Die Cornwall-Saga - Nicola Vollkommer - E-Book

Die Cornwall-Saga E-Book

Nicola Vollkommer

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Beschreibung

Endlich wieder erhältlich: Ein überarbeiteter Sammelband mit den beliebten Cornwall-Romanen "Wie Möwen im Wind" und "Die Rückkehr des Erben" aus der Feder der erfolgreichen Autorin Nicola Vollkommer. Liebe, Intrigen zwischen Adel und Dienerschaft sowie Gottes Spuren im Leben der Menschen. Wie Möwen im Wind Cornwall, 1820: Die kleine Charlotte wächst bei einer Amme auf. Jahre später soll sie in ihre strenge Familie zurückkehren und den wohlhabenden Mr. Linreed heiraten. Doch ihr zunächst verliebtes Herz hat Zweifel – und dann gehen im Klosterturm am Strand auch noch einige seltsame Dinge vor sich. Gibt es ein Geheimnis in ihrer Familie? Die Rückkehr des Erben Jahrzehnte später leben Lady Charlotte und ihr Mann mit ihrer fast blinden Tochter Elinor auf Birch Heights. Elinor ist rebellisch und vertreibt alle Gouvernanten – bis die mittellose Marie auftaucht und Elinor fördert. Doch ein Tyrann aus der Vergangenheit bedroht die Familie und das Erbe von Birch Heights. Authentische Charaktere, leichte Krimi-Spannung und tiefe geistliche Wahrheiten

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Seitenzahl: 919

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die beiden Romane dieses Sammelbandes sind das erste Mal 2015 (Wie Möwen im Wind) und 2017 (Die Rückkehr des Erben) bei der SCM Verlagsgruppe GmbH erschienen. Für die überarbeitete Fassung wurden Figurengestaltung, Erzählperspektiven und Zeitabläufe überarbeitet und konkretisiert und die Romane wurden sprachlich geschliffen. Der Handlungsablauf ist überwiegend gleich geblieben zum Original.

Das Gedicht von Samuel Taylor Coleridge auf S. 320 f. heißt im Original The Nightingale: A Conversation Poem, Übersetzung: Brunnen Verlag GmbH

Das Lied auf S. 378 f. ist ein Kindheitsgedicht von Carol Bogan, aus einer privaten Sammlung der Autorin, Titel: A Little Bird‘s Song, Übersetzung: Brunnen Verlag GmbH

© 2025 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Die Nutzung von Bild-, Sprach- und Textdaten für sog. KI-Trainings und ähnliche Zwecke ist nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung erlaubt.

Gottlieb-Daimler-Straße 22, 35398 Gießen

www.brunnen-verlag.de; [email protected]

Lektorat der überarbeiteten Fassung: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: Arcangel.com / Marc Owen und AdobeStock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-2193-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7747-5

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Wie Möwen im Wind

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Die Rückkehr des Erben

Nachwort

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Nicola Vollkommer

Die Cornwall-Saga

Wie Möwen im Wind

Prolog

Die Küste bei Cornwall, England 1820

Ein gewaltiges Krachen zerriss die Luft und erschütterte das Schiff. Der Kapitän wurde gegen die Wand der Kabine geschleudert. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, und ein stechender Schmerz durchschoss seinen Körper. Die Laterne, die von der Decke hing, schaukelte von einer Seite zur anderen. Die Kerze erlosch und die kleine Kajüte, die unter dem Krachen und Reißen unzähliger Holzbretter hin und her schwankte, wurde in Dunkelheit getaucht.

„Gott im Himmel, hilf mir!“ Er kroch auf allen vieren Richtung Tür und zog sich mühsam am Türrahmen hoch. Der Boden schien unter seinen Füßen hin und her zu rollen. Sein Kopf hämmerte, er rang nach Luft.

Von außen schlug etwas mit mächtiger Wucht gegen das Fenster der Kabine. Die dicken Scheiben barsten in Splittern nach innen und eine Flut von eiskaltem Wasser platzte herein. Der Kapitän hatte sich inzwischen über die Türschwelle geschleppt. Er versuchte, die Tür gegen die Gewalt der Wasserfluten zu stemmen. Umsonst.

Er drehte sich um. Halb schwimmend, halb strampelnd bewegte er sich durch das Wasser, das aus allen Richtungen ins Schiff strömte, bis zur Leiter, die aufs Deck hinaufführte. Er klammerte sich an die Reling, während das tosende Wasser seine Hüften umspülte. Kein Passagier war weit und breit zu sehen – immerhin! Sie hatten seinen Befehlen Folge geleistet und waren aufs Deck geeilt.

Oben herrschte blanke Panik. Seile wurden in Eile heruntergelassen, Passagiere und Seemänner klammerten sich an alles, was Halt zu bieten schien. Das Kreischen von Frauen und Kindern hob sich kurz vom Heulen der Windböen ab und wurde vom tobenden Gewitter wieder verschluckt. Ein gerissenes Tau flatterte im Wind. Das zerfetzte Segel schlug in alle Richtungen.

„In die Rettungsboote!“, schrie der Kapitän, als ob nicht jeder schon mit aller Macht versuchen würde, sich von dem sinkenden Schiff zu retten. Er warf einen Blick nach hinten und sah im schwachen Schein der schaukelnden Laternen, wie das Achterdeck des Schiffes mit einem gewaltigen Stöhnen langsam wegbrach. Das Vorderdeck beugte sich nach vorne. Ein Kind verlor seinen Halt und stürzte schreiend in die eiskalten, dunklen Wassermassen.

Ein grauer Wasserberg, höher als der Mast, raste auf das Wrack zu. Für die Rettungsboote war es zu spät. „Wer schwimmen kann, springe! An Brettern, Fässern und Seilen festhalten!“ Er brüllte so laut, dass es ihm in der Kehle wehtat, mehr aus einem ohnmächtigen Instinktgefühl heraus als aus der Hoffnung, dass ihn irgendjemand hören würde. Der Wind verschlang sofort jeden Laut, der aus seinem Mund kam.

Die Wellen krachten auf das Vorderdeck, das schräg wie ein Hausdach geneigt war. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ein milchiger Halbmond blickte zwischen den schwarzen Wolken hervor und der Wind schwieg für einen Augenblick, der dem Kapitän wie eine Ewigkeit vorkam.

Er blickte hoch. Durch die Gischt und den treibenden Regen sah er in der Ferne die schwarzen, zackigen Umrisse einer Felswand, die in die Höhe ragte wie ein lauernder Titan, bereit zu springen und sein Opfer unter sich zu zerdrücken. Unten am Ufer rannten winzig aussehende schwarze Gestalten mit Lichtern in den Händen hin und her. Ein Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf. Jemand hatte Alarm geschlagen und Hilfe geholt!

Wie ein blutrünstiger Jäger, der seiner Beute einen schadenfrohen Todeshieb versetzt, entfesselte der Sturm alle Kräfte, die er noch aufbringen konnte, und schlug ein letztes Mal zu. Ohrenbetäubend, langsam, mit der Würde eines Feldherrn, der bis zuletzt tapfer gegen eine Übermacht gekämpft hat und schließlich kapituliert, sank die Flying Gull in ihr wässriges Grab. Der Kapitän wurde mitgezogen.

Ein dröhnendes Rauschen füllte seine Ohren und tobte in seinem Kopf. Gegenstände, die mit in die Tiefe gerissen wurden, schlugen gegen seinen Körper. Er steuerte fieberhaft mit seinen Armen gegen den Sog und versuchte, seinen Körper nach oben zu bewegen. Seine Lungen brannten und waren dem Bersten nahe.

Plötzlich stießen seine Hände an etwas Hartes, Spitzes. Es war ein Felsen. Er fasste tastend danach, klammerte sich daran und zog sich nach oben. Mit einem letzten Kraftakt stieß er seinen Kopf durch die tosende Oberfläche der Wellen und japste nach Luft. Er blickte um sich. Das Wasser war an dieser Stelle noch tief, aber die Lichter am Ufer waren näher, er hörte Stimmen. Gott sei Dank. Es würde Überlebende geben.

„Maggie, Maggie – warte!“, schrie er. „Ich komme! Sag Jake, dass Vater bald heimkommt!“

Ein Stück Holz trieb an ihm vorbei. Er warf sich darauf und fing an, mit seinen Armen und Füßen in die Richtung zu rudern, wo er Stimmen vernahm.

„Da lebt noch einer!“

Zwei Gestalten ruderten in einem kleinen Boot durch die Wellen auf ihn zu. Die Rettung nahte! Doch was war das?

Im Licht der Laternen, die einer der Männer hochhielt, sah er die Klinge eines Messers schimmern.

„Da schwimmt einer! Schnappen wir ihn!“

„Was zum …? Nein, Nein!“, schrie der Kapitän, als er begriff, was die vermeintlichen Retter beabsichtigten.

Er drehte sich im Wasser auf den Rücken, umklammerte das Stück Holz mit einem Arm und paddelte mit dem anderen Arm um sein Leben – rückwärts, aufs offene Meer zu.

Fünf Monate später

Charlottes Eintritt ins Leben war alles andere als leicht.

