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Hannes Wilken, ein pensionierter Buchhalter einer renommierten Hamburger Reederei, erfüllt sich seinen größten Traum: eine mehrwöchige Kreuzfahrt in die Karibik. Er träumt von weißen Stränden und einem Urlaub unter Palmen. Doch dieser Urlaub wird ganz anders, als er ihn sich erträumte. Während der Reise lernt er allerlei interessante Menschen kennen und gerät von einem Abenteuer in das nächste. Hannes verliebt sich, zieht die Aufmerksamkeit internationaler Drogenfahnder auf sich und trifft seinen alten Freund, den Fahnder Dietrich Böhm, wieder. Zusammen ermitteln sie auf einem Kreuzfahrtschiff und zerschlagen einen international operierenden Drogenring. »Die dunkle Seite des Paradieses« ist eine bunte Mischung aus Reisetagebuch, Reiseführer und Liebesroman, garniert mit kriminalistischen Elementen auf einem Kreuzfahrtschiff.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Karl-Heinz Brinkmann
Die dunkle Seite des Paradieses
Zum Inhalt:
Hannes Wilken, ein pensionierter Buchhalter einer renommierten Hamburger Reederei, erfüllt sich seinen größten Traum: eine mehrwöchige Kreuzfahrt in die Karibik. Er träumt von weißen Stränden und einem Urlaub unter Palmen. Doch dieser Urlaub wird ganz anders, als er ihn sich erträumte. Während der Reise lernt er allerlei interessante Menschen kennen und gerät von einem Abenteuer in das nächste. Hannes verliebt sich, zieht die Aufmerksamkeit internationaler Drogenfahnder auf sich und trifft seinen alten Freund, den Fahnder Dietrich Böhm, wieder. Zusammen ermitteln sie auf einem Kreuzfahrtschiff und zerschlagen einen international operierenden Drogenring.
»Die dunkle Seite des Paradieses« ist eine bunte Mischung aus Reisetagebuch, Reiseführer und Liebesroman, garniert mit kriminalistischen Elementen auf einem Kreuzfahrtschiff.
1. Auflage, 2023
© 2023 Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-757539-42-9
Der Oestinger
Karl-Heinz Brinkmann
c/o IP-Management #47918
Ludwig-Erhard-Str. 18
20459 Hamburg
www.der-oestinger.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die dunkle Seite des Paradieses
Kreuzfahrtkrimi
Karl-Heinz Brinkmann
www.der-oestinger.de
Danksagung:
In erster Linie gilt mein Dank meiner bezaubernden Lektorin Katharina, die niemals ein Blatt vor den Mund nimmt.
Und natürlich möchte ich all jene Menschen danken, die unbewusst meiner Fantasie Pate standen. Denn Sie wissen ja, man kann sich nicht alles ausdenken.
Es war ein grauer nasskalter Novembermorgen. Auf dem Kalenderblatt hatte Hannes Wilken die 29 mit einem dicken roten Kreis auffällig gekennzeichnet. In diesen Tagen erstrahlte die Hansestadt Hamburg in vorweihnachtlichem Glanz. Überall hingen bunte Lichterketten über den Straßen, es blinkte und glitzerte in der gesamten Stadt. Und an allen Ecken grinsten ihm diese übergroßen roten Plastik-Weihnachtsmänner an. Oh man, wie soll ein Kind da noch an den Weihnachtsmann glauben können? In allen Stadtteilen lag ein Duft von Glühwein, Weihnachtsgebäck und Bratwurst in der Luft und vermischte sich mit dem Feinstaub der Millionenstadt. Das Angebot war bunt und ebenso vielfältig wie die Menschen in dieser Metropole am Elbstrom. Dieser ganze Weihnachts-Klimm-Bimm sollte die Menschen hinterm Ofen hervorlocken und ihnen das letzte Geld aus den Taschen ziehen. Die Menschen um ihn herum wurden langsam kirre, so kam es ihm jedenfalls vor. Hannes Wilken hatte für diesen ganzen Weihnachtszirkus nichts, aber auch gar nichts übrig. Für ihn war es die weltgrößte Kommerzveranstaltung des Jahres. Auf seinem Stubentisch sorgt nur eine Kerze für Gemütlichkeit, das ganze Jahr über.
Hannes Wilken, ein sportlich schlanker Mann mit vollem ergrauten Haar und einem kaum sichtbaren Bauchansatz, beging an diesem besagten 29. Dezember seinen 60. Geburtstag. Am Abend soll der runde Ehrentag in der Eckkneipe ‚Bei Trude‘, seiner Stammkneipe in St. Georg, gefeiert werden. Drei Jahre muss der Buchhalter, der Hamburger Reederei Hansen, sich noch mit Zahlen und Bilanzen herumquälen, danach würde er sich in den lang ersehnten Ruhestand verabschieden. Sein Chef möchte ihn am liebsten schon im kommenden Jahr zur Ruhe setzten. Der Flurfunk hatte es bereits verkündet. Dann hätte der sportliche Silver-Ager früher als geplant Zeit für seine Hobbys, leckeres Essen, schicke Klamotten, Fotografieren und Reisen. Er könnte den Sommer bei Sandra van de Beeken in Büddeldörp, nicht weit von seinem Geburtsort Friesmoor, verbringen. Sandra hat dort einen Resthof mit einem traumhaft gelegenen Bade- und Angelsee. Ihre adelige friesische Herkunft lässt sich bis ins Jahr 1357 zurückverfolgen. Seit fast dreihundert Jahren ist ein Zweig der Familie van de Beeken am Elbstrom heimisch. Hannes begegnet diesen ellenlangen Stammbaum mit Respekt und Hochachtung.
