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Tauchen Sie ein in die Welt von Hildegard Engelhardt, einer furchtlosen und per Haftbefehl gesuchten Witwe aus Hamburg, deren Leben sich schlagartig ändert. Auf der ›Minerva 2‹ stürzt sie sich gemeinsam mit Kapitän Henning Lund, Lisa und einer faszinierenden Gruppe von Weggefährten in ein aufregendes Drama voller Naturgewalten und geheimnisvoller Wendungen. Diese mitreißende Geschichte entführt Sie durch Raum und Zeit, zurück ins fesselnde Wikingerdorf Skjoldholm. Ein atemberaubender Kampf um das Schicksal der Menschheit entfaltet sich, während politische Turbulenzen den Bundeskanzler mit den Folgen seiner Entscheidungen konfrontieren. Rätsel, Veränderungen und unvorhersehbare Wendungen – die Geschichte von ›Minerva 2‹ wird Sie in den Bann ziehen! Eine emotionale Achterbahnfahrt durch die Leben der Figuren erwartet Sie, wenn die Rückkehr dieses Schiffes nicht nur die Oberfläche der Welt erschüttert, sondern auch die inneren Welten der Menschen. Erleben Sie das packende Abenteuer, das nicht nur Leseratten, sondern auch Abenteuerliebhaber und Geschichtsenthusiasten gleichermaßen begeistern wird. Tauchen Sie ein in eine Welt voller Geheimnisse und Emotionen – bestellen Sie jetzt Ihr Exemplar von »Minerva 2« und lassen Sie sich von der Magie dieser einzigartigen Geschichte verzaubern!
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Karl-Heinz Brinkmann
Verschollen im Nordmeer
Thriller
Danksagung
Ein besonderer Dank geht an Katharina für ihr herausragendes Lektorat. Ihre sorgfältige Arbeit und Hingabe haben dieses Buch bereichert.
Vielen Dank für die investierte Zeit und die wertvollen Verbesserungen.
Tauchen Sie ein in die fesselnde Welt von Hildegard Engelhardt, einer reichen Witwe aus Hamburg, deren Leben eine unerwartete Wendung nimmt, als sie in den Fokus der Justiz gerät. In einem Strudel atemberaubender Ereignisse findet sie sich auf der ›Minerva 2‹ wieder, begleitet von Kapitän Henning Lund, Lisa und anderen Gefährten. Gemeinsam erleben sie ein mitreißendes Drama voller Naturgewalten und geheimnisvoller Wendungen. Die Geschichte führt Sie durch Raum und Zeit, zurück ins Wikingerdorf Skjoldholm, wo ein epischer Kampf um das Schicksal der Menschheit entbrennt. Doch damit nicht genug – politische Turbulenzen brechen aus, als die Rückkehr der ›Minerva 2‹ den Bundeskanzler mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen konfrontiert. Inmitten von Rätseln und Veränderungen entfaltet sich eine Geschichte, die Sie in ihren Bann zieht und auf eine emotionale Achterbahnfahrt durch die Leben der Figuren mitnimmt. Erleben Sie, wie die Rückkehr eines Schiffes nicht nur die Oberfläche der Welt erschüttert, sondern auch die inneren Welten der Menschen. Tauchen Sie ein und lassen Sie sich von diesem packenden Abenteuer mitreißen!
1. Auflage, 2024
© 2024 Alle Rechte vorbehalten.
Der Oestinger
Karl-Heinz Brinkmann
c/o IP-Management #47918
Ludwig-Erhard-Str. 18
20459 Hamburg
www.der-oestinger.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das magische Lied »Happy Birthday to you« hallte noch lange in den Gedanken von Hildegard Henriette Engelhardt wider. Vor wenigen Tagen hatte sie ihren 86. Geburtstag im Kreise ihrer Familie gefeiert. Doch nun, nur wenige Tage später, war ihr vierter Ehemann Kurt verstorben. Der Hausarzt bescheinigte Herzversagen, aber er hatte berechtigte Zweifel an dieser Todesursache. Es war bereits der dritte Totenschein, den er in den letzten fünfzehn Jahren auf diesem mysteriösen Anwesen ausgestellt hatte.
Das Haus von Hohenstein war schon immer ein Quell der Spekulation, des Klatsches und Tratsches. Von Hohenstein war Hildegards Geburtsname, und auf diesem Anwesen wurde sie geboren, wuchs hier auf und verbrachte eine glückliche, wenn auch meist kurze Zeit mit ihren Männern. Hildegard hatte nie anderswo gelebt und beharrte stets darauf, ihren Mädchennamen zu behalten. Nur bei ihrem letzten Ehemann Kurt wich sie von diesem Prinzip ab. Auch ihre beiden Söhne Marten und Bernhard, beide aus ihrer ersten Ehe mit Knut Lundgren, wuchsen hier auf.
Das Haus von Hohenstein war jedoch kein gewöhnliches Haus, wie man es vermuten könnte. Es war ein ehrwürdiges Anwesen, das einst ein Rittergut gewesen war. Noch immer lag es idyllisch in einem kleinen Park abseits der pulsierenden Hansestadt Hamburg. Obwohl die umliegenden Ländereien mittlerweile dem Wohnungsbau zum Opfer gefallen waren, spürte man hier keine Hektik des städtischen Treibens. Seit 1903 befand sich das Rittergut im Besitz der Familie. Hildegards Großvater Friedrich von Hohenstein, ein hoher Offizier der kaiserlichen Garde, hatte es zur Geburt seines Sohnes Ferdinand von dem deutschen Kaiser übertragen bekommen. Die Familie bewirtschaftete die Ländereien bis zum Tod von Hildegards Vater im Jahr 1976.
Ihr erster Ehemann hatte mit der Landwirtschaft nichts am Hut. Er war ein echter Kaufmann und betrieb in der Speicherstadt ein Kontor für exotische Gewürze. Geld war im Hause Hohenstein nie ein Thema, und so lagen die Ländereien jahrelang brach, bis zu dem verhängnisvollen Autounfall, bei dem Knut tödlich verunglückte. Zunächst verpachtete Hildegard ihre Ländereien und konnte finanziell gut über die Runden kommen. Doch die Hansestadt wuchs, und der Bedarf an Platz war enorm. Das Angebot des Senats war verlockend, und Hildegard konnte ihm nicht widerstehen. Sie verkaufte einen Großteil ihrer Ländereien an die Stadt. Mit den Erlösen hätte sie bis heute ein sorgenfreies Leben führen können, wenn sie nur sparsamer gewesen wäre. Ihre drei verstorbenen Ehemänner hatten erheblich zum Familienvermögen beigetragen, und ihr letzter Gatte hatte sie sogar zur Millionenerbin gemacht.
