Die Schatten der Hexenbucht - Karl-Heinz Brinkmann - E-Book

Die Schatten der Hexenbucht E-Book

Karl-Heinz Brinkmann

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Beschreibung

In der scheinbar idyllischen Ostemarsch birgt die Hexenbucht ein jahrhundertealtes Geheimnis, das dunkle Schatten auf die Gegenwart wirft. Als die junge Journalistin Anna Lehner der Spur eines geheimnisvollen Geistlichen folgt, wird sie in eine Welt voller Mystik und Intrigen gezogen. Verstrickt in einen Kampf zwischen Gut und Böse, muss sie gemeinsam mit dem Geistlichen die mächtigen Schattenläufer aufhalten, bevor diese die Menschheit in die Dunkelheit stürzen. Ein packender Mystery-Thriller, der Geschichte und Gegenwart auf eindrucksvolle Weise verschmilzt und dich nicht mehr loslassen wird.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Danksagung
Über das Buch
Impressum
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Der Autor

Karl-Heinz Brinkmann

Die Schatten der Hexenbucht

Mystery-Thriller

Danksagung

Ein herzliches Dankeschön geht an Petra und Sven von der »Mocambo«, die mich zu diesem Buch inspiriert haben, auch wenn sie nicht ahnten, welchen Funken sie mit nur einer Frage entfacht haben.

Ein großer Dank gebührt meiner Lektorin Katharina, die mit ihrer sorgfältigen Arbeit und Hingabe dieses Buch bereichert hat. Ihre Expertise und ihr Engagement haben wertvolle Verbesserungen ermöglicht, für die ich unendlich dankbar bin.

Über das Buch

In der scheinbar idyllischen Ostemarsch birgt die Hexenbucht ein jahrhundertealtes Geheimnis, das dunkle Schatten auf die Gegenwart wirft.

Als die junge Journalistin Anna Lehner der Spur eines geheimnisvollen Geistlichen folgt, wird sie in eine Welt voller Mystik und Intrigen gezogen. Verstrickt in einen Kampf zwischen Gut und Böse, muss sie gemeinsam mit dem Geistlichen die mächtigen Schattenläufer aufhalten, bevor diese die Menschheit in die Dunkelheit stürzen.

Ein packender Mystery-Thriller, der Geschichte und Gegenwart auf eindrucksvolle Weise verschmilzt und dich nicht mehr loslassen wird.

Impressum

1. Auflage, 2024

© 2024 Alle Rechte vorbehalten.

Der Oestinger

Karl-Heinz Brinkmann

c/o IP-Management #47918

Ludwig-Erhard-Str. 18

20459 Hamburg

[email protected]

www.der-oestinger.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Die Schatten der Hexenbucht

Karl-Heinz Brinkmann

Mystery-Thriller

»Die Charaktere in diesem Buch sind reine Fiktion und jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Personen ist rein zufällig. Doch wie der Wind durch die Blätter weht und das Schicksal seine eigenen Pfade zeichnet, so können manchmal Parallelen entstehen, die uns staunen lassen. Doch fürwahr, diese Geschichten entstammen allein der grenzenlosen Fantasie des Autors, der wie ein Bildhauer aus dem Stein der Ideen seine Figuren formt und ihnen Leben einhaucht, fernab von jeglicher Realität.«

1

»Papa, Papa, was sind das für Besen?«, rief Jonas, ein aufgeregter achtjähriger Junge aus dem Ruhrgebiet. »Sie sehen aus wie umgedrehte Hexenbesen, die im Wasser stecken! Sind da vielleicht Hexen abgestürzt?«

»Stimmt, so könnte man es sehen«, antwortete sein Vater knapp. Jonas spürte die Anspannung in seiner Stimme und drückte seine Hand fester.

»Komm, lass uns zurück zu deiner Schwester gehen«, schlug sein Vater vor. Jonas nickte, Angst und Abenteuerlust kämpften in seinem Inneren.

Es war der erste Urlaub, nur mit den Kindern, auf der Suche nach dem perfekten Ort zum Entspannen und Vergessen. Warum es ihn an die Oste, einen Fluss voller Mystik und Geschichte, verschlagen hat, konnte er nicht sagen.

Wie eine riesige Schlange schlängelt er sich durch die Landschaft, ein Relikt aus vergangenen Zeiten. In grauer Vorzeit war die Gegend ein Labyrinth aus Bäumen und Sümpfen, bewohnt von wilden Tieren und undurchdringlichen Wäldern.

Dann kamen die Menschen. Sie rodeten die Wälder, entwässerten die Moore und machten das Land urbar. Es war ein harter Kampf gegen die Natur, aber mit der Zeit entstand eine neue Ordnung.

Aus der wilden, unwegsamen Wildnis wurde ein kultiviertes Paradies - geschaffen von Menschenhand. Doch tief unter der Oberfläche lauerten noch die alten Geschichten, verborgen in den stillen Wassern der Oste und den dichten Wäldern am Ufer.

Meist fließt die Oste still dahin, mal schlank wie eine Ballerina, dann wieder breit wie ein Sumo-Ringer, eingezwängt von Erdwällen zum Schutz vor Hochwasser. Doch manchmal zeigt sie sich auch launisch wie ein störrischer Esel. Ihre Stimmung kann sich plötzlich ändern, und sie bricht aus ihren Ufern hervor, als wollte sie die Menschen hinter den Deichen auf die Probe stellen. Es ist ein ständiges Ringen zwischen Mensch und Natur, zwischen Kontrolle und Chaos.

Sturmfluten hatten in der Vergangenheit ganze Dörfer weggespült. Das Leben der Menschen hier wird von den Gezeiten bestimmt. Sie leben im Einklang mit den Rhythmen der Natur, die ihnen mal Fülle und Fruchtbarkeit schenkt und dann wiederum Herausforderungen und Gefahren bringt. Doch trotz der Mühen und Risiken, die das Leben an der Oste mit sich bringt, bleibt der Traum von einem idyllischen Paradies erhalten.