„Mrs Earling, Sie strengen sich überhaupt nicht an! Wie können Sie dieses Gebrüll hören und nichts dagegen tun?“

„Weil es zu meiner Aufgabe gehört, dieses Gebrüll auszuhalten!“ Die Hebamme richtete sich auf und stützte die Arme in die Hüften. „Hören Sie um Gottes willen damit auf, die ganze Zeit hin und her zu laufen, Mrs Gibbs! Durch das Geklapper Ihrer Schlüssel kommt das Kind auch nicht schneller zur Welt.“

Die Worte wurden eher ausgespuckt als gesprochen. „So wie Sie herumjammern und nervös mit Ihren Schlüsseln spielen, könnte man meinen, Sie liegen in den Wehen und nicht Lady Agnes!“, fuhr sie die Haushälterin an. „Haben Sie noch nie eine Geburt gesehen?“

Mrs Gibbs verschränkte die Arme und tippte mit einem Fuß auf den Boden. „Auf so eine herrische Stimme höre ich nicht!“, antwortete sie.

Mrs Earling wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, murmelte etwas über Bedienstete, die das einfache Denken nicht beherrschten, und beugte sich über ihre Patientin. Mit einem feuchten Tuch tupfte sie das schweißgebadete Gesicht um die weit aufgerissenen Augen ab, die ängstlich zur Decke des Himmelbetts starrten. Plötzlich rang die stöhnende Frau nach Luft, griff nach dem Arm der Hebamme und krallte sich daran fest. Ihr Atem kam in kurzen Stößen.

„Bald haben Sie es geschafft, Mylady“, sagte Mrs Earling, „halten Sie nur durch. Gleichmäßig atmen!“ Sie blickte hoch. „Stehen Sie nicht da wie ein dummes Schaf, Mrs Gibbs! Holen Sie Wasser, wischen Sie den Boden, öffnen Sie das Fenster, bringen Sie frische Laken! Tun Sie gefälligst irgendwas, damit ich nicht wahnsinnig werde! Wenn dieses Bett sich in einen Sarg verwandelt, dann sind Sie schuld!“

Mrs Gibbs öffnete ihren Mund und klappte ihn wieder zu. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. „Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden, Mrs Earling? Ist Ihnen bewusst, dass ich als Haushälterin dieses Anwesens Ohren und Augen für Lady Agnes bin und dass nichts in diesem Haus meiner Aufmerksamkeit entgeht?“

„In dem Fall wird es Ihrer Aufmerksamkeit auch nicht entgangen sein, dass Ihre Lady sich gerade in großer Not befindet. Ungeachtet, wie viele Haushälterinnen und enge Vertraute von Lady Agnes in der Gegend herumschwirren – bis diese Not gelindert ist, führe ich in diesem Raum Regie, nicht Sie!“

Mrs Gibbs biss sich auf die Lippen und marschierte zum Fenster.

Die stickige Luft hing wie ein schwerer, unsichtbarer Nebel über dem Bett. Sie roch nach abgestandenem Kräutertee, vermischt mit dem Duft der Lavendelblüten, die in den Tüchern gelegen hatten. Lady Agnes liebte Lavendel. Mrs Gibbs zog den Vorhang zur Seite. Ein Luftzug bewegte sich, kaum spürbar, in den Schatten des riesigen Schlafgemachs. Hier hatte Lady Agnes Greenwold seit Wochen still gelegen und kaum das Tageslicht erblickt. Nun wandte sie ihren Kopf zum Licht und atmete tief ein.

Zwei Möwen schossen laut schreiend über das Haus Richtung Meer.

Eine Wespe flog durch den offenen Fensterspalt und torkelte wie betrunken gegen den Porzellankrug, der neben den Handtüchern auf dem Tisch stand. Es war einer der schwülsten Tage des Altweibersommers, der auf wochenlangen Sommerregen gefolgt war.

Das Pfeifen eines Gärtners drang durch das offene Fenster. Von der fernen Wiese klang das fröhliche Treiben der Apfelernte. Männer vom Dorf schüttelten die Bäume mit langen Stangen, Kinder schrien und sprangen um die Wette, um ihre Körbe mit Obst zu füllen.

Das Summen der Wespe, die Rufe der Männer, das Lachen der Kinder, der Duft des Sommerflieders, der durch das offene Fenster wehte, das Rauschen des Meeres in der Ferne: Jedes Geräusch, jeder Geruch war wie ein Bote aus einer anderen Welt, in der das Leben noch in geordneten, vertrauten Bahnen lief. Sie schienen die geplagte Frau für kurze Zeit zu besänftigen. Die Qualen, die ihre Züge verzerrt hatten, ließen nach, sie keuchte und ihr Atem wurde ruhig.

Aber die Entspannung währte nicht lang.

Plötzlich warf sie sich auf die Seite, krümmte sich und schrie vor Schmerz auf.

„Dieses Kind reißt mich in Stücke!“, kreischte sie. „Mrs Earling, helfen Sie mir, ich kann nicht mehr!“

„Ruhig, ruhig, Mylady, bald ist es so weit!“

Draußen hörte der Gärtner auf zu pfeifen. Er legte die Schere, mit der er die verblühten Rosen abgeschnitten hatte, auf den Boden, bekreuzigte sich, schüttelte den Kopf und fing wieder an zu schneiden, als hinge sein Leben davon ab.

„Mrs Gibbs, halten Sie ihre Beine fest! Es kommt gleich noch eine Welle!“

„Ich tue schon mein Bestes, Mrs Earling“, blaffte die Haushälterin.

Die Hebamme wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, dieses Mal mit einem Tuch. Die Gebärende gab einen letzten, markerschütternden Schrei von sich. Danach wurde sie still, während Mrs Earling mit flinken Bewegungen ein zappelndes und nach Luft schnappendes Bündel emporhob. Sie klopfte dem Neugeborenen auf den Rücken, tupfte es mit warmem Wasser ab und wickelte es in eine Decke.

„Mylady, wollen Sie Ihre Tochter nicht willkommen heißen?“, fragte sie.

Die erschöpfte Frau stöhnte. Sie drehte den Kopf zum Fenster und starrte reglos in den Himmel. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

Sie wandte sich Mrs Gibbs zu. „Holen Sie meinen Mann und wecken Sie mich, wenn er kommt.“

„Sofort, Mylady.“

„Sie bringen das Kind eilends zur Amme“, warf Mrs Gibbs der Hebamme in einem forscheren Ton zu. „Frances holt frische Wäsche. Ich kümmere mich um Lady Agnes. Wir brauchen Ihre Dienste nicht mehr.“

Ohne einen Blick auf das neugeborene Kind zu werfen, verschwand die Haushälterin durch die Tür. Das Klappern ihrer Schlüssel war immer noch zu hören, lange nachdem sie gegangen war.

Ein einziger, schauerlicher Schrei einer Silbermöwe begrüßte die Ankunft der kleinen Lady Greenwold.

„Keiner freut sich. Ich schließe daraus, es ist wieder ein Mädchen“, sagte Frances, das Hausmädchen, das ins Zimmer geschlichen war und neugierig auf das kleine Bündel in Mrs Earlings Arm blickte. Sie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge.

„Reden wir über etwas anderes, Frances“, seufzte Mrs Earling, während sie den weinenden Säugling in der Armbeuge schaukelte und mit der freien Hand das Fenster schloss. „Hast du es bemerkt? Die Jungvögel sind ausgeflogen und ihre Nester sind leer. Das Weibchen sucht nach seinen Jungen.“

„Es sieht nach Regen aus“, fügte Frances hinzu.

„In mehr als einer Hinsicht, Franny“, war die müde Antwort. „Richte das Zimmer und schaue nach Lady Agnes, bis Mrs Gibbs wiederkommt, dann kannst du gehen. Lady Agnes hat die Geburt überstanden.“

Den Säugling immer noch im Arm, warf Mrs Earling einen letzten Blick auf ihre Patientin, zupfte die Bettdecke zurecht, griff nach ihrem Mantel und Hut, verließ den Raum und eilte die große Treppe zum Haupteingang von Birch Hollow hinunter.

Der Weg zum Dorf hatte sich in eine Schlammrinne verwandelt, so stark trommelte der Regen auf die Wiesen, Wälder und Straßen. Unter dem Umhang drückte sie das Kind fest an ihren Körper und hoffte, das verzweifelte Schreien dadurch zur Ruhe zu bringen. In der anderen Hand trug sie eine Laterne.

Ein Blitz erhellte für einen flüchtigen Moment den Kirchturm und die Dachgiebel des Dorfes, auf das die Hebamme zueilte. Das ferne Brausen aufgebrachter Meereswellen vermischte sich mit dem Prasseln der Regenfluten, als ob Meer und Himmel sich verschworen hätten, ihren angestauten Zorn in einem einzigen Ausbruch auf diesen abgelegenen Strich Landschaft auszuschütten.

Mensch und Vieh waren längst in Deckung gegangen, als die einsame Gestalt durch den Schatten des Kirchturms huschte, auf die Silhouette eines Häuschens zu, das sie im Licht der Laterne gerade noch ausmachen konnte.

Sie klopfte hastig an die Tür und stürzte hinein, ohne auf eine Antwort zu warten. Drinnen warf sie ihren Umhang mit einer kurzen Schulterbewegung nach hinten, ungeachtet der Regentropfen, die in alle Richtungen flogen und Pfützen auf dem Steinboden des schmalen Flurs hinterließen.

„Maggie, bist du wach?“, rief sie durch den Flur, „ich habe ein Geschenk für dich!“

***

Das einzige Lebenszeichen von ihrem Mann, das Lady Agnes Greenwold an dem Abend vernahm, an dem ihre zweite Tochter zur Welt kam, war das Klappern von Pferdehufen auf der Zufahrt. Es wurde immer leiser, bis es vom Sausen des Windes und vom Rauschen der Birken verschlungen wurde.

