuchtung in Ranuccios Hosen berührt hatte, zog dieser hastig sein Knie an, um seine Männlichkeit zu schützen. Gellend der Schrei, als die Klinge in Ranuccios Oberschenkel versank. Ein Blinzeln lang sahen sie einander erschrocken an. Dann glitt das Rapier wieder aus der Wunde und Caravaggio wich zurück. Ranuccios Hände pressten sich auf das Bein, aus dem pulsierend eine dunkle Fontäne schoss. Zäh quoll sein Blut zwischen den Fingern hervor, breitete sich rasend schnell zu einer dunklen Lache auf dem hellen Sand aus.

Ein Schattenwirbel vor Caravaggios Augen, als jemand Ranuccio zu Hilfe kam, zwei zu ihren Waffen griffen und Petronio sie mit seinem Rapier in Schach zu halten versuchte.

»Bringt ihn weg«, hörte Caravaggio ihn brüllen, »bringt ihn bloß weg, sonst –«

Der Rest wurde übertönt vom Rauschen in Caravaggios Kopf, das seine Sinne betäubte, unter dem er auf die Knie sank, vor Schwäche und Schwindel zitternd. Hände, die ihn packten, emporzerrten und mit sich schleiften.

»Wir müssen weg«, keuchte eine Stimme neben seinem Ohr – Onorio? Orazio? War letzterer überhaupt mit dabei gewesen? Er wusste es nicht mehr . . . Wer es auch sein mochte: Er brachte ihn fort. Fort von Ranuccio, fort vom Pallacorda-Feld, hinein in das Gassengewirr der Stadt, das in weinseliger, feiermüder Dunkelheit lag.

»Wenn er stirbt und sie dich kriegen, bist du erledigt! Ranuccio hat mächtige Freunde, bis hinauf zum Heiligen Stuhl. Sie werden es als Mord auslegen und darauf steht der Tod. Wir müssen fliehen, hörst du?! Du musst fort, fort aus Rom!«

Fort aus Rom . . .

»Du hast viel Blut verloren. Halt durch, Michele!«

Halt durch . . .

Malta, Anno Domini 1608, in den ersten Tagen des Monats Oktober

Eines seiner Augenlider flatterte und öffnete sich widerstrebend; das andere zog bald darauf nach. Die feuchte Kälte des Steins, auf dem er ausgestreckt lag, durchdrang ihn bis ins Mark. Sein Mund war ausgedörrt und schmeckte faulig; jeder Atemzug in der stickigen Luft stach ihm zwischen die Rippen. Er rollte sich auf die Seite und blinzelte den Nebel auf seiner Netzhaut fort.

Ratten huschten fiepend über den Boden, das Bauchfell über den Boden schabend. Drei von ihnen suchten den tönernen Napf nach Essbarem ab, gaben aber schnell wieder auf und stoben auseinander. Eine machte unweit seines Gesichts halt und beäugte ihn scheinbar nachdenklich, ehe sie wieder davontrappelte. Noch war er also kein passables Futter für sie.

Noch.

Caravaggio robbte über den Boden, bis er mit der Schulter an eine Wand stieß, an der er sich in eine halb sitzende Position hochschob und mit dem Rücken dagegenlehnte.

Er hatte von Ranuccio geträumt. Derselbe Traum, immer wieder, seit jener Mainacht vor über zwei Jahren, in der Ranuccios Lebenssaft unwiederbringlich im Sand versickert war. Bis man ihn zurück in die Piazza San Lorenzo in Lucina gebracht hatte, hatte er noch durchgehalten. Bis er die Beichte abgelegt und die letzte Ölung erhalten hatte, hatte sein wildes Herz unablässig weiter das Blut aus seinem Körper gepumpt; dann war Ranuccio tot gewesen. In einem Versteck notdürftig zusammengeflickt, war Caravaggio aus Rom geflohen, kaum dass er wieder zu Kräften gekommen war. Geflohen vor der Rache, die Ranuccios Bruder Giovan Francesco und seine Schwäger, die Giugolis, geschworen hatten – in ihrem Exil in Parma, wohin sie für ihre Rolle im Duell auf dem Pallacorda-Feld verbannt worden waren. Geflohen war Caravaggio vor allem vor dem Todesurteil, das Rom über ihn verhängt hatte, des Mordes an Ranuccio für schuldig befunden.

Zweieinhalb Jahre hatte er auf der Flucht und im Exil zugebracht. Zweieinhalb Jahre, in denen er alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um Vergebung zu erlangen. Nicht von Gott. Von Rom. Bis nach Malta hatte ihn sein Weg der Buße geführt, in den ältesten und nobelsten Ritterorden der Christenheit. Alles, nur um in Rom wieder malen zu dürfen. Denn allein die Kunst, die in Rom entstand, besaß wahren Wert: in Ruhm, in Ehre, in klingender Münze.

Er hatte ihn schon in der Hand gehalten, den Schlüssel zur Begnadigung. Ein einziger Augenblick der Unbesonnenheit hatte ihn jedoch in den Abgrund der Sünde zurückgeschleudert. Ins Verderben.

Seine Blicke wanderten durch den nackten, höhlenähnlichen Raum, der sich nach oben hin verjüngte. Eine Falle, die zugeschnappt war. Zwei Klafter tief in den Fels der Insel gegraben, unter dem Bollwerk der Festung von Sant’ Angelo, erlaubte eine vergitterte Falltür aus Eisen der Sonne nur wenige Momente am Tag ein paar fahle Lichtstrahlen hereinzulassen.

Wie lange befand er sich schon hier? Nur wenige Stunden? Drei, vier Tage? Länger gar?

Anfangs hatte er getobt und gewütet, bis sich sein Zorn selbst verzehrt gehabt und das immerwährende Dämmerlicht des Verlieses jegliche Regung in ihm abgetötet hatte. Manche Tage und Nächte seines Lebens hatte er schon in Gefängnissen zugebracht. Doch nie war seine Lage derart aussichtslos gewesen. Von hier würde es kein Entkommen geben. So wenig wie für die Gefangenen vor ihm, die in die Steinwände Entwürfe für ihre eigenen Grabinschriften geritzt hatten. Nec spe, nec metu.

Caravaggio legte den Kopf zurück, in dem es beständig pochte, und schloss die brennenden Augen. Er glaubte, das Meer zu hören, von dem er durch den Steinsockel der Insel getrennt war; ein monotones Rauschen, das sich mit seinem Herzschlag und seinem Atem verband und ihn tröstend in einen Halbschlaf wiegte.

Er schreckte auf, von einem Geräusch aus seinem Dämmerzustand gerissen. Mit den Handballen rieb er sich über die schlafverklebten Augen, blinzelte, zweifelte an der Unversehrtheit seines Sehsinns, seines Verstandes. Kein Fingerzeig Gottes fiel durch den Schacht zu ihm herunter – kein goldenes Strahlenbündel wie auf den alten Heiligenbildern, die er immer ob ihrer Künstlichkeit verachtet hatte. Sondern ein Hauch malvengrauen Abendlichts, in dessen Mitte ein Seil baumelte, wenig mehr als ein flüchtiger Schatten.

Es bot ihm Verurteilung, vielleicht den Tod – oder aber unerwartete Freiheit. Untergang oder Erlösung – was von beidem würde ihm bevorstehen, griff er zu? Die einzige Gewissheit, die er besaß, war, dass er hier unten binnen der nächsten Tage elendig verschmachten würde.

Er rappelte sich auf und taumelte auf das Seil zu, packte es mit zitternden Händen. Das Ende schlang er unter seinen Achseln hindurch und zurrte es mit einem strammen Knoten auf seiner Brust fest. Die Finger um das Tau gekrallt, spürte er den Ruck, mit dem es sich spannte; dann wurde er emporgezogen. Er verlor den Boden unter den Füßen und begann, in die Höhe zu schweben.