Ein Ort, an dem das Gras grüner als anderswo ist und die Sorgen des Alltags verwehen wie Nebelschwaden im Morgendunst.

Heute, in der modernen Zeit, versucht der Mensch, die Natur zu kontrollieren. Mit Deichen und Dämmen kämpft er gegen die Fluten, um seine Häuser und Felder zu schützen. Doch trotz aller Bemühungen ist die Oste ein paradiesischer Ort geblieben. Ihre unberührte Schönheit und ihre vielfältige Tier- und Pflanzenwelt trotzen den menschlichen Eingriffen. Es ist ein ständiges Wechselspiel zwischen Mensch und Natur, zwischen Kontrolle und Demut vor den Kräften, die größer sind als wir. Ein Wochenmagazin betitelte die Oste sogar als ‚Amazonas hinterm Deich‘[Fußnote 1].

Es gibt zwar keine undurchdringlichen Dschungel, aber die Menschen sind manchmal genauso geheimnisvoll. Sie haben ihre Eigenheiten und halten an Traditionen fest, die Fremden oft rätselhaft erscheinen.

Ein solches Rätsel ist die korrekte Aussprache des Flussnamens. »Es heißt Ooste«, sagen sie dann und zwinkern dabei freundlich. Es ist, als würden sie ein kleines Geheimnis hüten, das nur denen offenbart wird, die bereit sind, sich auf ihre Welt einzulassen.

Es werden viele Geschichten im Osteland erzählt, doch nur wenige von der Hexenbucht. Die aber, die erzählt werden, lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Und wer weiß, vielleicht steckt hinter diesen, oft als Märchen abgestempelten Geschichten mehr, als man denkt.

Waldemar, der Vater des kleinen Jonas, weiß es, will es aber nicht zugeben. In seinen Augen glimmt manchmal ein geheimnisvoller Funke, als wüsste er etwas, was jenseits der Realität liegt. Vielleicht birgt die Geschichte der Hexenbucht doch mehr Wahrheit, als die Menschen glauben wollen. Und während die Kinder am Lagerfeuer Geschichten lauschen und sich gruseln, hütet Waldemar sein Geheimnis wie einen kostbaren Schatz.

Vater und Sohn gingen entlang der Deichkrone in Richtung der Gemeinde Osten, wo sich ihre Ferienwohnung befand. Links erstreckten sich saftige Wiesen und ertragreiche Felder, soweit das Auge reichte. Ein Meer aus satten Grüntönen, das die Seele mit seiner Frische umhüllte. Rechts schlängelte sich majestätisch die Oste, ein malerischer Fluss von unvergleichlicher Schönheit. Ihre sanften Wellen funkelten wie Diamanten im Sonnenlicht. Die Strömung der Oste war kraftvoll, unaufhaltsam, ein lebendiges Band, das sich durch die Ostemarsch wand.

Die Sonne, die sich am Horizont erhob, tauchte die Landschaft in ein goldenes Licht, das sich auf der glitzernden Oberfläche des Flusses widerspiegelte. Tausend Sterne tanzten auf dem Wasser. In der Ferne erklangen die melodischen Gesänge der Vögel, die mit ihrer Musik die Luft erfüllten und eine Aura der Ruhe und Gelassenheit über das Land legten. Es war, als wäre die Welt im Einklang und alle Sorgen des Alltags vergessen.

Die sanften Melodien der Vögel erstarben abrupt, als ob ein unsichtbares Wesen seine Hand über ihre Kehlen legte. An ihre Stelle trat das grässliche Krächzen einer Horde Krähen, die sich wie eine schwarze Wolke über die Hexenbucht schoben. Ihre schwarzen Federn flatterten im Wind wie düstere Vorboten des Unheils. Sie warfen drohende Schatten auf das Land, während ihre durchdringenden Rufe durch die Luft hallten und eine unheimliche Stille zurückließen, die sich wie ein düsterer Schleier über die feuchten Wiesen legte.

Nur wenige Augenblicke später trug der Wind eine blecherne Stimme herbei. Jonas blickte zurück zur Hexenbucht und sah ein Schiff auf der Oste heranfahren. »Sieh mal, Papa, da kommt ein Schiff!« Er ließ die Hand seines Vaters los und winkte mit beiden Armen dem Schiff zu.

Ein lautes Tuten drang über den Fluss. Enten flatterten aufgeschreckt davon, als dieses dröhnende Geräusch die Stille durchbrach. Es war, als hätte jemand einen Stein ins Wasser geworfen und die Ruhe des Flusses zerschlagen. Die Vögel, die sich friedlich auf dem Wasser niedergelassen hatten, flogen in wildem Aufschrei davon, als ob sie einem unsichtbaren Feind entkommen wollten. Es war ein Moment der Unruhe, der die Atmosphäre am Ufer der Oste durchdrang und eine Spannung in der Luft hinterließ, die man förmlich spüren konnte.

Der Kapitän der ›Latona‹, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauem Rauschebart, nahm es gelassen. Mit einem breiten Grinsen erwiderte er auf seine Art den Gruß des kleinen Jungen auf dem Deich. Er hob die Hand zum Salut und sein Horn ertönte zum zweiten Mal, bevor er sich wieder dem Steuerrad zuwandte. Für ihn war es Routine, entlang der Oste zu navigieren. Die Begegnung mit den Bewohnern am Ufer gehörte dazu wie der Wind zur Küste. Sämtliche Passagiere winkten zurück, und Jonas tanzte vor Freude. »Papa, da möchte ich auch mal mitfahren, bitte!«, flehte er. »Morgen?«

»Mal sehen was deine große Schwester dazu sagt«, wiegelte Waldemar ab.

»Och man, bitte, Papa, ich möchte so gern mit dem Schiff fahren. Das würde Manuela bestimmt auch gefallen.«

»Ich sagte doch, mal sehen! Und jetzt hör auf zu quengeln!«, knurrte Waldemar mit strenger Stimme. Seine Worte hallten wie ein donnerndes Echo in Jonas’ Ohren nach.