Hildegard war eine rätselhafte Frau mit einer dunklen Vergangenheit. Sie hatte stets darauf bestanden, dass ihre Ehemänner bei ihr auf dem Anwesen wohnten. Doch es war nicht die Liebe, die sie trieb, sondern das Geld, das sie für den Erhalt ihrer Immobilien benötigte. Bei jeder Hochzeit machte sie ihre Bedingung deutlich und ließ keinen Zweifel daran, dass dies ihre einzige Priorität war.
Nur ein Jahr nachdem sie ihren ersten Ehemann Knut zu Grabe getragen hatte, heiratete Hildegard den wohlhabenden Hamburger Immobilienmakler Harald Kessler. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr. Nach seinem plötzlichen Ableben im Jahr 2012 erbte sie nicht nur ein beträchtliches Vermögen, sondern auch zahlreiche Immobilien in den exklusiven Stadtteilen Blankenese und Bahrenfeld. Während seiner Beerdigung jedoch fiel ihr Blick auf einen Mann namens Ottmar Gießen, einen geschiedenen Bauunternehmer aus Schleswig-Holstein. Das Schicksal wollte es so, dass sie nur sechs Monate später Ottmar heiratete. Doch auch er konnte dem geheimnisvollen Fluch des Hauses von Hohenstein nicht entkommen und starb 2016 an einem plötzlichen Herzversagen.
Es schien, als ob das Haus eine unheimliche Macht besaß, die das Leben ihrer Ehemänner in die Dunkelheit zog. Doch ihr letzter Ehemann, Kurt, schaffte es auf mysteriöse Weise, Hildegard dazu zu bewegen, seinen Namen anzunehmen. Er war ein rechtschaffener und großzügiger Mann, der sein Vermögen als Schiffsmakler in Hamburg gemacht hatte. Kurt hatte die finanziellen Zeichen der Zeit richtig gedeutet und sein Geld rechtzeitig aus den Schiffsfonds abgezogen, bevor die globale Rezession von 2008 bis 2013 hereinbrach. Bei einer glanzvollen Charity-Gala im renommierten ›Hotel Atlantic‹ lernte er Hildegard kennen und zog im Jahr 2017 in das Haus Hohenstein ein. Fünf Jahre lang genossen sie eine vermeintlich glückliche Ehe, bis Kurt nur wenige Tage nach Hildegards 86. Geburtstag ebenfalls einem mysteriösen Herzversagen erlag.
Dr. Wernersen, der langjährige Hausarzt der Familie, hatte ein beunruhigendes Gefühl in der Magengrube. Drei Ehemänner, die alle an Herzversagen verstarben, waren einfach zu viel, um es auf bloßen Zufall zu schieben.
Ohne das Wissen der Familie ließ er heimlich eine Obduktion von Kurts Körper durchführen. Das Ergebnis bestätigte seine Vermutungen. Im Blut wurden keine auffälligen Substanzen gefunden, aber in Leber und Nieren wurde das Gift Aconitin nachgewiesen - das Gift des Blauen Eisenhuts. Für Dr. Wernersen stand fest: Die Männer waren keines natürlichen Todes gestorben. Er übermittelte diese erschütternde Erkenntnis umgehend an die Staatsanwaltschaft, denn es war klar, dass das Haus von Hohenstein mehr Geheimnisse barg, als es den Anschein hatte. Die düsteren Schatten der Vergangenheit sollten endlich ans Licht gebracht werden.
Die Natur trug ihr herbstliches Kleid, und das Land wurde von goldenem Licht umhüllt. Die Bäume malten ein leuchtendes Gemälde mit ihren bunten Blättern, die im warmen Wind tanzten. An einem außergewöhnlich milden 21. Oktober waren bereits neun Monate vergangen, seit Kurt auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt worden war.
Hildegard Engelhardt, eine Frau, die trotz ihrer 86 Jahre wie Anfang 70 wirkte, führte ein Telefongespräch mit ihrer nicht gerade innig geliebten Schwiegertochter Marie-Luise. Die Worte, die sie aussprach, hatten eine geheimnisvolle Bedeutung. »Neun Monate braucht ein Kind, um im Mutterleib zu reifen«, sagte sie. Marie-Luise fragte verwirrt nach, was sie damit meine. Hildegard enthüllte, dass die Zeit der Trauer vorbei sei und sie das Land verlassen werde. Marie-Luise konnte kaum fassen, dass ihre Schwiegermutter zum ersten Mal in ihrem Leben eine Reise in Erwägung zog. Hildegard erklärte, dass es höchste Zeit sei, die Welt zu erkunden, bevor sie sich in den Sarg legen müsse.
Marie-Luise war außer sich vor Zorn. »Wie kann Schwiegermutter nur auf so eine hirnrissige Idee kommen, das Geld einfach so zu verpulvern?« Marie-Luise sah in dem Vorhaben ihrer Schwiegermutter eine direkte Bedrohung für das Erbe ihres Mannes und versuchte mit aller Kraft, Hildegard von der Reise abzubringen. Doch ihre Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt.
Trotz ihres jüngeren Aussehens war Hildegard in ihrer Mobilität eingeschränkt. Ein Gehstock war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Dennoch war ihr Geist wach und rege. Bereits nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns Harald hatte sie begonnen, ihr Bargeld auf verschiedene ausländische Konten zu transferieren. Sie wusste, dass sie jederzeit damit rechnen musste, dass ihre Tat ans Licht kommen und sie über Nacht aus Hamburg verschwinden müsste.