Kaum hatte er den Kopf zur Luke hinausgestreckt, als ihm schon salziger Wind das Haar durchwirbelte, und gierig sog er die frische Meeresluft ein. Zwei kräftige Hände packten ihn an den Oberarmen und zerrten ihn über die ummauerte Kante der geöffneten Luke, halfen ihm auf die noch unsicheren Beine, und zwei weitere Hände lösten das Seil von seinem Brustkorb. Drei Männer waren es insgesamt, das eingekerbte Ordenskreuz auch in der fortgeschrittenen Dämmerung leuchtend weiß auf dem Untergrund ihrer schwarzen Kleidung. Die Kapuzen ihrer Umhänge hatten sie so tief in die Gesichter gezogen, dass Caravaggio ihre Züge nicht erkennen konnte. Ohne ein Wort nahmen ihn zwei der Ordensritter in ihre Mitte, ihn zugleich stützend wie bestimmt davongeleitend, während der Dritte zurückblieb.

Eiligen Schrittes führten die beiden Caravaggio durch ein Labyrinth an Gängen und Treppen. Es war wohl die Stunde der Abendmahlzeit oder des Gebetes, denn die Festung war menschenleer. So verlassen, wie Caravaggio sie noch nie erlebt hatte; gespenstisch geradezu. Als läge ein Fluch auf Sant’Angelo.

Durch einen Torbogen gelangten sie in einen großen, nackten Hof, den sie durchquerten. In strammem Marsch hielten sie auf eine Pforte in der gegenüberliegenden Mauer zu. Beide Ritter ließen ihn los und derjenige zu seiner Rechten nestelte einen Schlüsselbund hervor, mit dem er die Tür aufsperrte. Sofort blies eine kräftige Meeresbrise Caravaggio entgegen und mit einer ruckartigen Kopfbewegung, von einer energischen Geste noch unterstrichen, bedeutete ihm der Ritter, er solle hindurchgehen.

Jenseits der Pforte fauchte der Wind in Caravaggios Ohren, biss ihm ins Gesicht und ließ seine Augen tränen. Felsplatten fielen leicht zum Meer hin ab, das sich in zornigen Wellen und sprühender Gischt immer wieder an ihnen brach. Auf den Schaumkronen hüpfte ein Boot, das offenbar zu der mickrigen Galeone gehörte, die in einiger Entfernung auf dem aschgrauen Wasser der Bucht schaukelte. Ihre gerefften Segel waren dunkel und schon jetzt kaum mehr zu sehen. Sobald die Nacht hereingebrochen war, würde das Schiff nahezu unsichtbar sein. Hastig drehte sich Caravaggio um, voll des Misstrauens, in eine Falle geraten zu sein. Doch die beiden Ritter waren verschwunden und das Türchen wieder verschlossen. Als er seinen Blick erneut nach vorne richtete, sah er in diesem Boot einen Mann sich aufrichten, der bislang in Kauerstellung darin verharrt haben musste und ihn nun zu sich heranwinkte.

Caravaggio ließ sich kein zweites Mal bitten; eilig schlitterte er die Steinfläche hinab und kletterte in die unruhig tanzende Nussschale, die der Seemann sofort von einem halb verborgenen Poller losmachte. Das gleichmäßige Geräusch der Holzpaddel ging im Tosen von Wind und Wellen unter und trotz der starken Strömung erreichten sie schnell das Mutterschiff.

Am oberen Ende des Fallreeps wartete schon einer der Matrosen auf ihn, um ihm an Deck zu helfen. Das Beiboot wurde mit Tauen an der Bordwand hochgehievt und befestigt; die Segel rauschten von ihren Spieren herab, knatterten im Wind, der sie aufblähte und die Galeone mit einem sanften Ruck in Bewegung setzte.

Wider besseres Wissen warf Caravaggio einen Blick zurück. In der einsetzenden Dunkelheit stand Sant’ Angelo hell leuchtend auf der felsigen Landzunge der Insel. Über den Zinnen zeichnete sich vor einer der Mauern ein Schatten ab – die Silhouette eines Ritters in Umhang mit übergezogener Kapuze. Vielleicht unterlag er einer Sinnestäuschung, dem nachtrauernd, was er verloren hatte; dennoch glaubte Caravaggio in der Haltung des Schattens etwas Wohlvertrautes zu entdecken, die Ahnung eines ihm so gut bekannten Gesichts. Er hob die Hand, zum Abschied wie zum Dank. Ohne eine entsprechende Regung zu zeigen, machte der Ritter kehrt und verschwand im Inneren der Festung.

»Wohin soll die Fahrt denn gehen?«, wollte der Steuermann wissen.

Caravaggios Blick ging ins Leere. Ihm blieben nicht mehr viele Orte, die ihm Sicherheit bieten konnten. Im Grunde nur noch ein einziger. Zumindest für den Anfang.

»Nach Sizilien«, antwortete er schließlich. »Nach Syrakus.«

»Va bene«, gab der Steuermann mit einem Nicken zurück. »Nach Syrakus. Liegt ohnehin in meiner Richtung.«

Die Galeone schob sich durch die Bucht, dann empfing das offene Meer das kleine Schiff, das mit knarzenden Planken und ächzendem Gebälk auf dessen heftige Umarmung antwortete.

Ich bin frei.

Es war spät. Alof de Wignacourt, Großmeister des Malteserordens, saß an seinem Schreibtisch und starrte nach wie vor auf die darauf ausgebreiteten Papiere und Bücher. Eine halbe Ewigkeit schon, wie ihm schien.

Ein harter Tag lag hinter ihm. Denn heute, am 1. Tag des Monats Dezember, im Jahre des Herrn 1608, hatte der Orden sein Urteil über den abtrünnigen Bruder Michelangelo Merisi gefällt. Im Oratorium der Kathedrale des Heiligen Johannes zu Valletta hatte sich die Bruderschaft versammelt, um aus dem Mund des Großmeisters das Ergebnis der Untersuchungen und Befragungen zu vernehmen. Doch die eigens für diesen Vorfall zusammengestellte Kommission hatte lediglich herausgefunden, dass Caravaggio die Flucht aus der Guva, dem unterirdischen Verlies, mithilfe eines Seils gelungen war und er Malta auf einem Schiff verlassen haben musste.

Wignacourts knotige Finger senkten sich auf die Seiten des entsprechenden offiziellen Berichts, die vor ihm lagen, vorsichtig, als könnte er sich daran verletzen.

Die halbe Wahrheit nur – wenn auch keine reine Lüge.

Viermal war Fra Michelangelo aufgerufen worden, sich den Fragen der Zusammenkunft zu stellen, sich zu verteidigen oder schuldig zu bekennen, wie es das Ordensgesetz verlangte. Niemand hatte geantwortet. Daher war in absentia, in Abwesenheit des Angeklagten, das Urteil gesprochen worden. Ohne eine Gegenstimme oder Enthaltung waren die Ritter übereingekommen, Caravaggio aus der Gemeinschaft auszuschließen. Sein Habit, der schwarze Überwurf mit dem weißen Ordenskreuz, der ihm abgenommen worden war, bevor man ihn in die Guva hinabgelassen hatte, hing über einer Stuhllehne in der Mitte des gewaltigen Raumes. Stellvertretend für den entflohenen Caravaggio warf man den Habit zu Boden. Michelangelo Merisi da Caravaggio war als membrum putridum et foetidum, als faules und verdorbenes Glied, aus dem Orden verstoßen.