Natürlich will er von diesem elenden blutigen Häufchen Kind nichts wissen, dachte Lady Agnes. Wenn es ein männliches kleines Wesen gewesen wäre, hätte sein Gesicht kurz aufgeleuchtet, dann wäre er losgaloppiert, um die gute Nachricht in alle Welt zu verbreiten, dass er einen Erben hatte.

Jetzt hatte sie den Schrecken hinter sich. Immerhin. Hatte diesen Klumpen, der schwer wie ein Stein in ihrem Bauch hing, aus ihrem aufgeblähten Körper herausgedrückt. Sie musste jetzt versuchen, möglichst bald zu alter Frische zurückzufinden. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Kapitel 1

Fast zehn Jahre später

„Was machst du denn hier?“ Das Letzte, was Jake Fenton in diesem Teil des Gestrüpps erwartet hatte, war ein kleines Mädchen, das sich halb hinter einem Baum versteckte. Beinahe wäre er mit ihm zusammengeprallt.

„Das könnte ich genauso gut fragen! Kannst du nicht aufpassen?“

Das Mädchen griff in die Tasche seiner Schürze, die wie ein Vorhang um seinen dürren Körper hing, suchte vergeblich nach einem Taschentuch und wischte seine Nase stattdessen mit dem Handrücken ab.

„Du hast geweint“, bemerkte Jake. Er trat einen Schritt näher und musterte neugierig ihr Gesicht.

„Na und? Hast du noch nie jemanden weinen gesehen?“ Das Mädchen drehte sich um, verbarg das Gesicht hinter den verschränkten Armen und redete weiter, mehr zum Baum als zu dem Jungen. „Ja, komm nur, mach dich über mich lustig. Erzähl allen im großen Haus und im Dorf, was für eine Heulsuse ich bin!“

Die Kleine fing an, hemmungslos zu schluchzen. Als wäre sie erleichtert, dass sie nicht länger versuchen musste, eine tapfere Miene zu bewahren.

Jake schüttelte den Kopf, streckte eine Hand aus, um ihr tröstend die bebenden Schultern zu tätscheln, zog sie aber wieder zurück.

„Ist schon gut. Warum in aller Welt sollte ich irgendjemandem erzählen, dass du eine Heulsuse bist?“, fragte er stattdessen. „Wer bist du überhaupt?“

Sie hörte schlagartig auf zu weinen, blieb einen Augenblick still und wirbelte plötzlich herum. „Du weißt nicht, wer ich bin?“, fragte sie.

„Nein“, erwiderte Jake mit einem Achselzucken, „woher denn auch?“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, schniefte und hob ihr Kinn. „Ich bin Lady Georgiana Mathilda Franziska Greenwold.“

Er stieß einen leisen Pfiff aus und bot ihr feierlich seine Hand. „Erfreut, Sie kennenzulernen, Mylady. Ich heiße Jake Fenton. Ich bin der neue Stallmeister.“

Zu seiner Bestürzung stampfte Lady Georgiana mit dem Fuß auf den Boden und heulte wieder los.

„Um Himmels willen – habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte er.

„Ach, lass mich in Ruhe und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!“

Sie drehte sich um, lehnte sich an den Baumstamm und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Ob ich es will oder nicht, jetzt bist du meine Angelegenheit!“ Jake setzte sich auf den alten Baumstamm, der quer über dem grasbewachsenen Boden im Birkenwald lag. „Ich bleibe hier sitzen, bis du mir sagst, warum du weinst. Ich kann so stur sein wie du.“

Es war ein paar Augenblicke still. Als Jake beobachtete, wie Lady Georgiana mit einem verstohlenen Blick nach hinten prüfte, ob er immer noch da war, erhellte sich seine Miene.

„Sag mal, Lady Georgiana, magst du Möwen?“

„Ach, lass die Lady weg“, erwiderte sie mit hängendem Kopf.

Als Antwort ergriff Jake ihre Hand und zog sie mit sich aus dem Dickicht. Er hielt vor einer alten Mauer an, die mit verwilderter Clematis bewachsen war. Sie erinnerte an Tage, in denen dieser Teil des Anwesens ein gepflegter Garten gewesen war.

Ein einzelner Strang wilden Weins hob sich rotleuchtend vom feuchten Dunkelgrün des Mooses ab und schlängelte sich lässig über das Klettergewächs, bevor er in einer Ritze zwischen den grauen Steinen verschwand. Verblühte Stockrosen wuchsen kreuz und quer entlang der Mauer, verfangen in den stachligen Brombeerranken am Fuß einer sanften, grasigen Anhöhe. Oben am Hang ragte ein alter Turm in die Höhe.

„Zum Turm darf ich aber nicht hin!“

Jake drehte sich um und sah seine Begleiterin zum ersten Mal im Licht der Nachmittagssonne. Ein Blick reichte, um ein rundes Gesicht, Sommersprossen auf einer kleinen Stupsnase, die rot war vom Weinen, zwei eng geflochtene, hellbraune Zöpfe und eine mit Grasflecken verschmierte Schürze aufzunehmen, die viel zu groß war. Eine elegante Lady gab sie nicht gerade ab.

„Du bist aber klein!“, sagte er und als er sah, wie ihre Oberlippe wieder zu zittern begann, erklärte er schnell: „Ich meine, dein Name klingt älter.“

„Ich bin zehn Jahre alt!“

Für ein zehnjähriges Mädchen war sie in der Tat klein und drahtig, aber Jake hielt es für klüger, diesen Eindruck für sich zu behalten.

„Schau, Lady Georgiana, das Nest ist nicht weit von hier, links. Zum Turm gehen wir nicht.“

Schon zog er sie den grasbewachsenen Hügel hoch. Rechts von ihnen sank die Wiese ab und bildete eine Mulde, auf deren anderer Seite die alte Turmruine stand, die sie von der Mauer aus gesehen hatten. Der Weg nach links stieg immer steiler an, bis sie ein kleines Plateau erreichten, das von schwarzen Felsen durchzogen war.

„Dort oben sind die Reste von Möweneiern. Die Jungen sind geschlüpft und üben ihre ersten Segelflüge über dem Meer.“

„Bist du wirklich nur ein einfacher dummer Stallbursche?“, fragte Lady Georgiana außer Atem, während sie mit seinen langen Schritten mitzuhalten versuchte.

„Muss man dumm sein, um ein Stallbursche zu sein?“

„Na ja, die, die ich kenne, sind klein, breit und dunkelhaarig, und sie reden nicht. Sie sind nicht groß, dünn, gesprächig und blond wie du.“

Jake verkniff sich ein Lachen.

„Na, dann darfst du jetzt einen Stallburschen kennenlernen, der schlaksig, blond, redselig und ganze achtzehn Jahre alt ist. Und übrigens bin ich Stallmeister und nicht Stallbursche!“

„Achtzehn Jahre? So alt schon?“

„Sehe ich nicht so alt aus? Oh, schau mal, hier ist das Nest. Hinter diesem Felsbrocken.“

Wenig später streichelte Lady Georgiana mit zitternder Hand die winzigen flaumigen Federn, die verlassen im Nest steckten und in der Brise wehten. Jake beugte sich über ihre Schulter und nahm den Rest einer Schale zärtlich in die Hand.

„Wo sind die Küken jetzt?“

„Sie gleiten über das Land, so weit das Auge sehen kann. Komm, ich zeig’s dir.“

Jake führte sie zum Rand des Plateaus, sprang auf einen der flachen Felsen und schaute zu, wie sie sich abmühte, ihm zu folgen. Hilfe wollte sie offensichtlich nicht.

Die Landschaft lag ausgebreitet vor ihnen. Auf der anderen Seite der alten Gartenmauer ging das bewaldete Gestrüpp fast unmerklich in die gepflegte Schönheit des Parks über. Birken standen dicht beieinander und bildeten den Kern des Waldes, an dessen Rändern riesige alte Esskastanien mit wundervoll gewundenen Stämmen standen. In weiter Ferne erstreckten sich Obstwiesen und Stoppelfelder bis zum Horizont. Voll behangene Rebstöcke schmiegten sich an die zum Meer gewandten Südhänge.

Jake fing an zu erzählen, während ein milder Spätsommerwind über ihre Gesichter strich. Er beschrieb die Lebensrhythmen der Möwen. Danach redete er von den Ulmen, Birken und Eichen, die den Park umgaben, von den sanften Hügeln, zwischen denen das Dorf Hipperclove lag und den zackigen Felsen, die das Dorf und seine Umgebung vom Meer trennten und der Sage nach von Riesen und Geistern bewohnt waren. Lady Georgiana hörte gebannt zu.

„Im Herbst zieht die Landschaft ihr schönstes Kleid an“, sagte er ehrfurchtsvoll. „Der Herbst ist außerdem eine feine Zeit fürs Weinen, weil er der beste Tröster ist.“

Er sprach mehr zu sich selbst als zu Lady Georgiana. „Bewahre also all deine Tränen, wenn möglich, für den Herbst. Die Schatten sind länger und dunkler, die Sonne aber goldener. Wenn ich sehe, wie der Septemberglanz der aufgehenden Sonne die Landschaft mit warmem Licht überflutet und den Morgentau auf den Spinnenfäden erleuchtet, sodass sie wie winzige Lichterketten auf den Hecken aussehen, dann muss ich wieder fröhlich werden.“

„Weinst du auch manchmal?“, fragte Lady Georgiana.