Nun, im Oktober 2022, schien der Moment gekommen zu sein. Bisher hatte sie Doktor Wernersen großzügig für seine Dienste entlohnt und vertraute darauf, dass er auch dieses Mal die Augen verschließen würde. Doch spätestens nachdem er den Totenschein für ihren letzten Ehemann ausgefüllt hatte, wurde ihr bewusst, dass er einen Verdacht hegte. Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider: »Hildegard, es scheint fast so, als hätten deine Männer keine Ausdauer mit dir.«
Die Bestätigung ihres Verdachts kam, als sie feststellte, dass Doktor Wernersen nicht mehr erreichbar war. Er hatte sie verraten! Jeder Tag, der verging, machte Hildegard nervöser. Schlaflosigkeit plagte sie, denn sie erwartete jeden Moment den Besuch der Polizei vor ihrer Tür. Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste, um ihrem drohenden Schicksal zu entkommen. Das Abenteuer der Flucht lag vor ihr, und Hildegard war entschlossen, den dunklen Geheimnissen des Hauses von Hohenstein zu entkommen und eine neue Zukunft in der Ferne zu suchen.
Hildegard schmiedete Pläne für ihre Flucht. Sie hatte das Glück, dass am 2. November die ›MS Minerva 2‹, ein exklusives Kreuzfahrtschiff, in die Karibik auslaufen würde. »Minerva, der Name klingt wunderschön. War sie nicht die Göttin der Weisheit, der taktischen Kriegsführung, der Kunst und des Schiffbaus, Hüterin des Wissens?«, überlegte Hildegard. Sie war überzeugt, dass dieses Schiff perfekt für sie war. Es gab nur noch wenige freie Kabinen, aber sie konnte sich eine der teuren Balkonkabinen sichern. Geld spielte keine Rolle.
Ihre Schritte hallten durch die Flure ihres Hauses, ein nervöses Klopfen auf den Dielen. Ihr Herz raste im Takt der Unsicherheit, während sie zwischen den Zimmern hin und her wandelte. Die Spannung hing spürbar in der Luft, wie ein unsichtbarer Schleier, der ihre Vorfreude und Nervosität umhüllte. Jeder Raum schien mit Erwartung gefüllt zu sein, als ob die Wände ihre aufgeregten Gedanken widerhallten.
Es würde ihre erste richtige Reise sein, weg von ihrem Anwesen, raus aus Hamburg. Sie war vorbereitet; einen gültigen Reisepass mit ihrem Mädchennamen hatte sie griffbereit in ihrer Schlafzimmerkommode aufbewahrt. Nun machte sie sich Gedanken über ihr äußeres Erscheinungsbild.
Ihre Falten im Gesicht, die sie liebevoll ›Jahresfurchen‹ nannte, konnte sie nicht verbergen, aber sie konnte etwas mit ihrer Frisur machen. Mit knapp sechzig Jahren begannen ihre wundervollen brünetten Haare silbergrau zu werden. Seitdem trug sie eine Perücke, und ihre Kaffeeklatschrunde beneidete sie um ihre prachtvolle Frisur. Natürlich wussten die Damen, dass Hildegards Haare nicht echt waren, aber sie ließen Hildegard in dem Glauben, dass sie es nicht bemerkten.
Sie gönnte den Damen ihren Spaß. Doch nun hatte die falsche Haarpracht ausgedient, und resigniert versuchte sie, ihre mittlerweile spärlichen weißen Haare in Form zu bürsten. »Ich sehe erbärmlich aus!«, murmelte sie. Auf jeden Fall würde sie so niemand mehr erkennen. Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. »So, Oma Hildegard ist bereit für die Reise«, sprach sie zu sich selbst und prostete ihrem Spiegelbild mit einem Glas Portwein zu. Ihr Koffer stand bereits gepackt im Flur, und am nächsten Morgen würde sie direkt am Schiff in Steinwerder einchecken. Die Zeit drängte. Sie hatte eine Vorladung für die nächste Woche erhalten. Spätestens dann würde man ihr Verschwinden bemerken. Doch bis dahin würde sie bereits die erste karibische Insel erreicht haben, der warme Wind würde ihre Haut kitzeln und das Rauschen der Wellen hätte sie längst in seinen Bann gezogen. Das Schiff, auf dem sie die letzten Tage verbracht hatte, würde am Horizont verschwunden sein. Keine Spur von ihr würde auf dem Schiff zurückbleiben, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Sie beschloss, bei einem Landausflug nicht auf das Schiff zurückzukehren. Ihr Ziel war Curaçao. Sie stellte sich vor, wie sie mit einem Cocktail in der Hand am Strand unter Palmen von jungen Männern umsorgt würde. Wie die Wellen des türkisfarbenen Wassers sanft am Strand ausrollen und die sonnengebräunten Beachboys um ihre Aufmerksamkeit buhlen. An jedem Finger könnte sie einen haben. Mit einem zufriedenen Lächeln schlief sie ein.
Unbarmherzig wurde sie von ihrem Wecker aus einem tiefen Schlaf gerissen. Das Sturmtief, das über Nacht Norddeutschland erreicht hatte, ließ den Regen gnadenlos gegen die Fensterscheiben peitschen. Ihr Blick wanderte zur Uhr. Um neun Uhr sollte das Taxi vor ihrer Tür stehen. Sie hatte noch gut zwei Stunden Zeit, um sich für die Reise fertig zu machen. Mit ihrer neuen Frisur und den altersgerechten Kleidern würde sie unerkannt bleiben. Bisher hatte sie ihre Kleidung stets nach den neuesten Modetrends ausgewählt. Jedes Stück in ihrem Schrank war sorgfältig ausgesucht, um den Puls der Zeit zu spüren. Ob elegant geschnittene Kleider oder lässige Streetwear – ihre Garderobe spiegelte den Zeitgeist wider. Ein Blick in ihren Schrank offenbarte eine Chronik der aktuellen Styles, ein Kaleidoskop der Farben und Schnitte, die die Mode der jeweiligen Jahreszeiten einfingen. Ihre Outfits waren wie Kapitel in einem Buch, das die Geschichte ihrer Stilsicherheit erzählte. Doch nun verwandelte sie sich in eine alte Frau, unscheinbar und gebrechlich. Die Zeit hatte ihre Spuren auf ihr hinterlassen, wie die Wellen, die den Sand am Ufer formen. Die einst straffe Haut war von Falten durchzogen, und ihr Gang trug die Last unzähliger Jahre. Doch in den klaren Augen spiegelte sich eine tiefe Weisheit wider, eine Geschichte, die nur das Leben selbst erzählen kann. Die einst lebendigen Farben ihrer Kleidung wirkten nun gedämpft, als hätte der Lauf der Jahre sie in sanfte Pastelltöne verwandelt. In der Bescheidenheit ihres Äußeren verbarg sich die reiche Erfahrung einer Frau, die die Höhen und Tiefen des Lebens durchschritten hatte. Der schwarze Rock reichte bis weit unter ihre Knie, und ihre Füße steckten in dunkelbraunen Stiefeletten. Um sich vor dem Wetter zu schützen, trug sie einen abgenutzten beigefarbenen Trenchcoat, der ihr eine Nummer zu groß war und schlaff wie ein alter Jutesack aus dem Kaffeekontor an ihr herunterhing. Ein verbeulter Filzhut versteckte ihre spärliche Frisur. Um ihre Tarnung zu vervollständigen, tauschte sie ihren Gehstock gegen einen Rollator und setzte ihre Lesebrille auf die Nasenspitze.