Oft hatte er das Ehepaar Sandra van de Beeken, sie hatte ihren Geburtsnamen behalten, und Dietrich, genannt Dieda, Böhm über die Weihnachtsfeiertage besucht. Er kennt die beiden seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in Friesmoor und mit Dieda hatte sich eine tiefe und innige Freundschaft entwickelt. Beide haben sich damals in Sandra verliebt. Sie hatte sich für Dietrich entschieden. Er war ja nur ein kleiner Buchhalter in der weit entfernten Stadt und Dietrich Beamter. Dennoch konnte Hannes es nicht verstehen. Dieda wechselte vor der Geburt ihres zweiten gemeinsamen Kindes zur Bundespolizei und damit seinen Dienstort. Kurz nach der Geburt von Valerie reichte Sandra die Scheidung ein.
Sie hatte die Nase voll, sich allein um Lukas und Valerie kümmern zu müssen, während der Herr Gemahl durch die Weltgeschichte reist, um Verbrecher zu jagen. Und die Ungewissheit, ob er auf eigenen Füßen oder im Sarg heimkommen würde, machte ihr zu schaffen. Genug ist genug. Seitdem tröstet Hannes die Ex-Frau seines Freundes, wann immer er Zeit dafür findet. Sie hätte ihn jetzt sehr gerne für immer an ihrer Seite. Hannes hatte sich verändert, er möchte lieber frei und ungebunden sein.
Seit 43 Jahren arbeitet er schon in der Reederei Hansen. Seit 43 Jahren sieht Hannes die dicken Pötte aus seinem Bürofenster in der Hamburger Speicherstadt kommen und gehen. Schon als kleiner Junge träumte Hannes von der großen weiten Welt. Mit jedem Kreuzfahrtschiff, das den Hamburger Hafen verlässt, wird seine Sehnsucht größer. Vor allem die Queen Mary II hatte es ihm angetan. Jedes andere Schiff wäre aber auch Okay. Hauptsache los, die Welt entdecken. Sein Fernweh wuchs von Tag zu Tag. Zu Hause, in seiner 55 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung, stehen nur zwei Genres an Büchern in den Regalen: Reiseliteratur aller Art und Kriminalromane. Hannes liebt Krimis und die Geschichten seines Freundes Dieda, die er stichpunktartig notiert hat. »Man weiß ja nie, wofür das nochmal gut sein wird«, sagte er sich.
Er wäre früher schon gerne gereist. Aber alleine hatte er damals keine Lust und mit seiner letzten Liebschaft, der Ilse, waren mehr als vierzehn Tage Ostsee nicht drin. Sie hatte einen kleinen Handarbeitsladen auf St. Pauli, der nicht lange geschlossen bleiben durfte, »wegen der Stammkundschaft«, meinte Ilse. Auf persönlichen Kundenkontakt und gute Handarbeit legte Ilse außergewöhnlich großen Wert.
Wenn es die Umstände erforderten, machte Ilse schon mal einen Hausbesuch. »Der Kunde ist nun mal König und sollte unbedingt zufrieden gestellt werden«, waren ihre Worte. Ilse sagte immer, was sie meinte. Und jetzt ist sie weg, durchgebrannt mit einen ihrer Kunden und der Laden bleibt für ungewisse Zeit geschlossen. Fünf Monate ist das nun her und Hannes war nicht wirklich traurig darüber. Er hatte Verständnis für Ilse, er lässt ja auch nichts anbrennen. Aber mit einer Frau für immer und ewig zusammenleben? Niemals. Techtelmechtel ja, aber mehr nicht. Da ist er konsequent. So war es auch mit Ilse. Sie war ein großer Fan der freien Körperkultur, verbunden mit Camping an der Ostsee, er hasste es – das Campen und die Ostsee. Aber begehrenswert war sie schon, die Ilse.
Und Hannes träumt von der großen weiten Welt, geht Tag ein, Tag aus, verlässlich wie ein Uhrwerk in sein Büro. Urlaub macht er nicht mehr, den spart er sich auf. Hannes hat anderes vor. Er sehnt seinen Ruhestand herbei, er will reisen - drei Jahr noch, dann würde ihm die Welt mit ausgestreckten Armen empfangen. Nur nicht an die Ostsee, davon hat er die Nase gestrichen voll. Ebbe und Flut gibt es dort nicht. Und das braucht er, wie die Luft zum Atmen.
Die Nordsee war früher, als er noch jung und knackig war, sein Ziel. Hier wo ein rauer Wind weht, Ebbe und Flut sich abwechseln, ja das liebte er. Mit seinem Freund Dietrich Böhm zeltete er jedes Jahr über Pfingsten am Nordseestrand, in der Nähe von St. Peter-Ording. Hannes denkt oft an diese Zeit mit Surfen, Mädchen und Lagerfeuerromantik zurück.
In seiner Freizeit sitzt Hannes gerne am Elbufer und er liebt es, wenn ihm der Wind um die Nase weht und die Möwen um die Wette kreischen. Das ist für ihn Freiheit, wenn schon nicht die große weite Welt, dann wenigstens das beschauliche Hamburger Elbufer. Jedes Schiff, das den Hafen verlässt, schaut er wehmütig hinterher. »Die Elbe, die Nordsee und hinaus in die große weite Welt. Nicht mehr lange und dann hält mich hier nichts mehr«, sagt er sich immer wieder. Jedes Mal wenn er am Elbufer, bei Wind und Wetter, bei Ebbe und Flut, sitzt und genüsslich in sein Fischbrötchen beißt, redet er sich Mut zu: »Nicht mehr lange alter Junge. Wat mutt, dat mutt.«
Hannes spart fleißig, gibt nur das nötigste aus und verdient sich nebenbei etwas Geld als freier Reporter beim Tagesanzeiger, einer wöchentlich erscheinenden Stadtteilzeitung.
»Die sollten den Namen ändern!«, war er der Meinung.