Der Großmeister hatte sehr wohl die erstaunten Blicke seiner Ritter bemerkt, das Getuschel und die fragenden Gesichter. Offen blieb, welchen Vergehens Fra Michelangelo schuldig gewesen war, das ihn in ebenjenes Verlies gebracht hatte.

Wignacourt beugte sich vor und ließ seine andere Hand auf dem aufgeschlagenen Buch ruhen, in dem akribisch und mit dem entsprechenden Datum versehen die Verstöße der Ordensritter festgehalten wurden, zusammen mit den Strafen, die man über die Delinquenten verhängt hatte. Verbotene Duelle fanden sich darin, Beleidigungen und Diebstähle. Am häufigsten waren Raufereien und gewalttätige Zusammenstöße – so wie jener im August, in den auch Fra Michelangelo verwickelt gewesen war.

Natürlich stellte jeder der im Oratorium Anwesenden sofort eine Verbindung zwischen jenem handfesten und mit Waffen ausgefochtenen Streit und Caravaggios Aufenthalt in der Guva her. Wenn auch den Gesichtern mancher Ritter der Schrecken über diese harte Strafe abzulesen gewesen war; für gewöhnlich konnten sich die Inhaftierten innerhalb von Sant’ Angelo frei bewegen.

Eins und eins ergibt nicht immer zwei. Manchmal liegt die Wahrheit zum Greifen nahe und doch bleibt sie unsichtbar.

Sanft schlug Wignacourt das Buch zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, betrachtete die kunstvoll geschnitzte Kassettendecke des Raums, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es entbehrte nicht der Ironie, dass der Urteilsspruch unter dem Gemälde stattfand, das Caravaggio für den Orden geschaffen hatte. Die Enthauptung Johannes des Täufers war darauf dargestellt, des Schutzheiligen der Kathedrale wie des Ordens. Ein gewaltiges Werk, in seinen Maßen wie in der Kraft der Darstellung. Johannes, bäuchlings am Boden und leichenblass, die Kehle mit dem Schwert durchschnitten. Über ihm der Henker, der sich anschickte, das Haupt mit einem Dolch abzutrennen, und Salome hielt die Schale bereit, um den abgeschlagenen Kopf darauf zu präsentieren. Zwei Gefangene sahen durch ein vergittertes Fenster zu, über das von oben ein doppeltes Seil herabhing. Als hätte Caravaggio eine Vision dessen gehabt, was geschehen würde . . . Er hatte das Bild signiert; die Blutlache am Boden lief in Buchstaben aus: »F Michel Ang« – Fra Michel Angelo.

Der Blick des Großmeisters wanderte weiter, hin zu dem Porträt, das noch immer auf einer Staffelei hier im Raum stand, weil ihm bislang kein Platz im Palast gut genug erschienen war, um es aufzuhängen. Caravaggio hatte es gemalt und es war der Schlüssel gewesen, der ihm die Tür in den Orden geöffnet hatte. Wignacourt erhob sich und trat vor das Gemälde. Es schmeichelte ihm, dass Caravaggio ihn von der Seite gemalt hatte, von der aus die große Warze auf seinem linken Nasenflügel nicht zu sehen war. Doch vor allem berührte ihn, was der Maler von ihm als Menschen eingefangen hatte: weniger das kurz geschorene, ergrauende Haar, den Strahlenkranz unter den Augen und die steilen Falten beiderseits der Nasenwurzel. Sondern die Wachsamkeit auf seinen Zügen, die Vorsicht in seinen Augen, der Stolz um die Brauen und das Ehrgefühl um die Mundpartie.

»Welch ein Talent«, murmelte er in seinen Bart, »so malen zu können. Eine Gabe Gottes!«

Und welch ein Geschenk des Teufels, sich überall Todfeinde zu machen.

Wignacourt war es damals gelungen, die päpstliche Erlaubnis einzuholen, Caravaggio in den Orden aufzunehmen und nach dem vorgeschriebenen Jahr auf Malta zum Ritter zu machen. Als Mitglied dieses ehrenvollen Ordens hätte Caravaggio die Begnadigung für seine Bluttat zu Rom erlangen sollen – dies war der Plan gewesen. Vorbei.

Wignacourt streckte die Hand aus und berührte sacht die krustige Ölfarbe auf der Leinwand.

Wahrheit. . . Es gibt Wahrheiten, die besser nicht ans Tageslicht kommen. Wer mit ihnen umgehen muss, wandelt durch das Schattenreich zwischen Gut und Böse.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er wusste, was er zu tun hatte.

In schnellen Schritten ging er zurück zum Schreibtisch und ergriff einen Stapel beschriebener Papierbögen, die er bis zum heutigen Abend in einer verschlossenen Schatulle aufbewahrt hatte. Dokumente in seiner eigenen Handschrift, aber auch Briefe aus anderen Federn. Einer davon trug sogar das päpstliche Siegel.

Mit ihnen in der Hand trat Wignacourt zum Kamin. Sein Blick wanderte hinauf zum gemarterten, dornengekrönten Christus am Kreuz.

»Herr, vergib mir«, flüsterte er, »denn ich tue unrecht.«

Er warf die Blätter ins Feuer. Gierig stürzten sich die Flammen darauf und züngelten mit neuer Kraft hoch auf. Sie fraßen sich durch das Papier, das sich wellte und dunkel verfärbte, löschten die Schrift aus und schmolzen das Siegelwachs, das zischend verdampfte.

Es ist noch lange nicht vorbei . . . Das ist erst der Anfang.

Erstes Buch

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Chiaroscuro: Licht und Schatten

I

Bacchus

Mädchen und verliebte Jungen –Hoch lebe Bacchus! Hoch lebe die Liebe!Spielt auf, tanzt und singt!Vor Süße erglüht das Herz:Keine Müdigkeit, kein Schmerz!Kommt herbei, kommt dafür zusammen!Wer fröhlich sein will, soll es sein,was morgen ist, ist ungewiss.

Lorenzo »Il Magnifico« de’ Medici, Bacchuslied

1. Kapitel

Neapel, Anno Domini 1609, gegen Ende des Monats September

Unvermittelt machte Caterina halt, als sich aus dem dunklen Hintergrund des Säulenportals von San Domenico Maggiore eine Silhouette löste und in das bläuliche Licht der Nacht hinaustrat. Selbst als Schattenriss, so wie jetzt, hätte Caterina Riccardo unter Tausenden ausmachen können. Ihr Herz dehnte sich aus, bis es ihr beinahe den Brustkorb sprengte, und sie lief los, geradewegs in Riccardos Arme, die sie umfingen und festhielten, während sie selbst ihn mit aller Kraft umschlang.

»Ich dachte schon, du kommst heute nicht mehr«, hörte Caterina ihn über ihren Kopf hinweg murmeln. Ohne Tadel, ohne Vorwurf, aber mit Erleichterung in seiner Stimme, in der noch ein Rest seiner ausgestandenen Befürchtungen mitschwang.

»Wenn ich einmal nicht käme«, flüsterte Caterina, die Wange an seine Brust geschmiegt, »dann sei gewiss, dass ich alles versucht habe und dennoch gescheitert bin.«

»Aber nicht heute.«

Caterina hob den Kopf und sah hinauf zu Riccardo. »Nein, heute nicht. Heute ist alles gut gegangen.«

Ihre Blicke verhakten sich ineinander, ernst zuerst, im Wissen, wie zerbrechlich das war, was sie miteinander teilten – wie eine Daunenfeder, die jederzeit vom geringsten Windstoß davongetragen werden konnte. Doch das Glück, trotzdem zusammen zu sein, überwog und ließ sie einander anlächeln.

»Komm«, raunte Riccardo und nahm sie bei der Hand.

