Die wundervolle Miss Winthrop - Carolyn Miller - E-Book

Die wundervolle Miss Winthrop E-Book

Carolyn Miller

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Beschreibung

Ein Roman über Heimat, Verlust und Wiedergewinn. Und die große Liebe. Als ihr Vater stirbt, ringt Miss Winthrop sehr damit, ihre neuen Lebensumstände in einem kleinen Landhaus mit ihrer verbitterten Mutter anzunehmen. Dann taucht auch noch der Mann auf, der für ihr zerbrochenes Herz verantwortlich ist, und übernimmt den ehemaligen Landsitz der Familie. Doch als sie herausfindet, was damals geschehen ist, wird plötzlich alles anders. Kann sie ihren Schmerz überwinden und einen Neubeginn wagen?

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften,Filme und Musik einsetzt.

»Das vorliegende Buch ist ein historischer Roman, der natürlich auch vor einergewissen historischen Kulisse spielt. Die auftretenden Personen entstammenjedoch der Fantasie der Autorin, und jedwede Ähnlichkeit mit lebendenoder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.«

ISBN 978- 3-7751-7558-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6140-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2022SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Winning Miss Winthrop© 2018 by Carolyn Miller.Originally published in the USA by Kregel Publications, Grand Rapids, Michigan.Translated and printed by permission. All rights reserved.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Übersetzung: SuNSiDeLektorat: Rahel Dyck, Bonn · www.raheldyck.deUmschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.comTitelbild: Mann: LightFieldStudios / iStock;Frau: © Joanna Czogala / Trevillion ImagesAutorenfoto: © 2017 Jenny CollisonSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für meine Freundin JacquelineSchwester in Christus, Mutmacherin und Testleserin der Extraklasse

Inhalt

Über die Autorin

Stammbaum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort der Autorin

Dank

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CAROLYN MILLER lebt in New South Wales in Australien. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und liebt es, zu lesen und Bücher zu schreiben. Ihre Romane handeln von Vergebung, Liebe und anderen Herausforderungen. Carolyns Lieblingsautorin ist natürlich Jane Austen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Stammbaum

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

GloucestershireMai 1816

Der tiefblaue Gloucestershire-Himmel war Catherine Winthrop, die soeben aus dem Pächterhäuschen trat, ein großer Trost. Tief atmete sie die nach Klee duftende Luft ein, dann drehte sie sich zu dem Bauern um. »Der Arzt wird der armen Anne ganz bestimmt besser helfen können als ich. Ich lasse ihn gleich benachrichtigen, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Vielen Dank, Miss.«

Catherine stellte ihren Korb auf den Sitz des Gigs und kletterte gewandt über die großen Speichenräder in den offenen Einspänner. »In ein paar Tagen komme ich wieder und schaue nach ihr. Bis dahin sollten Sie dafür sorgen, dass sie auf keinen Fall mehr als das Allernötigste tut, was ihr, wie wir beide sehr gut wissen, äußerst schwerfällt.«

Hassop tippte sich zum Abschied grüßend an die Schläfe.

Catherine griff nach den Leinen, das Gig fuhr an. Nicht lange und Ginger hatte sie in ein Tal gebracht, in dem der Duft frisch gemähter Wiesen sie in der Nase kitzelte und ihr Herz wieder ein wenig freier machte. Über den Bach, dessen Rauschen und Plätschern die Erinnerung an Sommertage weckte, an denen sie – natürlich nur, wenn Mama nicht hinsah – ihre Zehen ins Wasser getaucht hatte, neigten sich schlanke Weiden, deren Zweige in der Spätnachmittagssonne golden aufleuchteten und einen herrlichen Kontrast zu den grünen Wiesen und dem tiefen Braun der frisch gepflügten Äcker bildeten.

Die hellen Farben waren Balsam nach der bedrückenden letzten Stunde. Arme Anne. Ihr Husten hatte sich überhaupt nicht gebessert, trotz der Stärkungsmittel der Gemeindeschwester. Dennoch glaubte sie nicht, dass Hassop seiner schwer arbeitenden Frau die Ruhe gönnen würde, die sie so dringend nötig hatte. Arme Frau, verheiratet mit einem Mann, der zwar nicht direkt ein Rohling war, aber in der ganzen Gegend als krasser Egoist bekannt war. Arme irregeleitete Anne.

Doch Catherine wusste selbst nur allzu gut, wie leicht ein Mann eine Frau zum Narren halten konnte.

Da war es wieder, das altbekannte Herzweh. Solche Gedanken taten ihr nicht gut. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und konzentrierte sich lieber auf das niedliche Nest Glockenblumen, die in der leichten Brise tanzten. Anfang Mai war die perfekte Zeit, niemals sonst sah man ihre ländliche Gegend in solcher Pracht – und Nellys Wood war der spektakulärste aller Schauplätze. Glockenblumen, zarte weiße und roséfarbene Anemonen, gelbe Schlüsselblumen und dazwischen die letzten goldenen Narzissen verschwammen zu einem wahren Farbenrausch.

»Ist das nicht einfach herrlich, Ginger?«

Die Fuchsstute warf den Kopf, es sah aus, als nickte sie zur Antwort.

»Warte mal kurz.«

Eine Minute und sie hatte die Leinen gesichert und war vom Gig gesprungen. Schon pflückte sie eilig ganze Arme voll Frühlingsblumen. Sie ging zurück zur Kutsche, legte die Blumen auf den Sitz neben sich, kletterte wieder auf den Kutschbock und setzte ihre Fahrt fort.

»Ich bin sicher, jene Nelly, wer immer sie war, konnte nie einen so schönen Anblick wie wir genießen. Meinst du nicht auch?«

Ginger wieherte zustimmend. Catherine lächelte.

Der nächste Hof lag hinter einer kleinen Anhöhe. Die Jeffcoats bestellten dieses Landstück seit Hunderten von Jahren, der Erfolg ihrer harten Arbeit zeigte sich in allem, von den gepflegten Gebäuden bis zu den präzisen Abdeckungen der Steinmauern. Wie furchtbar schade, dass ein solches Anwesen mit dem Tod des gegenwärtigen Pächters verloren sein würde, denn ohne einen fähigen Sohn …

Eine hohe Gestalt tauchte vor ihr auf, ein breites Gesicht verzog sich zu einem großen Lächeln. »Hallo, Miss Cathy.«

»Hallo, Jack.« Sie war beim Farmhaus angelangt und parierte durch. »Wie geht es dir heute?«

»Richtig gut, Miss Cathy. Ist das Ihr Pferd?«

»Ja, das ist Ginger. Du kennst Ginger doch schon, nicht wahr?«

Große blaue Augen starrten sie verständnislos an.