Neugierig war Hannes schon immer. Eigentlich wollte er ein richtiger Journalist bei einer großen Zeitung werden, nur seine Eltern sagten, er solle was Solides lernen, Buchhalter zum Beispiel oder Postbote. Er spielte mit dem Gedanken, mit Böhm zusammen eine Polizeiausbildung zu absolvieren, Böhm schaffte die Aufnahme und Hannes scheiterte an der Sportprüfung.
Und so wurde Hannes Wilken Buchhalter und übt diesen Beruf nun schon seit 43 Jahren aus. Warum er damals auf seine Eltern gehört hat, kann er heute nicht mehr sagen. Immerhin sitzt er in einem warmen Büro. Auf der anderen Seite wäre die Kombination Postbote und Reporter eine geniale Geschichte. Niemand ist besser informiert als der Postbote. Der Frisör vielleicht noch.
In seiner heutigen Firma begann er gleich nach der Schule mit 17 Jahren die Ausbildung und ist hier hängen geblieben. Der alte Hansen, Gott hab ihn selig, mochte seine ruhige und gelassene Art, mit der Hannes Probleme bewältigen konnte. Ihm hatte Hannes es zu verdanken, dass er in der Reederei unkündbar wurde.
Inzwischen ist er der dienstälteste Mitarbeiter im Hause Hansen. Sein Büro ist dasselbe wie damals, er liebt es nach wie vor und die Aussicht ist, nein, die hat sich verändert. Einiges wurde im Laufe der Jahre abgerissen und vieles neu erschaffen, wie die Elbphilharmonie zum Beispiel. Verändert hatte sich auch seine Arbeit, vieles ist komplizierter geworden, aber Kollege Computer steht ihm mit Rat und Tat hilfreich zur Seite. Seit kurzem hat er die junge Kollegin Karina Martens an die Seite bekommen. Sie wird im nächsten Jahr auf seinem Stuhl sitzen. Davon ist er felsenfest überzeugt. Der neue Geschäftsführer, ein Sunnyboy, frisch von der Universität, soll hier frischen Wind reinbringen und wird ihm noch vor seinem 63. Geburtstag verabschieden.
Wie gesagt, der Flurfunk.
Jetzt aber wird erst mal mit seinem Freund Jan Harmsen ‚Bei Trude‘ gefeiert. Dietrich konnte leider nicht, er hatte wieder einmal Dienst und ist irgendwo im Ausland auf Verbrecherjagd. Eine Freundschaft aber hält das aus, eine Ehe offensichtlich nicht. Er musste unweigerlich an Sandra denken.
»Drei Jahre noch und dann lebe ich meinen Traum, mein lieber Jan - und Prost.«
Unzählige Male prostete Hannes seinem Freund Harmsen zu, unzählbare Lagen ‚lütt un lütt‘ wurden an diesem Abend über den Tresen geschoben, bis weit nach Mitternacht. Trude war froh, als sie die Kneipe endlich dichtmachen konnte. Wie er nach Hause kam, war ihm schleierhaft. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er mit Harmsen in seiner Küche Spiegeleier gegessen hatte. An den Heimweg und das Braten der Eier vermochte er sich nicht zu erinnern.
Um sieben Uhr riss ihm sein Wecker unbarmherzig und gnadenlos aus seinen Träumen. Es dröhnte in seinem Kopf, als würde die Straße vor dem Haus mit einem Presslufthammer aufgerissen werden. Neben ihm im Bett bewegte sich etwas. Erst blickt er unter seine Bettdecke und stellt fest, dass er nackt war. Erneut bewegte sich die Bettdecke neben ihm. »Harmsen? Nein, nur das nicht!«.
Unter der Decke kam Trude hervor und lächelte zufrieden. Jetzt ahnte Hannes, wer die Spiegeleier zubereitet hatte.
»60 wird man nur einmal alter Junge. Drei lange Jahre wird dieser verdammte Wecker noch klingeln«, maulte Hannes und sie standen beide auf.
»Oh man, das muss eine Nacht gewesen sein, holla die Waldfee«, hauchte er Trude entgegen.
Und wieder war es Freitag, so eine Woche war nichts, und Hannes hatte abermals keinen Plan für das Wochenende. Um punkt 12 Uhr ließ er seinen Bleistift fallen lassen und auf dem Nachhauseweg besorgte er noch schnell das Nötigste für das Wochenende. Hannes war jedes Mal froh, wenn es im Discounter rasch vorangeht, er hasst Einkaufen.
»Ich bin lange nicht mehr bei Sandra in Büddelsdörp gewesen«, überlegte er. Ein Auto hat Hannes nicht, wozu auch in der Stadt. Wenn er hinaus auf das Land fahren wollte, dann nahm er die Bahn oder mietete sich ein Auto bei ‚Rent-a-Car-HH‘, gleich bei ihm um die Ecke.
Er buchte für das Wochenende einen günstigen Kleinwagen und kündigte seinen Besuch bei Sandra an. Er plante morgen zeitig losfahren, um pünktlich zum Frühstück bei ihr zu sein.
»Ich könnte mit Sandra meinen Geburtstag nachfeiern«, dachte Hannes. Jetzt blätterte er den neuen Kreuzfahrt-Katalog für die kommende Saison durch, der heute mit der Post kam. So viele schöne Routen und verlockende Ziele. Da fällt die Entscheidung schwer und ist massiv vom Kontostand abhängig. Gut das er weiß, wohin die nächste Reise gehen soll. Die Karibik aber muss noch ein weiteres Jahr auf Hannes warten.