Eilig schritten sie über den Platz und tauchten auf der anderen Seite der Via Benedetto Croce in das Gassengewirr der Stadt ein. Noch bewegten sie sich durch eine Gegend gutbürgerlicher Häuser, deren Bewohner um diese Zeit bereits tief und fest schliefen. Doch je weiter sie voranschritten, je näher sie dem Hafen kamen, desto belebter wurden die engen Gassen, desto niedriger die Häuser. Männer und Frauen saßen vor den Türen beisammen, tranken, lachten, schwatzten und spielten Karten. Sogar kleine Kinder sah Caterina um diese Zeit noch herumspringen und umeinander tollen, ihre Stimmen schrill vor müder Überdrehtheit. In Annas schlichter Tracht, die diese vom Land mitgebracht hatte und in ihrer kleinen Truhe im Palazzo Salerno wohl verwahrte, fiel Caterina hier gar nicht auf. Niemand erkannte in ihr die Tochter des Gewürzhändlers Federico di Salerno, der so reich war, dass er sein Gold und Silber gar nicht mehr im Haus aufbewahrte, sondern es in den Gewölben der Banco di Santa Maria del Popolo deponierte. Hier war sie nur ein einfaches Mädchen wie alle anderen auch.

Riccardo führte sie in eine Gasse, die vollkommen leer und still war. Eine Seltenheit im quirligen, lärmenden, drangvoll engen Neapel. Dunkel war es hier; das fahle Mondlicht ließ gerade das Nötigste erkennen. Er blieb stehen und ließ Caterinas Hand los, nestelte etwas aus seinem Wams und machte sich an einer Hauswand zu schaffen. Ein Klicken und eine Lattentür schwang auf, hinter der eine Duftwolke hervorquoll, süß und staubig.

Neugierig trat Caterina über die Schwelle und Riccardo zog die Tür hinter ihnen wieder zu. Caterina blieb stehen, wartete, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Hier war der Geruch betäubend intensiv; es roch grün, aber verdorrt. Ein Geruch nach Herbst, der die Erinnerung an den Sommer noch tief in sich trug; ein Geruch voller Sehnsucht und Wehmut.

»Was ist das hier?«, fragte Caterina leise.

»Ein Heulager, für die Pferde und Esel der Lastenkarren«, erklärte Riccardo. »Die gesamte Gasse ist voller Lagerräume und Speicher.« Unter seinen Stiefeln knisterte es, als er hin und her ging, und üppige Packen der sonnengetrockneten Halme zu einem provisorischen Lager arrangierte. Er richtete sich auf und sah sie an. »Bald wird es zu kühl und vor allem zu regnerisch sein, um noch an der Mole zu sitzen. Hier ist es trocken und warm und nachts verirrt sich nie jemand hierher.«

»Außer uns«, wisperte Caterina, als sie auf ihn zuging.

Riccardo blickte ihr reglos entgegen, ein, zwei Herzschläge lang, und leise kam sein Echo: »Außer uns.«

Er schlüpfte aus seinem Wams, breitete es auf der einen Hälfte der Heubündel aus und ließ sich selbst jenseits davon nieder. Caterina setzte sich auf den abgenutzten Stoff des Wamses, zog die Beine an und ringelte sich wie eine Katze in seinem Arm zusammen.

Eine Weile lagen sie nur so da, lauschten der Stille und dem Atem des anderen. Eine Zeit genügte es, die Wärme des anderen Körpers zu spüren, ein Kopf auf einer Schulter, je ein Arm um einen anderen Oberkörper, ein Knie an einer Hüfte. Irgendwann jedoch nicht mehr und Caterina richtete sich auf dem Ellenbogen auf.

Es gab immer diesen anfänglichen Moment der Scheu, der stummen Frage, ob der andere genauso empfand, das Gleiche begehrte. Der Versuch, in den Augen des anderen die Antwort zu lesen und die Hoffnung, es möge ein Ja sein.

Caterina war es, die heute den Anfang machte, als sie ihr Gesicht auf das Riccardos hinabsenkte. Ihre Lippen streiften seine Wange, sein Jochbein, von dem sie wusste, dass darauf eine winzige Narbe prangte. Seine fast waagerechten Augenbrauen, die ihn immer ernst blicken ließen, selbst wenn er lachte. Eines seiner Augenlider, die er bei der ersten Berührung ihres Mundes auf seiner Haut geschlossen hatte. Sie tupfte Küsse auf seine kräftige Nase und erst zum Schluss, nach einem Augenblick des Zögerns, drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund.

Er erwiderte ihren Kuss. Zuerst sanft und behutsam, dann fester; schloss beide Arme um sie und rollte sie auf den Rücken. Caterinas Haube geriet ins Rutschen und Riccardo streifte sie ihr einfach vom Kopf, fing die Flut schweren, seidigen Haares mit seinen Fingern auf.

»An dir ist alles so weich«, flüsterte er und strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wangen. »Und du riechst so gut. So unglaublich gut.«

Caterina entfuhr ein kleines, verlegenes Lachen, das in ein Seufzen überging, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub, die Haut dort mit kleinen Küssen bedeckte. Riccardo roch wie der erste Regen nach einem langen, heißen Sommer, fand Caterina, manchmal durchmischt mit dem fruchtigen Aroma von Wein, wenn sein Hemd beim Ausschenken etwas abbekommen hatte. Sie strich über seine Arme, geformt vom Schleppen der Fässer, vom Heben der Humpen und schweren irdenen Krüge, und erschauerte, wenn er seine Hand über die Taille ihres Leibchens gleiten ließ, dann darunter, ihren Bauch und ihren Rücken durch den dünnen Stoff der Bluse hindurch streichelte. Und Küsse, so viele Küsse, über denen sie alles um sie herum vergaßen, bis ihnen beiden der Atem ausging.

»Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du bei Tageslicht aussiehst«, murmelte Caterina, während sie sein dichtes, gelocktes Haar mit den Fingern durchkämmte. Sie erinnerte sich, dass es dunkelbraun war, wie seine Augen – die Farbe regennasser Erde.

»Kannst du nicht mit Anna wieder einmal auf den Markt gehen? Immer, wenn ich dort zu tun habe, halte ich nach dir Ausschau.« Seine Nasenspitze tippte links und rechts an die ihre.

»Mein Vater lässt mich nicht mehr. Er meint, ich sei jetzt in einem Alter, in dem es sich nicht mehr schickt, mich nur von einer jungen Zofe begleitet dort sehen zu lassen. Und am Tag ist es unmöglich, unbemerkt das Haus zu verlassen.«

Traurigkeit durchzog Caterina, ein Anflug von Hoffnungslosigkeit, und sie drückte Riccardo zurück in das Heu, bettete ihren Kopf auf seine breite Brust. »Wird es denn nie anders sein? Immer nur solch gestohlene Stunden in der Nacht?«, brach es aus ihr heraus. Ihre Stimme zitterte unter der Anstrengung, die Tränen tapfer hinunterzuzwingen, die in ihr aufstiegen.

Riccardo starrte hinauf in das Dunkel. »Ich weiß es nicht.«

Eine Kluft hatte sich plötzlich spürbar zwischen ihnen aufgetan und ließ sie beide schweigen, bis Caterina leise fragte: »Wenn du einen Wunsch freihättest. . . was würdest du dir wünschen?«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort und Caterina glaubte zu spüren, wie er sich mit jedem Pulsschlag immer weiter von ihr entfernte, ganz so, als sei ihm diese harmlose Frage unangenehm.