Das Taxi stand bereit, und Oma Hildegard nahm innerlich Abschied von ihrem geliebten Haus. Sie erinnerte sich kurz an die vielen Jahre voller Freude und auch an die tragischen Verluste ihrer Ehemänner, die viel zu früh von ihr gegangen waren. Doch sie empfand keine Reue für das, was sie getan hatte. Empathie war für sie ein unbekanntes Gefühl. Nur ihr geliebtes Zuhause, das Anwesen, das ihr Heim war, bedauerte sie zutiefst, es verlassen zu müssen. Doch im Gefängnis würde sie auch nichts mehr davon haben. Also, worauf sollte sie noch warten? Ein letzter Gedanke zurück, und dann würde sie mutig in das Taxi der Freiheit steigen. Sie war bereit, das nächste Kapitel ihres außergewöhnlichen Lebens zu beginnen. Ein Flüstern der Entschlossenheit begleitete jeden ihrer Schritte, während sie mit einem Lächeln auf den Lippen in die ungewisse Zukunft schritt. Die Vergangenheit mochte in den Falten ihres Gesichts eingraviert sein, aber ihre Augen strahlten eine Zuversicht aus, die von einer inneren Stärke zeugte. »Alles hat seine Zeit«, flüsterte sie vor sich hin und öffnete dem Taxifahrer die Haustür.
»Guten Morgen, verehrte Frau Engelha...« Der Taxifahrer stockte plötzlich, als er sie ansah. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, und sein Blick wechselte zwischen ihrem Gesicht und seinen Erinnerungen an diese Frau.
»Guten Morgen. Hildegard, Frau Engelhardt, schläft noch, ich bin ihre Cousine Henriette von Hohenstein. Bitte nehmen Sie meinen Koffer und bringen Sie mich zum Schiff«, erklärte sie ruhig.
»Sehr gerne, welches Schiff meinen Sie?«, fragte der Taxifahrer, während er ihren abgegriffenen ledernen Koffer ergriff und sie durch den stürmischen Regen zum Auto begleitete.
»Zum Cruise-Terminal nach Steinwerder bitte.«
»Ach so, Sie begeben sich auf eine große Fahrt. Da liegen heute drei Kreuzfahrtschiffe, zu welchem möchten Sie?«, merkte der Taxifahrer an und betrachtete sie im Rückspiegel. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.«
»Das kann durchaus sein, Familienähnlichkeit und so, verstehen Sie?«
Der Taxifahrer startete den Motor und warf einen letzten Blick in den Rückspiegel. »Die Ähnlichkeit mit Frau Engelhardt ist verblüffend. Und Sie sind wirklich ihre Cousine und nicht ihre Zwillingsschwester?«, fragte er skeptisch.
Hildegard hätte beinahe den Namen des Fahrers ausgesprochen, denn er brachte sie regelmäßig einmal in der Woche in der Stadt. Hätte sie doch nur dieses eine Mal eine andere Taxigesellschaft beauftragt. Doch nun war es zu spät. Günther hatte sie erkannt.
»Wie ich bereits sagte, mein Name ist Henriette von Hohenstein, und ja, ich bin tatsächlich eine Cousine von Frau Engelhardt, väterlicherseits, wenn Sie es genau wissen wollen«, erwiderte sie und sah Günther dabei intensiv durch den Rückspiegel in die Augen. Der Taxifahrer zuckte nur kurz mit den Schultern und fuhr los. »Sind Sie sicher, dass das Schiff bei diesem Sturm überhaupt ausläuft?«
»Guter Mann, das soll ihre Sorge nicht sein. Bringen Sie mich einfach dorthin, in Ordnung?«, antwortete sie bestimmt.
»Sie haben mir immer noch nicht verraten, mit welchem Schiff Sie verreisen«, wollte Günther nun wissen.
»Das erste rechts«, antwortete Hildegard mit einem verschmitzten Lächeln. Sie genoss das Spiel der Geheimnisse und wollte ihr wahres Ziel verbergen. Die ›Minerva 2‹ würde sie nicht nennen, um jegliche Aufmerksamkeit von ihrer wahren Reiseroute abzulenken.
»Ah, die ›AIDAnova‹. Dann geht es zu den Kanaren, richtig?«, fragte Günther neugierig.
»Stimmt genau, lieber Herr Taxifahrer. Sie sind gut informiert«, erwiderte Hildegard mit gespielter Überraschung. Sie wusste, dass eine falsche Fährte möglicherweise ihre Verfolger verwirren und ihre Spur verwischen würde. Es war wichtig, dass niemand ihre wahre Route entdeckte und Verdacht schöpfte.
Im Taxi lehnte sich Hildegard zurück und betrachtete das vorbeiziehende Stadtbild. Ihre Vergangenheit schien in der Ferne zu verblassen, während sie sich auf eine unbekannte Zukunft zubewegte. Die Reise würde nicht nur eine Flucht vor ihrer Vergangenheit sein, sondern auch eine Chance, sich neu zu erfinden und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Während das Taxi durch die Straßen fuhr, spürte Hildegard eine Mischung aus Aufregung und Entschlossenheit in ihrem Inneren.