Wütend stampfte der Junge ins Gras. Sein Gesicht war ein Spiegelbild seines Zorns: Augen, die vor Wut funkelten, und Hände, die sich zu Fäusten ballten. In ihm tobte ein Sturm, der alles niederzureißen drohte, was ihm im Weg stand. Besorgt beobachtete sein Vater die Szene, unsicher, wie er mit der aufkommenden Wut seines Sohnes umgehen sollte und erinnerte sich, wie wütend er als Kind werden konnte.

Da ertönte die blecherne Stimme erneut, vom Wasser getragen über den Fluss: »Hey, kleiner Mann, möchtest du mitfahren?« Jonas stand wie versteinert auf dem Deich. Sein Herz pochte vor Aufregung.

»Dann warten wir beim ›Rostigen Anker‹ auf dich.« Mit einem lauten Hupen schob sich die ›Latona‹ weiter flussaufwärts. Die Vögel stimmten ihren Gesang erneut an, als wäre nichts gewesen. Doch ihre Stimmen klangen jetzt seltsam gedämpft und unheilvoll, als ob sie eine düstere Botschaft in den Wind schickten.

Anna, eine junge Journalistin, lauschte gespannt den Worten des Kapitäns, während er voller Leidenschaft über die Hexenbucht erzählte. Obwohl sie bereits einmal über das Schiff berichtet hatte, war es ihre erste Tour damit. Als Cuxhavenerin war sie nicht oft in diesem Landstrich unterwegs, aber die Ostemarsch mit ihren Dörfern und geselligen Menschen faszinierte sie von Neuem. Besonders aber ihre Geschichten.

»Es heißt, dass sich in der Hexenbucht, mitunter in lauen Vollmondnächten, seltsame Dinge ereignet haben sollen. Fest steht jedoch, dass in der Johannisnacht hier etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein muss. Seit Urzeiten traut sich in der Nacht zum 23. Juni kein Mensch mehr an diesen Ort. Aber zunächst möchte ich euch erklären, was eine Hexe überhaupt ist.«

Der Kapitän machte eine Pause, um Spannung in seine Geschichte zu bringen. Das beherrschte er meisterhaft, wenn er einen guten Tag hatte. Und heute war so ein Tag. Er lächelte verschmitzt und ließ die Stille einen Moment lang wirken, bevor er fortfuhr: »In den geheimnisvollen Nächten, wenn der Mond sein silbriges Licht über die düsteren Wälder ergoss, wurde sie als nachtfliegende Unholdin gefürchtet. Lautlos glitt ihre düstere Gestalt durch die Lüfte, ihre Augen feurig wie glühende Kohlen in der Finsternis. Ihr Körper wurde von den Schatten verschluckt, die sie wie treue Diener dunkler Mächte umgaben.

Das Wort ‚Hexe‘ selbst, aus vergangenen Zeiten nur spärlich überliefert, fand seinen Weg aus der Schweiz und Oberdeutschland als Sammelbegriff in den allgemeinen Sprachgebrauch. Frauen wurden als Hexen bezeichnet, wenn der Verdacht aufkam, sie hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Man glaubte, sie würden mithilfe von Zaubermitteln Schaden über ihre Mitmenschen bringen und behauptete, sie seien Teil eines nächtlichen, gotteslästerlichen Sabbats unter der Führung des Teufels. Dort verwickelten sie sich in Unzucht mit dem Fürsten der Finsternis, verwandelten sich in Tiere – besonders Katzen oder Wölfe – und beeinflussten das Wetter. Auf diesen Flügen oder in tierischer Gestalt verzauberten sie Vieh und Menschen auf vielfältige Weise.

In dieser düsteren Ära wurden die Hexen zu Hüterinnen von Geheimnissen und Trägerinnen von Mächten, die über das Verständnis derjenigen hinausgingen, die den Mut hatten, sich den finsteren Wegen der Hexerei zuzuwenden. Das Erkennen von Hexen war in diesen düsteren Zeiten geprägt von Aberglauben und irrationalen Überzeugungen. Die Menschen suchten nach vermeintlichen Zeichen und Indizien, um diejenigen zu identifizieren, die sie als Hexen ansahen.

Düstere Gerüchte besagten, dass Hexen oft ungewöhnliche Merkmale trugen, die ihre finsteren Verbindungen offenbarten. Ein schiefer Blick, eine ungewöhnliche Narbe oder sogar das Tragen dunkler Gewänder konnten als Hinweise auf ihre magischen Machenschaften betrachtet werden. Die alltäglichsten Dinge wurden zu Verdachtsmomenten in der Hexenjagd, die vom 14. bis zum 18. Jahrhundert ihre dunklen Schatten warf.«

Ein heiseres Keuchen, wie ein plötzlicher Orkan, dröhnte durch die Bordlautsprecher. Es riss die Passagiere aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Kapitän. Anspannung lag in der Luft, denn sein Atem klang angestrengt, gequält.

Ein kurzes Zögern, kaum wahrnehmbar, aber spürbar genug, um die Spannung auf dem Schiff knistern zu lassen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, hingen an seinen Lippen, warteten gespannt auf die nächsten Worte. Was würde er jetzt sagen?

Seine Stimme, zuvor noch ruhig und klar, klang jetzt angespannt, fast gequält. Als würde ihm jedes Wort schwerfallen, als würde er gegen eine unsichtbare Kraft kämpfen.

Er räusperte sich, nahm einen tiefen Atemzug und setzte neu an.

»Die wohl größte Furcht aber umgab die Idee des Teufelszeichens. Man glaubte, dass Hexen ein geheimes Zeichen des Teufels trugen, oft versteckt auf ihrer Haut. Mutmaßliche Hexen wurden genauestens daraufhin untersucht, ob sie ein vermeintliches Hexenmal oder eine Stelle hatten, an der der Teufel seine Marke hinterlassen hatte. Selbst harmlose Details konnten verdächtig erscheinen: eine schwarze Katze als Begleiterin, das Kräutersammeln im Mondschein oder ein unerklärliches Wissen über Heilpflanzen.