Es war wie ein kleiner Stich ins Herz. »Jack, ist deine Mutter zu Hause?«

»Ja, Miss Cathy.«

In dem Moment wuselte auch schon eine kleine, untersetzte Gestalt aus dem Haus und wischte sich im Laufen die Hände an einer geblümten Schürze ab. »Ah, Miss Winthrop. Ich dachte mir, dass Sie es sind. Jack benimmt sich doch hoffentlich?«

»Das tut er doch immer, Mrs Jeffcoat.«

»Schön, das zu hören.« Sie warf ihrem Sohn, der sie und ihren Besuch hoch überragte, einen schmaläugigen Blick zu, dann wandte sie sich wieder an Catherine. »Und wie geht es Ihrer Mutter und Ihrem Vater?«

»Sehr gut, vielen Dank.«

Wobei es Papa irgendwie nicht ganz so gut ging. Seit sie vor Kurzem aus London zurück waren, wirkte er angespannt, schloss sich häufig in seinem Arbeitszimmer ein, schnauzte jeden an, der es wagte, ihn anzusprechen, und ging kaum auf Mama ein, was Catherine ihm allerdings kaum zum Vorwurf machen konnte. Sowohl sie selbst als auch ihr Vater ergriffen jede Gelegenheit, dem begierigen Wunsch ihrer Mutter, ständig über alles aufs Genaueste unterrichtet zu sein, zu entfliehen – daher auch ihre heutige, ungewöhnlich lange Ausfahrt zu den Pächtern.

Catherine lächelte. »Sie lassen Sie beide herzlich grüßen.« Jedenfalls wäre es so, wenn sie daran gedacht hätten.

»Sicher.« Mrs Jeffcoat lächelte dünn. »Was können wir heute für Sie tun?«

»Ich sagte gestern zu unserer Köchin, eine Stachelbeercreme wäre genau das Richtige für Vater, und sie meinte, unsere Stachelbeeren seien noch nicht so weit, aber weil ich weiß, dass Ihre immer früh dran sind, hoffte ich, dass Sie uns vielleicht welche verkaufen könnten.«

»Ah. Nun ja, ich wollte sie eigentlich für meinen Mann verwenden, aber ich denke …«

»Nein, nein, Mrs Jeffcoat! Ich würde nicht im Traum daran denken, Ihnen etwas wegzunehmen, das für Ihren Mann gedacht war! Ich dachte nur, wenn Sie vielleicht welche übrig haben …«

Die ältere Frau seufzte. »Ja, aber sie meinem Mann vorzusetzen, rentiert sich sehr viel weniger, als sie Ihnen zu verkaufen. Ich glaube schon, dass wir uns einig werden.«

»Oh, aber …«

»Nein, ich will nichts mehr hören. Seine Lordschaft wird sie ganz bestimmt genauso genießen, wie mein John es getan hätte.« Sie warf Catherine einen schrägen Blick zu, dann watschelte sie zurück ins Haus.

Catherine rutschte unbehaglich auf ihrem Ledersitz herum und versuchte, das Schuldgefühl zu unterdrücken, das das Gespräch in ihr geweckt hatte. Aber Mrs Jeffcoat war schließlich einverstanden und sie würde ja auch einen wirklich guten Preis zahlen …

»Hallo, Miss Catherine.«

Sie drehte sich zu dem schlaksigen Bauernsohn um und zwang sich zu einem Lächeln. »Hallo, Jack.«

»Ist das Ihr Pferd?«

»Ja.« Ihr traten beinahe Tränen in die Augen, einen Moment war ihre Sicht getrübt. Arme Mrs Jeffcoat. Wie schwer musste es sein, wenn der lang ersehnte Sohn nicht in der Lage war, das Gewicht ihrer Hoffnungen und Träume zu tragen. Dabei war Jack gar nicht der Trottel, für den ihn so viele hielten. Sie hatte schon oft gedacht, dass er ein ausgezeichneter Pferdepfleger wäre. Er konnte sehr gut mit Tieren umgehen. Auf den Feldern hatte sie zudem gesehen, wie stark er war. »Stark wie ein Ochse«, pflegte Jeffcoat zu sagen, mit verzweifeltem Stolz in den Augen …

Doch es war, wie Lavinia immer sagte: Mrs Jeffcoat hatte nicht wissen können, dass sie, als sie ihn erwartete, die Masern bekommen würde. Jacks Behinderung war nicht seine Schuld, so wie es nicht Papas Schuld war, dass er keinen Sohn hatte.

Die Schatten wurden länger, der Geruch nach Kühen und Kuhmist stärker. Wenn Jack nicht leise auf ihr Pferd einsprach, starrte er Catherine so beharrlich an, dass ihre Haut prickelte. Sie musste sich beherrschen, dass sie ihm nicht befahl, den Blick abzuwenden. Stattdessen wandte sie selbst den Blick ab und dachte an ihren Besuch bei Lizzie, einem früheren Dienstmädchen auf Winthrop, deren Glück über ihre kürzlich erfolgte Heirat sich noch gesteigert hatte, seit sie wusste, dass sie in anderen Umständen war und Jem, ihr Mann, hoffen durfte, im Herbst einen gesunden Sohn zu bekommen. Catherine wusste, dass sie eigentlich ebenso schockiert sein sollte wie Mama über die Schnelligkeit, mit der beides – Heirat und Schwangerschaft – erfolgt war, doch sie empfand im Gegenteil fast eine leise Wehmut und in ihren Neid mischte sich eine Spur Angst. Bitte, Gott, mach, dass Lizzies Baby gesund ist … und nicht wie dieser Junge oder vielmehr dieser Mann vor ihr, der sie so unentwegt anstierte.

Jetzt kam zum Glück Mrs Jeffcoat zurück. Sie stellte eine Holzbütte, halb gefüllt mit den hellgrünen Früchten, auf den Sitz neben die Blumen.