»Ich würde«, erwiderte er schließlich dann doch, wenn auch spröde, »eine Menge drum geben, nicht mehr für den Alten schuften zu müssen. Lieber irgendwo als Lehrling ackern mit der Aussicht, irgendwann meinen Gesellen zu machen, vielleicht sogar den Meister. Aber«, er atmete tief durch, »ohne Lehrgeld keine Lehre.«

Caterina rieb ihre Wange an seinem Schlüsselbein, wie zum Trost. »Ich habe noch nie verstanden, warum man dafür bezahlen soll, für einen Meister arbeiten zu dürfen.«

»Weil der Meister einem all das beibringt, was man für das Gewerbe wissen muss. Die Zeit, die er dafür aufwendet, das Wissen, das er mit einem teilt – das lässt er sich eben bezahlen. Und die Arbeit«, er gab ein Schnauben von sich, »die Arbeit gibt es umsonst dazu.«

»Das ist nicht gerecht!«

»Nein«, stimmte Riccardo ihr langsam zu, »das ist es nicht. Genauso wenig ist es gerecht, wenn sich ein Vater einfach aus dem Staub macht und seine Frau und fünf Kinder zurücklässt, die dann sehen können, wie sie zurechtkommen.«

Caterina wagte nicht, ihm noch einmal anzubieten, heimlich eine kleine Summe vom Haushaltsgeld abzuzweigen. Riccardo war nicht wütend gewesen, als sie ihm diesen Vorschlag gemacht hatte, nur sichtbar gekränkt. Seine Augen hatten sich verdunkelt und er hatte sie einfach stehen gelassen und war davongegangen. Die Tage und Nächte, die verstrichen waren, bis er sich wieder an der Kirche eingefunden hatte, waren Caterina entsetzlich lang geworden, voller Bangigkeit, ob sie ihn je wiedersehen würde.

Es muss doch einen Weg geben, ging es Caterina durch den Kopf. Einen Weg, nicht nur heimlich und in der Nacht zusammen zu sein. Eine Brücke über den Graben, der unser beider Welten trennt.

Zum wiederholten Male dachte sie daran, Riccardo in den Plan einzuweihen, den sie in den endlosen Stunden im Palazzo Salerno ausgebrütet hatte. Ein Plan, der in ihr aufgekeimt war, während ihre Hände mit Nadelarbeiten beschäftigt waren oder ein aufgeschlagenes Buch hielten. Den sie im Geiste weiterspann, wenn sie mechanisch überprüfte, ob die Wäsche sauber und ordentlich gefaltet in den Schränken und Truhen verstaut war und ob das Silberbesteck fleckenlos glänzte.

Sie sah auf, als Riccardo sich auf die Seite rollte, zu ihr hin, sich klein machte, um mit Caterina auf Augenhöhe zu liegen zu kommen, so dicht, bis ihre Stirnen sich beinahe berührten.

Nein, noch nicht, sagte Caterina sich. Ich darf ihm keine falschen Hoffnungen machen. Erst wenn ich den Weg dafür geebnet habe, werde ich es ihm sagen. Wenn ich sicher weiß, dass es gelingen wird. Aber es wird mir gelingen. Es muss.

»Vielleicht hätten wir uns nie begegnen dürfen«, flüsterte er.

Worte, die Caterina hätten treffen müssen. Doch sie taten es nicht; denn in seiner Stimme lagen weder Spott noch Entschiedenheit. Zögerlich fragend hatte er geklungen und ein wenig traurig.

Offen sah Caterina ihn an. »Bereust du’s?«

Riccardo erwiderte ihren Blick ernst und ruhig. »Nein. – Du?«

»Niemals werde ich das.« Auf Caterinas Zügen erschien ein Lächeln und auch Riccardos Miene hellte sich auf. Er zog sie an sich und hielt sie fest, einfach nur fest.

Dass sie einander überhaupt je begegnet waren, grenzte für Caterina an ein Wunder – ihre Lebenswege hätten sich sonst wohl niemals gekreuzt.

Dabei hatte es lediglich ein Jux sein sollen. Ein kleines, prickelndes Abenteuer, aus einer übermütigen Laune heraus geboren. Damals, an jenem Tag im Mai. . .

2. Kapitel

Fünf Monate zuvor, zu Beginn des Monats Mai

Nachdem Caterinas Zofe Giuliana im Frühling den Palazzo verlassen hatte, um einen Genueser Schiffskapitän zu heiraten, war an ihrer statt ihre junge Base Anna ins Haus gekommen. Caterina, die sich schnell mit Anna angefreundet hatte, stellte bald fest, dass diese keineswegs das unverdorbene Mädchen vom Lande war, für das ihr Vater das neue Dienstmädchen halten mochte. Anna hatte schon viele Jungen geküsst – und nicht nur das; mit hochroten Wangen hatte Caterina den Erlebnissen in Heuschobern und nächtlichen Sommerwiesen gelauscht, die Anna Abend für Abend im Flüsterton mit ihr geteilt hatte. Und Anna hatte Caterina auch anvertraut, dass sie ein Auge auf Giovanni – einen der Wächter der di Salernos – geworfen hatte, mit dem sie sich zum Fest des Blutwunders von San Gennaro vor dem Palazzo verabredet hatte.

Caterina hatte einen neidvollen Stich verspürt. Das Fest von San Gennaro, dem Schutzpatron Neapels, war eine der wichtigsten Feierlichkeiten in der Stadt – und eine der lebhaftesten; genau deshalb hatte Caterina noch nie dabei sein dürfen. Der heilige Gennaro war im Zuge der Christenverfolgung den Märtyrertod gestorben. Seine Gebeine und eine Ampulle mit seinem vergossenen Blut hatten in Neapel ihre letzte Ruhestätte gefunden und zweimal im Jahr, im September und am Tag vor dem ersten Sonntag im Mai, ließen die inbrünstigen Gebete der versammelten Gläubigen das vor eintausenddreihundert Jahren geronnene Blut sich verflüssigen. Ein Wunder, das nun schon einige Jahrhunderte lang der Stadt Neapel und ihren Menschen Glück versprach.

Dabei lag Caterina nichts an der feierlichen Messe im duomo, dem mächtigen Dom der Stadt, in dem der alte Ritus des Blutwunders abgehalten wurde. Vielmehr war es das Volksfest rings um den Dom, das Caterina lockte: sich unter die Feierlustigen zu mischen, den Gauklern bei ihren Kunststücken zuzusehen und vor allem zu tanzen, die neapolitanische Tarantella, wild und schwindelerregend schnell.

Im Nachhinein hatte keines der beiden Mädchen mehr zu sagen gewusst, wer von ihnen als Erste auf den Gedanken verfallen war, Caterina sollte einfach mit auf das Fest kommen. Gemeinsam jedoch heckten sie bis in jede noch so kleine Einzelheit aus, wie dieses Unterfangen zu bewerkstelligen wäre.

Jener Samstag war dafür wie geschaffen gewesen. Anna hatte Caterina nur zu gerne ihre Dorftracht geliehen, konnte sie so doch mit gutem Gewissen ihr schönes messingfarbenes Kleid tragen, das ihr als Dienstkleidung von Federico di Salerno gestellt worden war und ihr so gut zu ihrem schwarzen Haar stand.

Das Kontor war aufgrund des Festtages geschlossen geblieben, der sonst so betriebsame Innenhof des Palazzos lag vollkommen verlassen da. Das immens große Glück aber bestand darin, dass Federico di Salerno, der selbst an hohen Feiertagen zu arbeiten und dabei ruhelos zwischen Geschäfts- und Wohntrakt hin- und herzupendeln pflegte, für ein paar Tage auf Sizilien weilte, der Geschäfte wegen. Daher war es den beiden Mädchen ein Leichtes gewesen, ungesehen durch das Eingangstor zu schlüpfen und sich flugs unter die Schaulustigen entlang der Via Benedetto Croce zu mischen, noch ehe der Wachposten jenseits des Tores sie auch nur aus dem Augenwinkel bemerkt hatte.

