Die ehrenhafte Mrs Hale - Carolyn Miller - E-Book
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Die ehrenhafte Mrs Hale E-Book

Carolyn Miller

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Beschreibung

Anfang 19. Jahrhundert in Gretna Green, Südschottland. Julia und Thomas sind bis über beide Ohren verliebt, reißen Hals über Kopf aus und heiraten heimlich gegen den Willen ihrer Familien. Nur kurze Zeit später ist Julia allein - und hat keine Ahnung, wo ihr frischangetrauter Ehemann inzwischen steckt und ob er jemals zu ihr zurückkommen wird. Als alles Ersparte aufgebraucht ist, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss zu ihrer Familie nach London zurückkehren und hoffen, dass sie ihr vergeben werden. Besonders jetzt, da sie ein Baby hat. In welche dunklen Machenschaften ist Thomas verstrickt? Wird er den Weg zu ihr zurückfinden - und werden sie sich wieder lieben und vergeben können?

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Seitenzahl: 504

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CAROLYN MILLER

Die ehrenhafte Mrs Hale

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Naumann

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,

die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,

die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,

Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7633-0 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6209-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2024

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de | E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Making of Mrs Hale

© 2018 by Carolyn Miller.

Originally published in the USA by Kregel Publications, Grand Rapids, Michigan.

Translated and printed by permission. All rights reserved.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Übersetzung: Susanne Naumann

Lektorat: Katharina Töws

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Holzgerlingen

Titelbild: © Kregel, Inc.

Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für Michael und MariaGeliebt von Gott

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Stammbaum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort der Autorin

Dank

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CAROLYN MILLER lebt in New South Wales in Australien. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und liebt es, zu lesen und Bücher zu schreiben. Ihre Romane handeln von Vergebung, Liebe und anderen Herausforderungen. Millers Lieblingsautorin ist natürlich Jane Austen.

www.carolynmillerauthor.com

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

»Ich will fest auf Gott vertrauen,denn er ist meine Hoffnung.«(Psalm 62,6)

Anfang 19. Jahrhundert in Gretna Green, Südschottland. Julia und Thomas sind bis über beide Ohren verliebt, reißen Hals über Kopf aus und heiraten heimlich gegen den Willen ihrer Familien. Nur kurze Zeit später ist Julia allein – und hat keine Ahnung, wo ihr frischangetrauter Ehemann inzwischen steckt und ob er jemals zu ihr zurückkommen wird. Als alles Ersparte aufgebraucht ist, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss zu ihrer Familie nach London zurückkehren und hoffen, dass sie ihr vergeben werden. Besonders jetzt, da sie ein Baby hat. In welche dunklen Machenschaften ist Thomas verstrickt? Wird er den Weg zu ihr zurückfinden – und werden sie sich wieder lieben und vergeben können?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Stammbaum

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Cavendish Square, LondonOktober 1818

Julia Hale hob müde die Hand und klopfte an die gelb gestrichene Tür. Bitte lass ihn da sein, bitte! Wen sie da anflehte, wusste sie selbst nicht genau. Die letzte Person, die ihr Beachtung geschenkt hatte, forderte bezahlt zu werden, und als sie dem Mann nicht geben konnte, was er wollte, hatte er seine Bezahlung in einer anderen Währung verlangt. Und deshalb stand sie jetzt hier. Verzweifelt auf ein Wunder hoffend, um ein Wunder bittend.

Vergeblich.

Die Tür blieb verschlossen. Die Hoffnungslosigkeit nahm ihr fast den Atem und der letzte Rest Selbstkontrolle, der ihr noch geblieben war, drohte sich in Luft aufzulösen. Sie hätte wissen müssen, dass es zu viel verlangt war, einen Gott um Hilfe zu bitten, an den sie kaum glaubte. Doch sie war sicher, dass er sich auch dann von ihr abwenden würde, wenn ihr Glaube so groß wäre wie der von Jon. Es gelang ihr nur mühsam, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Vorsichtig zupfte sie an der Decke in dem Korb, der über ihrem Arm hing, und schaute auf das winzige Bündel darin. Sie musste etwas tun, sie musste einfach. Vielleicht erhörte Gott ja Unschuldige, auch wenn er sich von den Schuldigen abwandte. Dieses Haus war ihre letzte Hoffnung, alle anderen Versuche waren gescheitert. Wenn auch hier niemand öffnete, blieb ihr nur das Armenhaus, und sie hatte gehört, wie es dort zuging. Nie im Leben würde sie ein Kind an einen solchen Ort bringen.

Mit schmerzenden Armen, die sich schwerer als Blei anfühlten, klopfte sie ein zweites Mal. Bitte hört mich doch, bitte! Sie hatte doch letzte Nacht die Lichter gesehen. Es war jemand zu Hause, und wenn es nur die Dienstboten waren, die das Haus hüteten, während der Graf von Bevington sich auf seinem Anwesen in Derbyshire aufhielt. Warum kam denn niemand an die Tür?

Wieder wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt, der ihre Lunge und ihren Hals wie Feuer brennen ließ. Ihr wurde schwindelig, und Halt suchend legte sie eine Hand auf das eiserne Geländer. Sie hatte keinen Ort, an dem sie sich hätte ausruhen können, und selbst wenn sie eine Zuflucht wüsste, fehlte ihr doch das Geld für Medikamente. Als sie wieder sicherer stehen konnte, schaute sie in das schlafende Gesichtchen, das in die Decke eingehüllt war. Gott sei Dank hatte sie das Kind nicht angesteckt. Noch nicht.

Sie beugte sich erneut über das Bündel in dem Weidenkorb und steckte die Decke noch einmal fest, um das Kleine vor der feuchten Morgenluft zu schützen. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie dabei. Ihre Stimme war kratzig und rau. »Ich kann dir nicht mehr helfen.«

Das Baby reagierte nicht, sondern schlief weiter. Eine Reaktion, an die sie sich im Laufe der Tage, die sich ausweglos dahinschleppten, gewöhnt hatte. Wie lange war es her, dass sie einem Mitmenschen mehr als einen Seitenblick wert gewesen war? Drei Monate? Sechs Monate? Noch länger?

Sie beugte sich vor und küsste das flaumige Köpfchen, bevor sie ein letztes Mal an die Holztür klopfte. Noch immer keine Antwort.

Nach einem letzten verzweifelten Blick auf das Kind stellte sie den Korb ab und stolperte die Marmorstufen wieder hinunter, ohne das Geländer loszulassen, denn dann wäre sie gestürzt. Gott mochte ihr vergeben; sie hatte keine andere Wahl.

Die Schuld legte sich wie ein schweres Gewicht auf ihr Herz. Sie zog die dunkle Kapuze tiefer in die Stirn. Diese hatte sie über die schmutzigen, strähnigen Locken ihres blonden Haars gestreift, auf das sie einst so stolz gewesen war. Doch es bestand keine Gefahr, dass irgendjemand sie jetzt erkannte. Das Mädchen von damals hatte in einer anderen Welt gelebt, einer Welt, die ihr jetzt nur noch wie ein Märchen vorkam.

Sie stolperte über einen beschädigten Pflasterstein, schaute sich aber nicht um. Sie hatte wirklich gehofft, durch ihr heutiges Handeln ihr vergeudetes Leben irgendwie wiedergutzumachen, zumindest teilweise. Was nun vor ihr lag, konnte sie sich nicht einmal vorstellen. War sie jetzt eine Gefallene? Oder war sie das für die Welt bereits seit ihrer Flucht aus Bath viele Monate zuvor gewesen? Tränen trübten ihre Sicht. Dummes, schrecklich dummes Mädchen, das sie gewesen war …

Ein Straßenkehrer starrte sie an und verzog abschätzig seinen Mund. Sie machte ihm keinen Vorwurf daraus, schließlich sah sie genau so aus, wie sie sich fühlte: erbärmlich.

Irgendwie taumelte sie weiter. Gott helfe ihr – was sollte sie jetzt tun? Wohin sollte sie gehen? Wer konnte sie retten –

»Miss? Kann ich Ihnen helfen?«

Julia sah sich nach der jungen Stimme hinter ihr um. Blinzelte. Schüttelte den Kopf, als wollte sie den Nebel vor ihren Augen vertreiben. Die Lady – wenn sie denn eine war, so seltsam gekleidet, wie sie da vor ihr stand – schien eine Selbstsicherheit zu besitzen, wie Julia sie nie gehabt hatte – obwohl sie jünger wirkte als Julia.

»Standen Sie gerade vor Lord Carmichaels Haus?«

Die Lady kannte Lord Carmichael? War sie ein Dienstmädchen? Julia schluckte. »Ja.«

»Ich bin die Vicomtesse.«

Julia blinzelte wieder. Nein.

»Bitte – kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Julia leckte sich über die trockenen Lippen, dann krächzte sie: »Er ist verheiratet?«

»Ja«, antwortete die junge Dame strahlend.

Neid kam in Julia auf. Oh, wie gut sie sich an diese Zeiten erinnerte!