»Vielen Dank, Mrs Jeffcoat.«

»Sie sind noch ein bisschen früh und wahrscheinlich ziemlich sauer.«

»Papa wird sich auf jeden Fall sehr freuen.«

Die Bauersfrau nickte. Sie handelten einen fairen Preis aus, dann griff Catherine rasch wieder nach den Leinen.

»Ich bringe das Geld gleich morgen. Nochmals vielen Dank, Mrs Jeffcoat. Jack.«

»Auf Wiedersehen, Miss Cathy.«

Mit einem letzten entschuldigenden Lächeln trieb sie Ginger zum Heimweg an.

Sie hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, dachte sie, während das Gig über die schlammigen Wege holperte. Ebenso wenig wie Mrs Jeffcoat für den geistigen Zustand ihres Sohnes war Catherine für den Wohlstand und den Status ihrer Familie verantwortlich. Papa musste das große Vermögen seines Vaters zusammen mit dem Titel und den Ländereien vererben, so wie es eines Tages auch ihr Cousin Peter würde tun müssen. Reichtum und günstige Lebensumstände waren Dinge, für die man Gott danken, aber deretwegen man ganz bestimmt keine Schuldgefühle hegen sollte, zumal sie selbst nun wirklich tat, was sie konnte, um weniger vom Glück Begünstigten zu helfen.

Die Straße führte in einem weiten Bogen zum Tor von Winthrop hinauf. Catherine winkte den Kindern des Torhüters zu und trieb Ginger ein wenig an. Die Bäume am Straßenrand standen jetzt so dicht, dass sie eine Allee bildeten. Ein Schauer überlief sie. Der Abend neigte sich und sie war es nicht gewohnt, so spät noch draußen zu sein. Immerhin, sie hatte ihre Zeit gut genutzt. Papa würde hocherfreut sein über die Beeren und die Blumen könnten Mama besänftigen …

Vor ihr tauchte ihr Zuhause auf, die Fenster im zweiten Stock hell erleuchtet. Obwohl es schon fast dunkel war, waren die Vorhänge noch nicht zugezogen. Sie runzelte die Stirn. Warum hatten die Mädchen nicht dafür gesorgt? Warum hatte Mama sie nicht gescholten, wenn sie ihre Pflichten so vernachlässigten?

Sie fuhr an den Steinsäulen vorbei, standesgemäße Markierungen des Eingangs zum Garten des Herrenhauses. In der Toreinfahrt stand die Kutsche des Arztes.

Ihr Herz fing an zu galoppieren. Warum war der Arzt hier? Sie zog hart die Leinen an, die Räder drehten durch, als sie abrupt hielt.

»Oh, Miss Winthrop! Wir warten schon alle auf Sie!« Geoffreys eilte ihr entgegen, seine sonstige Förmlichkeit schien völlig vergessen, als er ihr die Leinen beinahe aus der Hand riss. »Sie warten drinnen.«

»Wer wartet?« Sie stieg aus und griff nach ihren Blumen und dem Gefäß mit den Früchten für ihren Vater.

»Ihre Mutter und der Arzt und …« Der Butler schluckte.

Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Warum konnte er ihr nicht in die Augen sehen? Sie eilte ins Haus. »Mama?«

Sie gab die Sachen William, der wartete, während sie ihren Hut abnahm und die Handschuhe auszog, und dann murmelte: »Sie sind oben, Miss.«

Sie nickte und lief die imposante Eichentreppe hinauf, die ihren Vater Tausende gekostet hatte, als sie vor fünf Jahren renoviert wurde. »Mama?«

Sie hörte einen Klagelaut. Mit jagendem Herzen lief sie an Serenas leerem Zimmer vorbei ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Christie blickte auf. Sie saß neben ihrer Mutter auf dem Bett und hielt ihr ein Fläschchen mit Riechsalz unter die Nase. Mit zusammengezogenen Brauen nickte sie zum angrenzenden Zimmer hinüber, andeutend, dass, was immer Catherine dort erwartete, mehr als ernst war.

»Seine Lordschaft ist da drin«, murmelte sie. »Der Arzt ist bei ihm, aber …«

Catherine lief ins Zimmer ihres Vaters. Er lag zugedeckt in der Mitte des riesigen, vierpfostigen Bettes, das das ganze Zimmer beherrschte und durch seine puren Ausmaße ihren Vater wie geschrumpft wirken ließ.

»Oh, Papa!«

Ihr Vater wandte den Kopf. Sein Gesicht war grau, er atmete schwer.

Der Arzt blickte auf. »Es tut mir leid, Miss Winthrop, aber ich kann nichts mehr für ihn tun.«

»Nein. Nein!« Sie lief zum Bett. »Vater, Papa, bitte …« Sie sah Carrick an, der ihrem Vater seit Jahren diente. »Was können wir tun?«

Er hob hilflos die Hände. »Es tut mir leid, Miss Catherine, aber so ist er, seit er vor zwei Stunden plötzlich seinen Arm umklammert hat.«

Als sie Blumen gepflückt hatte! »Nein, nein, Papa, ich brauche dich doch! Bitte nicht …« Sie verschluckte das Wort, als würde es erst Realität, wenn sie es aussprach. »Herr, Gott, hab Erbarmen!«

Doch Gott schien kein Erbarmen zu haben. Ihr Vater versteifte sich, tat einen letzten, gebrochenen Atemzug und starb.

White’s Gentlemen Klub, London

»Ich wette zehn Guineen, dass die nächste Frau, die vorübergeht, eine grässliche Schreckschraube ist.«

»Nur zehn? Ich setzte fünfundzwanzig. Und was sagst du, Carlew?«

Jonathan Carlew blickte von der Zeitung auf seine beiden Gefährten. »Ich sage, ein Narr und sein Geld sind schnell geschieden.«

»Dich wird bestimmt keiner je einen Narren nennen, geiziger alter Mann«, sagte Vicomte Henry Carmichael. Doch seine Augen schimmerten amüsiert.