„Gelegentlich“, antwortete Jake. „Zum Beispiel, als ich letzte Woche liebe Menschen weit weg in Schottland verlassen musste, um nach Birch Hollow zu kommen.“

„Wir sind also beide neu in Birch Hollow.“

„So scheint es. Und wer neu ist, ist einsam. Und wer einsam ist, kann, wenn er es will, Freunde überall in der Natur entdecken: Bäume, Felsen, Möwen. Dann nimmt er Worte und malt Bilder mit ihnen und danach ist er nicht mehr so einsam.“

„Deshalb kannst du so schön erzählen“, bemerkte Lady Georgiana. „Übrigens, nennst du mich bitte Charlotte?“

Jake drehte sich rasch zu ihr um und starrte sie an. „Du heißt Charlotte?“ Er hielt inne, als ob er versuchen würde, Puzzlestücke in seinem Gedächtnis miteinander zu verbinden.

Lady Georgiana redete unbeirrt weiter. „Meine Mutter – die Mutter, bei der ich bisher wohnte – nennt mich Charlotte, und sie hat mich lieb. Meine anderen Eltern nennen mich Lady Georgiana, aber ich heule, wenn jemand Lady Georgiana zu mir sagt. Ich bin artig, wenn man mich Charlotte nennt.“

„Daraus soll man schlau werden?“

„Du musst nicht schlau werden, nur machen, was ich sage!“

„Du bist aber eine Dame, die weiß, was sie will“, sagte er schmunzelnd.

„Oh! Der Gongschlag! Ich muss weg! Ich bekomme Ärger, wenn Vater erfährt, dass ich mit einem gewöhnlichen Stallburschen geredet habe!“

Der Zauber der Herbstidylle war gebrochen.

„Ich bin der Stallmeister, nicht der –“

Doch ohne einen Blick zurück rannte Lady Georgiana schon den Hang hinunter. Bis die Kirchenglocke im nahe gelegenen Dorf fünfmal geschlagen hatte, war sie über die Mauer geklettert und in den Birkenwald verschwunden. Jake schüttelte den Kopf.

Noch lange, nachdem Lady Georgiana außer Sichtweite war, blieb sein Blick auf das Gestrüpp, die Mauer und die Birken gerichtet. Irgendetwas rührte sich in seiner Seele. Er hatte das Gefühl, dass ein unsichtbarer Faden sein Schicksal mit dem des Mädchens verband. Als wären sie zwei Herbstblätter vom selben Zweig, die der Wind auseinandergetrieben und auf weit voneinander entfernte Felder geweht hätte.

Er setzte sich ins Gras und musterte die dunklen Wolken, die über den Horizont geschlichen waren. Sie waren noch nicht nah genug, um die sonnengebadete Landschaft in ein düsteres Grau zu verwandeln. Ein kaum erkennbarer Hauch von Orange schimmerte durch das Laub. Als hätte ein Künstler mit seiner Pinselspitze winzige pastellene Spuren auf die grüne Kulisse der bewaldeten Hänge getupft und sie dann zärtlich gestreichelt.

Noch wartete die Landschaft mit angehaltenem Atem auf einen geheimen, für menschliche Ohren nicht hörbaren Startschuss. Dann würde sich das gewaltige Naturschauspiel entfalten – eine Farbenschau in satten Mischungen von Gold, Rot und Orange.

Strahlend, leuchtend, himmlisch.

Ein letzter Ausbruch von Leben, bevor der Winterfrost monatelang wie eine steife Decke über dem ganzen Panorama liegen würde.

Rauch aus den Schornsteinen des Herrenhauses schlängelte sich träge in die Luft und mischte sich mit dem Rauch, der aus dem Garten stieg. Der Gärtner schien einen Sturm zu befürchten und trug einen Armvoll Blätter in die Scheune, bevor der Wind sie aufwirbeln konnte. Bald trübte ein grauer Dunst das Grün der Landschaft und die Luft wurde kühl.

Ein ferner Donnerschlag riss Jake aus seiner Grübelei. Er stand auf, schüttelte Grasreste von seiner Jacke und marschierte den Hang hinunter. Anstatt zum Stall zu gehen, in dem er neben dem Pferdewirt Frederick ein Zimmer über der Scheune bewohnte, bog er auf der anderen Seite des Birkenwaldes nach rechts und lief mit raschem Schritt über die Brücke Richtung Dorf.

„Ich muss mit Mutter reden“, murmelte er.

***

Dickon zögerte, bevor er klopfte. Aus der Bibliothek drangen Stimmen durch die geschlossene Tür in den Flur. Der Dienstbote sah sich vorsichtig um, dann legte er sein Ohr an die Tür.

„Ich werde mein Recht geltend machen, das ist dir wohl klar, Cousin!“

Eine fremde Stimme. Der Besuch musste überraschend gekommen sein. Die übliche Bestellung von Apfelwein für Gäste hatte es nicht gegeben, nachdem die Bediensteten die Räder der Kutsche auf dem Kies in der Zufahrt gehört hatten.

„Beides falsch, Malcolm. Weder ist es dein Recht noch ist es mir klar. Im gleichen Maß, wie dein Whiskykonsum gewachsen ist, hat deine Intelligenz abgebaut.“

Das war Lord Greenwold. Geschäftlich, eiskalt, souverän.

„Aber zum Glück nicht so stark, dass ich die Gesetze des Landes nicht mehr kennen würde, Winston! Verwandtschaft ist Verwandtschaft. Um Blutsbande kommt kein Lord von Birch Hollow herum – und sei er noch so erhaben! Du hast damals durch Lug und Trug vom Bürgermeister einen Sondererlass für dich hergezaubert, damit deine Töchter dich beerben können. Aber der Bürgermeister ist nun tot, das Dokument konnte nach dem Brand nicht mehr gefunden werden. Dein Versuch, sein Verschwinden zu verheimlichen, war vergeblich. Selbst der kleinste Stalljunge weiß, dass deine Sonderregelung damit hinfällig ist. Deine Töchter gehen im Falle deines Todes leer aus. Hoffentlich hast du schon reiche Männer für sie in Aussicht. Ansonsten bin ich dein Nachfolger. Einen männlichen Erben aus dem Nichts hervorbringen, kann nicht einmal ein Lord Greenwold.“

Die Stimme klang spöttisch und schadenfroh. Der Besucher wusste offensichtlich, dass er damit bei Lord Winston auf einen empfindlichen Nerv traf.

Dickon wartete gespannt auf die Reaktion seines Herrn. Ein vollblütiger adliger Wutausbruch würde ihm Stoff liefern, um die Dienerschaft in der Küche einen Abend lang in seinen Bann zu ziehen. Türknallen, Gebrüll, das Hämmern mit den Fäusten auf dem Tisch, hin und wieder eine gebrochene Glasscheibe – das alles hatte Lord Greenwold in seinem Repertoire. Doch dieses Mal hatte sich der Lord im Griff. Er hatte wohl gelernt, lieber auf langfristige Rache zu setzen.

„Natürlich kenne ich die Gesetze des Landes, Cousin“, gab er kontrolliert und gefasst zurück. „Aber dieser Teil des Landes unterliegt anderen Gesetzen, und die bestimme ich. Möchtest du eine Zigarre?“

„Nein, ich möchte mein Recht. Ich will Klartext, feste Garantien. Lang genug redest du nun schon um den heißen Brei herum.“

„Warum hast du es plötzlich so eilig?“

„Ich hatte es schon immer eilig. Ich will dir nur die Mühe sparen, nach einem anderen Erben zu suchen. Ich will meine Zukunft planen. Ein Gentleman braucht seine Sicherheiten, Winston. Du bist nicht mehr der Jüngste und ich brauche Zeit, um mich mit deiner freundlichen Unterstützung in meine Aufgaben als zukünftiger Herr von Birch Hollow hineinzufinden.“

Die Stimmen wurden leiser, offensichtlich wandten sich die beiden jetzt mehr zum Kamin hin. Dickon drückte sein Ohr fester an die Tür. Lord Winston stand bestimmt am Fenster. Er rauchte seine Zigarren gerne am offenen Fenster stehend.

„Meinst du wirklich, ich lasse mein Anwesen, mein Vermögen, alles, was meine Vorväter sich in drei Generationen mühsam erarbeitet haben, in den Händen eines trinksüchtigen Grünschnabels, der alles in Grund und Boden wirtschaftet?“

„Mein Rechtsanwalt wird es anders sehen. Glaub mir, er wird wissen wollen, woher ein Schurke aus der Provinz, der sich adelig nennt, sich das Recht nimmt, die Gesetze dieses Landes willkürlich zu den eigenen Gunsten zu ändern, nur weil er keine Söhne hat! Du wirst von mir hören, Cousin!“

Die Stimmen waren wieder laut und aufgeregt. Dickon sprang von der Tür zurück und stürzte ans andere Ende der Eingangshalle. Als ein korpulenter Herr, nicht älter als dreißig, mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen aus der Bibliothek stürmte und die Tür hinter sich zuschlug, war er längst damit beschäftigt, eine Messinglampe am anderen Ende der Eingangshalle zu polieren.

Er drehte sich um und mimte Überraschung. „Ach! Sie sind es, Sir Forsythe-Drake! Gehen Sie schon? Ihr Mantel, Sir! Ich helfe Ihnen!“

Dickon blickte in zwei kleine, rastlose Augen. Sie wirkten verloren in den aufgedunsenen Falten eines runden Gesichts, das selbst für den beleibten Umfang des Gentlemans zu groß erschien. Sir Forsythe-Drake roch nach Whisky.