Das Auto hatte er am Vorabend beim Autovermieter abgeholt. Vor ihm lagen an diesem Samstagmorgen zwei Stunden Autofahrt. Der Verkehr hielt sich, sowohl in der Stadt als auch auf der Bundesstraße in Richtung Cuxhaven, in Grenzen. Er kam flotter voran als gedacht. Unterwegs machte er an einer Bäckerei halt und kaufte frische Brötchen. Sandra liebt Körnerbrötchen über alles, am liebsten mit Butter und frischer Erdbeermarmelade – Zentimeter dick. Er mochte beides nicht.
Stinknormale Brötchen mit dick Met und Zwiebeln drauf sind genau sein Ding.
»Ob es in Friesmoor noch diese hervorragende Schlachterei gibt?«, fragte er sich.
»Liegt fast auf der Strecke, ich liege gut in der Zeit, dann mache ich doch mal einen kurzen Abstecher und sehe nach.« Hannes hatte Glück, die Fleischerei gabt es noch. Der Laden wurde vergrößert und der Eingang war jetzt woanders. Wie es aussah, hatten an diesem Morgen viele Friesmoorer die Idee, ihre Brötchen mit Met oder Wurst zu belegen. Er stand geduldig in der Schlange und rief in der Zwischenzeit bei Sandra an, sie möge schonmal den Kaffee aufsetzen.
Für einen kurzen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, seine Schwester Ulrike Timmermann zu besuchen. Er blicke auf die Uhr und verwarf den Gedanken. »Sie arbeitet im Brauhaus und schläft bestimmt noch«, überlegte er und nahm sich vor, auf dem Rückweg »Guten Tag« zu sagen.
Das letzte Jahr als Arbeitnehmer verging wie im Fluge. Schon war es wieder November und genauso grau und nasskalt wie immer um diese Jahreszeit.
Und wieder war auf dem Kalenderblatt die 29 rot eingekreist, nur fetter als in den Jahren zuvor. Hannes hat heute seinen 61. Geburtstag und damit seinen letzten Arbeitstag im Büro der Reederei Hansen. Die neue Geschäftsführung hatte ihr Versprechen wahrgemacht.
»Endlich! Jetzt kann ich tun und lassen, was ich will«, sagte er zu sich selber und dachte an das bezaubernde Wochenende von vor einem Jahr bei Sandra in Büddelsdörp.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht betrat Hannes zum letzten Mal sein Büro mit Elbblick. Sein Schreibtisch war schon leer geräumt, bis auf ein Foto, das ein Kreuzfahrtschiff in der Karibik zeigt. Mit Strand und Palmen im Vordergrund und am linken Bildrand eine gebräunte, wohlgeformte junge Frau in einem luftigen weißen Kleid, mit einem Strohhut in der Hand. Ihre langen blonden Haare wehten im Wind. Es ist eines seiner Lieblingsbilder und als er es so betrachtete, griff Hannes zum Telefon und buchte last minute die langersehnte Karibik-Kreuzfahrt bei der ‚CaroLine-Cruises‘, dem Kreuzfahrtanbieter Nummer eins in Deutschland. Er ist und bleibt ein Sparfuchs, daran würde sich vermutlich nie etwas ändern. Gerne hätte er seine Freundin Sandra van de Beeken mitgenommen. Doch leider ist sie mit ihrem neuen Liebes-Roman auf Promotion-Tour durch die Norddeutsche Tiefebene, wie Hannes liebevoll das Elbe-Weser-Dreieck nennt. Dort werden nachts die Bürgersteige hochgeklappt, dort sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Er ist dort geboren und aufgewachsen und deshalb ist er dieser Region zwischen Elbe und Weser tief verbunden. Es ist und bleibt seine Heimat, auch wenn ihm das raue Wetter nicht immer froh stimmt. Und Sandra wird schon seekrank, wenn sie nur ein Schiff sieht.
In wenigen Tagen werden die Leinen endlich losgemacht, freute sich Hannes und die Abschiedsparty, die seine Kollegen für ihn organisiert haben, war ihm fast egal. In Gedanken war er schon auf hoher See, mit einem Cocktail in der Hand und den Horizont fest im Blick. Er zuckte kurz zusammen, als Hansen Junior für eine Abschiedsrede um Gehör bat. Die Abschiedsparty blieb Hannes bis heute in Erinnerung.
‚Bei Trude‘ wurde diesmal nicht gefeiert, das letzte Mal reichte ihm. Wenn er nur daran zurückdenkt, dann bekommt er sofort wieder Kopfschmerzen. Als Hannes 50 wurde, beschloss er, in Zukunft nur noch runde Geburtstage und die mit einer Schnapszahl, zu feiern. Diese dann aber mit allem drum und dran, und damit fiel der 61. Geburtstag seinem Vorsatz zum Opfer. Obwohl, Dieda heute in der Stadt wäre. Na dann prost.
Das erste Mal raus aus Deutschland, das erste Mal raus aus Europa, »Hallo Welt ich komme!« Langsam, aber sicher wurde Hannes nervös. In neun Tagen wird er Hamburg den Rücken kehren, wenn auch erstmal nur für zwei Wochen.
Die Koffer sind seit Tagen fix und fertig gepackt und zur Abreise bereit. Hannes hatte zwei schlaflose Nächte hinter sich. Er ist aufgeregt und musste unbedingt noch mit Sandra telefonieren. Aber nun war es so weit. Das Taxi müsste jeden Moment vor dem Haus eintreffen, das Telefonat vergessen. Um fünf Uhr wollte er gerne am Flughafen sein. »Lieber zu früh als zu spät.« Hannes konnte sich nicht daran erinnern, jemals irgendwo zu spät aufgetaucht zu sein.