Sogar die Art, wie jemand einen Besen hielt oder wie er in den Schatten einer Nachtglut trat, konnte als Beweis für die dunklen Künste dienen. So wurden unschuldige Frauen zu Opfern irrationaler Ängste und Vorurteile, während die Hexenjäger in jedem Schatten eine Bedrohung sahen. In diesen verworrenen Zeiten waren die vermeintlichen Erkennungsmerkmale oft nichts weiter als Schatten von Vorurteilen und Aberglauben, die das Leben der unrechtmäßig Beschuldigten für immer prägten.

Und hier, werte Fahrgäste, in der düsteren Hexenbucht, so sagt es die Legende, versammeln sich bis zum heutigen Tage jene schwebenden Damen, um ihre unheilvollen Taten zu vollbringen. Es sind die Geister, die herbeigerufen wurden, als an diesem Ort der Verurteilung unschuldige Frauen auf dem Scheiterhaufen der Hölle überantwortet wurden.« Die Stimme des Kapitäns hallte durch den Raum, dröhnte von den Wänden wider, wie das Echo eines Predigers in einer uralten Kathedrale.

Er stand da, am Steuerrad, wie eine gebieterische Gestalt im schwachen Licht der Laternen. Seine Augen, tief und dunkel wie die See in der Nacht, fixierten die Menge, hielten sie fest in ihrem Bann.

Seine Worte waren wie ein Mantra, hypnotisierend und unentrinnbar. Er sprach von der Gefahr, die in der Dunkelheit lauerte, von den unheimlichen Wesen, die in den Tiefen der Hexenbucht hausten. Er warnte vor den Verlockungen des Bösen, vor der Gier und dem Wahnsinn, die den Menschen in die Irre führen konnten.

Seine Stimme klang wie ein Echo aus einer vergangenen Zeit, aus einer Zeit des Aberglaubens und der Hexenverfolgung. Es war die Stimme eines Mannes, der das Böse mit eigenen Augen gesehen hatte, der die Schrecken der Nacht am eigenen Leib erfahren hatte.

Die Zuhörer saßen wie gebannt, regungslos und lauschend. Ihre Gesichter waren angespannt, ihre Augen voller Furcht. Sie spürten die Macht der Worte des Kapitäns, die unheimliche Wahrheit, die in ihnen verborgen lag.

Die Luft auf dem Schiff war drückend, schwer und geladen mit Angst. Ein kalter Schauer lief den Zuhörern über den Rücken, als der Kapitän seine Stimme erhob und mit einem letzten, eindringlichen Mahnen schloss:

»Hütet euch vor der Hexenbucht! Lasst euch nicht von den Schatten der Vergangenheit verschlingen!«

Ein eisiger Schauer lief auch Anna über den Rücken, als der Kapitän mit unverminderter Entschlossenheit in seiner Stimme fortfuhr: »Ihr müsst wissen, dass diese verlassene Bucht nicht nur von salziger Gischt und rauem Wind geprägt ist, sondern auch von den Seelen derer, die hier einst unschuldig ihr Leben ließen«, sagte er und sein Blick schweifte über die dunklen Wassermassen.

Die Passagiere, gebannt von seinen Worten, lauschten gespannt dem Klang seiner Erzählung. Die Wellen schlugen leise gegen den Rumpf des Schiffes, als wäre der Fluss selbst ein Zeuge der traurigen Geschichte.

»Diese Damen der Dunkelheit«, fuhr der Kapitän fort, »irren in den Nächten umher, verflucht, und ihre unerlösten Seelen suchen nach Gerechtigkeit. Man sagt, sie manifestieren sich in Form von schattenhaften Konturen, die sich im Nebel des Mondscheins bewegen.«

Ein unheilvolles Raunen ging erneut durch die Reihen der Fahrgäste, während Anna den Blick senkte, als könnte sie die unsichtbaren Spuren der Vergangenheit auf den Wellen lesen.

»In dieser Bucht«, fuhr der Kapitän fort, »sollen sie ihren verlorenen Frieden finden. Doch Vorsicht ist geboten, denn wer ihre Schatten kreuzt, trägt die Last der Geschichte auf seinen Schultern.«

Das Knarren des Schiffes vermischte sich mit dem Murmeln des Wassers, während der Kapitän die Legenden der Hexenbucht in den sommerlichen Himmel sprach. »Aber, meine sehr verehrten Fahrgäste, wenn Sie mich fragen, halte ich das alles für ein modernes Märchen. Als Seemann würde ich diese Geschichten als Seemannsgarn bezeichnen.«

Die ›Latona‹ hatte den ›Rostigen Anker‹ erreicht, ein uraltes Lokal, das riesig groß und unübersehbar auf dem Deich thronte und früher einmal zu einer Werft gehörte. Bevor der Kapitän das Anlegemanöver einleitete, stoppte er die Maschine und begann zu erzählen: »Vor mehr als drei Jahrhunderten begann die faszinierende Geschichte des heutigen ›Rostigen Anker‹. Einst als prächtiger Jagdsitz für einen wohlhabenden Edelmann errichtet, wurde das Anwesen nach dem verheerenden Brand von Hamburg im Jahre 1842 zur Brennstätte für Ziegelsteine, die beim Wiederaufbau in Hamburg dringend gebraucht wurden. Im Jahr 1780 übernahm eine wohlhabende Familie das Anwesen und erweiterte es um eine Schutenwerft. Diese robusten Ewer transportierten nicht nur Ziegel, sondern auch Steinkohle, Kartoffeln, Feuerholz und andere Güter entlang der Flussläufe.