»Wir waren nicht da«, fuhr Lady Carmichael fort, »wir sind erst vor zwei Tagen zurückgekehrt.«

Julia nickte. Überrascht sah sie, dass die Vicomtesse näher trat und ihr die Hand hinstreckte, um sie zu stützen. Welch eine ungewöhnliche Braut hatte Henry Carmichael sich da ausgesucht!

Wohl wissend, dass sie genauestens in Augenschein genommen wurde, stotterte sie: »I-ich habe gestern Abend die Lichter g-gesehen und wusste, dass jemand da sein muss. In Berkeley Square oder Portman ist niemand. Ich weiß nicht … Mama … Jon.«

Wo waren die beiden nur? Mama verließ doch kaum einmal die Stadt und Jons Geschäftsinteressen erforderten ständig seinen Aufenthalt in London. Er hatte doch wohl nicht Ernst gemacht mit seiner Ankündigung, sich in diese trostlose Ecke von Gloucestershire zu vergraben?

Die Frau nahm behutsam ihren Arm und führte sie zurück nach Bevington House, fort von den dreisten Blicken des Straßenfegers. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Wohltäterin barfuß und ungekämmt war. Was für eine seltsame Frau! War sie wirklich Henrys Braut? Ach, wenn sie sich doch nur erinnern könnte …

»Sie haben Ihren Korb vergessen – oh, er ist leer.«

Julia schrie leise auf. »Nein! Oh nein!« Was jetzt? Sie hatte versagt. Wer konnte es gestohlen haben? Das tonnenschwere Schuldgefühl trübte ihre Sinne, sie trat einen Schritt zurück und blickte sich verzweifelt nach dem Täter um. Aber sie hatte doch gar niemanden gesehen! Wohin konnte er geflohen sein?

»Da bist du ja!«

Sie fuhr zu der jetzt geöffneten Tür herum und unterdrückte einen weiteren Schrei. Lord Henry Carmichael trug einen gesteppten Morgenmantel, hielt ein weißes Bündel auf dem Arm und sah die beiden Frauen vor seiner Haustür mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck an. Als er die Lady, die ebenso unzulänglich bekleidet war wie er, anlächelte, blitzten seine weißen Zähne auf. »Serena, kannst du mir sagen, warum ein Baby auf unserer Vordertreppe liegt?«

»Ein Baby?«

Serena? Eine Erinnerung an ein dunkel gekleidetes Schulmädchen, das sie mit kühlem Blick musterte, blitzte auf. Henry – ihr Henry – hatte dieses Mädchen geheiratet? Die Lady trat näher und musterte ihr Gesicht.

Julia schluckte. Ihr Herz klopfte heftig, als die Vicomtesse die Luft anhielt und plötzlich zu begreifen schien: »Julia?«

Spanien

Major Thomas Hale bewegte sich vorsichtig. Der Schmerz, der von den unzähligen Striemen auf seinem Rücken kam, ließ etwas nach, als der Druck sich löste. Er holte tief Luft und schlug die Augen auf. Doch der Albtraum blieb.

Eine dunkle, feuchte Zelle mit vergitterten Fenstern. Ein klatschendes Geräusch. Ein kreischendes Lachen. Gemurmel in einer fremden Sprache. Er sah zu seinen Zellengenossen hinüber. Dreckig und verwahrlost wie er selbst, wünschten auch sie sich zweifellos, sie wären nie in die bösartigen Fallstricke des Schicksals geraten, in diese aussichtslose Lage, in der sie sich nun schon seit – seit wie vielen Monaten eigentlich? – befanden. Er starrte auf die Wand und zählte die Striche, die für die Tage standen, als wüsste er ihre Zahl nicht ganz genau, als könnte er sich – durch ein Wunder – verzählt haben und als sei seine Lage nicht annähernd so verzweifelt, wie er sehr wohl wusste. Fünf Monate. Fünf Monate!

Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Brust. Jetzt war er schon fast ein halbes Jahr fort. Ein Auftrag, der ein Viertel dieser Zeit hätte in Anspruch nehmen sollen, war durch Lügen und Verrat vereitelt worden. Die Empörung schüttelte ihn förmlich. Wie konnte die Krone ihn im Stich lassen, ihn hier so einfach verrotten lassen? Er starrte zu dem jungen Desmond hinüber, dessen rechter Fuß sämtliche Symptome des Wundbrands zeigte. Die schwarze Verwesung kroch jeden Tag ein wenig weiter sein Bein hinauf. Wie viel Zeit hatte der Junge noch? Ein paar Wochen? Oder waren es eher Tage?

Ein grausiges Geräusch war zu hören; es erinnerte an das Trippeln von Ratten. Thomas schluckte die bittere Galle, die ihm in den Mund gestiegen war, hinunter. Murmelte einen Fluch. Wünschte sich einen Stiefel, den er nach der Ursache dieses Geräuschs hätte schleudern können. Stattdessen gab er sich mit einer Art Bellen zufrieden. Ähnlich hatte er die Männer angebellt, die ihm unterstellt gewesen waren – vor einer Ewigkeit, als sein Majorsrang noch etwas bedeutet hatte.

Die Kreatur hatte sich offenbar verzogen. Jetzt herrschte wieder Stille. Auch Desmonds halbverrücktes Stöhnen war verstummt. Benson redete ohnehin nicht mehr mit ihm. Smith und Harrow, die beiden Männer, mit denen er am meisten gesprochen hatte, waren in einen Zustand dumpfer Mutlosigkeit verfallen. Fairley hatten sie vor zwei Tagen geholt. Thomas schauderte. Er wagte nicht sich auszumalen, was seinen Kameraden erwartete.

Wie hatte der simple Wunsch nach Gold sie alle in solches Elend stürzen können? Sie hatten doch nichts Ungesetzliches getan! Die Krone selbst hatte ihr Tun gutgeheißen. Und es war auch nicht Gier gewesen, die sie dazu getrieben hatte. Er schluckte seine Reue hinunter; schließlich hatte zumindest er selbst keine andere Wahl gehabt. Seinen Lohn hatten sie fast aufgebraucht bei dem Versuch, sich so zu etablieren, dass Julia nichts von dem Luxus, an den sie gewöhnt war, entbehren musste. Er ballte die Fäuste. Wenn er das Ganze doch nur besser geplant hätte, wenn er doch gar nicht zugehört, nicht nachgegeben hätte –

»Señor.«

Thomas blinzelte, kehrte aus seinen Gedanken zurück und versuchte, in dem trüben Licht die Gestalt zu erkennen, die in der Tür stand.

Die Frau lächelte. »Biiitte, schick mis nist weg.« Sie beugte sich nach vorn. Ihre schmutzigen Kleider taugten kaum, ihre üppige Figur zu verhüllen. »Nur ein biiisschen reden, eh?«

Er schluckte. Magdalena war wahrscheinlich nur ein weiterer Versuch der Wachen, ihm und seinen Kameraden ein Geständnis zu entlocken – doch sie war mit Sicherheit der abstoßendste dieser Versuche.

»Letztes Mal warst du aber nist so kühl, Señor«, fuhr sie in ihrem singenden, schmeichelnden Tonfall provokant fort.

Schuldgefühle spießten ihn förmlich auf. Er schloss die Augen. Vergib mir, schrie er innerlich und wandte sich von der Versuchung ab. Gott vergebe ihm, aber er war tatsächlich so dumm gewesen zu denken, er könnte etwas von ihr erfahren, vielleicht sogar eine Möglichkeit zu fliehen.

Und er hatte ja auch tatsächlich etwas erfahren. Er hatte erfahren, dass eine spanische Hure von zweifelhafter Attraktivität ihn in einen der tiefsten Abgründe hatte stürzen können, die er jemals erlebt hatte.

Er dachte an seine Frau. Oh Gott, seine Frau. Als seine Peinigerin den Raum mit einem anzüglichen Kommentar und einem obszönen Lachen wieder verließ, überschlugen sich seine Gedanken. Was machte sie jetzt ohne ihn? Wie hatte sie die lange Zeit ganz allein überstanden? Hatte sie ihn aufgegeben? Wahrscheinlich. Er war so unsagbar erbärmlich. Aber Julias Lage war nicht völlig verzweifelt, es gab Auswege. Sie konnte jederzeit nach Hause zurückkehren, wohingegen er sein Leben verwetten würde, dass ihre Leute ihn niemals mehr empfangen würden, sollte er je ins Land der Lebenden zurückkehren. Doch was auch geschah, er hoffte, dass seine Julia, sein Liebling, ihn nicht ganz vergessen würde.

»H-Hale?«

Der wimmernde Laut lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Gestalt, die in seiner Nähe auf dem Bauch lag. »Desmond?«

Der Junge keuchte, dann schrie er mehrmals durchdringend auf. »Nehmen Sie es weg! Nehmen Sie es weg! Es frisst mich auf!«

Thomas erhob sich schwankend und ging zu dem Jungen. Und wirklich – eine große Ratte knabberte an seinem Fuß. Er packte das pelzige Ding und schleuderte es gegen die Wand, wo es mit einem ekelerregenden Geräusch zerplatzte.