Hannes hätte sich gerne online eingecheckt, aber bei einem Charterflug der ‚CaroLine-Cruises‘ war das nicht möglich. Das Taxi war da und Hannes zitterte vor Aufregung. »Das ist doch alles nur ein Traum, gleich klingelt mein Wecker und ich muss ins Büro«, dachte er, als ein Auto in der Nähe hupte und ihm klar wurde: »Das hier ist Realität, alter Knabe – du gehst auf Reisen.«
Am Check-in-Schalter der Fluggesellschaft war an diesem Sonntagmorgen die Hölle los. »Ob das immer so ist?«, fragte er sich und stellte sich geduldig hinten an. Auf dem ersten Blick schienen es nur Silver-Ager, Menschen im besten Alter zu sein, so wie er.
Beim genaueren Hinsehen entpuppe sich die riesige Warteschlange, die sich wie eine Schlange in freier Wildbahn im Zickzack auf den Check-in-Schalter zu bewegte, aus einer Mischung Menschen aller Altersgruppen. Sogar Kleinkinder waren darunter. So wie sie herum quengelten, würden sie lieber in ihren Bettchen liegen und mit den Stofftieren kuschel, als zu unchristlicher Zeit hier anstehen zu müssen. Wer konnte es ihnen verdenken. Für die Eltern fängt der Urlaub gut an, ausgeschlafen sieht anders aus. Aber das konnte Hannes egal sein. »Sie hätten ohne Kinder verreisen sollen. Dann wäre es Urlaub«, dachte er. Hannes konnte nicht wissen, wie ein Leben mit Kindern ist, er hatte keine – zumindest war ihm nichts Gegenteiliges bekannt.
Während er inmitten der wartenden geduldig Stück für Stück dem Schalter näher rückte, hörte er schon die Brandung der Karibik, fühlte den heißen Sand unter den Fußsohlen und den salzigen Schweiß auf seiner Haut. Die Transpiration war Wirklichkeit, so aufgeregt war Hannes, oder war es hier nur so warm? Hätte er doch nur früher seine Winterjacke ausgezogen. Dort, wo er hinfliegt, brauchte er keine Winterbekleidung, da ist Sommer - ist dort nicht immer Sommer? In Montego Bay, auf der Karibikinsel Jamaika.
Nun aber erstmal nach München, knapp drei Stunden warten und dann weiter in Richtung karibische Sonne. Nach etwa zwölf Flugstunden würde er am Ausgangspunkt seiner Kreuzfahrt sein.
Das Schiff, die ‚CaroVista‘, würde ihn bereits erwarten. Es ist ein übersichtliches Kreuzfahrtschiff, nicht klein, aber zu den dicken Pötten gehört es nicht. Ein überschaubares Mittelmaß: 14 Decks, Platz für 1600 Passagiere, 252 Meter lang, 33 Meter breit, 11 Bars, 7 Restaurants, ein Casino und einige Annehmlichkeiten mehr, wie gesagt: Ein überschaubares Schiff. Genau die richtige Größe für Hannes.
Seine Träumereien in der Warteschlange wurden von einem keifenden Paar, einige Meter hinter ihm, gestört. Am frühen Sonntagmorgen, auf dem Weg in den Urlaub, sich in der Öffentlichkeit anzugiften, »das kann es doch nicht sein«, dachte Hannes. Er wäre froh, wenn er jemanden hätte, mit dem er diese Reise gemeinsam machen könnte, Ilse zum Beispiel. Aber die war ja weg, durchgebrannt. Und Sandra hatte keine Zeit, aber sie hatte wenigstens an Hannes gedacht und ihm per SMS eine schöne Reise gewünscht. Immerhin.
Es ging ein paar Schritte vorwärts. Und wieder wurde es von hinten laut. »Wenn das im Flieger so weiter geht, dann muss ich mir Ohropax besorgen«, murmelte sich Hannes in den Bart. Der Herr vor ihm nickte zustimmend mit dem Kopf, griff in seine Jackentasche und zeigte ihm zwei von diesen Dingern.
»Meinen sie so etwas?«, sagte er grinsend zu Hannes.
»Der fliegt nicht das erste Mal«, dachte sich Hannes und lächelte neidvoll zurück.
Es folgte die nächste verbale Attacke. Hannes drehte sich um, um zu sehen, was das für Menschen sind, die sich schon zu Beginn des Urlaubes streiten. Der Mann, was für ein Schrank, Marke »1000 Volt in den Armen aber im Oberstübchen brennt die Kerze nicht hell genug«. Oder ist er womöglich ein Zuhälter oder so, Gangster vielleicht? Auf jeden Fall kommt der aus dem Milieu. Hannes möchte es gar nicht so genau wissen und wendete seinen Blick schnell wieder ab. Während der Kopfdrehung warf er einen flüchtigen Blick auf seine Begleiterin. Sie hatte verblüffende Ähnlichkeit mit Ilse, mit ihren brünetten schulterlangen Haaren. »Die Figur kann sich für ihr optisches Alter sehen lassen«, dachte Hannes. »Wie alt mochte sie wohl sein? Mitte Ende vierzig?« Sie tat ihm zumindest leid, den Urlaub mit so einem Typen verbringen zu müssen, oder machte sie das freiwillig? Sie sind sogar verheiratet, sie tragen beide den gleichen Ehering, stellte Hannes fest. »Das ist ja abscheulich«, Hannes schüttelte entsetzt den Kopf. An seiner Seite hätte es die bezaubernde Dame um einiges besser. Er wüsste, wie er sich einer Dame gegenüber zu benehmen hat, darin ist Hannes ein Profi.
Nach gefühlten zwei Stunden war Hannes endlich an der Reihe. Er hatte Glück, sein Koffer wog 22 Kilo, ein Kilogramm weniger als erlaubt. Er hatte schon befürchtet, dass der Koffer zu schwer sein könnte. Das Gepäckstück bekam am Griff eine Strichcode-Banderole und verschwand im Gewirr der unzähligen Transportbänder.