Als später jemand anderes die Werft übernahm, fügte er dem Anwesen eine Schankwirtschaft und einen kleinen Krämerladen hinzu. Doch das 20. Jahrhundert brachte neue Herausforderungen mit sich: Die Ära des Bootbaus endete, und die bitterkalten Winter zwangen die Bewohner dazu, jedes brennbare Stück Holz zu verbrennen, um Wärme zu erzeugen. Dann kam die fürchterliche Flut von 1962, die Altendorf und den ›Rostigen Anker‹ hart traf. Nach den schrecklichen Wassermassen blieb vom stolzen Anwesen nicht mehr als ein alter Anker - daher der Name - am Fuße des Deiches und eine Ruine übrig. Doch Hoffnung keimte auf, als im Jahr 1963 ein Ehepaar aus einer fernen Stadt das Grundstück erwarb. Mit großem Fleiß und Leidenschaft renovierten sie das Anwesen, gestalteten es um und eröffneten im folgenden Jahr den ›Rostigen Anker‹ als Restaurant mit gemütlichen Hotelzimmern.

Die Jahre vergingen, und der ›Rostige Anker‹ wurde als beliebte Erlebnisgastronomie zu einem Treffpunkt für Reisende und Einheimische gleichermaßen. Doch trotz seines Erfolgs wurde das Haus ab 1998 verpachtet. Über zwei Jahrzehnte hinweg versuchten um die 13 Pächter, dem ›Rostigen Anker‹ neues Leben einzuhauchen. Doch die Wiederbelebung dieses historischen Juwels in seinem malerischen Ambiente scheint ein schier endloses Abenteuer und eine beständige Herausforderung für die Betreiber zu sein. Ob die Zahl 13 dafür verantwortlich ist, sei dahingestellt.«

Die ›Latona‹, die einst zum ›Rostigen Anker‹ gehörte – so wie das Grillen von Steaks auf dem heißen Stein – schob sich gemächlich zum Anleger, und nur wenige Augenblicke später war das Schiff fest vertäut. Freudig über den überraschenden Besuch eilte das Wirtepaar zum Anleger.

»Man kennt sich«, meinte der Kapitän und ließ sein Horn zur Begrüßung einmal laut erklingen. Anna war noch in der Geschichte der Hexenbucht gefangen und zuckte bei dem Signalton zusammen.

»Moin Sören«, strahlte Georg, alias Schorsch, den Kapitän an. »Was verschafft uns die Ehre?«

»Auch Moin, ich hab einem jungen Mann eine Rundfahrt versprochen. Er müsste jeden Moment eintreffen«, antwortete Sören und reichte Georg zur Begrüßung die Hand. Die Männer tauschten Neuigkeiten aus, während sie auf Jonas warteten.

Anna sah gelangweilt vom Heck des Schiffes auf die Männer hinüber und überlegte, ob sie nicht hier von Bord gehen sollte, um sich die Hexenbucht aus der Nähe anzusehen. Seit sie diese geheimnisvolle Bucht passiert hatten, breitete sich in der jungen Frau eine innere Unruhe aus, wie sie sie in dieser Form noch nicht erlebt hatte. Sie zog ihr Notizbuch aus dem Rucksack eines Sportartikelherstellers und kritzelte etwas hinein, während sie überlegte, wann der Mond wieder voll sein würde. Sie beschloss, dann wiederzukommen.

In der Zwischenzeit waren Jonas und sein Vater Waldemar beim ›Rostigen Anker‹ angekommen.

»Ah, da ist ja mein junger Freund«, sagte Sören, und ein Lächeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.

»Darf ich wirklich mitfahren?«, fragte der Junge verlegen.

Sören nahm seine weiße Kapitänsmütze ab und setzte sie Jonas auf, wobei sie ihm bis zur Nasenspitze rutschte. »Na klar, hab ich doch versprochen.«

»Nein, das geht nicht, das können wir nicht annehmen«, erwiderte Waldemar.

„Ach komm schon, mach dem Jungen doch diese Freude. Oder wirst du etwa seekrank?“, fragte Sören mit einem schelmischen Grinsen, das seine gelben Zähne zwischen den grauen Barthaaren hervorblitzen ließ.

»Nein, das nicht, aber …«

»Kein Aber!«, fiel Sören ihm ins Wort. »Den Klabautermann haben wir in Oberndorf gelassen, versprochen«, versicherte der Kapitän und reichte Jonas die Hand, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

»Na schön, was bin ich Ihnen schuldig?«, wollte Waldemar wissen.

»Das Lächeln deines Sohnes reicht mir«, entgegnete Sören.

»Das ist Jonas und ich bin der Herr Herzog«, stellten sich die neuen Fahrgäste vor.

»Schön, dann wollen wir mal! Schorsch, bis die Tage und grüß mir deine Frau und meine Kinder. Wo ist sie eigentlich geblieben?«, wollte Sören mit seinem markanten Grinsen wissen.

Georg nahm seine dunkelblaue Pudelmütze, ohne die er niemals das Haus verlassen würde, vom Kopf und sah sich nach allen Seiten um. Er hob die Schultern und meinte trocken: »Keine Ahnung.« Er sah sich ein weiteres Mal um und hob erneut die Schultern. »Die taucht schon wieder auf. Aber vielleicht ist sie im Keller und füttert deine Kinder«, sagte er in einem genauso biederen Tonfall wie zuvor, begleitet von einem Augenzwinkern.

Georg half beim Losmachen des Schiffes. Mit geschickten Handgriffen löste er die Taue, während seine Augen dem majestätischen Schiff folgten, das sich durch das ruhige Wasser der Oste schlängelte. Es war ein beeindruckender Anblick, wie es langsam hinter der nächsten Biegung verschwand, begleitet vom sanften Plätschern der Wellen.

Ingrid, die Wirtin vom ›Rostigen Anker‹, stand oben auf der Terrasse des Lokals und beobachtete, wie die ›Latona‹ sich entfernte.

»Da bist du ja«, meinte Georg, als er seine Frau oben stehen sah. Sie stand wie angewurzelt da und blickte dem Schiff hinterher.

Mit leerem Blick sah sie ihrem Mann tief in die Augen. Sie wirkte verängstigt und war blass, so wie Georg es bei ihr noch nie gesehen hatte. »Was ist mit dir?«, wollte er wissen.