Jon verbarg sein Lächeln. Wer hätte gedacht, dass ein Tag Unterschied bei der Geburt Anlass zu solch ewigen Frotzeleien bieten konnte? »Manche nennen es geizig, andere weise.«

»Deine Bescheidenheit ist überwältigend.« Major Thomas Hale, der Dritte im Bunde, schnaubte. »Achtung, Carmichael, da kommt unsere nächste Anwärterin. Was sagst du, hässlich oder himmlisch?«

»Muss es unbedingt das eine oder das andere sein?«, fragte Jon.

»Mein lieber Freund, eine Frau ist entweder entschieden hübsch oder entschieden nicht.«

»Man braucht also nur zu entscheiden, welches von beidem?«, meinte Jon.

»Ganz genau.« Der Erbe des Grafen von Bevington nickte.

»Aber das setzt eine gewisse Subjektivität voraus, denn Schönheit liegt, wie der Dichter sagt, im Auge des Betrachters.«

Der Major hob sein Glas und spähte durch das Bogenfenster. »Ich entscheide: eine Schreckschraube. Carmichael, du schuldest mir fünfundzwanzig Pfund.«

Der Vicomte gab ihm die Summe und murmelte dabei etwas über die Dreistigkeit solcher Damen, die draußen herumliefen, ohne Rücksicht auf die Augen von Gentlemen zu nehmen.

»Weißt du eigentlich, wie dein Liebäugeln auf die Damenwelt wirken muss?«

»Liebäugeln! Carlew, gegen die Implikation dieses Ausdrucks verwahre ich mich.«

»Verzeihung, Hale, aber Implikationen lagen nicht in meiner Absicht.«

Carmichael lachte. »Du bist ein gerissener Hund, Carlew. Als Nächstes sagst du noch, das Aussehen einer Frau sei völlig belanglos.«

Jon lächelte nur.

»Nun ja, manche mögen in diesen Dingen weniger anspruchsvoll sein, aber – du lieber Himmel, wenn ein Mann sich schon Fußfesseln anlegen lässt, dann doch wenigstens von einer Frau, die er gerne anschaut.«

»Gilt das auch für die Frau, um die es hier geht? Ganz ehrlich, wenn dem so ist, dann wäre so mancher von uns zum Junggesellendasein verurteilt, aufgrund unseres alles andere als perfekten Aussehens.«

Der Major brummte etwas und Carmichael meinte: »Du scheinst die vielen Frauen auf dem Ball letzte Woche vergessen zu haben, die mehr als bereit schienen, über deine hässliche Visage hinwegzusehen.«

Jons Ohrläppchen röteten sich. »Das war mir tatsächlich entfallen.«

Der fragliche Abend war einer der schauderhaftesten seines ganzen Lebens gewesen. Wenn er ein wenig Unterricht im Flirten bei Carmichael oder Hale genommen hätte, wäre er vielleicht erfolgreicher darin gewesen, die Frauen, die ihm in Scharen nachliefen, davon zu überzeugen, dass sie von ihm nicht mehr als ein wohlformuliertes Kompliment zu erwarten hatten. Doch wie Hale ganz richtig beobachtet hatte, verliehen Jons ernstes Auftreten und seine tiefe Stimme seinen Worten eine Bedeutsamkeit, die die anhänglichen jungen Damen, deren Bekanntschaft er wahrlich nicht vertiefen wollte, massiv zu ermutigen schien.

»Als Nächstes sagst du noch, eine Frau sollte nicht nach ihrem Gesicht beurteilt werden.«

»Sollte sie das denn?«

Seine beiden Gefährten starrten ihn nur an, Hale schnaubte erneut.

»Carlew, deine Kommentare sind unnötig und unerfreulich. Wenn du dich bitte wieder hinter deine Zeitung verziehen könntest!«

Jon lachte, schüttelte den Kopf über die Possen seiner Freunde und widmete sich wieder der Times. Doch sein Lächeln erlosch, die gedruckten Worte tanzten vor seinen Augen. Er hegte keinen Groll gegen seine beiden Gefährten, sie waren seine Freunde, die ihm geholfen hatten, die letzten Jahre in Indien zu überstehen. Damals waren selbst aus den gütigsten Männern verhärtete Zyniker geworden. Dennoch konnte er nicht umhin, sich zu fragen, wie diese Gentlemen wohl die Frau beurteilt hätten, die ihn einmal in Bann geschlagen hatte. Sie war nicht wirklich hübsch gewesen, geschweige denn himmlisch, ja, er musste zugeben, dass sie nach Hales Maßstab wohl sogar ziemlich schlecht abgeschnitten hätte, was Attraktivität betraf.

Seine Finger verkrampften sich. Lösten sich wieder. Es spielte keine Rolle mehr. Das waren müßige Gedanken. Er würde sie nie wiedersehen und selbst wenn, hatte sie ihre Gefühle doch vor langer Zeit unmissverständlich deutlich gemacht.

Nein. Er war einfach ein sentimentaler Narr. Dabei hätten zwei Jahre Abenteuer und geschäftliche Erfolge eigentlich ausreichen sollen, ihn von diesen Gefühlen zu befreien.

Vielleicht war es an der Zeit, eine Frau zu finden, die nichts gegen seine kaufmännische Tätigkeit hatte, jedenfalls bis zu jenem fernen Tag, wenn ihm der Titel zufallen würde. Seine Einnahmen während seines Aufenthalts auf dem indischen Kontinent sollten, klug investiert, noch für etliche Jahre reichen, und die Zinsen für seinen Anteil an den Firmen seines Vaters stiegen ständig, hatte Trelling ihm gesagt. Vielleicht gab es ja eine Dame, die nichts dagegen hatte, einen solchen Mann zu heiraten. Er konnte jedenfalls Beständigkeit bieten und immerhin ein ganz annehmbares Vermögen.

Doch dann wurde er wieder mutlos.

Würde es ihm gelingen, eines Tages eine Frau finden, die bereit war, auch den trüben Schleier zu übersehen, der über der Legitimität seiner Geburt lag?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

Winthrop Manor, Gloucestershire

»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.«

Die Worte gingen Catherine nicht aus dem Kopf. Sie saß in ihrem Lieblingssessel in ihrem Lieblingszimmer auf Winthrop. Holte tief Luft. Atmete wieder aus. Sog hungrig die Stille in sich auf. Atmete abermals ein und wieder aus, als vermochte diese einfache Aktivität die Wirklichkeit dieses Tages erträglich zu machen. Den Pfarrer. Das Begräbnis. Die Trauernden. Die Gerüchte und die neugierigen Blicke, die sich hastig abwandten, wenn sie sie erwiderte. Vor allem aber die dumpfe Schwere, das Gewicht auf ihrer Seele, das keine Worte des Pfarrers oder ihrer Freundin Lavinia erleichtern konnte. Ihre Welt hatte sich verändert. Von jetzt an würde alles anders sein. Alles würde … schlimmer sein.