Der Junge sah ihn zähneklappernd an. »Ich k-kann das nicht mehr. Bitte, bitte, machen Sie, dass es aufhört.« Sein Herz zerriss beim hoffnungslosen Blick, den er in den Augen des Jungen sah. »Ich wünschte, ich könnte. Aber wir haben ihnen alles erzählt, was wir wissen.«

Ein Beben erfasste den Körper des Jungen. »Sie werden uns niemals glauben.« Er stöhnte, doch gleich darauf schwoll der leise Ton zu einem ohrenbetäubenden Schrei an.

»Desmond, beruhige dich.« Wenn der Junge nicht verletzt wäre, hätte er ihn geschlagen.

»Ich will sterben! Ich will sterben! Ich will …«

»Ihr da!« Eine Stimme mit starkem Akzent schrie: »Ruhe!«

»Ich will sterben! Ich will sterben! Ich will sterben!«

Thomas schüttelte den anderen heftig. »Desmond, du musst still sein, sonst werden sie …«

Ein schwerer Stiefel schlug ihm die Füße unter dem Leib weg, er krachte auf den Boden und knallte mit dem Kiefer auf den schmierigen Stein. Bei dem Versuch aufzustehen traf ihn ein Gewehrkolben an der Stirn und schickte ihn erneut zu Boden.

Sie packten Desmond und schleiften ihn zur Tür. Thomas schrie panisch auf: »Lasst ihn in Ruhe! Er ist doch noch ein Junge! Er weiß nichts …«

Diesmal knallte ihm der Gewehrkolben ins Gesicht. »Halt den Mund!«

Er rappelte sich auf die Knie und flehte sie auf Englisch, Spanisch und Französisch an, doch Desmond – dessen hohe, schrille Schreie nicht verstummten – wurde fortgeschleift.

Mit brummendem Schädel kämpfte Thomas sich hoch und schmeckte Blut auf der Zunge. Dann stellte er sich an die Gitterstäbe und flehte weiter um Gnade, doch Desmond brüllte so laut, dass er seine eigene Stimme kaum hören konnte.

Plötzlich erklang ein Schuss.

Desmonds Schreie verstummten.

Lähmende Verzweiflung brach über ihm zusammen und ließ ihn auf die Knie sinken.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

Mit schwerem Atem stolperte Julia unsicher durch die Dunkelheit. Der Mann, an dem sie vorüberging, grinste sie lüstern an und zeigte dabei seine Zähne auf eine Art, die ihre Angst ins Unermessliche steigen ließ. Wie hatte sie nur denken können, ihr Plan sei eine gute Idee? Den Blick fest auf den Boden geheftet, ging sie an ihm vorbei zur Treppe. Die Frau hatte gesagt, ihr Zimmer liege oben. Schritt um knarrenden Schritt stieg sie hinauf. Der Flur oben war dämmerig, und im flackernden Licht der Kerze in ihrer Hand blickte sie zu der mit Spinnweben überzogenen Decke hoch. Sie fühlte sich wie in einer Szene aus dem Roman Das Schloss von Otranto. Ihr Herz hämmerte, als sie das kostbare Bündel fester an ihre Brust drückte. Ein Wimmern drang heraus, und sie zwang sich zu einem lauten »Schschsch«! Das Geräusch klang in der unnatürlichen Stille wie eine Explosion. Sie zählte die Türen: eins, zwei, drei, bis sie vor ihrem Zimmer stand. Vorsichtig legte sie sich das Bündel zwischen Kinn und Schulter, nahm die Kerze in die linke Hand, griff nach dem Türknauf, öffnete die Tür und trat ins Zimmer.

»Was woll’n Se hier?«, knurrte eine Stimme. Eine Gestalt setzte sich im Bett auf.

Sie hatte das falsche Zimmer erwischt!

Hastig murmelte sie eine Entschuldigung, zog sich zurück und drehte sich zu dem richtigen vierten Zimmer auf der rechten Seite um. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Hoffentlich hielt der Mann sie nicht für ein leichtes Mädchen und folgte ihr! Leider konnte sie ihre Tür nicht abschließen.

Vorsichtig legte sie ihre Last auf das durchgelegene Bett und schob einen wackligen Stuhl, das einzige andere Möbelstück im Raum, vor die Tür. Dort stand noch der kleine Koffer mit ihren wenigen Besitztümern; sie stellte ihn auf den Stuhl. So würde sie einen Eindringling wenigstens hören, auch wenn der wacklige Stuhl ihn nicht lange in Schach halten konnte.

Leise seufzte sie vor Erschöpfung und setzte sich neben das Kind. Ihre Schultern sackten nach vorn. Sie brauchte so dringend ein wenig Ruhe! Sie hätte eine ganze Woche schlafen mögen, doch ihr Verantwortungsbewusstsein ließ es nicht zu. Rasch zog sie den Kleinen aus. Bestimmt hatte er sich beschmutzt und würde bald aufwachen, wenn er nicht gesäubert und frisch gewickelt wurde. Außerdem durfte sie nicht zulassen, dass der Ausschlag auf dem kleinen Körper noch schlimmer wurde. Sie rappelte sich wieder hoch und untersuchte misstrauisch den Wasserkrug. Das Wasser war bestimmt nicht frisch, doch es musste genügen. Sie schleppte sich ein weiteres Mal zu ihrem Koffer und nahm das letzte Stück Leinen heraus. Tränen traten ihr in die Augen, als sie sich zum hundertsten Mal wünschte, dass sie mehr mitgenommen hätte. Der Wechsel der vollen Windel weckte das Baby auf, es fing an, leise zu weinen. Armes Ding! Sie drückte ihn an ihre Brust, das hungrige Greinen zerrte an ihren Nerven.

»Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen kann«, flüsterte sie. Sie konnte ihm nicht geben, was er brauchte.

Als sie das Gefühl hatte, dass ihre Arme jeden Moment brechen würden, ging das Weinen des Kindes in ein erschöpftes Wimmern über, dann verstummte es. Vorsichtig zog sie dem Baby eine frische Windel an und legte es wieder aufs Bett.

Sie wollte nur noch schlafen, doch der Ausschlag würde nie abheilen, wenn sie die schmutzige Windel nicht gleich auswusch. Sie betrachtete den verschlissenen Lumpen neben der Emailleschüssel, der anscheinend nach dem Putzen hier liegen gelassen worden war, und wusch sich rasch das Gesicht. Als sie den Schmutz der letzten zwei Tage von ihrem Gesicht gewaschen hatte, fühlte sie sich geradezu erfrischt – jedenfalls für den Moment. Kein Wunder, dass die Leute unten sie so misstrauisch gemustert hatten.

Sie wusch die schmutzige Windel, so gut es ging, und legte sie vor den Kamin. Dann schürte sie das bisschen Glut so weit, dass die Windel trocknen und das Zimmer ein wenig wärmer werden konnte. Im Moment bildete ihre Atemluft noch kleine weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Von unten hörte sie einen Schrei, gefolgt von heiserem Lachen. Ein unheimliches Pfeifen drang durch die Fensterrahmen, was sich anhörte wie ein geisterhaftes Stöhnen. War sie hier sicher? Sie schüttelte den Kopf, wie um ihre lächerlichen Gedanken loszuwerden. Dann schlüpfte sie zwischen die hauchdünnen Laken und zog sie hoch bis an ihr Kinn, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass das Baby nicht ganz zugedeckt war. Sie blies die Kerze aus und schloss die Augen.

Die Dunkelheit zog sich um sie zusammen, legte sich wie eine schwere Decke über sie, drang in sie ein, lockte sie in den Schlaf …

Ein Geräusch wie von winzigen, trippelnden Füßen war zu hören. Sie schauderte. Gott, lass es bitte keine Mäuse sein. Dann ein Stolpern, schwere Schritte auf dem Flur. Ihr Herz hämmerte. Sie hörte ein betrunkenes Murmeln, wie sie es schon so oft gehört hatte – etwas, das, wie sie wusste, zu bösen Dingen führte, Dingen, mit denen ein wohlerzogenes junges Mädchen niemals in Berührung kommen durfte. Sie schloss wieder die Augen und betete, dass der Betrunkene an ihrem Zimmer vorbeigehen würde. Gott, beschütze mich …

Ein schwaches Geräusch drang in ihr Bewusstsein. Das Geräusch von Vorhängen, die aufgezogen wurden. Licht fiel ins Zimmer. Jemand ging herum …

»Wer ist da?« Julia setzte sich auf und blinzelte. Oh!«

Ein Dienstmädchen in einem dunkelblauen Kleid mit weißer Schürze und Haube knickste. »Verzeihung, Miss. Lady Carmichael schickt mich, ich soll nachschauen, wie es Ihnen geht.«

Lady Carmichael? Julia legte eine Hand an ihren Kopf. Wer …? Wo …? Hatte sie geträumt? Oder träumte sie jetzt?

»Sie sind sehr in Sorge Ihretwegen, weil Sie so lange geschlafen haben.«

»Wie lange …?«, fragte sie heiser.

Das Mädchen reichte ihr ein Glas Wasser. »Schon fast zwei Tage, Miss.«

»Zwei Tage?«

Das Mädchen nickte. »Ihre Ladyschaft hat sich wirklich Sorgen gemacht.«

Julia trank das Wasser und genoss, wie die süße Frische ihre Kehle herunterrann. Oh, sie könnte eimerweise Wasser trinken, ihr Durst schien unstillbar.