»Ich kann es nicht erklären, aber auf dem Anleger war etwas, das mir unheimliche Angst gemacht hat«, sagte Ingrid mit zittriger Stimme. »So wie damals in Bochum, als etwas Schreckliches in einer der Zechen passierte, das sich bis heute kein Mensch erklären konnte.« Eine Träne löste sich aus ihrem Auge, und sie griff nach einem Stuhl, um sich zu setzen. Die Erinnerungen an jenen furchterregenden Vorfall schienen sie noch immer zu verfolgen, und ihre Worte klangen wie ein Echo aus der Vergangenheit, das sie nicht loslassen konnte.

»Ja, stimmt, ich kann mich erinnern«, meinte Georg und wusste, dass der Vater des Jungen der Auslöser für Ingrids Angstattacke war. Sein Blick wanderte zu seiner Frau, die in Gedanken versunken wirkte, und er fragte sich, ob sie etwas von der bevorstehenden Bedrohung ahnen konnte.

***

»Wo ist Leichtmatrose Jonas?«, tönte Sörens Stimme durch die Lautsprecher an Deck.

»Hier«, antwortete Jonas verlegen und hob wie in der Schule einen Arm.

»Das hat der Kapitän wohl kaum gehört«, meinte Waldemar und griff nach der Hand des Jungen. »Komm, mein Sohn, wir gehen zum Kapitän.«

Sie gingen vom Heck des Schiffes zum Steuerstand, wo sie von Sören mit einem breiten Lächeln begrüßt wurden.

»Ah, da seid ihr ja«, meinte er und reichte Jonas die Hand. »Komm, mein Junge, du möchtest doch bestimmt mal das Steuerrad halten. Hab ich recht?«

Jonas nickte eifrig und griff mit nach der Hand des Kapitäns, um den engen Steuerstand zu betreten. Das Steuerrad war fast so groß wie der Junge selbst. Jonas musste sich auf Zehenspitzen stellen, um darüber hinwegsehen zu können. »Das ist toll«, sagte er und hielt das mächtige Steuerrad fest umschlungen. Seine Augen leuchteten vor Glück.

»Ja, das ist es«, bestätigte Sören und suchte den Blickkontakt zu Waldemar. »Soll ich euch auf dem Rückweg am ›Rostigen Anker‹ rauslassen?«, wollte er wissen.

»Nein, nicht nötig. Lassen Sie uns bitte in Osten anlegen, dort steigen wir dann aus. Unsere Ferienwohnung ist nämlich dort«, meinte Waldemar verlegen. Als Geschäftsführer einer großen Handelskette legte er großen Wert auf Förmlichkeiten und hatte große Probleme mit dem respektlosen Umgang ihm gegenüber, den diese Norddeutschen Küstenbewohner an den Tag legten. Es schien, als ob ihre raue und direkte Art der Kommunikation mit seiner Vorstellung von Etikette und Anstand kollidierten. Doch trotz seiner Frustration bemühte er sich, höflich zu bleiben und den Respekt zu bewahren, den er für wichtig hielt. Auch der Fährmann gestern auf der Schwebefähre tat so, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Waldemar hielt fremde Menschen lieber auf Distanz. Nur seine engsten Freunde durften ihn duzen. Nun aber, da Sören sie eingeladen hatte, musste er wohl oder übel auf diese Förmlichkeit verzichten und es über sich ergehen lassen.

Die Schwebefähre kam in Sicht, und Waldemar machte sich zum Abstieg bereit.

»Nicht so schnell, mein Freund, wir haben noch jede Menge Zeit«, meinte Sören und ließ sein Horn ertönen, um den Fährleuten Bescheid zu geben, dass er mit dem ältesten deutschen motorgetriebenen Fahrgastschiff die älteste Schwebefähre Deutschlands passieren möchte. Sein Tonfall war freundlich, aber bestimmt, und erwartungsvoll sah er der Antwort der Fährleute entgegen, während sich die beiden Oste-Oldtimer langsam einander näherten.

»Wieso?«, wollte Waldemar wissen.

»Wir fahren vorher noch nach Hechthausen und erst dort werden wir wenden, um die Rückreise anzutreten«, erklärte Sören.

»Wann werden wir dann zurück in Osten sein?«, fragte Waldemar, dem diese unerwartete Planänderung sichtlich nicht gefiel.

»Mein Lieber, ich habe nie gesagt, dass wir euch direkt nach Osten bringen«, schnaufte Sören, der Waldemars Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schob sich Waldemar zurück zum Heck des Schiffes und setzte sich auf seinen Platz.

Die junge Frau, die am anderen Ende seines Tisches saß, schenkte er erst jetzt seine Aufmerksamkeit. Sie war in ihr Handy vertieft und ignorierte ihn. Diese feinen Gesichtszüge, mit vereinzelten Sommersprossen auf dem Nasenrücken, waren genau das, was er bei Frauen liebte. Ihre rötlich schimmernden, schulterlangen, glatten Haare, die vom Wind wild umherwehten, taten ihr Übriges. Waldemar war von dieser Frau fasziniert und überwand seine Schüchternheit. »Darf ich mich Ihnen vorstellen?«

Sie sah ihn nur kurz aus den Augenwinkeln an und erwiderte: »Wenn es unbedingt sein muss.« Im selben Augenblick bereute sie ihre patzige Antwort und korrigierte sich: »Entschuldigung, natürlich.«

»Mein Name ist Waldemar Herzog, ich mache mit meinen Kindern Urlaub in Osten. Mein Sohn ist gerade beim Kapitän, und glauben Sie mir, er will nun bestimmt auch Kapitän werden.«

»Angenehm, Herr Herzog, ich bin Anna«, erwiderte sie, und ihr Gesicht strahlte eine Wärme aus, wie sie Waldemar selten bei einem Menschen erlebt hatte. Er fühlte sich ihr tief verbunden, gerade so, als würden sie sich seit Jahren kennen. Dieses Empfinden machte ihm Angst. »Ist dieses Gefühl typisch norddeutsch?«, fragte er sich und stellte Anna die Frage: »Und weiter?«

»Wie weiter?«, wollte sie wissen, und dann dämmerte es ihr. »Lehner«, schob sie hinterher.