Sie ließ sich in den hochlehnigen Ohrensessel sinken, stellte ihre Füße fest auf den in herrlichen Farben leuchtenden Axminster-Teppich und umklammerte mit aller Kraft die mit rot gestreiftem Stoff bezogenen Armlehnen. Sie war kein in Ohnmacht sinkendes Dämchen, ganz gleich, welches Vorbild ihre Mutter, die kaum noch ihr Bett verließ, ihr in den letzten Wochen gegeben hatte. Irgendjemand musste die arme Serena trösten, die Besucher empfangen, der bedrückten Dienerschaft Mut zusprechen, Richtlinien für die Ansprache auf dem Begräbnis vorgeben und entscheiden, was danach zu essen gereicht würde. Irgendjemand musste da sein und Verantwortung für das Leben übernehmen, das ihnen so urplötzlich auferlegt worden war, nachdem der feste, ruhige Halt, der ihr Vater ihnen allen immer gewesen war, für immer fort war.

Ihre Kehle brannte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte. Noch einmal.

»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.«

Sie hob den Kopf und betrachtete die cremefarbene Tapete mit den blassrosa Rosen. Wie wunderhübsch, wie tröstlich dieses Zimmer mit seinem lieblichen Ausblick auf den Rosengarten und die blauen Hügel dahinter immer gewesen war. Wieder atmete sie gegen den aufflackernden Schmerz an, ein und aus, ein und aus. Bald würde Cousin Peter hier leben. Er würde heiraten und seine Frau würde das Haus neu einrichten und Winthrop Manor ihren Stempel aufdrücken. Sie und Mama mussten dann ins Dower House, das Witwenhaus, umziehen – eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung für das alles andere als luxuriöse Cottage am äußersten Rand des großen Anwesens.

Unwillkürlich zog sie eine höhnische Grimasse. Dower House – vermutlich ein weiteres Projekt, das ihr Vater in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Die Entdeckung vieler solcher Projekte – wie etwa der Stapel ungeöffneter Rechnungen auf seinem Schreibtisch, auf denen sich der Staub gesammelt hatte – hatte die letzte Zeit noch unerfreulicher gemacht. Wieder schnürte es ihr die Brust zusammen. Einatmen. Ausatmen. Immerhin waren sie in Dower House näher bei Hampton Hall und Lavinia, falls sie und ihr Mann, der Graf von Hawkesbury, sich zu Hause aufhielten. Das war doch schon etwas. Andererseits war es weit weg von den Ställen und ihrem Gig und den Gärten und …

Ihre Augen brannten schon wieder.

Die Tür ging auf, ein Schwall kühler Luft drang herein und mit ihr die Unruhe, der sie für kurze Zeit entflohen war.

»Ah, da ist sie ja.« Tante Drusilla Villiers – groß, dünn, mit stechenden schwarzen Augen und der langen Nase der Ashtons, die sie wie eine hochmütige Hexe wirken ließen – kam auf Catherine zu. »Wir haben uns schon gefragt, wohin die Tochter des Hauses verschwunden ist.«

Catherine schluckte. Schluckte noch einmal. Wann würde sie die Fassade der Gastgeberin ablegen und sich stattdessen selbst trösten lassen können?

»Entschuldige, Tante, aber ich war nicht hungrig und ein bisschen müde …«

»Wie auch immer, du hast Verpflichtungen, jetzt, wo deine Mama darniederliegt. Dass Lady Milton beim Tee auftrat, als sei sie die Hausherrin! Ich bitte dich! Dieses endlose Geschwafel über ein junges Ding namens Sally, an dem keiner von uns auch nur das leiseste Interesse hat!«

Catherine lächelte schwach, als sie sich die Szene vorstellte. »Meinst du vielleicht Sophy, Tante?«

Sophia Thornton, eine ehemalige Spielgefährtin von Catherine, hatte einen sehr netten Brief geschrieben, in dem sie ihrem Kummer und großen Bedauern über ihr Wochenbett Ausdruck gab, das ihr jede Reise verbot. Er war nett gemeint, doch Catherine empfand auch diesmal denselben Stachel wie bei fast allen ihrer Briefe, die keinen Zweifel daran ließen, dass Sophias Leben immer schöner wurde, während Catherines seit Jahren stillzustehen schien.

Ihre Tante zuckte die Achseln. »Sophy, Sally, was interessiert es mich, wie ihre alberne Tochter heißt?« Tante Drusilla setzte sich auf das weiß-golden gestreifte Sofa neben dem Marmorkamin.

Wieder ging die Tür auf und Serena und ihre Cousins traten ein.

Catherine betrachtete ihre Schwester, versuchte sie völlig leidenschaftslos zu sehen. Sie konnte gut verstehen, dass die Leute der Jüngeren der Winthrop-Schwestern gelegentlich Kaltherzigkeit unterstellten.

Ihre Haltung, ihr ganzes Auftreten war so unbeschwert wie ihr Name. Nur Catherine wusste, wie sehr Serena litt. Ihre nächtelangen Selbstvorwürfe, dass sie auf der Schule in Bath gewesen war und nicht Abschied von ihrem Vater hatte nehmen können, hatten auch Catherine wach gehalten, während sie versuchte, ihre Schwester zu trösten. Doch all das sah man ihr nicht an. Mit ihren goldenen Locken, ihrer ganzen Erscheinung, die von ätherischer Schönheit war, wirkte Serena so sorglos, als sei sie auf dem Weg zu einem Picknick mit ihren Cousins und Cousinen und nicht in tiefer Trauer um einen Vater, der sie angebetet hatte.