Hannes bekam seine Bordkarten, eine für den Flug nach München und eine nach Montego Bay. Ein weiterer Schritt in Richtung Paradies war geschafft. Eine Stunde bis zum Abflug. »Ein Kaffee würde mir jetzt guttun«, dachte er sich auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle.
Und schon wieder dieses Gezanke. Hannes schnappe einige Brocken der Unterhaltung auf, das ließ sich bei der kurzen Distanz zu dem Paar nicht vermeiden. Diesmal ging es um das Spielzeug des Mannes, um das Motorrad. Es wurden Schimpfwortsalven in beide Richtungen abgefeuert und das in einer Lautstärke, das es nur peinlich war. Für diese Sorte Mensch schien das normal zu sein. Rücksichtslos. Die taten so, als ob ihnen der Flughafen gehört.
»Egal, soll ich mir von solchen Menschen meinen Urlaub vermiesen lassen?« Hannes beschloss, einen großen Bogen um dieses Paar zu machen.
Seinen Tascheninhalt, seine geliebte Lederweste, seinen Rucksack und alles, was er bei sich hatte, musste er in eine graue Box legen, er hatte keine andere Wahl. Selbst Schuhe und Gürtel waren zu viel am Körper. Den Elbsegler auf seinem Kopf hätte er fast vergessen, wenn ihn nicht der nette Uniformierte auf den Hut hingewiesen hätte.
»Hoffentlich rutscht min Büx nich ründer«, sagte Hannes und sah, wie die Box mit seinen Sachen in irgendetwas verschwand und ging zum Ganzkörperscanner. Hannes stellte sich auf die Markierung, breitete seine Arme aus und das Gerät gab prompt laut.
Er wurde ohne Ergebnis abgetastet und musste ein weiteres Mal durch den Scanner. Wieder gab dieser Alarm, ebenso ein drittes und viertes Mal. Ratlosigkeit breitete sich beim Sicherheitspersonal aus. Könnte die Ursache seine Titanbrille sein? Erneut ließ Hannes sich scannen, diesmal ohne Brille und siehe da, die Maschine blieb stumm. Aufatmen, nicht nur bei Hannes, sondern auch bei den nachfolgenden Passagieren.
Der Scanner war überstanden und Hannes wurde vom freundlichen Sicherheitsbeamten aufgefordert, seinen Rucksack zu öffnen. Hannes Stirn ist zu klein für die ganzen Schweißtropfen, die jetzt den Weg nach draußen gefunden haben.
»Im Handgepäck dürfen keine Flüssigkeiten mitgeführt werden«, klärte ihn der Uniformierte auf.
»Dieser ist nicht so nett«, dachte Hannes. Das hatte er vor lauter Aufregung vergessen, die Flasche Eistee durfte nicht mit, er trank sie vor den Augen des Zollbeamten schnell aus und grinste ihn frech ins Gesicht, »Wäre ja schade ums Geld.« Nach der Kontrolle brauchte er erst mal einen Kaffee, den er sich auf dem Weg zum Gate gönnte. In rund einer viertel Stunde würde das Boarding beginnen. Hannes checkte kurz seine E-Mails und schaltete sein Smartphone in den Flugmodus. Sandra zu antworten schaffte er nicht mehr.
»Ich werde Sandra in München antworten, da hab ich über drei Stunden Aufenthalt«, nahm er sich vor. Freies WiFi soll es an allen Flughäfen geben, hatte er gelesen. Hannes traute seinen Ohren nicht. Die Streithähne sind schon wieder in unmittelbarer Nähe. »Die nerven langsam«, dachte er und verdrehte seine Augen.
Reisende haben eine Angewohnheit, die Hannes auf dieser Reise mehrmals beobachten konnte. Sie stellen sich beim Boarding in merkwürdigen Reihen auf, keiner weiß genau, wo das Ende ist. Hauptsache sie wissen es. Es kamen weitere Reisende von links und rechts dazu, bildeten neue Schlangen und das Chaos war perfekt. Am Boardingschalter trafen die gebildeten Reihen aufeinander, jeder wollte der erste im Flieger sein, und das Gedränge erreichte den ersten Höhepunkt.
»Leute, bleibt ruhig, ihr seid im Urlaub, nicht auf der Flucht, jeder hat seinen Sitzplatz«, haute er raus, wenn auch nur leise. Aber manchmal wurden seine Sprüche doch von jemanden gehört. Eine Dame älteren Semesters nickte zustimmend und fing an, eine ihrer Flughafengeschichten zu erzählen. Hannes aber hörte nicht zu, er war schon wieder woanders und hoffte nur, dass sie weit weg von ihm sitzen würde, hinten wäre erfreulich.
Es folgte der nächste Höhepunkt, der jedes Mal wieder für einen Stau im Flugzeug sorgt. Da wird erst das Handgepäck in die Staufächer verstaut, der Pullover ausgezogen und ebenfalls in aller Seelenruhe verstaut. Hingesetzt wird sich anschließend im Zeitlupentempo. In einem Flugzeug ist es ziemlich eng. Und das machen sie alle, vorzugsweise in den vorderen Reihen. Hinten ist es egal. Es wäre vernünftiger, wenn die hinteren Reihen zuerst einsteigen dürften und die vordern zuletzt.
Hannes hatte seinen Gangplatz in der achten Reihe eingenommen. Und die Streithähne? Im Moment stachen sie aus dem allgemeinen Gemurmel nicht heraus. Hannes drehte sich vorsichtig um und konnte sie weit hinten ausmachen. Mucksmäuschenstill saßen sie da. Sollte einer oder sogar beide, Flugangst haben? Die ältere Dame von vorhin saß genau neben ihnen. »So ist es richtig«, freute sich Hannes. So konnte es ein entspannter Flug für ihn werden.