Das Mädchen stellte das leere Glas auf den kleinen Tisch neben dem Bett, dann deutete sie auf die Tür. »Soll ich etwas zu essen heraufschicken lassen?«

»Ich bin nicht …« Ihr Magen knurrte und strafte ihre Worte Lügen. »Ja, bitte.«

»Gern, Miss.« Das Mädchen knickste und verschwand, sie war fort, bevor Julia die falsche Anrede korrigieren konnte.

Sie setzte sich auf und sah sich im Zimmer um. Es war ein Schlafzimmer mit zartgrünen und cremefarbenen Wänden. Seidene Vorhänge rahmten ein Fenster, das, wie sie vermutete, auf die Stallungen hinausging. Ihre Farbe passte genau zum Besatz des Betthimmels und der Bettdecke. Sie strich über den Spitzeneinsatz des Kopfkissenbezugs. Es war an nichts gespart worden, um dieses Zimmer so schön und komfortabel wie möglich zu gestalten. Sie hob die Bettdecke hoch und spähte darunter. Das zerrissene, schmutzige Kleid, in dem sie viel zu viele Tage und Nächte verbracht hatte, war fort. Sie erinnerte sich verschwommen an ein heißes Bad und eine Mahlzeit. Aber warum konnte sie sich nicht an diese Lady Carmichael erinnern? Da war etwas, doch es ließ sich nicht fassen und wurde auch sogleich wieder unter einer nebligen Welle von Müdigkeit begraben. Sie gähnte laut.

Mitten in ihrem Gähnen öffnete sich die Tür. Das Mädchen kam herein, gefolgt von …

»Du bist es wahrhaftig!«

»Liebe Julia. Endlich bist du zurück im Land der Lebenden.« Die elegant gekleidete blonde Frau lächelte. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du dich noch an mich erinnerst. Wir sind uns meines Wissens nur wenige Male begegnet.«

»Ich … n-natürlich«, stotterte Julia. Auch wenn die kühle junge Dame in ihrer Erinnerung nur wenig mit der eleganten Lady zu tun hatte, die jetzt vor ihr stand.

»Es ist bereits über achtzehn Monate her, ich mache dir also keine Vorwürfe, wenn du es vergessen hast. Außerdem war ich damals noch ein Schulmädchen, und nichts lag mir ferner als der Gedanke, dass ich jemals mit Lord Carmichael verheiratet sein könnte.« Sie ließ sich auf einen mit Samt bezogenen Stuhl sinken. »Ich freue mich so, dass du wach bist. Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen, weil du so lange geschlafen hast.«

Die Tür ging erneut auf. Ein anderes Mädchen kam herein und trug ein Tablett, das sie vorsichtig vor Julia aufs Bett stellte. Getoastetes Brot, Erdbeermarmelade, Butter, Eier und – das Beste – eine Kanne mit dampfend heißem Tee. Das Mädchen schenkte ihr Tee ein und zog sich in eine Ecke zurück. Julia betrachtete das Essen; ihr lief das Wasser im Mund zusammen, ihr Magen hörte gar nicht mehr auf zu knurren. Doch jetzt fielen ihr die guten Manieren wieder ein, mit denen sie aufgewachsen war, und die sie daran hinderten, einfach mit dem Essen anzufangen.

Lady Carmichael deutete auf den Teller. »Bitte, tu dir meinetwegen keinen Zwang an! Du musst jetzt unbedingt etwas essen.«

Julia sah sie an, und auf ein aufforderndes Nicken hin fing sie an zu essen. Doch schon nach wenigen Minuten bekam sie Magenkrämpfe. Es tat so weh, dass sie Mühe hatte, ein Stöhnen zu unterdrücken. Es war lange her, dass sie etwas Richtiges gegessen hatte, kein Wunder, dass ihr Körper protestierte.

»Anna bleibt hier, sie hilft dir, etwas zum Anziehen herauszusuchen.« Lady Carmichael deutete auf das Mädchen, das wieder knickste. »Leider mussten wir dein Kleid verbrennen, und deine genauen Maße kennen wir noch nicht. Aber keine Angst, wir werden eine Schneiderin bestellen, und dann bekommst du passende Kleider. Bis dahin habe ich dir ein paar von meinen Sachen herausgesucht. Ich fürchte allerdings, dass sie dir ein wenig zu groß sind.«

Julia zwang sich, noch einen Bissen Ei herunterzuschlucken. »Danke, Lady Carmichael.«

»Ach, das ist doch selbstverständlich. Und bitte – sag Serena zu mir. Du hast hoffentlich nichts dagegen, dass ich dich Julia nenne. Schließlich sind wir durch Heirat miteinander verwandt.« Serenas Schwester hatte Julias Halbbruder Jon geheiratet. Auf ihr Nicken hin fuhr ihre Gastgeberin fort: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert wir sind, dass du wach bist. Obwohl ich eigentlich nicht überrascht sein sollte; der Arzt hat uns gesagt, dass es höchstwahrscheinlich nur Erschöpfung ist.«

Ein Arzt war bei ihr gewesen? Julia schauderte. Was war sonst noch passiert, während sie ohne Bewusstsein gewesen war und ein zweites Mal die Albträume ihrer Reise durchlebt hatte? Sie schlug die Augen nieder und konzentrierte sich darauf, ihren Toast vorsichtig in Dreiecke zu schneiden.

»Du bist sicher erleichtert zu hören, dass der Arzt dein Baby für völlig gesund erklärt hat.«

Ein Stückchen Toast blieb ihr in der Kehle stecken. »Er ist nicht …«

»So ein hübscher junger Mann«, murmelte Anna, die vorgetreten war, um Julia noch ein Glas Wasser einzuschenken. Sie nahm es dankend entgegen.

»Ja, das ist er, und sehr wohlerzogen. Anscheinend vermisst er seine Mutter nicht allzu sehr«, sagte Serena. Ihr Lächeln war fast wehmütig. »Er ist ein süßer Junge. Offenbar hat er die Dienstboten in den letzten beiden Tagen ziemlich auf Trab gehalten.«

»Er ist so süß mit seinem schönen roten Haar«, warf das Mädchen ein.

»Ja.«

Ihre Gastgeberin sah Julia prüfend an. »Das muss eine ziemliche Überraschung gewesen sein.«

Zwei Augenpaare sahen sie erwartungsvoll an. Was konnte sie anderes sagen als die Wahrheit? Oder wenigstens keine Lüge? »Es war tatsächlich eine Überraschung«, gab sie zu.

Serena nickte, dann stand sie auf. »Jetzt lasse ich dich erst einmal in Ruhe essen. Wenn du Fragen hast, wende dich an Anna.« Sie lächelte Julia liebevoll an. »Wir freuen uns so sehr, dass du da bist.«

»H-hast du schon mit Jonathan gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er und Catherine sind momentan in Paris.«

Deshalb war das Londoner Stadthaus also leer gewesen.

»Wusstest du, dass sie geheiratet haben?«

»Ja.« Es hatte in den Zeitungen gestanden, obwohl sie Hunderte von Meilen entfernt waren.

»Henry hat ihm geschrieben. Er müsste den Brief nächste Woche bekommen.«

Julia nickte. »Und Mama?«

»Lady Harkness hat die beiden begleitet. Sie wollte sehen, was es in der Mode Neues gibt. Wir haben sie allerdings im Verdacht, dass sie nur ein Auge auf die kleine Elizabeth haben wollte.« Etwas wie Neid flackerte in ihrem Gesicht auf, dann war ihr Ausdruck wieder beherrscht wie immer. »Ihr Enkelkind.«

Sie blinzelte. »Jon ist Vater geworden?«

»Und Catherine ist Mutter.« Wieder das Aufflackern in den blauen Augen. »Aber jetzt muss ich dich verlassen. Bitte entschuldige mich.« Diesmal wirkte Serenas Lächeln etwas gezwungen. Sie verließ das Zimmer.

Julias Gedanken überschlugen sich. Sie war Tante? Was war sonst noch während ihrer Abwesenheit passiert?

»Schauen Sie, Miss.« Anna hatte zwei Kleider herausgenommen, eins in Blassrosa und ein hellblaues. »Welches gefällt Ihnen besser?«

»Ich …« Es war so lange her, dass sie so hübsche Kleider getragen oder auch nur die Wahl zwischen zwei Kleidern gehabt hatte. Die Entscheidung überforderte sie. »Ich weiß nicht. Was würdest du mir empfehlen?«

»Nun ja, das rosafarbene ist sehr hübsch und auch warm. Es ist ein bisschen kalt draußen, wissen Sie. Aber das blaue würde Ihre Augen so gut zur Geltung bringen, deshalb … würde ich sagen, das blaue.«

Julia nickte.