»Anna-Lena, angenehm, und Ihr Nachname?«

»Mit Vornamen heiße ich Anna, und Lehner, nicht Lena, ist der Familienname«, antwortete sie und zog ihren Nachnamen in die Länge. »Es ist jedes Mal das Gleiche«, dachte sie und verfluchte ihre Eltern für ihren Vornamen.

»Ach so, bitte entschuldigen Sie, Frau Lehner.« Er betonte ihren Familiennamen extra, um Höflichkeit und Respekt zu zeigen, obwohl seine Worte leicht gekühlt klangen. Es war, als wollte er sicherstellen, dass seine Entschuldigung ernst genommen wurde und kein Raum für Missverständnisse blieb.

»Anna, nur Anna.«

»Da komm ich nicht mit. Kennt ihr Norddeutschen keinen respektvollen Umgang mit Fremden?«, wollte Waldemar irritiert wissen.

»Vergiss es«, meinte Anna und widmete sich kopfschüttelnd wieder ihrem Handy.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, eine Letzte?«, versuchte Waldemar das Gespräch fortzuführen.

»Wenn es unbedingt sein muss«, antwortete Anna patzig.

»Wieso genießen Sie nicht die Aussicht und tippen stattdessen auf Ihrem Smartphone herum?«

»Ich arbeite, und was gibt es hier schon zu sehen?« Sie blickte nach rechts und nach links. Waldemar folgte ihrem Blick. »Sehen Sie, dort ist Schilf und ein Deich, auf der anderen Seite auch. Was ist daran so spannend?«

»Okay, verstehe. Was arbeiten Sie?«, setzte Waldemar nach.

»Ich bin bei der Zeitung und schreibe einen Artikel über diese langweilige Fahrt«, bekam er zur Antwort.

»Langweilig, okay. Und Ihre Überschrift lautet dann ‚Ostekreuzfahrt in den Tod‘, oder so ähnlich.« Waldemar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Oder so«, antwortete Anna knapp. Und dann kam ihr die Idee, ihrem nervigen Tischnachbarn ein paar Fragen zu stellen, die ihren Artikel bereichern könnten. »Sagen Sie, Waldemar, äh, Herr Herzog, darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, für meinen Artikel?« Plötzlich war Anna wie ausgewechselt. Von einer in sich gekehrten Frau wurde wie aus dem Nichts eine offenherzige und wissbegierige Journalistin.

»Warum nicht, Frau Lehner.« Er betonte ihren Familiennamen ein weiteres Mal und gab ihr damit unmissverständlich zu verstehen, dass er diese distanzierten Höflichkeitsfloskeln bevorzugte und nicht gewillt war, diese abzulegen.

›Caroline‹, die alte Mühle in Hechthausen kam in Sicht, von der Kapitän Sören nur wenig zu berichten wusste. Das Fahrgastschiff hupte zweimal kurz hintereinander und leitete das Wendemanöver ein. Der Kapitän gab mehr Gas, denn die weit über hundert Jahre alte ›Latona‹ musste nun gegen die Strömung anlaufen. Dicke schwarze Rauchschwaden zogen über das Achterdeck hinweg.

»Alles andere als umweltfreundlich«, merkte Waldemar an.

»Das ist historisch, das muss so sein«, erwiderte Anna.

»Auch alter Kram kann mit moderner Technik ausgestattet werden«, fauchte er zurück.

»Wenn Sie meinen«, sagte Anna und wollte eine klimapolitische Diskussion mit diesem Typen um jeden Preis vermeiden. Sie konnte die Geschichte mit dem Klimawandel, auf dem einfach alles geschoben wurde, nicht mehr hören. Sie hatte ihre eigene Meinung, und die konnte sie mit handfesten Fakten belegen. Doch niemand wollte das wissen oder hören. Es war so einfach, alles darauf abzuwälzen, nur um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Politik praktizierte es vorbildlich und fand genügend Nachahmer.

»Warum machen Sie ausgerechnet in dieser Region Urlaub?«, versuchte Anna das Thema zu wechseln.

Doch Waldemar schien nun andere Pläne zu haben und reagierte zunächst nicht auf ihre Frage.

»Warum gerade in so einem Kaff wie Osten?«, setzte Anna nach. Sie wollte ihn aus der Reserve locken, und ihr war bewusst, dass Osten alles andere als ein Kaff in der Norddeutschen Tiefebene war. Es war eine subtile Spitze, die sie warf, ein kleiner Stich in seinen Stolz, den sie bewusst setzte.

In Gedanken versunken ging Anna zurück in die Zeit, als Osten noch das Herzstück der gesamten Region war, als hier Handel und Wirtschaft blühten. Es war eine Ära des Reichtums und des Wohlstands, in der die Straßen von geschäftigen Händlern und emsigen Arbeitern belebt waren. Doch diese Zeiten schienen nun längst vergangen, und Anna konnte nicht anders, als sich nach der einstigen Pracht zu sehnen. In welchem Ort mit um die 600 Einwohnern gab es sonst über 20 gastronomische Betriebe? Ihr wurde erzählt, dass es im damaligen Kirchdorf Osten fast nur Kaufleute und Handwerker gab. Und dieser Ort war in der Lage, eine Schwebefähre zu bauen, damit auch im Winter der Handel nicht zum Erliegen kam und die Eisenbahn auf der anderen Seite des Flusses für die Ostener erreichbar blieb. Von diesem Wagemut erzählt man sich noch heute.