Am Terminal herrschte geschäftiges Treiben. Alle Menschen eilten mit gesenkten Köpfen und schnellen Schritten ihren Zielen entgegen. Der Regen prasselte wie aus Eimern herab, während der Sturm den Niederschlag beinahe waagerecht durch die Luft trieb. Die dunklen Wolken am Himmel führten einen wilden Tanz auf, begleitet von donnerndem Getöse, als ob die Natur selbst eine dramatische Symphonie zum Abschied aufführte.
Das Taxi fuhr so nah wie möglich an den Eingang heran. Günther lud den Koffer in Windeseile aus und trug ihn in den geschützten Check-in-Bereich. Hildegard bedankte sich großzügig für seine Dienste. Von nun an musste sie sich alleine um ihr Gepäck kümmern. Die ganze Situation war für sie Neuland. Hilfesuchend blickte sie sich um. Doch niemand schenkte der alten Frau, die sich mit ihrem Koffer und Rollator abmühte, Beachtung.
Unbemerkt von Hildegard, wurde sie seit ihrer Ankunft am Terminal von einem Herrn im besten Alter beobachtet. Plötzlich stand der Fremde, adrett gekleidete Mann, vor ihr. »Gnädige Frau, darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er höflich und nahm seinen Hut ab. »Darf ich mich Ihnen vorstellen?«
Hildegard, eine Frau von klaren Worten, bluffte zurück, ohne ihn anzusehen: »Nein, ich lege keinen Wert auf Männerbekanntschaften zwischen Tür und Angel!« Der Mann nickte nur kurz, setzte seinen Hut wieder auf und verschwand so unscheinbar, wie er gekommen war.
Hildegard setzte ihren beschwerlichen Weg fort, bis ein Crew-Mitglied der ›Minerva 2‹ auf sie aufmerksam wurde und ihr den Koffer abnahm. Dankbar steckte sie dem Mann einen Fünf-Euro-Schein zu. Ihr Beschatter hatte sie nicht aus den Augen gelassen und genau beobachtet, wie sie dem Crew-Mitglied etwas zugesteckt hatte. Aus der Entfernung konnte er nicht erkennen, was es war, aber er vermutete, dass es sich um einen Geldschein handelte. »Was sollte es auch sonst gewesen sein«, murmelte er, um seine Vermutung zu bestärken. Er beschloss, diese verhärmte Frau nicht aus den Augen zu lassen, denn sein treffsicheres Gefühl vermutete in ihr eine vermögende Witwe. »Wie sollte sich sonst so eine alte Dame diese Kreuzfahrt leisten können?«
Gerard Juncker wusste zu diesem Zeitpunkt genau, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Doch er konnte nicht ahnen, dass ihm die Bekanntschaft mit Hildegard auf dieser Reise zum Verhängnis werden würde, denn selbst sein geschärfter siebter Sinn konnte daran nichts ändern.
Der Sturm hatte sich endlich gelegt, und die dunklen Wolken teilten sich, um einzelne funkelnde Sterne freizugeben. Mit fünfstündiger Verspätung löste die majestätische ›Minerva 2‹ ihre Leinen. Hildegard stand auf dem Promenadendeck und winkte in Gedanken ihrer Heimatstadt zu. Als das tiefe Tönen des Typhons ertönte, zuckte sie erschrocken zusammen. Die ›Minerva 2‹ glitt elegant durch das Fahrwasser der Elbe. Selbst zu dieser späten Stunde herrschte geschäftiges Treiben an den hell erleuchteten Containerterminals. Wie Spielzeug sahen die unzähligen Stahlboxen aus, die wie von Zauberhand hin und her jongliert wurden. Auf der Elbe waren nur wenige Schiffe auf dem Weg zur Nordsee. Durch die verzögerte Abfahrt konnte die ›Minerva 2‹ nicht von der Ebbe mitgezogen werden. Ihre gewaltigen Dieselmotoren kämpften gegen den einsetzenden Flutstrom an. Unzählige Lichter säumten die Elbufer und tauchten die Stadt in ein zauberhaftes Lichtermeer. Es dauerte eine ganze Weile, bis die ersten Lichter von Blankenese in Sicht kamen. Hildegard sog ein letztes Mal die Hamburger Luft in sich ein. »Ich werde dich niemals vergessen, mein geliebtes Hamburg, meine Perle.« Mit den Bildern der nächtlichen Großstadt im Kopf verließ sie das Deck und begab sich zur Bar. »Noch einen kleinen Schlummertrunk und dann ab in die Koje«, sagte sie augenzwinkernd zum Barkeeper.
»Gerne, gnädige Frau. Was darf es denn sein?«, fragte er höflich.
»Irgendetwas Vollmundiges, das die Geschmacksknospen explodieren lässt, etwas Pralles«, entgegnete Hildegard.
»Wenn Sie nur zwanzig Jahre jünger wären, hätte ich etwas für Sie, aber in Ihrem Fall ...« Der Barkeeper drehte sich zum Flaschenregal um und studierte die Etiketten aufmerksam. »Ah, da ist sie ja!« Er griff nach einer Steingutflasche und betrachtete das Etikett noch einmal genau. »Perfekt!«, verkündete er und zeigte Hildegard stolz die Flasche.
»Steinhäger? Gehts noch?«, keifte Hildegard den Barkeeper an.
»Ich dachte nur, eine Hamburger Deern steht auf klare Verhältnisse und all Ihre Wünsche werden mit diesem edlen Tropfen erfüllt.«
»Das mag schon sein, junger Mann, aber was Getränke angeht, dürfen sie ruhig etwas Farbe haben.«
»Oh, Sie stehen auf Bonschewasser?«
»Ich bevorzuge Jenever. Haben Sie welchen?«
Der Barkeeper machte ein verlegenes Gesicht, hob kaum merklich die Schultern und flüsterte Hildegard über den Tresen zu: »Leider nein, dieser Trend ist lange vorbei.« Der Barkeeper, etwas verlegen ob des fehlenden Jenevers, versprach im nächsten Hafen nachzubessern. Hildegard, jedoch keineswegs auf den Kopf gefallen, forderte mehr und schien dabei ihre finanzielle Großzügigkeit zu betonen. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie mit einer Handbewegung signalisierte, dass sie bereit war, ihn großzügig für das gewünschte Getränk zu entlohnen. Ihre Worte waren geschickt gewählt, ein Tanz aus Höflichkeit und Bestimmtheit.