»Ich glaube, Sie werden sehr schön darin aussehen, Miss. Außerdem kann ich mir ohnehin nicht vorstellen, dass Sie heute ausgehen möchten, wo es doch so kalt und windig ist und Sie – wenn ich das sagen darf – einen sehr hässlichen Husten haben.«

Julia sah zum Fenster hinüber. Der Anblick ließ sie zusammenschaudern, als müsste sie wieder hinaus und sich den kalten und windigen Elementen stellen. Gott sei Dank hatte ihr hier jemand geöffnet. Sie wusste nicht, ob sie sonst überlebt hätte. Und der arme, süße Charles …

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Wo ist Charlie?«

Die Augen des Mädchens leuchteten auf. »Oh, ist das der Name Ihres Sohns? Keine Sorge, Miss, die Haushälterin passt gut auf ihn auf.«

»Ich … ich möchte ihn sehen, wenn ich darf.«

Sie wand sich innerlich. Was tat sie da – ein Dienstmädchen um Erlaubnis bitten? Was war nur aus dem Mädchen geworden, das sie einst gewesen war? Wie tief war sie gefallen?

Das Mädchen lächelte. »Natürlich dürfen Sie, Miss. Sobald Sie angekleidet sind. Sind Sie fertig mit dem Essen?«

Julia schob die Reste ihres Frühstücks fort. Dabei sah sie peinlich berührt, dass sie das Eigelb auf dem Teller mit dem Brot aufgewischt hatte. War sie so hungrig gewesen?

Das Mädchen nahm das Tablett, knickste und ging. Endlich hatte Julia einen Moment Ruhe. Sie sank in das Federkissen, streckte sich sehr undamenhaft aus und genoss ihre luxuriöse Umgebung und den Gedanken, umsorgt zu werden. Wie lange war es her, dass sie so verhätschelt worden war, dass jemand ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte? Wie lange hatte sie kämpfen und um sich schlagen müssen, um sich zu schützen? Sie konnte sich nicht erinnern.

Die Tür ging auf, das Mädchen kam zurück. Die nächste halbe Stunde verging wie in einem wunderbaren Traum. Sie bekam heißes – heißes! – Wasser zum Baden, die zarteste Unterwäsche – »Lady Carmichael entschuldigt sich, falls die Größe nicht ganz richtig ist« – und das schöne Kleid, das man ihr vorhin gezeigt hatte.

»So, Miss, jetzt ziehen wir Sie an. Ja, stecken Sie Ihre Arme hindurch. Das ist wirklich eine hübsche Farbe für Sie. Ich werde Ihnen die Knöpfe schließen, wenn Sie möchten. Soll ich Sie auch frisieren? Ja? Wunderbar. Setzen Sie sich einfach hierhin, ich mache das schon.«

Doch auch wenn all das sie daran erinnerte, wer sie einst gewesen war, hatte sie doch nicht das Gefühl, dass es richtig war – bis sie endlich den kleinen Charles wieder im Arm hielt. Er blinzelte sie schläfrig an, dann schien er sie verwundert zu fixieren, als sei er unsicher, wer die hübsche Dame in dem hübschen Kleid war.

»Hallo, mein kleiner Mann. Ja, ich bin es, unter all dem feinen Zeug.« Sie strich mit der Hand über seine kupferfarbenen Locken. »Geben wir nicht ein schönes Bild ab, du und ich?«

Sie drückte ihn an die Brust und streichelte das zarte Köpfchen. Doch in ihrem Innern nagte die Sorge. Armer kleiner Kerl. Hatte eigentlich irgendjemand an jenem Erdhügel auf dem schottischen Friedhof getrauert? Sie blinzelte das Brennen in ihren Augen fort.

Anna war fertig und ging zur Tür. »Seine Lordschaft und Ihre Ladyschaft erwarten Sie im Wohnzimmer.«

Julia nickte, doch sie spürte, wie ihre Entspanntheit schwand. Die Worte hatten die Blase von Sicherheit, in der sie sich aufgehoben gefühlt hatte, zerplatzen lassen. Es hatte keinen Sinn sich einzureden, dass alles gut sei, dass sie einfach ihr früheres Leben wieder aufnehmen könne, dass es keine Strafe und Folgen ihrer Sünden gäbe. Eine der Konsequenzen ihres Entschlusses hielt sie doch in ihren Armen! Wie würden sie reagieren, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte? Aber wenigstens hatte sie es vorläufig nur mit Henry und seiner Frau zu tun, zwei Menschen, die wohl kaum unbarmherzig die Wahrheit aus ihr herauskitzeln würden, so wie Jon und ihre Mutter. Deren Enttäuschung würde sie gern so lange wie möglich hinausschieben.

Julia drückte Charles erneut an sich und flüsterte: »Wir werden das Beste daraus machen müssen und einfach so tun als ob.«

Er gluckste, was sie als Zustimmung nahm. Sie hielt den Kleinen wie einen Schild, stand auf und folgte dem Mädchen, das schon auf dem Flur stand und wartete. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich, während sie überlegte, was wohl am glaubhaftesten war und was am ehesten das Mitleid ihrer Gastgeber wecken könnte – und nicht ihren Zorn.

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Kapitel 3

An der Tür war ein Knarzen zu hören. Thomas öffnete mühsam seine Augen. Die Verzweiflung, die so schwer auf ihm lastete, verstärkte sich, als er Schritte und ein leises Klirren von Schlüsseln hörte.

»Señor?« Das kehlige Flüstern machte es ihm schwer, die Stimme zu erkennen. War es der Wärter? Die Tochter des Wärters? Ein Soldat?

Er blieb reglos liegen, während seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Wenn er schwieg, dachten sie vielleicht, er schliefe. Sie konnten im Dunkeln schließlich auch nicht besser sehen als er, nicht wenn sie den gleichen Fraß essen mussten, von dem er und seine Zellgenossen seit Monaten lebten.

Er blickte in die Richtung, in der er das Fenster vermutete. Nicht ein Hauch von Dämmerung erhellte den Himmel hinter den Gittern. Was wollte die Person an der Tür? Die Vorsicht riet ihm, sich nicht zu regen, nichts zu sagen. Höchstwahrscheinlich war es wieder eine Falle.

»Señor?«

Die Tochter. Wie sie das Wort betonte, klang fast verzweifelt. Er würde ganz bestimmt nicht reagieren. Er tat einfach weiter so, als ob er schliefe. Sie hatte ihn schon einmal hereingelegt.

Ihr Atmen erfüllte den Raum. Ein schleifendes Geräusch drang in seine Ohren, und danach lag ein kühler Hauch in der Luft, als sei sie gegangen. Er blieb trotzdem liegen, falls sie noch einmal zurückkam. Als er nichts mehr hörte, stand er auf, überprüfte die Zelle und ging dann zur Tür. Sie stand halb offen.

Sein Puls raste. Es musste eine Falle sein. Es war bestimmt eine Falle. Nie im Leben hatte sie die Tür für ihn offen gelassen. Aber wenn gerade ein Wunder geschah und der Weg durch diese Tür tatsächlich der Weg in die Freiheit war – konnte er seine Kameraden einfach so im Stich lassen?

Er sah sich nach den schlafenden Gestalten um, die sich unruhig auf den Pritschen herumwarfen. Hatte Smith die Kraft, einen Fluchtversuch zu wagen?

Vielleicht war es das Beste, wenn er erst einmal herausfand, wie weit er allein kam, und dann zurückkehrte – immer vorausgesetzt, ein schmuddeliger spanischer Engel hatte tatsächlich ein Wunder getan und das Ganze war nicht eine Falle, die ein Feind aus der Hölle ihm gestellt hatte.

Thomas stieß vorsichtig die Tür ein Stückchen weiter auf und spähte in die Dunkelheit. Niemand. Nichts. Jedenfalls war nichts zu sehen. Aber spielte es eine Rolle? Er hatte Desmonds Verzweiflung so gut verstanden. Sein eigenes Elend zerfraß ihn förmlich von innen. Es musste etwas geschehen. Seine Männer wurden verrückt. Er musste fliehen, um ihretwillen ebenso sehr wie um seinetwillen – oder bei dem Versuch sterben.

Um seine Wärter nicht aufzuwecken, tastete er sich so lautlos wie möglich voran, indem er eine Hand nach vorne ausstreckte und mit der anderen an der aus dem Felsen gehauenen Wand entlangfuhr. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er vor einer eisernen Gittertür. Er glitt mit den Fingern über das kalte Metall und fand das Schloss. Es steckte kein Schlüssel darin.

»Señor.«

Er schrak zusammen.