Für Caterina war es ein bisschen Furcht einflößend, vor allem aber wunderbar gewesen, im Menschenpulk zu stehen und die Prozession zu verfolgen. Aus den Fenstern und von den schmiedeeisernen Balkonen, mit Bahnen bunter Seide behängt, regnete es Rosenblätter. Als sich der Zug an geistlichen Würdenträgern gemessenen Schrittes näherte, wurden die Schaulustigen unruhig. Die Menschen begannen, zu drängeln und zu schieben, um möglichst gute Sicht auf die Silberbüste des Schutzheiligen zu erhalten. Caterina und Anna hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten, doch sogleich war ihnen Giovanni zu Hilfe gekommen und schirmte sie gegen die wogende, bedrohliche Masse der Leiber ab. Als die letzten Priester der Prozession vorübergeschritten waren, teilte sich die Menge wie einst das Rote Meer. Ein Großteil der Neapolitaner reihte sich in die Prozession ein, um San Gennaro durch das traditionelle Karree an Häuserblöcken zurück zum duomo zu folgen. Alle anderen jedoch zog es in die entgegengesetzte Richtung, die Via Benedetto Croce hinauf und ohne Umweg direkt zum Domplatz, mit dem Ziel, den Tag des Heiligen richtig kräftig zu feiern – darunter auch Caterina, Anna und Giovanni.

Über den Festplatz vor dem mächtigen Leib des duomo zu schlendern, war für Caterina wie das Betreten einer fremden Welt gewesen. Wie das Eintauchen in eine tosende See aus Menschen, das ihr auf der Haut prickelte und wohlig die Härchen auf den Unterarmen aufstellte. Während Anna und Giovanni nur Augen füreinander gehabt hatten, hatte Caterina sich nicht an den aufgebauten Ständen sattsehen können. Kleine Büsten und Statuen im Miniaturformat von San Gennaro wurden feilgeboten, Kreuze und Kruzifixe, Engelsfiguren und Madonnen.

Dazwischen wurde angepriesen, was Leib und Seele zusammenhielt und das eigentliche Wesen des Festes ausmachte. Süßigkeiten vor allem; wie die sfogliatelle, ein kugel- oder muschelförmiges Gebäck aus Mehl, Zucker und Grieß, Butter und Eiern, mit ricotta – Frischkäse – und kandierten Früchten, abgeschmeckt mit Vanille und Zimt. Überhaupt waren kandierte Früchte die beliebteste aller Süßigkeiten, wie gezuckerter Ingwer, von einer Kruste aus weißen Kristallen umhüllte Pflaumen, Kirschen, Orangenspalten oder Zitronenscheiben. Doch auch dem herzhaft gesonnenen Gaumen wurde Rechnung getragen, der sich an knusprig gebackenen Brotringen, den taralli, gütlich tun konnte, deren Teig mit reichlich Schmalz und Pfeffer angerührt wurde. In Öl gebratene Sardinen mit einem Spritzer Zitrone waren dazu ein gern genossener Imbiss, ebenso Fladenbrot – wie jede Art von süß, salzig oder scharf belegtem Teig pizza genannt – , das Broccoli beherbergte, Muschelfleisch und Tintenfisch, Spargel, Artischocken, Oliven, Zwiebeln und zerlaufene Scheiben von mozzarella, die weißen oder gelblichen Kugeln aus Büffelmilchkäse.

Caterina war das Wasser im Mund zusammengelaufen, doch noch ehe sie sich entschieden hatte, wofür sie als Erstes ein paar ihrer Carlini ausgeben sollte, war es auch schon geschehen. Eben noch hatte sie fasziniert zugeschaut, wie Anna und Giovanni einander küssten, als eine Horde Gassenjungen johlend und lachend über das Pflaster rannte und sich schubsend und boxend eine Schneise durch das Festvolk schlug. Dicht gefolgt nicht allein von dem zornesroten Bäcker, dessen Stand sie offensichtlich geplündert hatten, sondern auch von einer Anzahl hilfsbereiter und prügelwilliger Bürger. Als Meute und Jäger zwischen Caterina und dem frisch verliebten Pärchen hindurchwalzten, erhielt Caterina einen tüchtigen Hieb gegen die Schulter, der sie taumeln machte. Und sofort schlossen Gaffer und unbeteiligte Flaneure die Lücken in der Menge, die gerade eben entstanden waren.

Sobald Caterina wieder fest auf beiden Beinen stand, drehte sie sich unter suchenden Blicken mehrfach um sich selbst. Doch auch als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und den Hals reckte, konnte sie Anna und Giovanni nirgendwo entdecken.

»Kann ich dir helfen?«

Caterina fuhr herum. Die Stimme hatte zu einem Jungen mit hochgerollten Hemdsärmeln gehört, der an einem der Stände Wein aus irdenen Krügen ausschenkte, nur wenige Schritte von Caterina entfernt. Obwohl er gut zu tun hatte, nahm er sich zwischen seinen schnellen, aber ruhig ausgeführten Handgriffen die Zeit, Caterina fragend zu mustern.

Caterina hatte zuerst nur verneinend den Kopf schütteln wollen, als der Junge sie angesprochen hatte, war dann aber wie von einer unsichtbaren Hand vorwärtsgeschoben näher gekommen, bis sie direkt vor ihm stand und zaghaft meinte: »Ich habe meine Kammerz... meine Freundin verloren. So viel größer als ich«, sie hob die Hand waagerecht ein Stück über den Scheitel der von Anna geliehenen Haube, »schwarze Haare, messingfarbenes Kleid und einen Leberfleck am Kinn. Und ihr Freund ist noch größer, ein Bär von einem Kerl, mit rötlichem Haar und Sommersprossen. Hast du die beiden vielleicht gesehen?«

»Leider nicht. Aber wart doch solange hier. Von hier aus hast du einen besseren Überblick und wirst außerdem selbst besser gesehen als im Gedränge.« Sprach’s und hielt Caterina mit freundlichem Nicken einen gefüllten Becher hin. Hastig begann Caterina in ihrer Schürzentasche nach ein paar Sestini zu kramen, doch der Junge schüttelte den Kopf. »Lass nur. Spendier ich dir.« Aufmunternd hob er den Becher kurz an, und als Caterina ihn entgegennahm, berührten sich ihre Finger. Ein heißes Prickeln schoss durch Caterinas Hand, den Arm hinauf, und das Blut stieg ihr ins Gesicht, noch ehe sie den ersten Schluck getrunken hatte.

Sie murmelte ein hastiges »Danke« und nippte schnell an ihrem Wein.

»Du kommst nicht oft auf solche Feste, oder?«

Caterina schüttelte den Kopf. Die verwünschte Röte, die ihr Wangen und Stirn glühen ließ, breitete sich immer weiter aus.

»Lässt dich deine Herrschaft so hart schuften?«

Caterina nickte erneut und leistete stumm Abbitte für diese wortlose Lüge, die im Grunde jedoch nur eine halbe war, denn viel zu tun im Haus hatte sie ja ohne jeden Zweifel.