„Was glotzt du, Junge? Sind alle Bediensteten hier so schamlos wie du? Oder bist du überhaupt ein Dienstbote? Siehst ja aus wie ein kleiner Stalljunge, der sich aus Versehen hier rein verirrt hat!“

„Wie ein kleiner Stalljunge, der sich aus Versehen hier rein verirrt hat?? Mit meinen 22 Jahren? Bei allem Respekt, Sir, da muss ich protestieren! Ich sorge höchstpersönlich für Lord Winstons Wohlergehen, Sir! Und auch für das Wohlergehen seiner Gäste!“ Dickon bäumte sich auf, während er sprach. „Deshalb dachte ich, ich könnte einen Kamm und etwas Pomade für Ihre Haare holen, Sir. Ich helfe Ihnen gerne, sich frisch zu machen.“

„Meinst du, ich bin für eine Schönheitsbehandlung hergekommen, Junge?“

Als der Besucher aufbrauste, schienen seine Augen in den Gesichtsfalten gänzlich unterzugehen, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

„Her mit dem Mantel. Zuerst der linke Ärmel. Merk es dir ganz genau. Denn du wirst in Zukunft noch sehr oft Gelegenheit haben, mir in meinen Mantel zu helfen. Gewöhn dich besser gleich daran. Jetzt der Hut. Nein, keine Begleitung nach draußen. Nicht heute.“

Dickon hörte die Schritte des Besuchers auf dem Kies, das Wiehern seines Pferdes und die Stimme von Frederick, der dem Kutscher den Weg nach Newquay erklärte. Erst nachdem das Geklapper der Hufe und das Knirschen der Räder auf der Zufahrt nicht mehr zu hören waren, näherte er sich wieder der Bibliothek, um seinen eigentlichen Auftrag auszuführen.

Ein Dunst von Zigarrenrauch hing in der Luft. Dickon setzte mehrmals an, bevor seine Fingerknöchel die Tür endlich berührten. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und klopfte leise.

„Herein!“, kam es schroff von innen.

Lord Greenwold stand mit verschränkten Armen am Kamin. Eine dünne Rauchspirale stieg von einer halb gerauchten Zigarre in die Luft, die in einem Aschenbecher auf dem Kaffeetisch lag. „Was gibt es?“

Offensichtlich war ihm nicht nach Plaudern zumute.

„Frances fragt, ob sie das Kind wieder nach Hause schicken soll, Mylord.“

„Welches Ki… Ach, das Kind. Das Kind ist zu Hause, Dickon!“, fauchte Lord Greenwold. „Sonst noch was?“

Er marschierte zum Fenster. Sein bohrender Blick glitt über den gepflegten Rasen, der von Nebelschwaden umhüllt war.

„Die kleine Lady scheint es anders zu sehen, Mylord.“

Lord Greenwold drehte sich um. Vereinzelte Sonnenstrahlen durchdrangen plötzlich die dunklen Wolken, die über den Park zogen, und stahlen sich durch die Fenster. Die Silhouette des hochgewachsenen Herrn von Birch Hollow ließ die Selbstsicherheit eines Mannes erkennen, der sich in den besten Jahren befand und es zu großen Errungenschaften gebracht hatte. In seiner Stimme klang eine Autorität durch, die keine Widerrede duldete.

„Die kleine Lady hat das zu meinen, was ihr Vater meint! Schau nach dem Kamin, Dickon, es wird heute Nacht stürmisch. Und überlass mir gefälligst meine Familienangelegenheiten.“

„Verzeihen Sie, Sir. Ich wollte Sie nur informieren, Mylord.“ Dickon war schlau genug, um seinen Herrn nicht weiter zu provozieren.

Lord Greenwold schloss das Fenster, lief zum Kamin und deutete ungeduldig auf das leere Weinglas, das auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel stand.

„Entschuldigung, Mylord!“, sagte Dickon hastig und füllte das Glas aus einem danebenstehenden Krug nach. Er zog Lord Greenwolds Sessel in die Nähe des Kamins und klopfte die Kissen zurecht.

„Wenn du fertig bist, darfst du gehen, Dickon. Einen Tee wünsche ich heute nicht.“

Dickon zögerte.

„Was gibt’s denn noch, Junge?“

„Die eigentliche Frage, die ich stellen will …“ Dickon holte tief Luft. Warum gab es keine ungefährliche Art, unbequeme Informationen loszuwerden?

„Sie wünschen sich vermutlich eine neue Gouvernante, oder Sir? Miss Smithson hat gekündigt. Lady Georgiana hat sie in die Hand gebissen und ihr ins Gesicht gesagt, dass sie die hässlichste Frau der Welt sei, weil sie Warzen am Kinn habe, aus denen schwarze Haare wachsen. Danach hat Lady Rosalinde gedroht, Lady Georgiana die Zöpfe abzuschneiden. Sie wollte ihre Schwester außerdem erdrosseln, ihre Puppe enthaupten und sie samt ihrer Puppe in den Keller sperren. Als Antwort hat Lady Georgiana Lady Rosalindes neuen seidenen Schirm in den Fluss geworfen. Die Seide ist ruiniert. Wir mussten nach dem Arzt senden, weil Lady Rosalinde so außer sich war. Sie wälzte sich schreiend auf dem Boden und drohte, bewusstlos zu werden. Sie musste Beruhigungsmittel einnehmen. Wir machen es im Dorf bekannt, dass die Stelle wieder frei ist.“

Mit einem einzigen atemlosen Wortschwall war er seine Nachricht losgeworden.

Lord Greenwolds Gesichtszüge verhärteten sich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, presste dann aber die Lippen zusammen und machte zwei Schritte in die Mitte des Raumes, wo er die noch schwelende Zigarre in den Aschenbecher drückte. „Wo ist das Kind?“

Dickon trat instinktiv einen Schritt zurück. Seine Hand tastete hinter seinem Rücken nach der Türklinke. Der Lord murmelte noch etwas, das Dickon nicht verstand, und starrte auf den Boden.

Dickon zögerte. „Die Kleine hat sich in ihr Zimmer eingeschlossen und weigert sich, herauszukommen. Sie schreit, dass sie wieder nach Hause möchte und dass sie nicht mehr auf den Namen Georgiana antworten wird, weil sie Charlotte heiße. Mrs Gibbs kümmert sich um Lady Rosalinde. Frances ist ratlos und außer sich.“

„Genug, Dickon!“

Lord Greenwold machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür hinaus, ohne den Diener eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Tritte auf den Marmorstufen der großen Treppe dröhnten durch den Flur, scharf und zackig wie ein Widerhall des eiskalten Zorns, der in seinen stahlgrauen Augen stand.

Dickon schüttelte den Kopf. Er hoffte für Lady Georgiana, dass der Ärger des Lords sich legte, bis er oben ankam.

Er warf einen verstohlenen Blick um sich, führte die immer noch leicht glimmende Zigarre mit einer flinken Bewegung zum Mund und zog genüsslich daran, bevor er sie endgültig löschte. Danach legte er frische Kohlen auf den Feuerrost im Kamin und kratzte die Asche, die darunterlag, mit der Schaufel heraus. Die Bibliothek war Lord Greenwolds Refugium. Abends mochte er es warm.

***

An diesem Abend verzichtete der Lord auf seinen üblichen Platz vor dem knisternden Feuer in seiner Bibliothek. Die Dämmerung war hereingebrochen und die Temperatur schlagartig zurückgegangen, als er das Haus verlassen hatte. Oben am Himmel ballten sich Gewitterwolken zu gewaltigen, dunklen Türmen in die Höhe. Donner grollte in der Ferne. Der Gutsherr blickte besorgt auf das bedrohliche Schauspiel, das sich über ihm entfaltete, und beschleunigte seine Schritte. Erste Regentropfen platschten auf den gepflasterten Weg, der von der Tür des Herrenhauses nach links über den Rasen zu den Pferdeställen führte.

„Kein langer Ritt, aber ein schneller, Frederick. Bring mir Tedwin, er ist schnell wie der Wind. Übernachtung in St. Ives. Ja, auch bei Gewitter. Hören Sie auf, mich anzustarren und richten Sie den Sattel. Volle Montur heute!“

Lord Greenwold trieb sein Pferd mit dem Eifer eines Mannes an, der um Leib und Leben kämpft. Der Hengst kannte den Weg gut, auch bei trübem Licht und prasselndem Regen. Plötzlich schleuderte der Sturm einen gezackten Blitz an den pechschwarzen Himmel, der die Silhouette der Stadt St. Ives mit ihrem Kirchturm und den Dächern erhellte. Ein Donnerschlag knallte durch die Luft. Das Pferd bäumte sich auf und stellte sich wiehernd auf die Hinterbeine.

„Was hast du bloß, verdammtes Tier?“ Lord Greenwold schlug dem Hengst auf die Flanke, der daraufhin im Galopp weiterpreschte.

Kurze Zeit später hielten Pferd und Reiter vor dem Barrel and the Bottle, einem Gasthaus in der Mitte von St. Ives.

„Mr Linreed erwartet Sie, Mylord“, verkündete der Dienstbote, der aus der Tür gerannt kam, sobald er die Hufe auf dem Kopfsteinpflaster gehört hatte. Schon sprang Lord Greenwold die zwei Stufen zur Haustür hoch.

„Ich übernachte. Reiben Sie das Pferd ordentlich trocken, Sam!“, rief er über die Schulter zurück.

Lord Greenwolds Stammplatz befand sich in der hinteren Ecke der Trinkstube im Schatten eines dicken Samtvorhangs, der das Fenster zum Hinterhof des Gasthauses zur Hälfte verdeckte. Seinem Ruf als Mann des Volkes, der es nicht für unter seiner Würde hielt, sich in der Schankstube unter das Arbeitsvolk zu mischen, wurde er gerne gerecht.