»Is hatte gehofft du kommen.«

Ein kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer erhellte ganz leicht ihre Züge. Er sah die kühnen dunklen Augen, den frechen Mund, die sinnlichen Kurven – verlockend und abstoßend zugleich. Mit einem Kopfschütteln versuchte er, die Erinnerungen zu verscheuchen, und konzentrierte sich auf die Frau vor ihm und nicht auf die, bei der er mit Sicherheit in Ungnade gefallen war – falls sie sich überhaupt an ihn erinnerte. »Was tun Sie da?«

Ihre Zähne glitzerten in der Dunkelheit. Plötzlich öffnete sie mit ihrer Hand die Tür und stieß sie auf. »Du wollen fliehen?«

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte er. »Warum tun Sie das?«

Sie zuckte die Schultern auf eine typisch spanische Weise. »Is fühle Mitleid für dis.«

Er schnaubte. »Das hätten Sie vor ein paar Monaten haben sollen.«

»Vor Monaten sie wollten dis nist nächsten Tag töten.«

Sein Herz schlug schneller. »Sie wollen mich töten?«

»Alle«, sagte sie, wieder mit dem gleichmütigen Schulterzucken. »Mir liegt nist an deinen dummen Landleuten, aber du« – sie legte ihm eine Hand auf die Brust – »an dir mir liegt etwas.«

Thomas schluckte seinen Ekel hinunter. »Warum wollen sie uns jetzt töten?«

»Is höre, ihr kostet zu viel Essen.«

Er hätte beinahe gelacht. Ihre Rationen waren, gelinge gesagt, mager, ein Bruchteil dessen, von dem er in seiner härtesteten Zeit im Krieg in Indien hatte leben müssen. »Ich muss die anderen holen.«

Ihr Finger bohrte sich in seine Brust. »Lass sie sterben. Du müssen leben.« Sie legte eine Hand auf ihren Leib. »Du weiß, warum?«

Lieber Gott, nein. Er stieß sie gegen die Wand. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie schwanger sind«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

»Du wollen, is lüge?«

Bittere Galle stieg ihm in den Mund. Das würde er sich nie verzeihen. Wenn er – durch ein Wunder – zu Julia zurückkehrte, konnte er ihr nie mehr in die Augen sehen. Und wenn sie es je herausfand … er konnte genauso gut tot sein. »Woher wissen Sie, dass es meins ist?«

Sie tat so, als sei sie gekränkt, doch er kannte sie, er wusste, dass sie süchtig nach Aufmerksamkeit war und alles tat, um sie zu bekommen. »Du können nist wissen, ob es ist nist von dir.«

Er stöhnte, lauter, als er beabsichtigt hatte. »Wäre ich Ihnen doch nie begegnet!«

»Aber du bist und du haben genutzt.« Ihr Lächeln wurde verführerisch. »Wir hatten gute Zeit, eh, Señor?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss zu den anderen.«

Sie zog einen Schmollmund. »Aber is will nist die anderen gehen. Ich nur helfe dir.«

»Wir alle oder keiner.«

»Aber du bist Vater von mein Kind! Die anderen sind nists für mich!«

Er ignorierte sie und hastete zurück in die Zelle. Wenn er starb, würde das alle seine Fehler auslöschen. Die Reue, die ihn quälte, war ohnehin nicht zu ertragen. Nur – dann würde die arme Julia nie erfahren, was aus ihm geworden war. Andererseits hatte sie ihn wahrscheinlich schon längst aufgegeben. Er beugte sich über seine Zellengenossen und schüttelte sie. »Aufstehen«, flüsterte er. Benson packte er fester an. »Sie wollen uns umbringen.«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, murmelte der und drehte sich auf die andere Seite. »Ich will sterben.«

»Nein. Nichts da.« Thomas knirschte mit den Zähnen, als Benson ihn ignorierte. Dann wandte er sich seinen anderen Kameraden zu. »Steh auf«, flüsterte er dem jungen rothaarigen Leutnant ins Ohr. »Wir können fliehen.«

Harrow schlug die Augen auf. »Ist das ein Traum?«

»Kein Traum«, drängte Thomas. »Wir können fliehen, jetzt, sofort.«

»Das haben Sie schon mal gesagt.«

Das stimmte. In den Wochen nach ihrem ersten Fluchtversuch hatte es Peitschenhiebe und reduzierte Rationen gegeben. »Wir müssen fliehen, sonst ist alles aus.«

Harrow protestierte leise, stolperte aber trotzdem zur Tür. Thomas packte Benson am Arm und zog ihn in den Gang, dann ging er noch einmal zurück, trat zu Smith und zerrte ihn ebenfalls zum Ausgang. Sie mussten sich beeilen, die Wärter konnten jeden Moment kommen. Als sie wieder vor der Tür standen, war Magdalena nirgends mehr zu sehen. Und die Tür war zu. Abgeschlossen.

»Was soll das?«

»Sollen wir hier sterben?«

Thomas’ Mut sank. Verzweifelt rüttelte er an den eisernen Stäben, doch sie gaben nicht nach. Dann sah er den Schlüssel, der von außen im Schloss steckte, als hätte ein Engel ihn dort deponiert. Er steckte den Arm durch die Gitterstäbe und konnte den Schlüssel tatsächlich fassen; zum ersten Mal war er dankbar für die kläglichen Rationen, die dafür verantwortlich waren, dass seine Arme nur noch den halben Umfang hatten, auf den er einst so stolz gewesen war.

Er drehte den Schlüssel, doch dann schien er einzurasten und ließ sich nicht weiterdrehen. »Nein!«

Es dämmerte bereits. Irgendwo krähte ein Hahn, als wollte er ihre Wärter warnen. Sie mussten hier weg. Er ruckelte an dem Schlüssel. »Geh auf!« Er fluchte und gleich darauf betete er aus purer Verzweiflung. »Lieber Gott, sei mir gnädig!«

Hinter sich hörte er, dass die Wärter sich regten, oben waren stampfende Schritte zu vernehmen. Er zerrte weiter an dem Schloss. Plötzlich hörte er ein »Pling«, der Schlüssel drehte sich, die Tür öffnete sich mit einem zischenden Quietschen. »Los!«

Noch ein kurzes Stück Gang, dann kam eine weitere – zum Glück nicht abgeschlossene – Tür, die ins Freie und in die frühe Morgendämmerung führte. Der staubige, momentan noch fast dunkle Hof war bis auf ein paar scharrende Hühner und den krähenden Hahn leer. Smith hinter sich herziehend, schafften sie es zu einer niedrigen Steinmauer, neben der eine halb verkümmerte Pinie stand. Sie bot nur wenig Sichtschutz, gab ihnen aber Zeit, kurz stehen zu bleiben, sodass Thomas den anderen seinen Plan erklären konnte, den er sich in den letzten Monaten hundertmal zurechtgelegt hatte. Nie hätte er gedacht, dass er tatsächlich zum Einsatz kommen könnte.

Drinnen ertönte ein Schrei. Benson fluchte. »Die Wärter!«

Smith sackte zusammen, sein Gesicht wurde unter den Bartstoppeln blass.

»Wir müssen zum Hafen«, drängte Thomas. »Auf!«

Er und Harrow legten sich Smiths Arme über die Schultern und trugen ihn halb, halb schleiften sie ihn an einer Reihe von Gebäuden vorbei, in Richtung der kühlen Brise, die ihnen den Geruch von Tang und Salzwasser entgegentrug.

Zum Glück hatte sein Gedächtnis ihn nicht getrogen. Die monatelange Gefangenschaft hatte seinen Orientierungssinn nicht beeinträchtigt. Zu dieser frühen Stunde war noch kaum jemand unterwegs. Gott sei Dank – die Einwohner der Stadt hätten bestimmt kein Verständnis für flüchtende Engländer aufgebracht.

»Señor!«

Er sah nach links. Magdalena, die Tochter des Wärters, stand in der geöffneten Tür eines scheunenartigen Gebäudes und bedeutete ihnen, zu ihr zu kommen.

Hinter ihm fluchte Benson: »Ist das …?«

»Ja.« Thomas wollte zu ihr, doch Benson griff nach seinem freien Arm, sodass er Smith loslassen musste. Harrow allein konnte ihn nicht halten und so stürzte er mit einem dumpfen Aufprall zu Boden.

»Ich traue ihr nicht«, protestierte Benson.

Doch Rufe und rennende Schritte hinter ihnen ließen Thomas keine Wahl. Er zog Smith vom Boden hoch und drängte an Benson vorbei zur Scheunentür. »Uns bleibt nichts anderes übrig.«

Die anderen waren offenbar seiner Ansicht, denn sie folgten ihm in die dämmerige Scheune.

»Señor! Is dachte schon, du kommen gar nicht!« Sie sah ihn und die anderen an und schnalzte verächtlich mit der Zunge. Dann deutete sie auf Smith. »Der is su krank. Er safft nist.«

»Wir sollten ihn hierlassen«, stimmte Benson ihr zu.

»Nein«, sagte Thomas. »Er kommt mit uns.«

Benson sah ihn misstrauisch an. »Das ist eine Falle. Es muss eine Falle sein.«

»Und wenn schon, das ist mir egal«, meinte Harrow. »Ich sterbe lieber bei dem Versuch zu fliehen, als da drin aufzugeben.« Er deutete mit dem Daumen zurück in die Richtung, in der das Gefängnis lag.

»Aber warum hilft sie uns?« Benson kniff die Augen zusammen. »Das verstehe ich nicht.«

Magdalena legte eine Hand auf ihren Leib. »Es ist das Baby …«

»Jetzt ist keine Zeit für Fragen«, unterbrach Thomas sie. Die anderen durften es auf keinen Fall erfahren, auch wenn er befürchtete, dass sein nächtlicher Besuch nicht unbemerkt geblieben war. Gott mochte ihm vergeben! Das Gefühl der Schuld nahm ihm fast den Atem. »Benson, Sie können sich gern allein nach England durchschlagen. Die Alternative ist, dass wir Magdalena vertrauen. Da sie uns die Zellentür aufgeschlossen hat, versuche ich mein Glück mit ihr.«

Harrow sah Thomas nur an und sagte nichts. Schließlich nickte er. Smith konnte nichts sagen; er war kaum noch bei Bewusstsein. Thomas überging das Misstrauen, das nach wie vor in Bensons pockennarbigem Gesicht stand, und wandte sich wieder der Tochter des Gefängniswärters zu. Ihre Augen waren vor Angst aufgerissen.