»Von Hamburg nach München ist nur ein Katzensprung, wir fliegen die Strecke bei jeder Witterung«, summte Hannes vor sich hin. In München angekommen hieß es erstmal warten, über drei Stunden. Hannes sah sich den Münchener Franz-Josef-Strauß Flughafen an, trank einen Kaffee und aß eine Brezn mit Leberkäse, so etwas ähnliches wie ein Salatblatt hatte sich in dem aufgeschnittenen Laugengebäck verirrt. Nicht schlecht, sie schmeckte ihm sogar. Langsam bewegte sich Hannes zu seinem Gate und kam an einem Glaskasten vorbei, das mit einem großen Kamel auf der Scheibe dekoriert war. Darin standen traurige Menschen im Nebel, wie in einem Käfig oder einer Räucherkammer. Sie zwinkerten komisch mit den Augen, gerade so, als ob der Nebel sie reizen würde. Beim genaueren hinsehen stellte Hannes fest, dass das eine sogenannte Smoking Area war, wo sich die Raucher aus freien Stücken zur Schau stellen.
»Ich bleibe da lieber bei meinem Kaffee, den kann ich überall genießen und werde nicht in einem Glaskäfig dumm angegafft«, dachte sich Hannes und schlenderte weiter, vorbei an verschiedene Läden. Alles Duty-Free. In wenigen Minuten würde es an Bord gehen. Hannes hatte sich einen Fensterplatz reserviert, das ging wiederum online von zu Hause aus. Er wollte die Welt von oben sehen. Es war schließlich seine erste Flugreise. Für seinen Chef sollte er zu den Niederlassungen der Reederei nach Rotterdam oder Stockholm fliegen, aber auf seiner Art traute er sich nicht und lehnte ab. Gegen Flugangst war der Arbeitgeber machtlos. Stattdessen wurden die Akten dann per Express hin und her geflogen. Heute war es etwas anderes, Hannes ist sein eigener Herr. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm er seinen Fensterplatz ein.
»Erstmal den Ausguck für ein freies Sichtfeld putzen«, sprach er zu sich und fing an, das Flugzeugfenster mit einem Brillenputztuch zu säubern. Durch dieses Fenster erschien die Außenwelt nur verschleiert, Hannes sorgte für Durchblick. Er hatte vor wenigen Tagen in einer TV-Reportage gesehen, das sich an Flugzeugfenstern die meisten Bakterien versammeln, vermutlich wegen der schönen Aussicht. Gleichermaßen vorsichtig sollte man bei Kopfstützen und Armlehnen sein.
»Über Hygienemängel in Flugzeugen hatte ich vor kurzem einen Bericht im Anzeiger gelesen. Sollen nicht bei zwei Fluggesellschaften resistente Keime auf den WCs gefunden worden sein?« Hannes machte ein nachdenkliches Gesicht und überlegte, ob diese Fluggesellschaft eine von den beiden genannten war.
Sein Sitznachbar hatte sich kurz vor Ende des Boardings eingefunden. »Was ist das denn für einer?«, fragte sich Hannes und schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Vorne schien das Haar etwas Lichter zu sein, was man aber erst sah, nachdem der Unbekannte seine Schiebermütze abnahm. Dafür hatte er hinten umso längeres Haar, welches er zu einem Zopf zusammen gebunden trug. Hannes dachte zuerst an einen Musiker oder Popsänger, weil die meist solche Mützen tragen. Oder war er ein Kreativer? In Hamburg hatte er viele davon gesehen, sowohl Musiker als auch Kreative, aber die sahen anders aus. Der hier machte dagegen einen gepflegten Eindruck, könnte eventuelle sogar ein intellektueller sein.
Von seinem Sitznachbarn schien wenigstens keine Gefahr auszugehen, dieser packte in aller Ruhe sein Tabletcomputer aus und fing an darauf rum zu tippen. Hannes ist ein freundlicher Mensch und stellte sich seinen Nachbarn vor, »Mein Name ist Hannes Wilken aus Hamburg, freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen.« Es war nicht auszuschließen, dass sich, während der nächsten zwölf Stunden ein Gespräch entwickeln könnte. Der Mann neben Hannes musterte ihn nur kurz aus den Augenwinkeln und nannte nur widerwillig seinen Namen, ohne von seinem Computer aufzuschauen: »Lehmbrink, Karl Lehmbrink.«
Hannes verstand.
Das Flugzeug wurde in Startposition gebracht, die Turbinen hochgejubelt und die Maschine beschleunigte, dass es die Passagiere nur so in die Sitze presste. Es rumpelte und polterte wie auf einer Buckelpiste. Die A330 hob ab und schraubte sich höher und höher, bis die Reisehöhe von 11287 Metern erreicht wurde. Die Signallampe mit dem Gurtsymbol erlosch und Hannes öffnete erleichtert den Sicherheitsgurt. Er machte es sich gemütlich, so gut es in der Economy-Class eben ging. Es hatte ein bisschen gedauert, bis er den Mechanismus fand, mit dem er die Rückenlehne verstellen konnte.
Karl Lehmbrink hatte seine Neugierde geweckt: »Gehen sie auch auf Kreuzfahrt mit der ‚CaroVista‘?«, fragte ihn Hannes, obwohl er wusste, dass alle Passagiere des Fluges WA 239 nach Montego Bay an der Kreuzfahrt teilnehmen würden. Hannes wollte nur ein wenig plaudern, seine tausend Worte loswerden. Sein Sitznachbar aber scheinbar nicht, der drehte nur den Kopf ein wenig und sah Hannes aus den Augenwinkeln heraus an. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Hannes‘ Magengegend breit. Er bereute schon, den Fremden angesprochen zu haben. Sollte sein erster Eindruck falsch gewesen sein?