Der scharfsinnige Günther Juncker, ein gerissener und skrupelloser Betrüger,beobachtete das Geschehen aus der Ecke der Bar und malte sich bereits aus, wie er die vermögende Hildegard um den Finger wickeln könnte. Sie schien perfekt in sein Beuteschema zu passen – eine wohlhabende Witwe, altersbedingt leicht beeinflussbar und ihr Reichtum war ihm kein Geheimnis. Er kannte jeden Trick, den diese Frauen anwandten, um ihre wahre Situation zu verschleiern. Und Hildegard würde keine Ausnahme sein. Er war sich sicher, dass er sie knacken und sich an ihrem Geld bereichern konnte. Schließlich hatte er dreißig Jahre lang sein raffiniertes Geschäftsmodell praktiziert. In seiner Vorstellung sah er sich bereits als erfolgreichen Manipulator, der Hildegard durch Charme, geschickte Lügen und platzierte Komplimente umgarnte. Sein Ziel war es, an ihr Geld zukommen und sich ein luxuriöses Leben auf ihre Kosten zu ermöglichen. Er konnte bereits den Reichtum und die Macht, die ihm bald gehören würden, förmlich spüren. Doch was Günther nicht ahnte, war, dass Hildegard keine leichte Beute war. In ihrer bewegten Vergangenheit hatte sie schon so manchen Betrüger durchschaut und eine eigene Strategie entwickelt, um sich vor solchen Schurken zu schützen.
Während Günther in seinen Illusionen schwelgte, saß Hildegard an der Bar und genoss ihren Drink. Die ›Minerva 2‹ glitt weiter durch die Nacht, während sich die Wellen der Elbe sanft unter dem Schiff kräuselten. Hildegard spürte, dass die Reise nicht nur eine Flucht vor ihrer Vergangenheit war, sondern auch die Chance auf einen Neuanfang. Und so saß sie da, eine elegante ältere Dame mit einer faszinierenden Aura, bereit für die Abenteuer, die vor ihr lagen.
Während Hildegard Engelhardt an Günther Junckers Tisch vorbeiging, registrierte er sie mit einem selbstzufriedenen Nicken. Diese Begegnung hatte seine Entschlossenheit nur noch gestärkt. In seinem Entschluss, in Southampton einen weiteren Versuch zu starten und Hildegard von seinem Charme zu überzeugen, wirkte er siegessicher. Seine Gedanken an den bevorstehenden Coup ließen ihn selbstbewusst an seinem Drink nippen. In seiner Erfahrung hatte er nie falsch gelegen, wenn es um wohlhabende Witwen ging. Sein scharfer Verstand und seine Raffinesse verschafften ihm stets den Vorteil, den er für seine perfiden Pläne benötigte.
Während er sich selbstbewusst zurücklehnte und seine nächsten Schritte plante, ahnte Günther Juncker nicht, dass Hildegard Engelhardt ebenfalls über ihre eigene Verteidigungsstrategie nachdachte. Entschlossen war sie, ihre Geheimnisse und ihr Vermögen vor den gierigen Händen eines Betrügers wie Juncker zu schützen. Das bevorstehende Aufeinandertreffen dieser beiden skrupellosen Persönlichkeiten versprach einen wahren Kampf der Täuschung, List und Boshaftigkeit. Die Bühne war bereitet, und die Frage blieb, wer von ihnen am Ende als Sieger hervorgehen würde.
Die ›Minerva 2‹ kämpfte mit aller Kraft gegen die Strömung an, doch die starken Strömungsverhältnisse machten das Aufholen der Verspätung nahezu unmöglich.
Mit voller Kraft bewegte sich das majestätische Schiff die Elbe hinunter, vorbei an Cuxhaven und in Richtung Nordsee. Die Nacht war finster, und die Passagiere schliefen ahnungslos in ihren Kabinen. Kapitän Henning Lund betrat pünktlich um Mitternacht die Brücke, um seinen Ersten Offizier Werner Hinrichsen abzulösen. Ein kurzer Blickaustausch erfolgte, bevor Lund die entscheidende Frage stellte: »Gibt es besondere Vorkommnisse, Nummer Eins?«
Hinrichsen schüttelte den Kopf und antwortete gelassen: »Nein, Kapitän, alles ist normal. Doch der aufziehende Sturm bereitet mir Sorgen.«
Lund steckte eine Hand in die Hosentasche und starrte hinaus in die undurchdringliche Dunkelheit. Die Herausforderung des tobenden Sturms war spürbar, doch er war ein erfahrener Seemann, bereit für die Gefahren der See. Mit Entschlossenheit und Respekt sagte er zu seinem Ersten Offizier: »Ich verstehe deine Bedenken, Werner, aber wir haben keine Wahl. Wir müssen uns durchkämpfen. Southampton erwartet uns.«
Das majestätische Schiff wurde von den wilden Stürmen aus Südwesten heftig geschüttelt. Gewaltige Wellen prallten gegen den Bug, erschütterten das Deck und ließen das gesamte Schiff in einer chaotischen Bewegung tanzen. Jeder Schritt wurde zu einem Balanceakt, während Passagiere sich an den Handläufen festklammerten und versuchten, mit den unberechenbaren Bewegungen des Schiffes Schritt zu halten. Für diejenigen, die nicht an das Seefahrerleben gewöhnt waren, fühlte sich diese wilde Fahrt wie eine bedrohliche Achterbahn der See an – eine Herausforderung, die bei einigen in Form von Übelkeit und wankendem Gang deutlich wurde. Die Naturgewalt des Ozeans erinnerte jeden an Bord daran, dass sie sich auf dem Territorium einer anderen Welt befanden.