»Die Soldaten suchen euch. Da.« Sie warf Thomas einen Kartoffelsack zu. Er zog ein paar alte Kleidungsstücke heraus. Sie reichten gerade aus, die zerfledderten Gewänder eines einzigen von ihnen zu ersetzen.

»Was soll das?«, fluchte Benson. »Sie sind fein raus, aber wir anderen …«

Er verstummte. Die Schritte kamen näher. Magdalena schloss eilig die Tür ab, die Männer versteckten sich hinter großen Kisten. Jemand rüttelte an der Tür. Mit rasendem Puls warf Thomas Benson, Harrow und Smith die Kleider zu: ein grobes Baumwollhemd, eine Hose, einen dunkelblauen Mantel. Jeder konnte nur ein Stück tragen. Würde das ausreichen, keinen Verdacht zu erregen? Er selbst zog die blutbefleckten Überreste seines Hemds aus und ersetzte es durch das letzte Stück aus dem Sack – ein Waffenrock, der ihm viel zu groß war, aber zumindest war es mit ihm nicht gleich so offensichtlich, dass sein Träger aus einem Gefängnis geflohen war.

Magdalena kam zu ihm und flüsterte ihm mit brüchiger Stimme etwas von einem Strand, einem Fischerboot und einer Stadt in der Nähe des Hafens von Aviles zu. »Jetzt geh.«

»Gracias.«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie beugte sich vor, als wollte sie ihn küssen, doch er wandte sich im letzten Moment ab. Dabei sah er gerade noch Bensons angewiderten Gesichtsausdruck und die Missbilligung im Gesicht von Harrow, als ihre Lippen seine bärtige Wange trafen.

Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Sein Verhalten war genauso schändlich, wie sie ganz eindeutig glaubten. Nur dass er sie diesmal durch sein Handeln befreit hatte. Oder jedenfalls beinahe.

Ein Handeln, das vielleicht bedeutete, eines Tages seine geliebte Julia wiedersehen zu dürfen, wenn die Götter es gut mit ihnen meinten. Falls sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn wiederzusehen.

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Kapitel 4

»Und genauso ist es passiert.«

Zwei Augenpaare starrten sie an. Lord Carmichaels Augen verdunkelten sich nun vor Zorn. »Du meinst, er hat dich verlassen?«

Ihr traten Tränen in die Augen, wie jedes Mal, wenn sie an ihn dachte – weshalb sie versuchte, nicht öfter als absolut nötig an ihn zu denken. Sie schlug die Augen nieder und rang um Selbstbeherrschung, während die beiden leise miteinander sprachen.

»Henry, bitte. Du quälst sie.«

»Serena, wir müssen die Wahrheit erfahren«, erwiderte er. »Wie soll ich ihr helfen, wenn ich keine Einzelheiten weiß?«

Julia schluckte und hob den Kopf, um sich den Bedenken ihrer Wohltäter zu stellen. Sie schürzte die Lippen. »Ich weiß eure Fürsorge zu schätzen, aber es gibt nichts mehr zu sagen. Ich weiß nur, dass er eines Tages frühmorgens wegging und nicht mehr zurückkam. Ich weiß nicht, warum. Wenn ich es wüsste, wäre ich vielleicht nicht hier. Aber es scheint auf jeden Fall nur zwei Möglichkeiten zu geben.« Und beide waren schrecklich für sie.

Serenas Augen wanderten zu dem Bündel in Julias Armen. »Und er hat dich mit einem Kleinkind alleingelassen.«

Gott mochte ihr vergeben! »Ja, ohne meinen Mann hätte ich Charles nicht«, sagte sie leise, ohne die beiden anzusehen. Denn wenn sie nicht in den Norden gefahren wäre, hätte sie nicht …

»Sein schönes Haar hat er bestimmt von deiner Mutter«, sagte Serena und unterbrach damit Julias Rechtfertigungsversuche. Dabei sah sie den Kleinen so prüfend an, dass Julia unruhig wurde, doch gleich darauf hatte ihr Gesicht wieder den gewohnten gelassenen Ausdruck.

Henry wandte sich mit einem leichten Lächeln an seine Frau. »Das glaube ich kaum, meine Liebe. Der kleine Charles hat seine Haarfarbe bestimmt nicht von Lady Harkness geerbt. Sie war an diesem speziellen Fall sicher nicht beteiligt.«

Julia musste gegen ihren Willen lächeln. Der beste Freund ihres Bruders besaß einen Sinn für das Absurde, mit dem es ihm schon immer gelungen war, sie aus ihrer Neigung zur Schwarzseherei herauszuholen. Ein Blick auf Serena zeigte ihr, dass es seiner Frau genauso ging, denn ihr reservierter Gesichtsausdruck wich ganz kurz einem amüsierten Aufleuchten, das jedoch gleich wieder erlosch.

»Bitte verzeih meinem Mann, Julia. Sein Hang zum Leichtsinn ist manchmal stärker als sein Gefühl für Schicklichkeit.«

Julia brachte ein etwas schiefes Lächeln zustande. »Ich kann wohl kaum als Sittenrichter auftreten.«

»Keiner von uns erfüllt zu jeder Zeit die Erwartungen der Gesellschaft.« Serena wechselte einen weiteren vertrauten Blick mit ihrem Mann.

Julia fühlte sich verunsichert. Meinte Serena, dass sie gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstoßen hatte, indem sie Julia aufgenommen hatte? Bereute sie es womöglich? »Es tut mir furchtbar leid, wenn ich mich euch aufdränge. Ich möchte euch wirklich auf keinen Fall zur Last …«

»Unsinn.«

»Henry hat recht«, sagte Serena. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert wir waren, dich zu sehen.«

»Wir sind so froh, dass du endlich in Sicherheit bist.« Henrys amüsierter Ausdruck war verschwunden, seine Augen blitzten schon wieder vor Zorn. »Ich kann gar nicht an diesen niederträchtigen …«

»Henry«, unterbrach Serena ihn tadelnd und nahm seine Hand.

»Meine Liebste.« Er hob ihre Hand an seine Lippen und sah ihr mit einem Ausdruck in die Augen, bei dem Julia sich abwenden musste. Das Herz tat ihr weh, als sie daran dachte, dass es so auch zwischen Thomas und ihr gewesen war. Als sie noch dachte, von ihm geliebt zu werden. Bevor sie begriffen hatte, dass das niemals der Fall gewesen war …

Ein Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lord Carmichael. »Verzeih mir, Julia. Ich glaube, in diesen Dingen muss ich mich der überlegenen Urteilskraft meiner Gemahlin beugen.«

»Aber natürlich.« Julia sah Serena an, ermutigt von dem Lächeln, das jetzt wieder auf ihren Lippen lag. Was immer sie geärgert hatte, war vorbei. »Ein Ehemann sollte sich immer einer Frau von überlegener Urteilskraft beugen, oder nicht?«

»Ein weiser Mann sollte das, ja«, murmelte sie.

Henry grinste Julia an. »Meine Frau hatte das Glück, einen sehr einsichtsvollen Mann zu bekommen.«

»Und noch dazu einen so bescheidenen«, sagte Serena, als Henry anfing zu lachen.

Hatte sie sich diesen Moment der Anspannung vielleicht nur eingebildet? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eine Beziehung falsch beurteilt hatte. Julia biss sich auf die Lippen; sie dachte an die Gelegenheiten, bei denen sie versucht hatte, eheliche Unstimmigkeiten hinter einer fröhlichen Fassade zu verstecken. Warum hatte sie die Risse zwischen ihnen erst spät erkannt? Sie waren scheinbar so unüberwindbar geworden, dass ihr Mann nur noch die Möglichkeit sah, sie zu verlassen.

»Sei gewiss, dass du uns um deiner selbst willen ebenso willkommen bist wie um Jons willen«, fuhr Serena fort, und ihr wärmer gewordener Blick gab Julia das Gefühl, dass ihre Gegenwart tatsächlich nicht ganz unwillkommen war.

»Das stimmt«, bestätigte Henry. »Der alte Mann würde mir nie verzeihen, wenn wir dich nicht bis zu seiner Rückkehr bei uns aufnehmen würden.«

Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht, als sie an die Neckereien dachte, die zwischen ihrem Bruder und seinem einen Tag jüngeren Freund an der Tagesordnung waren. »Ich möchte auf keinen Fall der Grund für einen Streit sein.«

»Ich bin froh, dass du meine Zwangslage erkennst. Du musst wissen, liebe Julia, dass ich tagtäglich in Angst lebe, mir den Zorn deines Bruders zuzuziehen, deshalb bete ich, dass du es nicht für nötig halten wirst, uns vor seiner Rückkehr zu verlassen.«

Ihr Lächeln geriet ein wenig ins Zittern, als sie die Freundlichkeit hinter seinem neckenden Ton erkannte.