Der muffige Geruch, eine Mischung aus kaltem Stein und uralter polierter Eiche, war im hinteren Teil des Raums am intensivsten. Bald nach der Ankunft des Lords wurde die Luft von Zigarrenrauch überlagert. Regen prasselte gegen das Fenster. Der feuchte Mief von Schweiß und durchnässten Mänteln hing in der Luft. Die Kerze auf dem Eichentisch tauchte die Gesichter der zwei Männer, die einander gegenübersaßen, in orangefarbenes Licht, und die Biergläser auf dem Tisch warfen flackernde Schatten.

Die Feldarbeiter am anderen Ende der Wirtsstube waren in Hochstimmung. Unter lautstarkem Gelächter leiteten sie das Ende eines langen Tages auf den Obstwiesen mit großzügigen Schlucken aus Krügen mit frischem Apfelmost ein. Den beiden Gentlemen schenkten sie keine Beachtung. Die Stammkunden hatten sich längst an den Anblick des hochgewachsenen Gutsherrn in Gehrock und Hut gewöhnt, der immer am gleichen Platz am hinteren Tisch saß, mitten im Qualm von Zigarrenrauch und verstrickt in ernste Verhandlungen mit Geschäftspartnern.

Der Wirt war stolz auf seine vornehme Kundschaft. Mit eiserner Konsequenz beachtete er das oberste Gebot im Umgang mit dem Adel: Diskretion. Das Gerücht, dass Lord Greenwold ein eigenes Zimmer oben in The Barrel and the Bottle gemietet hatte, bestritt er nicht. Böse Zungen behaupteten, der Adlige verköstige nicht nur Geschäftspartner unten in der Stube, sondern gern auch Damen im oberen Gemach.

„Der Plan läuft, Lord Greenwold?“

Der junge Mann, der auf den Lord gewartet hatte, fuhr sich mit der Hand nervös durch die blonden Haare, beugte sich nach vorn und stützte seine Ellbogen auf den Tisch.

„Sonst hätte ich Sie nicht hierherbestellt, Mr Linreed!“

„Und warum auf einmal so eilig, Mylord?“

Der Gutsherr lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog an seiner Zigarre.

„Ich habe in den sauren Apfel gebissen und das Mädchen nach Birch Hollow geholt.“

Er blies den Rauch langsam aus.

„Sieh mal einer an. Und Sie sind von seiner Anmut geblendet.“

Lord Winston erstickte beinahe an seiner Zigarre. Er hustete, lachte hämisch, hob sein Bierglas zum Mund und nahm einen großen Schluck. Er wischte sich den Mund mit einem Tuch ab und stellte das Glas auf den Tisch.

„Nein, mein Freund. Von seiner Hässlichkeit!“

„Was, Sie wollen mir eine hässliche Braut unterjubeln? Und wenn sie bis dahin schön wird und ein anderer sie begehrt? Sie ist noch jung.“

„Schön wird sie nie. Aus matten Augen werden keine reizvollen. Stupsnase bleibt Stupsnase. Sommersprossen verschwinden nicht mit den Jahren. Und die Haare – dünn und fad. Pah! Dass das kleine Weib von mir stammen soll …? Ich erkenne aufkeimende weibliche Reize, wenn ich sie sehe. Hier wittere ich keine.“

„Und ich soll sie in zehn Jahren zur Frau nehmen.“

„Noch früher, wenn es sein muss. Sagen wir, in acht Jahren. Welche Weiber Sie sich am Ende ins Bett holen, das bleibt Ihre Sache.“

Mr Linreed trommelte in Gedanken versunken mit den Fingern gegen den Bierkrug.

„Sie denken wirklich, das lässt sie mit sich machen, Mylord?“

Der Wirt brachte einen zweiten Krug Bier und Lord Greenwold gab Mr Linreed ein Zeichen zu schweigen, bis er sich wieder entfernt hatte. Dann erst gab er eine Antwort.

„Sie wird keine andere Wahl haben, Mr Linreed. Manieren hat sie keine, wird sie auch nicht haben. Eine Frau aus dem Dorf hat sie großgezogen. Ihr ordinäres Verhalten passt zum unansehnlichen Äußeren. Schlau ist sie nicht. Ich sorge dafür, dass es so bleibt. Sie wird wahrscheinlich eine ungeschliffene, aber eingebildete Landpomeranze werden. Für einen Bauern zu fein, für einen Grafen zu grob. Wie geschaffen für eine Spielfigur auf meinem Schachbrett.“

Er lachte schadenfroh, bis ein Hustenanfall ihn überkam, er sich verschluckte und nach Luft ringen musste. Mr Linreeds Blick fiel auf eine Narbe an der rechten Seite seines Halses. Die Haut war an dieser Stelle glatt, schimmerte rötlich-lila und spiegelte den Kerzenschein wider. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar des Lords war nach hinten gekämmt, immer noch feucht vom Regen. Seine Gesichtszüge wirkten müde im gedämpften Licht, aber seine Augen blitzten scharf und energisch, während er weiterredete.

„Und dann eines Tages, zu der Zeit, wenn das hungrige Herz eines jungen Weibes nach Liebe zu lechzen beginnt, tritt ein großer, blonder Gentleman in ihr Leben, verdreht ihr den Kopf und wirbt um ihre Hand. Die Aussicht auf feine Abendroben, modische Hüte und den Neid ihrer ganzen Bekannten lässt sie natürlich nicht kalt. Bis dahin ist aus dem spärlichen und samtweichen Haarwuchs an Ihrem Kinn, Mr Linreed, ein stattlicher Bart geworden, und Ihre bleichen, dünnen Arme haben sich in vorzeigbare Muskeln verwandelt. Warten Sie nur ab, wie sie förmlich dahinschmilzt, wenn Sie Ihren Mund auf ihre Lippen drücken und ihr ewige Liebe schwören!“

Es war kurz still.

„Ich will es schriftlich, Mylord.“

Lord Greenwold bückte sich und kramte in seiner Tasche nach einer Ledermappe.

Das hämische Glitzern in seinen Augen entging dem jungen Mann nicht. „Warten Sie, Mylord. Was ist mit dem Gesetz des Landes? Und Ihrem nächsten männlichen Verwandten?“

„Ha! In acht Jahren sind Sie mein nächster männlicher Verwandter, mein Freund. Blutsverwandtschaft hat hier nichts zu sagen. Ein Schwiegersohn ist in diesem Fall so gut wie ein Sohn. Die Obrigkeiten sind froh, wenn das Anwesen im bisherigen Sinn weitergeführt wird. In anderen Küstenstädten treiben Schmuggler ihr Unwesen und lösen Kleinkriege und Anarchie aus. Dass bei uns Ruhe und Ordnung herrschen, ist den Ratsherren in Truro, St. Austell und St. Ives nicht entgangen. Solange das der Fall ist, drücken sie bereitwillig beide Augen zu und überlassen uns unsere Erbangelegenheiten selbst. Sie sind mit Wichtigerem beschäftigt. Außerdem sind wir hier nicht in London, Mr Linreed. Diese Küste ist ein rauer Landstrich und folgt ihren eigenen Gesetzen.“

Er warf dem jungen Mann einen vielsagenden Blick zu.

„Und der Fluch, Mylord?“

„Ach, der hat nichts als Vorteile gebracht. Diesen Quatsch soll die Bevölkerung ruhig weiter glauben. Es gibt keinen besseren Nährboden für satte Umsätze als ein Aberglaube, der keine Fragen stellt. Aus dem ‚verfluchten Land‘ ist ein ergiebiges Paradies geworden. Ganz Hipperclove lebt von unserer Obsternte, Mr Linreed.“

„Und wenn Ihnen ein männlicher Erbe geboren wird, Sir? Lady Greenwold ist noch jung.“

Lord Winston winkte den Wirt zum Tisch. „Tintenfass und Schreibfeder, Herr Wirt.“

„Sofort, Mylord.“

„Hören Sie mir gut zu, Junge.“

Der Lord beugte sich nach vorne über den Tisch. Seine Stimme verriet eine Spur von Ungeduld. „Es gab einmal ein Testament, das, in der Abwesenheit eines männlichen Nachkommen, meinen Töchtern das Erbrecht von Birch Hollow zusprach. Dieses Testament verschwand, als der Flügel des Hauses abbrannte, in dem meine Mutter lebte. Es gibt keine Kopie davon. Es war selbstverständlich meine feste Absicht, einen männlichen Erben zu zeugen. Stattdessen gebar mir meine Frau eine Tochter, zwei tote Söhne und noch eine Tochter. Einen weiteren Sohn wird es nicht geben. Das Einzige, was meine Frau und ich gemeinsam haben, ist eine abgrundtiefe Abscheu vor dem Gedanken, auch nur für eine weitere Nacht das Bett zu teilen. Diese Ehe existiert nur auf dem Papier.“

„Wenn Sie Ihre Erbfolge in diesem gesetzlosen Teil des Landes selber bestimmen können, dann ernennen Sie doch einen illegitimen Sohn zum Erben, Mylord.“

Lord Greenwold schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. „Machen Sie keine Witze, Mr Linreed. Meine Bastarde bleiben soweit wie möglich aus dem Spiel. Sie existieren nur, wenn ich will, dass sie existieren. Solch einen Skandal kann selbst ich mir nicht leisten. Außerdem verlangt das Anwesen nach einem Nachkommen, der die Geschäfte kennt und das Vermögen verwaltet. In acht Jahren sind Sie sechsundzwanzig und Lady Georgiana achtzehn – ein Traumpaar. Bis dahin haben Sie Ihr Handwerk gelernt und meine Tochter ist froh über jeden Gentleman, der auch nur einen Blick in ihre Richtung wirft.“

„Und Lady Rosalinde? Sie ist immerhin die Ältere.“

Lord Winston machte eine abfällige Handbewegung. „Lady Rosalinde ist ein verhätschelter Dickkopf. Sie hat nichts als Seifenblasen und Watte in ihrem Gehirn. Mit ihrem goldenen Lockenkopf, den großen blauen Augen und einer wohlgeformten Gestalt wird sie irgendeinen Grafen an Land ziehen, der ihr hinterherläuft und dumm genug ist, sich von ihren Reizen betören zu lassen. So einer ist zu riskant als Nachfolger. Ich brauche jemanden, der vom selben Holz wie ich geschnitzt ist. Sonst noch Einwände?“

Lord Greenwold lehnte sich zurück und wartete, bis der Wirt Tintenfass und Schreibfeder auf den Tisch gelegt hatte. Es war ein paar Augenblicke lang still.