Lehmbrink blieb Hannes eine Antwort schuldig und widmete sich wieder seinem Tablet. Hannes setzte mit seiner Fragerei nach und um weitere Fragen vorzubeugen antwortete Lehmbrink: »Ich genieße nur für ein paar Tage die Kreuzfahrt. In Martinique werde ich von Bord gehen. Dort habe ich mit meiner Frau ein Häuschen am Hang, mit einem herrlichen Blick auf das Meer. Da lässt es sich wunderbar leben und arbeiten. Von Dezember bis Mai sind wir auf der Insel, meine Frau ist schon dort, ich hatte noch im Verlag zu tun. Und nun möchte ich gerne weiter arbeiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er hatte nicht mit der Neugierde von Hannes gerechnet.
»Was arbeiten sie auf der Insel?«, wollte Hannes wissen.
»Wir schreiben auf der Insel unsere Bücher, streifen durch den kubanischen Dschungel, machen Fotos oder suchen uns schöne Orte und lassen uns dort zu anderen schönen Dingen inspirieren«, wollte Lehmbrink antworten, als ihm eine Borddurchsage zuvorkam.
»Ich erfülle mir mittlerweile meinen Traum und Reise durch die Weltgeschichte«, sagte Hannes. Der Fremde auf dem Nebensitz blieb stumm. Hannes machte sich mit dem Entertainment-System vor seiner Nase vertraut und sah sich einen Film nach dem anderen an und dachte an Sandra, die in diesem Jahr ohne ihn Weihnachten feiern musste. Das ein oder andere Mal blickte er durch das frischgeputzte Flugzeugfenster und sah in die Welt hinaus, die scheinbar nur aus einer Wattedecke besteht. Ihm schoss das Lied »Über den Wolken« in den Sinn.
Bis auf das monotone Brummen der Triebwerke war es ruhig im Flugzeug. In regelmäßigen Abständen kamen die Damen der Flugbegleitung mit Getränken oder etwas essbaren vorbei. Auf diesem Flug stand Hühnchen mit Reis und Paprikagemüse auf dem Speiseplan. Eine handliche heiße Aluschale wurde den Passagieren gereicht. Die Schale war nicht größer als ein Frühstücksbrettchen und der Inhalt mehr als überschaubar. »Soll ich davon etwa satt werden«, fragte sich Hannes und kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. Hannes notierte in seinem Reisetagebuch: »Wer auf eine minus vier Sterne-Mahlzeit steht, der ist bei WorldflyAir gut aufgehoben. Kann ich wärmstens empfehlen, heiß war es jedenfalls.« Von dem streitsüchtigen Paar war immer noch nichts zu hören.
Hannes war gerade eingedöst, als er am linken Arm eine Berührung spürte. Er hörte Lehmbrinks-Stimme: »Hallo ..., hallo ... Herr Wilken ..., sind Sie wach?«
»Nun nicht mehr, mich hat da was am Ärmel gezwickt«, antwortete Hannes.
»Haben Sie zufällig ein USB-Ladekabel dabei? Meines ist im Koffer.« Selbstverständlich hatte Hannes so ein Kabel dabei, verneinte die Frage jedoch, ohne Lehmbrink dabei anzusehen.
»Wenn die Leute was wollen, dann werden sie plötzlich freundlich, aber nicht mit Hannes, da hab ich meinen Stolz«, dachte er und schloss seine Augen. Und wieder kam eine Flugbegleiterin, diesmal mit Wasser, und: »Es wurde mit keinem Saft, nicht einmal ansatzweise, geschubst«, stellte Hannes fest und frage sich, woher der Ausdruck »Saftschubse« kommen mag.
Das nächste Mal, als er wach wurde, hörte er laute Stimmen von hinten. Sie kamen ihm bekannt vor, es waren die der Streithähne. »Die waren aber lange leise«, dachte er. Es waren keine zwei Stunden mehr bis zur Landung. »Respekt, dass sie so lange den Mund halten konnten, oder haben die etwas gegen Flugangst genommen?«
Planmäßig um 18.05 Uhr Ortszeit, in Deutschland war es wegen der Zeitverschiebung 00.05 Uhr, landete das Flugzeug in Montego Bay. Es war bei der Landung schon dunkel.
»Das wird hier ja genauso früh dunkel wie zu Hause«, sagte er zu seinem Sitznachbarn Lehmbrink.
»Das ist um diese Jahreszeit hier immer so«, antwortete Lehmbrink. Während des Fluges wurden zwei Zettel verteilt. Einer für die Einreise und einer für die Ausreise. Beide mussten korrekt ausgefüllt werden, was während des Fluges zu einer kleinen Herausforderung wurde.
Nach der Landung wurde erst einmal geklatscht. »Wie peinlich ist das denn?«, fragte sich Hannes. Mit dem Reisepass und den ausgefüllten Formularen verließ er das Flugzeug und reiste in Jamaika ein. Das Einreiseformular wurde bei der Passkontrolle auf Korrektheit überprüft und eingesammelt. Manch einer kam mit dem Ausfüllen nicht klar und dem wurde bei der Einreise geholfen. Es haperte oft an der Verständigung. Folglich entstand ein Stau und die Geduld der wartenden Passagiere wurde nach diesem langen Flug auf eine Probe gestellt. Jetzt bin ich offiziell auf Jamaika, freute sich Hannes. Mit Bussen wurden die Passagiere zum Schiff der CaroLine-Cruises, der ‚CaroVista‘, gebracht. Das Gepäck wurde separat befördert, bis in die Kabine hinein.
»Ausgezeichneter Service«, dachte Hanne. Während der Busfahrt wurden die kleinen Ausreiseformulare eingesammelt.
»Und schon bin ich wieder ausgereist, nach einer halben Stunde Busfahrt durch Montego Bay, super«, ging es Hannes durch den Kopf.