»Sie haben dich sicher sehr vermisst«, sagte Serena weich.

Wieder schlug sie die Augen nieder. Dass ihr Bruder und ihre Mutter froh sein würden, sie wiederzusehen, stand außer Frage. Aber ob sie ihr auch vergeben würden …?

»Sie werden sich ganz schrecklich freuen, dich zu sehen«, sagte Serena.

»Das hoffe ich«, flüsterte sie. »Ich habe sie leider sehr enttäuscht.«

»Sie werden so froh sein«, stimmte Henry seiner Frau zu. »Also, mach dir bitte keine Sorgen.«

Julia kaute auf der Innenseite ihrer Unterlippe herum. Jemandem zu sagen, er solle sich keine Sorgen machen, war ebenso sinnlos, wie einem Baby zu sagen, es solle nicht weinen. Im Laufe des letzten Jahres war die Sorge ihre alltägliche Begleiterin geworden; sie wusste gar nicht mehr, wie es war, ruhig und sorglos zu leben. Auch jetzt schnürte die Anspannung ihr die Brust zusammen, obwohl sie umgeben war von Luxus, Sicherheit und Freundlichkeit. So lange hatte sie sich ganz auf sich selbst, auf ihren Scharfsinn und ihre Kraft verlassen müssen, um zu überleben. Jetzt kam ihr die unbekümmerte Aufforderung, sie solle sich keine Sorgen machen, geradezu verantwortungslos vor, als hätte man ihr gesagt, sie solle aufgeben. Das konnte sie nicht. Und sie würde es auch nicht, nicht, ehe alles endgültig geklärt war. Doch wie konnte das geschehen, wenn ihr Mann nicht zurückkehrte?

Der Golf von BiskayaVier Tage später

Das Schiff schaukelte und neigte sich von einer Seite auf die andere. Das Tosen der aufgewühlten See brüllte in seinen Ohren. Ein Fass, das sich aus seiner Verankerung gelöst hatte, prallte mit solcher Wucht gegen seine Schulter, dass er sich einen Fluch verbeißen musste. Thomas hätte im Traum nicht daran gedacht, dass er auf See sterben könnte; er hatte einfach nicht gewusst, wie rau die Überfahrt sein würde. Und er hatte nicht gewusst, wie lang sie sein und wie seekrank Harrow und Smith werden würden.

Die nächste Welle rollte an und schickte seinen Magen auf eine steile Talfahrt. Ein Gutes aber hatten die Umstände ihrer Flucht: Der lange Nahrungsentzug bedeutete, dass das Risiko, sich zu übergeben und ihre unzulängliche Verkleidung zu beschmutzen, äußerst gering war. Doch wie lange sie noch ohne zu essen durchhalten konnten …

Er rieb sich die schmerzende Schulter und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die schimpfenden Männer neben ihm. In ihrem Versteck tief im Bauch des Schiffes waren sie einer Entdeckung entgangen. Bis jetzt jedenfalls.

Als hätte er Thomas’ Gedanken bemerkt, fixierte Benson ihn wütend. »Ich weiß immer noch nicht, warum wir das hier aushalten müssen.«

Thomas erwiderte nichts darauf; er hatte es oft genug erklärt.

»Sie sagten, wir fahren nach England!«

»Und jetzt nehmen wir den Weg über Frankreich.« Bensons unaufhörliches Meckern nagte an dem letzten bisschen Geduld, das er noch aufbringen konnte. An manchen Tagen wünschte er, der Mann hätte sich auf eigene Faust auf die Rückreise in die Heimat gemacht. »Bettler können nicht wählerisch sein, zumal, wenn sie als blinde Passagiere reisen.«

»Aber … aber …«

»Ach, hören Sie auf, Benson«, schnappte Harrow. »Oder wollen Sie, dass wir entdeckt werden?«

Thomas nickte Harrow zu. Er empfand tiefes Mitgefühl für ihn. Harrow hatte eine Frau und zwei Kinder, zu denen er zurückkehren wollte. Wahrscheinlich vermisste ihn seine Familie ebenso sehr wie er sie. Wie sich das wohl anfühlte? Sehnte Julia sich vielleicht ebenso sehr nach ihm wie er sich nach ihr? Hoffnung flackerte in ihm auf. Und erstarb sogleich wieder. Wohl eher nicht.

Der Geruch von Salzwasser drang ihm in die Nase. Er zog die Knie an und legte die Arme darüber, damit der arme Smith ein wenig mehr Raum hatte. Armer Kerl. Insgeheim hatte er schon gedacht, dass es vielleicht besser für ihn gewesen wäre, wenn sie ihn zurückgelassen hätten. Jedenfalls war die Schiffsreise unter diesen Bedingungen seiner angeschlagenen Konstitution alles andere als förderlich. Thomas schüttelte den Kopf. Das konnte man von keiner ihrer Eskapaden sagen.

Es war ihnen gelungen, vom Militärstandort zu fliehen. Am Strand hatten sie den beschriebenen Fischkutter vorgefunden und waren in buchstäblich letzter Sekunde dem empörten Besitzer und seinen Söhnen entkommen, die eben erst von einer arbeitsreichen Nacht zurückgekehrt waren. Dank einer kräftigen Brise und dank Bensons Erfahrung im Umgang mit einem Boot, die er in Dorset erworben hatte, war es ihnen gelungen, in den Hafen zu gelangen, von dem Magdalena gesprochen hatte. Dort hatten sie sich ein paar Tage versteckt, bis Thomas von dem Frachtschiff erfahren hatte, das nach Frankreich wollte. Die ganze Zeit hatten sie so gut wie nichts zu essen gehabt. Einmal hatten sie ein paar Fischreste gefunden und doch rasch bereut, sie gegessen zu haben, als nämlich Harrow sich plötzlich den Bauch hielt und sich übergeben musste. Es hatte sich herausgestellt, dass der Fisch aus gutem Grund weggeworfen worden war. Er schüttelte abermals den Kopf. Würde er je aufhören, Fehler zu machen?

Wieder rollte ein Fass durch den Schiffsbauch und prallte mit einem lauten Krachen gegen die Wand. Seine Nackenhärchen richteten sich auf. Das war knapp gewesen. Neben ihm betete Smith um göttlichen Beistand. Wie lächerlich für einen Major, hier wie eine Ratte in der Falle zu sitzen, gefangen an Bord einer schwimmenden Katastrophe. Am liebsten hätte er ebenfalls Gott um Hilfe gebeten, doch bestimmt hatte er alle Gebete, die ihm zustanden, längst aufgebraucht. Außerdem war es ohnehin unwahrscheinlich, dass Gott seine Gebete erhörte. Schließlich – es war eine Erinnerung aus lange zurückliegenden Zeiten – hasste Gott doch Sünder, oder nicht? Er verdiente Gottes Aufmerksamkeit nicht. Ehrlich gesagt war er nie gut genug dafür gewesen – nicht einmal im triumphalsten Moment seines Lebens beim Sieg in Indien. Vielleicht würde Gott ihm zuhören, wenn er wie Jonathan Carlew wäre, aber das war er nicht. Er hatte in seinem Leben viel zu viele Sünden begangen.

Eine ganze Parade dieser Sünden zog an seinem inneren Auge vorbei. Die Zeiten, in denen er sich um die Wahrheit herumgedrückt hatte. Die Frauengeschichten. Die Lügen, die er gelebt, die Männer, die er getötet hatte. Er hatte sein Majorat nicht gekauft, sondern hart und ehrlich durch Mühsal und Kampf unter der heißen indischen Sonne verdient. Für ihn war es wie ein Wunder gewesen, dass Jon Carlew ihn tatsächlich als seinen Freund betrachtet hatte, denn sie waren so verschieden wie Tag und Nacht. Doch er hatte Carlew seine Freundschaft nicht gedankt … sondern war mit seiner Schwester durchgebrannt …

Julia.

Sein Herz pochte, und seine Gefühle drohten zu kippen wie die Wogen des Ozeans unter ihnen. War ihr Haar wirklich so blond, wie er es in Erinnerung hatte? Und ihre Augen so blau? Verbarg sie noch immer Geheimnisse in der Tiefe ihrer Augen, in der samtigen Süße ihrer Haut? Wenn er sich doch nur an ihren Duft erinnern könnte! Er unterdrückte ein Stöhnen. Quälende Träume. Quälende Erinnerungen. Es war nicht gut, darin zu schwelgen. Sie würde ihn wegstoßen, so wie er es – wie sie glauben musste – mit ihr getan hatte.

Doch die Gedanken an sie ließen sich nicht zum Verstummen bringen, Julia war das Rettungsseil, das ihn nach Hause zog. Leider eines, nach dem er kaum zu greifen wagte. Nun würde ihrer beider Zukunft weiterhin so unsicher sein, wie sie es immer gewesen war. Er schnitt eine Grimasse, unterdrückte gewaltsam das Schuldgefühl. Er würde sie wiedersehen, vielleicht nicht so schnell, wie er sich wünschte, aber er würde sie ganz bestimmt sehen. Irgendwann. Bitte, Gott, wagte er zu beten, bevor er in einen leichten Schlaf sank.

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Kapitel 5

»Nun sitz doch endlich mal still!«