»Wo arbeitest du denn?«

»In . . . in . . .« Sie suchte verzweifelt nach einer Antwort, die möglichst weit von der Wahrheit entfernt war, stotterte dann aber mangels eines zündenden Einfalls hervor: »Im Pa-Palazzo Sal-Salerno.«

Er pfiff leise durch die Zähne, als er sich bückte und den Stopfen des Weinfasses neben ihm herauszog, um einen leeren Krug zu befüllen. »Dann kann ich mir vorstellen, dass du keine Zeit zum Feiern hast. Der reiche Pfeffersack soll seinen Leuten einiges abverlangen, hab ich gehört. Aber sonst hat man’s bei ihm wohl recht gut, Lohn und Extras und so.«

Caterina nickte wieder nur und wusste nicht, ob sie loslachen sollte ob dieser treffenden Beschreibung oder diesem Burschen seinen Wein gleich wieder entgegenschütten, zur Strafe dafür, dass er solch lose Reden über ihren Vater im Munde führte. Dabei fand sie ihn eigentlich ganz nett; er wirkte selbstsicher und ihr gefiel, wie er sich bewegte; sie mochte seine Augen, seinen Blick, seine Stimme.

»Bist du immer so wortkarg?«, kam seine nächste Frage.

Caterina hob verlegen eine Schulter und sehnte sich nach einem Loch, das sich zwischen den Pflastersteinen auftun und sie verschlingen mochte. Er sah sie an, ein, zwei Herzschläge lang, hielt mitten in seiner Tätigkeit inne, ehe ihm offenbar wieder einfiel, weshalb er hier stand, und mit seinen geübten Handgriffen fortfuhr. Hastiger jedoch und fahriger, wie aus dem Takt geraten, und auf seinen Wangen zeichneten sich zwei glühende Flecken ab. Nun schwiegen sie beide und jedes Mal, wenn Caterina den Blick von ihrem Becher hob, trafen sich ihre Augen mit den seinen, bevor beide rasch wieder in die entgegengesetzte Richtung schauten.

»Da ist sie, gottlob!« Anna befreite sich aus der Menge, Giovanni im Schlepptau, und kam auf Caterina zugestürmt, sichtlich blass um die Nase. »Der Herr sei gepriesen«, schnaufte Anna, als sie Caterina um den Hals fiel, »ich hatte solche Angst! Danke, tausend Dank«, sprudelte sie dem Jungen am Weinstand entgegen. »Nicht auszudenken, wenn ich sie nicht heil nach Hause gebracht hätte!«

»Nichts zu danken«, gab dieser zurück, sichtlich amüsiert von Annas Überschwänglichkeit. »Ich bin übrigens Riccardo.«

»Caterina, Anna, Giovanni«, stellte Anna sie reihum vor und hakte sich bei Caterina unter, bereit, wieder aufzubrechen. »Danke noch mal, dass du ein Auge auf sie gehabt hast!«

»Habt ihr heute Abend schon was vor?«, kam Riccardos hastige Frage mit einem Seitenblick auf Caterina.

»Warum fragst du?« Die sonst so gewitzte und schlagfertige Anna wirkte überrascht, fast ein bisschen misstrauisch.

»Wenn ich hier fertig bin, ziehe ich noch mit ein paar Freunden um die Häuser. Wollt ihr vielleicht mitkommen?« Riccardo wich den großen Augen Annas und Caterinas aus und versenkte seinen Blick tief in einen der Weinkrüge.

Anna sah abwechselnd Riccardo und Caterina an und der Anflug eines Verstehens glitt über ihr Gesicht, während Caterina ein stechender Schmerz durchfuhr. Vor Kummer, diese nur zu verlockende Einladung ablehnen zu müssen, geriet ihre Antwort piepsig. »Das geht leider ni.. .«

Sie verstummte abrupt, als Annas Ellenbogen sie zwischen den Rippen traf.

»Sehr gerne«, zwitscherte Anna und zeigte Riccardo ihr strahlendstes Lächeln. »Wann denn?«

Riccardos Züge hellten sich auf. »Kurz nach Sonnenuntergang. Dort vorne, am Hauptportal?«

»Bene, wir werden da sein!«

Caterina konnte Riccardo gerade noch den geleerten Becher in die Hand drücken, dann zog Anna sie schon mit sich fort. Mit einem Blick über ihre Schulter sah sie, wie Riccardo ihnen nachschaute, und ihr Herz machte einen Satz. Aus dem kleinen Abenteuer des Tages war ein großes geworden.

Jener Abend, am Fest von San Gennaro, war jedoch nur der Anfang gewesen. Gefolgt waren ihm Sommernächte an der Mole, in denen das Wasser der Bucht sanft gegen die Hafenmauern schlug und an den Rümpfen der Schiffe gluckste. Nächte unterm Sternenzelt, bei Lautenklang und Grillengezirp. Eng umschlungen erzählten sie einander ihre Kümmernisse und Sorgen, halbierten sie dadurch und schenkten einander Trost. Über die Zukunft sprachen sie dabei nie; es gab immer nur diese eine Nacht und die nächste und die darauf. Eine Nacht, in der sie sich zum ersten Mal küssten und viele weitere, in denen Küsse Worte ersetzten.

Eine Nacht wie diese.

3. Kapitel

Die Glocken der Basilika Santa Chiara schlugen die Stunde und San Giovanni Maggiore ganz in der Nähe beeilte sich, es ihr gleichzutun. Riccardo und Caterina zählten beide stumm die Zahl der Schläge mit. Die Nacht ging ihrem Ende entgegen und damit ihre gemeinsame Zeit.

Wortlos standen sie auf; Caterina stopfte ihr Haar zurück unter die Haube, Riccardo zog sein Wams wieder über und stapelte die Heubündel zurück an ihren Platz.

Hand in Hand, Caterinas kleine, zarte in der großen, schwieligen Riccardos, wanderten sie durch die Gassen, die nun in tiefem Schlaf lagen.

An der Ecke zur Via Benedetto Croce blieben sie stehen und küssten sich ein letztes Mal, hielten sich eng umschlungen. »Sehen wir uns morgen?«

»Oh, ich würde so gerne!« Caterina klang unglücklich. »Aber mein Vater hat eine Einladung ausgesprochen und ich muss die Dame des Hauses geben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wer weiß, wie lange das dauert und ob ich es danach wagen kann, mich auf den Weg zu machen. Nicht, dass mein Vater noch auf ist und ich ihm womöglich in die Arme laufe.«

»Ich werde da sein und auf dich warten. Wenn es sein muss, die ganze Nacht.« Riccardos Hände legten sich um ihr Gesicht und er hauchte einen Kuss auf ihren Mund. »Gute Nacht, bellissima.«

»Gute Nacht, caro mio.« Sie umfasste sein Handgelenk und drückte ihre Lippen in seine Handfläche. Langsam ließ sie ihn los, machte zwei Schritte rückwärts und wandte sich dann um.

Riccardo sah ihr nach, wie sie die Straße überquerte, wie Giovanni ihr das Tor öffnete und Caterina dahinter verschwand. Er verharrte noch einige Augenblicke auf der Stelle, bevor er kehrtmachte, zurück in Richtung des Hafens, wo ihn sein Strohsack auf dem Dachboden des »Bullen« erwartete.

Mit einem warmen Gefühl im Bauch huschte Caterina quer durch den verlassenen dunklen Innenhof und die Steinstufen zum Eingang des Seitenflügels hinauf. Sorgsam verriegelte sie die Tür mit dem bleigefassten Glasfensterchen wieder hinter sich und schlich unter herzhaftem Gähnen die Treppen empor und den Korridor entlang.

»Caterina?«

Ihre bestrumpften Zehen lösten sich vom Boden und verharrten in der Luft. Eines der Plättchen in der kostbaren Einlegearbeit aus Holz musste sich gelockert haben und hatte sie mit einem leisen Klicken verraten. Auf dem anderen Bein balancierend, die von Anna geborgten Schnallenschuhe in der Hand, hielt sie die Luft an, bemüht, nicht noch ein unwillkommenes Geräusch zu verursachen.