„Ich soll also die Last Ihres Erbes auf mich nehmen, dazu eine hässliche Tochter, die kein anderer will –“

„Und dafür bekommen Sie ein Vermögen, das Ihre Freunde gelb vor Neid werden lässt, Ihren Verwandten schlaflose Nächte bereitet und Ihre Feinde das Zittern lehrt. Wer mich beerbt, erbt die Geheimnisse, die mich und meine Vorväter reich gemacht haben. Die Welt liegt Ihnen zu Füßen.“

Er hielt kurz inne. „Und wenn nicht Ihnen, dann meinem Cousin Malcolm Forsythe-Drake. Kaum eine Woche vergeht, in der er nicht versucht, seinen Anspruch geltend zu machen. Erst heute stand er bei mir in der Bibliothek.“

„Deshalb so eilig. Verstehe.“

„Wenn Sie Nein sagen, schicke ich die Kleine zu ihrer Bäuerin zurück. Der viele Ärger, den sie mir macht, wenn sie im Herrenhaus bleibt, muss wenigstens für etwas gut sein.“

Lord Greenwold hob sein Bier zum Mund. Bevor er einen Schluck nahm, blickte er Mr Linreed über den Rand des Glases direkt in die Augen. „Übrigens, eine unerwünschte Braut kann, wenn nötig, beseitigt werden, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hat.“

Das kalte Glitzern stand in seinen Augen. Sein Gesicht war rot angelaufen, die Narbe am Hals pulsierte. Er leerte sein Glas und wischte sich den Mund noch einmal mit dem Tuch ab. „Und wenn Sie sehr viel Glück haben, verlieben Sie sich in das Mädchen!“

Beide Männer lachten laut.

Das Dokument wurde unterzeichnet. In zweifacher Ausfertigung. Es machte Mr Linreed zum rechtmäßigen Erben von Birch Hollow – Gut, Vermögen und Tochter mit eingeschlossen. Ein fester Händedruck besiegelte das Abkommen und der junge Mann staunte über den glücklichen Zufall, der ihn als Kind aus bescheidenen Verhältnissen zum zukünftigen Inhaber von Birch Hollow und zum vermögendsten Mann in ganz Cornwall machen sollte.

Kapitel 2

Zwei Monate später

In der Küche von Birch Hollow herrschte Feierabendstimmung nach langen Arbeitstagen. Die Apfelernte war in vollem Gange. Auf verschwitzte Stunden auf den Obstwiesen folgten Abende in der feucht-fruchtigen Kühle zwischen den dicken Steinmauern der Wirtschaftsräume. Große Berge von Äpfeln lagen in Körben neben der Tür, die zum Gemüsegarten führte.

Die Aussicht auf Apfelkonserven und Apfelwein, auf dampfenden Apple Pie und heißen Apfelauflauf in den kalten Wintermonaten beflügelte die fleißigen Hände. Helfer vom Dorf waren in Birch Hollow eingetroffen, um schadhafte Obststücke auszulesen und faule Stellen auszuschneiden. Nichts wurde verschwendet. Mostäpfel wurden für die Weinfässer, angeschlagene Obststücke als Futter für die Pferde ausgesondert. Die Bediensteten des Herrenhauses arbeiteten bis in den Abend hinein.

„Gott sei Dank, gerade noch rechtzeitig vor dem Gewitter! Sogar Mrs Gibbs wird’s schwer haben, ihre Krallen auszufahren, wenn sie sieht, wie viel wir geschafft haben!“ Harriet, der Köchin, war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Sie schleppte einen vollen Korb in die Mitte der Küche.

Dickon und Franny zogen zwei Holzschemel heran und stürzten sich auf das frisch geerntete Obst, während Harriet Einmachflaschen zum Reinigen bereitstellte.

„Mrs Gibbs soll sich von der Küche fernhalten“, sagte Franny. „Je weniger sie sich hier unten sehen lässt, desto besser können wir arbeiten, findet ihr nicht auch? Sie soll sich um Lady Agnes kümmern. Es bringt mich zur Weißglut, wie sie im ganzen Haus herumgeistert, als ob ihr alles gehören würde.“

„Mrs Gibbs wird sogar im Himmel beim lieben Gott herumgeistern, als ob ihr alles gehören würde“, warf Dickon ein und bekreuzigte sich spöttisch. „Wenn sie überhaupt dort hinkommt, was ich nicht hoffen will. Ob schwarze, bis zum Kinn zugeknöpfte Kleider vom lieben Herrgott zugelassen werden?“

„Pass bloß auf, dass du dort hinkommst, du Lästermaul“, rügte Harriet und schüttelte ihr Messer in seine Richtung.

„Nach so einem schwülen Spätsommer wird der Cider besonders süß sein.“

Ihr beiläufiger Ton verriet, dass ihr in Wirklichkeit etwas anderes auf dem Herzen lag und sie nur auf einen Wink der anderen wartete.

Dickon schnitt schließlich das Thema an, das alle beschäftigte. „Sag mal, Franny, stimmt es, dass er ihr eine ordentliche Tracht Prügel verpasst und sie grün und blau geschlagen hat?“

„Wer wen?“, fragte Franny. Sie warf einen unschuldigen Blick in die Runde und zog eine Augenbraue hoch. Ihre Hände, die mit flinken Bewegungen Äpfel sortierten, wurden keinen Moment langsamer.

„Lord Greenwold die kleine Lady, du Dummerchen!“ Dickon legte sein Messer auf den Boden. „Spann uns nicht auf die Folter, Franny. Ich will es wissen.“

„Warum redest du plötzlich so leise?“, sagte Franny lächelnd und schob eine verwaiste Strähne ihrer lockigen dunklen Haare unter ihre Haube. „Mach lieber die Tür für Frederick und Jake auf. Ich höre Stiefel im Gang.“

Doch das war nicht nötig. Die Tür wurde bereits von der anderen Seite geöffnet. Frederick zog seine Jacke aus und klopfte die Regentropfen ab, bevor er sie an einem Haken neben der Tür aufhängte.

„Jake ist zu seiner Mutter gegangen. Ich leiste euch Gesellschaft und helfe mit den Äpfeln.“

„Du meinst, in Wirklichkeit willst du Neuigkeiten erfahren“, warf Dickon ein.

„Hältst du mich für so vorwitzig?“, gab Frederick zurück. „Nein, ich wollte euch mit meiner üblichen Selbstlosigkeit unter die Arme greifen. Aber wenn es Neuigkeiten gibt, raus damit!“ Er zog seine Gartenhandschuhe aus und wärmte seine Hände am Herd, unter dem noch Reste von Kohle glühten.

Dickon zog einen Schemel für ihn heran und reichte ihm ein Messer. „Die Kleine sah beim Dinner gefasst aus, nicht so, als ob sie Prügel eingesteckt hätte. Sie hatte nur geschwollene Augen“, erzählte er.

„Ach ja? Seit wann fällt es dir auf, wenn eine Dame weint?“ Wieder zog Franny die Augenbraue hoch. Die Haarsträhne war erneut aus der Haube gerutscht. Dieses Mal schob sie sie nicht zurück, sondern drehte sie um einen Finger.

„Bei bestimmten Damen würde es mir sehr wohl auffallen.“ Dickon blinzelte Franny zu, während er sich an Frederick wandte.

„Zurück zu den Neuigkeiten“, sagte er. „Heute bekam Lord Greenwold von einem aufgebrachten Gentleman Besuch. Es ging um einen Erbstreit, den Lord Greenwold gewinnen wird, weil er immer gewinnt. Danach durfte ich ihm die Nachricht überbringen, dass Miss Smithson gekündigt hatte. Und so, wie Mylord da aus der Bibliothek gestürmt ist, muss ein ordentliches Gewitter über Lady Georgiana hereingebrochen sein. Ihr wollt sicher wissen, wie sich das Gespräch angehört hat.“

„Wir haben wohl keine andere Wahl“, kommentierte Harriet trocken. Dickon erhob sich und ahmte jede Geste, den Tonfall und sogar die Körperhaltung von Lord Winston so glaubwürdig nach, dass die Bediensteten sich vor Lachen krümmten.