»Verehrte Fahrgäste, hier spricht ihr Kapitän Henning Lund«, erklang die Durchsage. »Aufgrund der aktuellen Wetterlage werden wir mit erheblicher Verspätung in Southampton anlegen. Dadurch wird sich unser Aufenthalt in der wundervollen südenglischen Metropole um einen Tag verkürzen. Dies ist bedauerlicherweise notwendig, um sicherzustellen, dass wir unsere weiteren Ziele auf unserer Reise rechtzeitig erreichen. Ihnen steht dennoch genügend Zeit für Ausflüge zur Verfügung. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und wünsche Ihnen einen erholsamen Tag auf See. Ihr Kapitän.«
Mit einem lauten Knacken endete die Durchsage, und abgesehen vom Rauschen der Wellen war nichts mehr zu hören. Hildegard hatte Schwierigkeiten, sich aufgrund der unregelmäßigen Schiffsbewegungen vorwärts zu bewegen. Mit Mühe schob sie ihren Rollator mit einer Hand vor sich her und klammerte sich mit der anderen am Handlauf fest. »Verdammt nochmal! Hätte ich diesen verdammten Rollator doch bloß in meiner Kabine gelassen!«, murmelte sie. Für einen Moment überlegte sie, umzukehren. Doch das würde ihre Tarnung gefährden, und das konnte sie sich nicht leisten. Ihre innere Stimme riet ihr, sich vor diesem rätselhaften Mann in Acht zu nehmen.
Wie aus dem Nichts stand er plötzlich vor ihr. »Guten Tag, Frau ...«, begann er höflich.
»Ich komme zurecht, danke! Ich schaffe das schon alleine«, antwortete Hildegard und konzentrierte sich weiterhin auf ihren Rollator, während sie ihn vor sich herschob. Dass sie dabei über seinen Fuß rollte, störte sie nicht im Geringsten; im Gegenteil, es amüsierte sie sogar.
»Vielen Dank auch!«, rief er ihr hinterher.
»Keine Ursache«, erwiderte sie gelassen.
Gerhard Juncker begab sich in die entgegengesetzte Richtung und ging den Gang hinunter. Das Schiff gehörte zu den kleineren Kreuzfahrtschiffen und war daher recht übersichtlich. Er kannte jeden Winkel, jede Ecke dieses schwimmenden Mikrokosmos und wusste genau, wo er die Frau finden konnte. Die Holzdecks unter seinen Schritten verrieten Geschichten von vergangenen Reisen, während er durch schmale Gänge und vorbei an Kabinen mit geschlossenen Türen navigierte. Das leise Brummen der Motoren begleitete ihn wie eine vertraute Melodie. »Sie ist eine zähe Alte, da muss ich tief in meine Trickkiste greifen«, dachte Juncker. Die Wogen peitschten gegen den Schiffsrumpf, und die salzige Gischt umhüllte das Deck wie ein schauriges Geheimnis. Das Meer, das eben noch so majestätisch erschien, enthüllte nun seine raue Seite, und der Horizont verschwamm im Nebel der Unsicherheit.
Ein unwohles Gefühl breitete sich in Junckers Magen aus. Es war nicht nur die Seekrankheit, die an ihm nagte, sondern auch die Vorahnung, dass die turbulenten Gewässer nicht die einzige Gefahr auf dieser Fahrt darstellten. Hildegard Engelhardt, die resolute Dame mit dem Rollator, schien mehr zu sein, als sie vorgab. Ihr durchdringender Blick und ihre unkonventionelle Art weckten Misstrauen in Juncker. Er konnte nicht ahnen, dass sie nicht nur die Tiefen des Meeres überwinden mussten, sondern auch die Intrigen und Geheimnisse, die auf dem Luxusliner lauerten. Die Bühne für ein aufregendes Duell zwischen Täuschung und Wahrheit war bereitet, und die Kräfte der Natur waren nur der Auftakt zu einem Sturm viel größerer Dimensionen.
Kapitän Henníngs Stimme hallte lautstark über die Decklautsprecher, als er verkündete, dass bereits die britische Küste auf der Backbordseite in Sicht war. Sein Schmunzeln war förmlich zu spüren, als er hinzufügte: »Bei klarer Sicht, versteht sich.«
Ein amüsiertes »Witzbold!« entwich nicht nur Hildegard, sondern auch ihren Tischnachbarn, während sie gebannt in die trübe graue Wolkendecke starrten. Kein Horizont war zu erkennen. Himmel und Wasser verschmolzen zu einem undurchdringlichen Grau, als hätte Petrus höchstpersönlich eine alte Pferdedecke über das Schiff geworfen. Die Gischt klatschte an die Fensterscheiben und verstärkte das Gefühl der Abgeschiedenheit. Das Schiff rollte und stampfte immer noch ungewöhnlich stark.
»Vielleicht ein Aperitif, um die Stimmung aufzuhellen? Der Portwein hier soll ausgezeichnet sein«, schlug Hildegard vor, ohne auf eine Antwort ihrer Tischgesellschaft zu warten.
»Alkohol, zu dieser Zeit?«, staunte Adele Henneberg, erst ihren Mann, dann Hildegard an. Adele Henneberg ließ jeden innehalten und sich fragen, ob sie wirklich in der heutigen Zeit angekommen war. Mit ihrer kunstvollen Dauerwelle, die ihre Haare in perfekt geformte Locken verwandelte, wirkte sie wie eine lebende Hommage an vergangene Tage. Ihr runder Gesichtsausdruck und die Pausbäckchen ließen sie beinahe wie einen Vollmond erscheinen, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Ihr Outfit war eine Zeitkapsel der Modegeschichte. Sie trug eine leuchtend bunte Bluse mit psychedelischen Mustern, die perfekt zu ihrer ausgestellten Schlaghose passte. An ihren Füßen steckten Plateauschuhe, die sie einige Zentimeter größer erscheinen ließen. Ihre Accessoires waren nicht weniger auffällig: Große runde Ohrringe und eine bunte Tasche, die an vergangene Flower-Power-Zeiten erinnerte. Sie schien nicht nur in ihrer Kleidung, sondern auch in ihrem Wesen in den 1970er Jahren stehengeblieben zu sein.
Ihr Mann, Hans Henneberg, bildete das perfekte Gegenteil zu Adele. Mit seinem sportlich-eleganten Kleidungsstil und einem feinen Gespür für Mode ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, dass er nicht nur über Reichtum, sondern auch über ein ausgeprägtes Modebewusstsein verfügte. Hans Henneberg strahlte eine Aura von Eleganz und Selbstbewusstsein aus, die ihn zu einem Blickfang in jedem Raum machte.