Es war eine Mär, dass alte Leute schlecht hörten; vielmehr entsprach es der Wahrheit, dass ihre Ohren nur taub waren für alles Nebensächliche und Unangenehme, während sie das, was sie nicht hören sollten, überdeutlich wahrnahmen. Das hatte Caterina gerade begriffen.

Aus dem Augenwinkel schielte sie zu der geschlossenen Tür hin, unter der ein schwacher Lichtschimmer auf den dunklen Korridor drang. Wie lange ihre Großmutter wohl schon wach gelegen hatte?

»Caterina? Bist du das, mein Kind?«

Die feine Stimme der alten Frau flackerte, klang angespannt und brüchig und Caterina konnte die Furcht darin heraushören. Was würde ihrer Großmutter größeres Leid zufügen: die Vorstellung, ein Dieb triebe sich womöglich auf der Suche nach Gold und Geschmeide im Haus herum – oder zu erfahren, dass sich ihre einzige Enkeltochter aus dem Haus gestohlen hatte, um sich auf der Straße mit einem Burschen zu treffen?

Sie atmete aus und unterdrückte den Seufzer, der in ihrer Brust emporstieg, stellte den Fuß zurück auf den Boden und schob die Tür auf.

»Kannst du wieder nicht schlafen, nonna?« Die Zärtlichkeit in ihrer Stimme war nicht gespielt; Caterina wurde weich, sobald sie nur die zerbrechliche Gestalt in dem riesig wirkenden, langärmligen Nachthemd unter der Bettdecke sah und das flaumige weiße Haar, auf dem eine Schlafhaube thronte.

»Ist nicht weiter schlimm, schlafen kann ich bald noch genug. Ich habe mich nur so erschrocken! Da war dieses Geräusch . . . Komm doch her, mein Mädchen, komm her zu mir!« Begierig streckten sich ihre Hände Caterina entgegen. Caterina schloss die Tür und ging hinüber zu dem mächtigen Bett. Das Rascheln ihrer Röcke, als sie sich auf der Bettkante niederließ, nutzte Caterina, um die Schuhe möglichst lautlos auf dem Boden abzustellen.

»Lass dich ansehen.« Gehorsam neigte Caterina den Kopf zu ihr hin. Die Fingerspitzen ihrer Großmutter glitten über Caterinas helle Haut, entlang der Mulden unter den goldbraunen Augen, befühlten die Konturen des herzförmigen Gesichts, das zu Caterinas geheimem Kummer nicht die Spur von Wangenknochen zeigte, aber wenigstens von einer hübschen kleinen Nase geziert wurde. Jedes erfühlte Detail schlug sich in raschen Bewegungen der milchigen Augäpfel nieder. Als vergliche die alte Frau alles mit den Bildern, die sie aus jener Zeit in sich trug, in der ihre Welt noch nicht allein aus Schemen bestanden hatte.

»Du bist ja ganz heiß«, rief sie voller Sorge aus. »Du hast dir doch nicht etwa ein Fieber geholt? Bist du deshalb noch auf? Der September ist ein trügerischer Monat. Tags ist er noch warm wie der Sommer, aber in den Nächten –«

Sanft bog Caterina ihren Kopf zurück, weg von den allwissenden Händen ihrer Großmutter.

»Mir geht es gut, sei unbesorgt.«

»Ach, ich weiß, ich bin eine alte Glucke«, seufzte die Greisin. »Aber wenn man so viele Menschen vor der Zeit begraben musste wie ich, dann –« Sie unterbrach sich, als sie nach der Hand ihrer Enkelin tastete und dabei den Stoff von Caterinas Röcken streifte – nach einem Nachtgewand fühlte sich Annas Kleid sicherlich nicht an. Die silberweißen Augenbrauen der alten Frau zogen sich zusammen, als sie Caterinas Rockschoß befingerte und das Miederleibchen, das viel zu locker saß, weil Anna nicht nur zwei Jahre älter war als Caterina mit ihren vierzehn, sondern auch deutlich fülliger.

Caterina biss sich auf die Unterlippe und senkte schuldbewusst den hochroten Kopf, fieberhaft nach einer Ausrede suchend. Vergeblich; denn sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen, was ihr als kleines Mädchen mehrfach ein brennendes Hinterteil voller Striemen eingebracht hatte.

Unter gesenkten Lidern blickte sie in das Gesicht ihrer Großmutter, in dem es sichtlich arbeitete, bis sich Verblüffung um die schmalen, faltigen Lippen abzeichnete, dann ein harter, strenger Zug.

»Du hast dich wohl aus dem Haus geschlichen.«

Caterina schluckte, setzte zu einer Erwiderung an, blieb diese aber dann doch schuldig. Sie schämte sich, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatte.

»Wie alt ist er?«

»Ein Jahr älter als ich«, konnte Caterina nur noch heiser flüstern.

Ihre Großmutter schürzte die Lippen über dem nahezu zahnlosen Mund und presste sie wieder zusammen. Der knochige Zeigefinger der Greisin strich über Caterinas Handrücken. »Ist er ein guter Junge?«

Caterinas Erstaunen über den sanften Tonfall dieser Frage versank in der Flut an Gefühl, das in ihr aufquoll und ihre Stimme zittern ließ. »Sehr, nonna.«

Die alte Frau nickte sachte; dann schlossen sich ihre Finger um Caterinas Hand und drückten sie sanft. »Dann geh schon endlich schlafen und lass dich bloß nicht von deinem Vater erwischen«, fügte sie mit gütiger Bestimmtheit hinzu.

Caterina beugte sich vor und küsste ihre Großmutter auf die Wange, die zerknittert war wie altes Pergament und sich doch so weich anfühlte wie das Blütenblatt einer Rose. »Danke.«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht der alten Frau, dann flatterten ihre Lider und schlossen sich. Caterina warf noch einen Blick zurück, dann zog sie leise die Tür hinter sich zu und setzte den Weg zu ihrem Zimmer in Strümpfen und auf Zehenspitzen fort. Unnötig im Grunde, denn außer ihren eigenen Gemächern und denen ihrer Großmutter war der Rest des Flurs verwaist, so wie es auch in den anderen Stockwerken im hinteren Teil des Palazzo Salerno unbewohnte Räume gab. Die Aufteilung des Hauses und seine Einrichtung stammten noch aus den Jahren, in denen die Familie größer gewesen war – bevor der Sensenmann nach und nach seine reiche Ernte eingefahren hatte.

Riccardo wanderte durch die Gassen Neapels, die so ausgestorben dalagen, wie sie es nur taten, wenn die Nacht am schwärzesten war, auf halbem Weg zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Allein diejenigen des Hafenviertels waren um diese Stunde noch nicht ganz menschenleer.

An eine Hauswand gestützt, erbrach sich ein Bursche in Riccardos Alter unter gurgelnden Geräuschen.

Zwei spanische Soldaten, die sich bislang nur lautstark gestritten hatten, gingen dazu über, einander schallende Backpfeifen zu verpassen. Unwillkürlich zog Riccardo die Schultern hoch und heftete seinen Blick auf den Boden, in der Hoffnung, sie würden ihn nicht bemerken. Denn bei den allgegenwärtigen Soldaten, den tausendfachen Tentakeln des verhassten spanischen Vizekönigs, wusste man nie, woran man war. Zu oft nutzten sie ihre Macht, um sich nichtsahnende Passanten zu schnappen und unter Hohngelächter erst durch den Staub robben zu lassen, bevor sie sie zusammenschlugen und mit ihren Stiefeln nachtraten. Sie stahlen und randalierten im Suff, nahmen grundlos Verhaftungen vor und bedrängten Mädchen und Frauen, als ob es rings um den Hafen nicht genug Damen des sündhaften Gewerbes gäbe.