Sie verzog den Mund. Vielleicht trug Serena ihre Trauer besser, als Catherine es je vermögen würde – oh, noch einmal unschuldige siebzehn zu sein! –, oder vielleicht hatten sie und ihre Schwester nicht nur Mamas Ashton-Nase, sondern auch die unglückselige Veranlagung ihres Vaters geerbt, jeden Kummer und jede Sorge für sich zu behalten. Sie seufzte. Wenigstens würde Serena bald in Miss Haverstocks Bildungsanstalt in Bath zurückkehren.

»Catherine!« Ein Wirbel aus Fürsorge stürzte ins Zimmer und schloss Catherine in eine Umarmung, die sie fast erdrückte. »Oh, meine liebste Freundin, ich bin so froh, dich zu sehen!«

Lavinia Hawkesbury ließ sie los. Ihre geröteten Augen zeugten von ihrem tief mitempfundenen Kummer. »Ich konnte einfach nicht eher zu dir durchdringen, es waren einfach zu viele, die dir ihr Beileid aussprechen wollten.«

Catherine nickte. Das Gewühl hatte es ihr leicht gemacht, sich mitleidigen Kommentaren und Blicken zu entziehen, indem sie ihre Augen konsequent niedergeschlagen hielt. Ein schlichtes Nicken, ein paar Dankesworte waren alles gewesen, was sie zustande gebracht hatte, unentwegt bedrängt von den Angehörigen der vielköpfigen Familien sowohl ihres Vaters als auch ihrer Mutter, ein paar guten Nachbarn wie Lavinia und dem Grafen und anderen, die sie kaum oder gar nicht kannte. Einen Moment lang schlug ihr Herz schneller. Würde er es wagen zu kommen?

Lavinias Kleid aus kostbarer schwarzer Seide raschelte, als sie sich in den Sessel neben Catherine setzte. Inzwischen füllte sich das Zimmer mit weiteren Gästen, die auf die Verlesung des Testaments warteten. Lavinias Taille erschien Catherine ein wenig fülliger als sonst.

Sie räusperte sich. »Ich hoffe, es geht dir gut.«

Lavinia lächelte. »Besser als letzten Monat. Nicholas ist offenbar entschlossen, mich in Watte zu packen, aber als wir deine traurige Nachricht erhielten, wollte ich nur noch so schnell wie möglich zu dir.«

Catherine lächelte zurück – ihrem Gefühl nach zum ersten Mal seit Monaten. Lavinias leidenschaftliche Fürsorge für ihre Freunde, zusammen mit ihrer manchmal fast bestürzenden Offenheit, hatten sie angezogen, seit sie ihr als junges Mädchen zum ersten Mal begegnet war. Zweifellos hatte ihr unkonventionelles Benehmen ihr geholfen, das Herz des Kriegshelden zu gewinnen, der vor drei Jahren, als er den Titel übernommen hatte, nach St. Hampton Heath übergesiedelt war. Doch Catherine wusste, dass auch Lavinia nicht von Schicksalsschlägen verschont geblieben war. Der Herr hatte gegeben und sogar einem so guten Menschen wie Lavinia hatte der Herr auch wieder genommen.

Jetzt trat Lady Milton ein, die füllige Witwe des Gutsherrn. Sie sah sich suchend im Zimmer um, bis sie Catherine entdeckte. »Mein armer Liebling! Wie schaffst du es nur, dich so zu halten? Du bist so blass und – bestimmt hast du nichts dagegen, dass ich es so unverblümt ausspreche, schließlich kennen unsere Familien sich schon so lange – vielleicht auch ein wenig unpässlich? Aber das könnte auch an deinem Kleid liegen.« Blaue Augen musterten Catherine ungeniert von oben bis unten. »Nicht jede kann so gut Schwarz tragen wie meine Sophy. Aber sie gehört eben zu den Glücklichen, an denen einfach alles gut aussieht.« Ihr Blick fiel auf Lavinias Kleid und wurde hart, dann wandte sie sich wieder an Catherine. »Ich bin so froh, dass es dir gut zu gehen scheint, meine Liebe, zumal mir vorhin aufgefallen ist, dass deine arme Mama überhaupt nicht gut aussieht.«

Einatmen. Ausatmen. Vielleicht würde Gott Lady Milton ja schon bald aus ihrer Gegenwart entfernen …

Lavinia begegnete Catherines Blick, nickte leicht und wandte sich mit süßem Lächeln an Lady Milton. »Nun, das war wohl zu erwarten, nicht wahr? Mir scheint, dass es einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes gut aussieht, doch sehr an Empfindung mangelt.«

Lady Milton schniefte. »Es liegt mir fern, Ihnen zu widersprechen, Lady Hawkesbury …«

»Wenn es nur so wäre«, murmelte Lavinia.

»… ich wollte nur der armen Catherine mein Beileid aussprechen.«

»Tatsächlich? Da habe ich wohl nicht richtig hingehört«, erwiderte die unverbesserliche junge Gräfin.

Lady Milton starrte sie an, hob beleidigt ihr Kinn und ging weiter zu anderen Bekannten. Ihre nasale Stimme sorgte allerdings dafür, dass Catherine etwas über die Allüren einer gewissen Pfarrerstochter aufschnappte, die diese pflege, seit sie sich einen Grafen geangelt habe.

Lavinia zuckte nur die Achseln und verdrehte die Augen, was Catherine ein weiteres ironisches Lächeln entlockte.

Der Raum war viel zu eng für die Großfamilie und die zahlreichen Freunde, deren Anwesenheit Catherine nun zwang, einen schicklichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, während die Damen eine nach der anderen ihrem Mitgefühl und Bedauern Ausdruck verliehen. Und so schlug denn schon bald der Schmerz wieder über ihr zusammen, während die unaufhörlichen Kommentare und Fragen die Sorgen, die seit Tagen an ihr nagten, noch verstärkten. Ja, es war tatsächlich eine traurige Zeit. Was würde sie jetzt tun? Wie wurde ihre liebe Mutter damit fertig? Und Serena?

Diese Fragen, das wusste sie sehr gut, waren ein subtiles Echo der einen, viel drängenderen Frage: Wie sollten sie in Zukunft ihren Lebensunterhalt bestreiten? Einige Einschränkungen in ihren äußeren Lebensumständen waren unumgänglich, denn sogar sie hatte das Gerede über die verschwenderischen Ausgaben ihres Vaters gehört – und die Rechnungen gesehen, die ständig ins Haus geflattert waren. Aber stand es wirklich so schlimm um sie?