Plötzlich kniff er die Augen zusammen, fuhr mit den Händen durch seine Haare, bis sie zerzaust waren, blickte hektisch hin und her und sagte: „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Sir Forsythe-Drake. Euer zukünftiger Lord von Birch Hollow. Ich habe einen schwabbeligen Mund, fette Backen und blonde, verschwitzte Haare, aber ich verspreche euch, hier wird Zucht und Ordnung herrschen! Schaut meine eiserne Faust an! Ihr seid alle zu faul geworden!“

Er blickte die anderen mit großen Augen an und seine Stimme nahm einen gespenstigen Klang an. „Kein Gelächter mehr in der Küche! An Regentagen werden wir alle zusammen mit den Mönchen heulen!“

Harriet ließ ihr Messer fallen und riss die Augen auf. „Dickon, wie kannst du nur! Wenn Mrs Gibbs das hört und dich verrät, bist du deine Arbeit los. Du weißt, dass die Mönche Pech bringen! Fließt gar keine Gottesfurcht mehr in deinen Adern, du elender Witzbold?“

Zur Antwort griff Dickon nach zwei Äpfeln und jonglierte mit ihnen, bevor er sich wieder hinsetzte und weiter sortierte.

„Es kümmert mich keinen Deut, was der Drache Gibbs meint. Wenn du Lord Greenwolds neue Kutsche und seine Vollblutpferde ‚Pech‘ nennst, dann möchte ich auch das Pech haben, das die Mönche bringen!“

„Du forderst das Schicksal mit deiner Dreistigkeit heraus, Junge!“, drohte die Köchin.

„Der Lord wollte seine Sporen“, warf Frederick hastig ein, bevor Harriet wieder schelten konnte. „Wenn er so reitet, wie er losgesprungen ist, dann habe ich nachher Arbeit, das Pferd wiederherzustellen.“

„Die Tochter hat mehr zu fürchten als die Pferde, glaubt’s mir!“, sagte Dickon. Es war kurz still.

„Er will sie hierbehalten.“ Franny war plötzlich ernst. Alle Augen richteten sich auf sie.

„Auf einmal? Das Mädchen interessiert ihn doch die Bohne!“, erwiderte Frederick.

„Ich ahne nichts Gutes. Er ist nur wohlwollend, wenn es ihm etwas bringt“, fuhr Franny fort.

„Zuckerbrot und Peitsche. So machen es diese machthungrigen Herren. So hat er wohl vor, das Kind auf die Spur zu bringen. Schläge – und dann Zugeständnisse. Beispielsweise darf Maggie sie auf einmal besuchen, aber nur wenn sie –“

„Was für einen Unfug erzählst du da, Frances?“ Mrs Gibbs hagere Gestalt stand in der offenen Tür. Sie hatte sich unbemerkt herangeschlichen.

Franny zuckte zusammen, schlug sich die Hand auf den Mund und drehte sich um. „Mrs Gibbs, wir unterhalten uns nur –“

„Ich schlage vor, dass wir diesen Tag nun abschließen“, unterbrach die Haushälterin sie erneut. „Es wird euch interessieren, dass Lord Greenwold auf einer Geschäftsreise ist. Er lässt ausrichten, dass Lady Georgiana trotz ihres unangebrachten Verhaltens hierbleiben wird. Es gibt keinen Grund zur Aufregung.“

Ihr Ton wurde bissig. „Verstanden, Dickon? Es gibt kein Drama. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Und Frances, wenn ich noch einmal mitbekomme, dass du Gerüchte verbreitest, dann hat das Folgen“, fügte sie mit einer drohenden Miene hinzu. „Auch verstanden? Ihr wisst ja, ein Wort von mir zu Lady Agnes genügt und ihr könnt alle gehen.“

Damit drehte sie sich um und verschwand. Der Klang ihrer Schlüssel hallte durch den Gang, bis eine Tür in der Ferne zuknallte und Stille zurückließ. Sämtliche Hände ruhten verschreckt, jeder blickte nach unten vor sich auf den Tisch.

Schließlich löschte Harriet eine der Kerzen und nahm die andere in die Hand. „Wenn ihr Licht für den Gang nach oben braucht, müsst ihr jetzt mitkommen.“

„Unheimlich“, flüsterte Dickon Franny zu. „Genauso eine stürmische Nacht war es damals, als die Kleine geboren wurde. Da haben die Mönche auch geheult!“

„Von Mönchen solltest du lieber die Finger lassen.“

„Aber von dir nicht, falls ich dir gerne einen Gutenachtkuss geben würde?“ Dickon schien nie lang zu brauchen, um sich von Mrs Gibbs’ Angriffen zu erholen.

Franny errötete. „Dickon, ich bin nicht die Sorte Mädchen für so etwas. Ich bin mit meinen siebenundzwanzig Jahren doch schon bald eine alte Jungfer. Aber wenn du aufhörst, ein eitler Spötter zu sein und ein ordentlicher Kerl wirst, der eine Familie ernähren kann, dann wird irgendeine hübsche Frau ein Auge auf dich werfen.“

Sie warf ihm einen koketten Blick zu und eilte leichten Schrittes hinter Harriet und Frederick her. Das Licht der schwindenden Kerze flackerte schwach an den steinernen Wänden.

Dickon zog die Tür der Küche hinter sich zu und folgte den anderen. „Und ob ich eine Familie ernähren kann. Ich werde es dir beweisen“, murmelte er vor sich hin, „warte nur ab!“

***

Als sich Jake mit festen Schritten auf dem Kopfsteinpflaster seinem Elternhaus näherte, ging dort bereits die Tür auf.

„Was, lauerst du schon die ganze Zeit hinter der Tür?“, fragte er lachend, als er seine zierliche Mutter in den Arm nahm und ihren Kopf an seine Brust drückte.

„Ich warte den ganzen Tag auf den Klang deiner Schritte. Ich erkenne sie schon aus der Ferne. Dein erster Besuch war so kurz. Hinein mit dir, Junge, ein Unwetter ist im Anmarsch.“

Jake bückte sich durch die niedrige Haustür und betrat hinter Maggie die kleine Wohnstube. Mutter und Sohn setzten sich an den Küchentisch. Maggie blickte ihren Sohn mit leuchtenden Augen an.

„Und wie waren die ersten Tage in Birch Hollow, Jake? Erzähl mir alles!“

Ihr Blick war forschend auf sein Gesicht gerichtet, und sie lächelte, als er sich nach vorne beugte und ihre Hände in die seinen nahm.

„Sie waren gut, Mutter“, versicherte er ihr. „Aus Lord Winston werde ich nicht schlau, aber er muss großes Vertrauen in mich haben. Ich habe meine eigene Werkstatt in der Scheune neben den Pferdeställen und darf der Mann für alles sein. Ich werde ihm zeigen, wie gut ich Wagen, Gartenwerkzeuge und Ackergeräte instand halten kann und wie flink ich Kupfer, Messing und Eisen hämmern und biegen kann. Bald wird er sich fragen, wie er jemals ohne mich ausgekommen ist!“

„Dann hat es sich gelohnt, dich so viele Jahre zu entbehren, damit du ein ordentliches Handwerk lernst, mein Sohn.“

„Und wie es sich gelohnt hat, Mutter! Du wirst es nicht bereuen. In Onkel Theodors Schmiede habe ich gelernt, Metall zu bearbeiten, und in Edinburgh brachte man mir bei, was Pferde brauchen. Lord Greenwolds Hengste und Stuten sind bei mir in den besten Händen und ich werde seine Kutschen pflegen, dass sie in ihrer Pracht glänzen!“

Maggie schwieg und zeichnete mit einem schmalen Finger die Holzlinien auf dem Tisch nach. Sie wirkte älter als ihre vierzig Jahre. Ein paar lockige, graue Strähnen, in denen noch Spuren von blond zu sehen waren, schauten unter ihrer weißen Haube hervor.

„Freust du dich nicht, Mutter?“

„Lord Greenwold weiß, wann er einen guten Mann vor sich hat. Ist recht so. Sind alle Fenster oben zu? Die Wolken kippen alles runter, was sie haben.“ Maggie stand abrupt auf. Sie holte einen Korb Wolle, der neben dem Kamin stand, und stellte ihn auf den Tisch.

Jake lächelte und begab sich nach oben, um nach den Fenstern zu schauen. Als er die Treppe wieder herunterkam, war Maggies ganze Konzentration auf einen Wollstrumpf gerichtet, den sie mit den flinken Bewegungen ihrer Stricknadel bearbeitete. Jake setzte sich.

„Ich hoffe nur, dass er mein anderes Kind so wohlwollend behandelt wie dich“, sagte Maggie. „Charlotte wurde über Nacht weggeholt. Nicht lange, bevor du nach Birch Hollow kamst.“

Die Stricknadeln bewegten sich plötzlich schneller. Maggie wischte hastig eine Träne weg.

Jake zögerte. „Mutter, du hast immer wieder Kinder an deinem Tisch ernährt und sie an ihre Eltern zurückgegeben. Warum bist du dieses Mal so traurig?“

Maggie seufzte. „Sie ist nicht irgendein Kind, Jake. Sie wurde mir in die Arme gelegt, als ich mein eigenes verloren habe. Ich vergesse immer wieder, dass sie gar nicht unter meinem Herzen herangewachsen ist.“

Sie legte ihre Stricknadeln auf den Tisch und blickte ihren Sohn scharf an. „Hast du sie gesehen, Jake?“

„Wir sind uns heute begegnet.“

„Hast du sie wiedererkannt?“

„Nicht sofort. Nicht mit den engen Zöpfen. Erst als sie mich bat, sie Charlotte zu nennen, ging mir ein Licht auf.“