Er trug maßgeschneiderte Anzüge, die perfekt auf seine schlanke Statur abgestimmt waren. Seine Hemden waren stets von höchster Qualität und akribisch gebügelt. Eine dezente Armbanduhr schmückte sein Handgelenk, und seine Schuhe waren stets makellos und von renommierten Designern. Hans Henneberg verstand es, sich stilvoll zu kleiden, ohne dabei aufdringlich oder übertrieben zu wirken. In Kombination mit seinem gepflegten Äußeren und seinem charmanten Lächeln verkörperte Hans Henneberg die Essenz eines wohlhabenden Gentlemans. Seine Präsenz strahlte Klasse und Stil aus und verlieh ihm eine natürliche Autorität, die von vielen bewundert wurde.
Die Kombination aus Adeles auffälligem Retro-Look und Hans´ zeitloser Eleganz ließ sie wie ein ungleiches Paar erscheinen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Figuren aus einer satirischen Fernsehshow, die das Klischee eines exzentrischen Paares auf humorvolle Weise überspitzt darstellten.
Für Hildegard war es manchmal schwer, das ungleiche Paar zu verstehen. Sie konnten unterschiedlicher kaum sein, sowohl äußerlich als auch in ihrer Persönlichkeit. Doch inmitten dieser Kontraste schienen sie einander perfekt zu ergänzen und eine harmonische Partnerschaft zu führen.
Während Adele mit ihrer schillernden Präsenz die Blicke auf sich zog, glänzte Hans mit seiner unaufdringlichen Eleganz und seinem subtilen Charme. Gemeinsam bildeten sie ein faszinierendes Duo, das die Menschen zum Lachen und Staunen brachte.
Hildegard konnte nicht anders, als dieses ungewöhnliche Paar zu bewundern und sich von ihrer gegensätzlichen Art inspirieren zu lassen. Denn letztendlich zeigten Adele und Hans, dass wahre Stilgebung nicht durch Normen und Konventionen begrenzt ist, sondern ein Ausdruck der Individualität und Persönlichkeit sein kann - selbst, wenn es wie eine Szene aus einer Satiresendung erscheint.
»Warum nicht? Trinken wir uns das Wetter eben schön«, antwortete ihr Mann Hans Henneberg überraschend.
Das Ehepaar Dietrich und Elisabeth Jeckel blickte verlegen auf ihre Servietten. Über die Jahre hinweg wurden sie sich in ihrer Erscheinung immer ähnlicher. Ihre Kleidung war perfekt aufeinander abgestimmt, dezent in den Farben und ohne jegliche auffällige Details. Sie verströmten eine Aura der Unauffälligkeit, als ob sie bewusst darauf bedacht wären, in der Masse unterzugehen.
Dietrich, immer akkurat glattrasiert, trug seinen grauen Haarkranz mit Würde. Sein Gesicht verriet keine besonderen Emotionen oder Anzeichen von Individualität. Elisabeth hingegen schien sich für ihr spärliches Haar zu schämen und trug es kurz geschnitten wie eine Herrenfrisur. Ihre äußerliche Anpassung verstärkte den Eindruck, dass sie keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.
Ihre zurückhaltende und schüchterne Art ging einher mit wachsamen Augen, die stets ihre Umgebung im Blick behielten. Diese beinahe durchsichtige Präsenz imponierte Hildegard auf gewisse Weise, obwohl sie zugleich ein Gefühl von Hinterhältigkeit und Verschlagenheit wahrnahm. Es war, als ob Dietrich und Elisabeth eine dunkle Vergangenheit aus ihrer Zeit in Ostdeutschland mit sich herumtrugen, die sie tief in sich verborgen hielten.
Hildegards Neugierde trieb sie an, mehr über dieses rätselhafte Ehepaar herauszufinden, und sie beschloss, das Paar im Auge zu behalten.
»Sagen Sie, Frau Engelhardt«, begann Hans Henneberg ein Gespräch, nachdem die ersten beiden Gläser Portwein geleert waren. »Warum begibt sich eine Dame wie Sie auf eine solch aufregende Reise?«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Elisabeth Jeckel, und es war das erste Mal auf dieser Reise, dass sie überhaupt etwas von sich gab. Hans und Adele Henneberg fragten sich schon, ob die beiden überhaupt reden konnten.
»Ach, mein Lieber, ich bin nun in einem Alter, in dem ich auf niemanden mehr Rücksicht nehmen muss. Meine Kinder und Enkel sind bestens versorgt, und ihr kennt doch den Spruch: ›Reise vor dem Sterben, sonst reisen deine Erben‹.«
»Lohnt es sich überhaupt noch?«, hakte Henneberg hartnäckig nach.
Hildegard sah ihn scharf in die Augen, und in ihnen lag ein seltsames Flackern. Henneberg kannte dieses Auflodern nur zu gut von seiner Frau. Es verhieß nie etwas Gutes.
»Hören Sie, Herr Henneberg, es ist nicht eine Frage des Lohnes, sondern des Könnens! Ich könnte Ihnen genauso gut die gleiche Frage stellen. Auch Sie könnten während dieser Reise waagerecht von Bord gehen.«
Nur Elisabeth Jeckel spürte die düsteren Schwingungen, die in Hildegards Worten mitschwangen, und wusste von diesem Moment an, dass mit dieser Frau nicht gut Kirschen essen war.
»Was meinen Sie damit?«, wollte die naive Adele Henneberg wissen.
»Mein Liebes, Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?« Hildegard strich sich mit einer Hand durch ihre wirre Frisur, bevor sie zu einer Erklärung ansetzte. »Jedes Jahr verschwinden durchschnittlich über zwanzig Menschen von Bord eines Kreuzfahrtschiffs. Laut einer Studie gab es zwischen 2000 und 2018 rund 320 vermisste Personen.«
»Wie kann das sein?« Adele Henneberg war von Neugierde erfüllt.
»Nun lassen Sie es gut sein, wir sollten unser Essen genießen«, versuchte Elisabeth Jeckel, dieses unangenehme Thema mit einer indirekten Drohung zu wechseln.