Es war schon lange her, als Anna von ihrer Redaktion in das Dorf geschickt worden war, um über die Kirche zu schreiben. Ein prachtvoller Sakralbau, der einmalig in dieser Gegend war. Überall traf sie auf Relikte der Blütezeit dieses Dorfes. Die alten Villen, das ›Café Central‹ und überhaupt der gesamte historische Ortskern waren stumme Zeugen dieser Zeit. In den Gassen des Schwebefährendorfes fühlte man sich in jene Zeit zurückversetzt. Pferdehufe hallten zwischen den Häusern wider, und die lauten Glockenschläge von Sankt Petri läuteten den Feierabend ein, bevor der Nachtwächter mit seiner Runde begann.

Die Gasthäuser füllten sich, und selbst dort wurde lebhaft Handel getrieben. Lautstark quälte sich das Stahlmonster über den Fluss. Der Fährmann lehnte sich gelangweilt über die Reling und sehnte seinen Dienstschluss herbei. Unüberhörbares Gelächter und das Stimmengewirr, das aus dem ›Alten Fährhaus‹ zu ihm drang, machten ihn neidisch. Gerne hätte er der illustren Gesellschaft beigewohnt und seine Erlebnisse zum Besten gegeben. Das tat er am liebsten. Doch nun hatte er die Nachtschicht und musste hier bis zum Morgen ausharren und auf Fahrgäste warten. Es war die undankbarste Schicht auf der Schwebefähre. Um diese Jahreszeit ging es noch, aber im Winter war es die Hölle. Der eisige Wind pfiff dann um die Ecken, gewann über dem Wasser an Stärke, und die Kälte kroch durch jede noch so dicke Jacke. An solchen Tagen schätzte er die Fährbude, ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ein windschiefes Häuschen, dessen morsches Holz von der salzigen Luft der Oste zerfressen war. Im Inneren knisterte ein Holzofen und spendete wohlige Wärme, ein unschätzbarer Wert in der kalten Jahreszeit. Der Raum war klein und dunkel, nur ein paar vergilbte Fotos und ein Pin-up-Kalender aus dem vergangenen Jahr zierten die Wände. In der Ecke stand ein altes, abgenutztes Ledersofa, das einladend wirkte.

Der Fährmann, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und stechenden Augen, saß am Ofen und schlürfte seinen Tee. Er war ein schweigsamer Mann, der nur selten viele Worte machte. Doch seine Augen verrieten, dass er viel erlebt hatte. In der kalten Jahreszeit war die Fährbude sein einziger Zufluchtsort vor den eisigen Klauen des Winters. Hier fand er Ruhe, Wärme und gelegentlich auch Gesellschaft.

Junge Pärchen, die ungestört sein wollten, nutzten gerne die Abgeschiedenheit der Fährbude. Der Fährmann hatte nicht nur Verständnis dafür, sondern auch ein gutes Herz. Er sah es nicht so eng, wenn sie sich im hinteren Teil der Bude vergnügten. In seinen Augen war es ein harmloses Ereignis, das den jungen Leuten ein bisschen Wärme und Zweisamkeit schenkte.

Die Stunden verstrichen nur langsam, während er sehnsüchtig auf das Ende seiner Schicht wartete und sich nach seinem warmen Bett sehnte.

Anna liebte diese alten Geschichten und konnte sich sehr gut in diese Zeit zurückversetzen. Jede dieser Geschichten lief wie ein Film in ihrem Kopf ab. Oft war es so real, als wäre sie tatsächlich dabei gewesen, so auch die Geschichte mit dem alten Fährmann, der sie als einzigen Fahrgast übersetzte.

Er kam mit ihr ins Plaudern und erzählte von sich und seinem früheren Beruf als Seemann. Und dann, irgendwann im Gespräch, meinte er zu ihr: »Dich hab ich schon mal gesehen.«

»Das kann nicht sein, ich bin nicht von hier«, hatte Anna geantwortet.

Und dann erzählte der Fährmann von der Oste, von dem Fischbestand und der Hexenbucht. In diesem Moment hatte sie zum ersten Mal diese innere Unruhe in sich gespürt, und der Name ›Hexenbucht‹ hallte in ihrem Kopf nach.

»Hier gibt es die einzige Ferienwohnung, die genug Platz für mich, die drei Kinder und den Hund bietet – etwas, das nur sehr selten zu finden ist«, antwortete Waldemar schließlich und riss Anna aus ihren Gedanken.

»Ist das so?«, vergewisserte sie sich.

»Ja, wir wollen einfach nur unsere Ruhe und uns erholen«, meinte er.

»Erholen, mit drei Kindern und einem Hund? Geht das?« Anna konnte sich das nur schwer vorstellen. Drei Kinder und ein Hund – sie war schon oft genug mit dem kleinen Yorkshire-Terrier ihrer Nachbarin, den sie gelegentlich ausführte, überfordert, wenn er um ihre Aufmerksamkeit bettelte.

Und wie sollte das erst mit Kindern sein? Wie sollte sie das mit ihrem Beruf als Journalistin in Einklang bringen? Sie war schließlich immer auf dem Sprung. Sie hatte nicht einmal Zeit für eine feste Partnerschaft. Die Vorstellung von schlaflosen Nächten, endlosen Verpflichtungen und nie endenden Terminen ließ sie erschaudern. In Gedanken malte sie sich das Szenario aus, wenn sie an einem Elternabend teilnehmen müsste.

Die Luft im Klassenzimmer war stickig und warm. Der Geruch von Kreide und Desinfektionsmittel hing schwer in der Luft. An den Wänden prangten bunte Plakate mit kindlichen Zeichnungen. In den engen Reihen der viel zu kleinen Stühle saßen die Eltern, angespannt und aufgeregt.

Anna saß in der hintersten Reihe und versuchte, so unsichtbar wie möglich zu sein. Sie hasste Elternabende. Diese Ansammlung von Helikoptereltern, die mit Argusaugen über ihre Kinder wachten und jeden Schritt von ihnen kontrollierten, jagte ihr Angst ein. Sie sah die Szene vor sich, wie sie in einem endlosen Strudel aus Diskussionen und Gezänk versank, ohnmächtig und ausgeliefert.