Durch die hohen französischen Türen sah sie, wie der Wind die Kiefernnadeln von den Bäumen regnen ließ, mit einer gleichbleibenden und doch ungewissen Bewegung, in der sich die Äste unter unsichtbaren Gewalten einmal in diese, einmal in jene Richtung bogen. Kälte kroch in ihr Herz. Unsichtbare, unbekannte Gewalten, wie die in ihrem Leben …

Eine Bewegung, die durch den ganzen Raum ging, ließ sie zur Tür blicken.

Catherine blinzelte. Nein. Bitte nicht.

»Lady Harkness! Mit Ihnen hatten wir nun wirklich nicht gerechnet!« Das kam von Tante Drusilla, deren rücksichtslose Offenheit schon fast Lavinias Auftritten Konkurrenz machte.

»Ah, Drusilla.« Die prachtvoll ausstaffierte Erscheinung setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ja, da sind wir! Wir wären schon früher hier gewesen, wenn wir nicht in Swindon aufgehalten worden wären.«

»Von Straßenräubern?« Lady Milton glotzte sie an; anders konnte man ihren Blick, bei dem ihr fast die Augen aus dem Kopf traten, nicht bezeichnen.

»Nein, nein. Nur ein verlorenes Hufeisen.« Lady Harkness blickte sich um. »Wo ist denn die ärmste Elvira? Es ist ja eine Ewigkeit her, ich würde sie wahrscheinlich gar nicht mehr wiedererkennen, aber ich wollte ihr doch mein Beileid aussprechen.«

Catherine erhob sich. »Mama ist indisponiert.«

»Ach so.« Die Straußenfedern – die sehr viel besser in einen Ballsaal gepasst hätten – zitterten wie die Kiefern draußen, als der Rotschopf nickte. »Miss Winthrop. Darf ich Sie meines tiefsten Mitgefühls versichern?«

Doch ihre grünen Augen behielten den kalten, harten Ausdruck und glitten über Catherines tristes Gewand, als suchten sie etwas – dessen Mangel sie offenbar konstatierten. »Ich muss gestehen, dass ich auch Sie kaum wiedererkenne. Sie wirken so … viel älter als letztes Mal.«

Catherine biss sich auf die Lippen. Sie begriff Lady Miltons Ressentiment gegen Lavinia, aber noch sehr viel mehr begriff sie die Feindschaft dieser Frau gegen sie, Catherine. Außerdem ließ es sich tatsächlich nicht leugnen, dass die beiden letzten Jahre nicht gnädig mit ihr umgesprungen waren.

Jetzt tauchte eine schlanke Blondine auf, die bei dem grellen Auftritt des Rotschopfs völlig in den Hintergrund geraten war. Lady Harkness sah sich um und stellte sie mit einer Handbewegung vor: »Meine Tochter Julia.«

Dies war also die Halbschwester, über die sie so viel nachgedacht hatte. Elegant, mit blauen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen, wirkte sie schlicht und unaufdringlich. Catherine suchte in ihrem Gesicht nach seinen Zügen …

Doch halt! Ihr Herz schlug schneller. Wenn Lady Harkness und Julia da waren, dann bestimmt auch er.

Plötzlich drehte sich das Zimmer vor ihren Augen und einen kurzen Moment fürchtete sie, ohnmächtig zu werden.

Einatmen. Ausatmen.

»Lady Harkness, nicht wahr? Bitte gestatten Sie mir, Ihnen einen Platz anzubieten.« Lady Milton, sichtlich beeindruckt von den glitzernden Diamanten am Hals des Neuankömmlings und völlig unempfänglich für die Feindseligkeit, die plötzlich den Raum erfüllte, bedeutete der Dame, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, und fing sogleich an, ihr Fragen über London zu stellen, die, wie sogar ein Blinder sehen konnte, nur mit größtem Widerwillen beantwortet wurden.

Lavinia nahm Catherines Hand und führte sie in eine ruhigere Ecke. »Liebe Catherine, du siehst gar nicht gut aus. Was hast du?«

Doch wie konnte sie der Freundin gegenüber ihre Befürchtungen zugeben oder die Geheimnisse verraten, die so schmerzlich waren? Unmöglich. Sie holte tief Luft und versuchte sich an einem Lächeln. »Ich wünschte, Mama wäre hier.«

»Natürlich, das ist doch selbstverständlich. Soll ich jemanden schicken, der fragt, ob sie sich in der Lage dazu fühlt?«

»Nein, danke, schon gut. Das kann ich selbst tun.«

Doch bevor sie nach einem Diener läuten konnte, ging abermals die Tür auf und Mama trat ein. Ihr Gesicht war blass und müde, ihre Züge angestrengt, doch die Anspannung der letzten Tage hatte ihrem ausgeprägten Sinn für Dramatik keinen Abbruch getan. Sie blickte sich im Raum um, nahm die Bekundungen des allgemeinen Mitgefühls mit königlicher Haltung entgegen und blieb dann mit aufgerissenen Augen vor den beiden Damen stehen, die das Sofa besetzt hatten, womöglich noch blasser als zuvor, jetzt aber mit zwei leuchtend roten Flecken auf den Wangen.

»Liebste Lady Winthrop, wir haben gerade gesagt – nicht wahr, Lady Harkness – dass wir hofften, Sie bald zu sehen …«

Lady Milton schwatzte weiter, ihr fiel überhaupt nicht auf, dass die Angesprochene nicht auf sie achtete, weil sie ihren Blick fest auf ihre Nebensitzerin geheftet hielt.

»Ah, Elvira. Wie geht es dir?«

Catherine ballte die Fäuste. Eine solche Frage zu stellen – als seien sie auf einem Ball!

»Den Umständen entsprechend«, antwortete Mama steif. »Ich muss zugeben, dass ich ein wenig überrascht bin, dich hier zu sehen, Clarinda.«

»Ich wüsste nicht, warum dich das überrascht. Als betroffenes Mitglied der Familie habe ich doch wohl ein größeres Recht, hier zu sein, als manche anderen Anwesenden.« Sie warf einen bezeichnenden Blick auf einige dieser Anwesenden, darunter Lady Milton, die mit offenem Mund registrierte, dass ihre freundlichen Annäherungsversuche so unfreundlich zurückgewiesen wurden.

»Größeres Recht?«

»Aber sicher.« Der rote Kopf hob sich stolz. »Als Mutter des neuen Barons glaube ich sehr wohl, ein größeres Recht zu haben, hier zu sein, als alle anderen.«

»Du scherzt!«

Das kam von Tante Clothilde, deren Sohn Peter völlig sicher war, dass er den Titel erben würde.

Lady Harkness hob eine kostbar gewandete Schulter. »Ich wiederhole nur, was der liebe Mr Whittington Jonathan in seinem letzten Brief geschrieben hat.«

Jonathan …

Das Zimmer geriet vor Catherines Augen erneut ins Trudeln.

Lavinia nahm abermals ihre Hand und führte sie zu einem niedrigen Samtsessel. Sie setzte sich dankbar. Die Stimmen der älteren Frauen drangen weiter an ihr Ohr.

»Aber mein Peter ist der Nächste in der Reihenfolge. Mr Whittington muss da irgendetwas verwechselt haben.«

»Das glaube ich kaum.«

»Aber Peter war nun schon seit geraumer Zeit immer wieder zu Besuch auf dem Anwesen und hat alles Nötige von Lord Winthrop gelernt …«

»Ach, wirklich?«

In Lady Harkness’ grünen Katzenaugen schien plötzlich die gleiche Hinterlist zu lauern wie in ihren Worten. Versuchte sie etwa, Papas Instruktionen an Peter schlechtzumachen?

»Es stimmt, Papa hat Peter wirklich in a-alles eingeweiht, was das Anwesen betrifft«, mischte Catherine sich ein und zuckte innerlich zusammen bei dem Stottern, unter dem sie stets in der Gesellschaft einschüchternder Menschen litt, in deren Gegenwart sie sich dumm und unbeholfen fühlte.

»Das mag ja sein, aber da er nicht der nächste Baron wird, war das wohl umsonst. Ich denke, es ist an der Zeit, dass jemand mit einem frischen Blick die Dinge in die Hand nimmt. Allein der Zustand der Teppiche!«

Heiße Empörung stieg in Catherine auf, ein Echo des empörten Aufkeuchens, das durch den Raum ging. Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, war wieder Tante Drusillas Stimme zu hören.

»Ein schrecklicher Gedanke, dass der Titel an jemanden gehen könnte, der so wenig Anspruch darauf hat!«

Lady Harkness’ Augen blitzten auf, sie wurde tiefrot. »Das ist eine Unverschämtheit …!«

»Aber meine Damen.«

Die Herren, angeführt vom Grafen von Hawkesbury, traten durch die offene Tür. Catherines Magen zog sich schmerzhaft zusammen, ihr wurde unerträglich heiß. Er war hier, würde jeden Moment ins Zimmer kommen. Sie erhob sich halb, ließ sich wieder zurücksinken, hatte nur noch den Wunsch, sich in eine dunkle Ecke zu verkriechen.

Forschend betrachtete sie die Gesichter der Eintretenden. Mr Whittington wirkte alt und müde, als hätten die Anstrengungen der letzten Stunde ihn völlig ausgelaugt. Der Graf ging sofort zu Lavinia und flüsterte ihr etwas zu, auf das sie mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln antwortete. Catherine blickte wieder zur Tür. Peter trat ein; er ging mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck zu seiner Mutter und flüsterte ihr ebenfalls etwas zu; es schien sehr wichtig zu sein.

Dann trat er ein.

Die Welt blieb stehen. Ihr Atem stockte.

Sie erhaschte einen Blick auf sein gebräuntes Gesicht und sein dunkelblondes Haar. Er blickte sich langsam im Raum um. Sie schlug schnell die Augen nieder, wollte den Blickkontakt mit ihm auf jeden Fall vermeiden, obgleich ein winziger Teil von ihr sich nach seiner Aufmerksamkeit sehnte, sich sehnte, ihn sagen zu hören …

»Mein Sohn, komm, setz dich zu mir.«

»Danke, Ma’am, ich stehe lieber.«

Die tiefe, tiefe Stimme faszinierte sie, wie sie es schon immer getan hatte. Als sei es ihm unangenehm, hier zu sein, ging er zu den Fenstertüren und schaute hinaus, die Hände auf dem Rücken, die breiten Schultern umhüllt von Trauerkleidung, deren ausgezeichneter Sitz und erlesene Qualität ihm durchaus zum Vorteil gereichte.

Nicht dass sie viel darauf gab.

Sie atmete ein. Aus. O Gott, hilf mir …

»Worum geht es denn? Whittington?«

Der ältere Mann räusperte sich, entschuldigte sich und setzte dann zu einer mit einem Wirrwarr juristischer Begriffe gespickten Erklärung an. Endlich, nachdem er sich mehrmals die Stirn getrocknet hatte, sagte er: »Mir ist bewusst, dass das Folgende etwas überraschend kommt, doch es hat den Anschein, als gehe das Anwesen auf« – er schluckte – »Mr Jonathan Carlew … äh, ich meine, Winthrop … über.«

Nein.

Die Wände bewegten sich auf Catherine zu.

»Aber Peter ist der Neffe des lieben Walter«, rief Tante Clothilde. »Er hat mit Sicherheit größere Rechte als ein illegitimer Cousin …«

»Wie können Sie es wagen?«, schnappte Lady Harkness.

Catherine sah zum Fenster. Mr Carlews Aufmerksamkeit war noch immer von der Szenerie draußen gefangen genommen. Das einzige Zeichen, dass er die Beleidigung und den daraufhin aufflammenden Zorn seiner Mutter wahrgenommen hatte, war ein Straffen, eine Anspannung in seinen Schultern, als hätte er plötzlich die Luft eingesogen.

»Es stimmt zwar, dass Mr Carlew ein Cousin um vier Ecken ist, doch er hat mit Sicherheit höhere Anrechte, da er von dem jüngeren Bruder von Lord Winthrops Urgroßvater abstammt …«

»Falls das stimmt«, murmelte Tante Clothilde.

»… und so die männliche Linie fortsetzt, wie das Gesetz es verlangt. Peter erbt die übrigen Besitztümer, darunter das Avebury-Anwesen; der Titel, das Herrenhaus und die Pachthöfe gehen jedoch an Mr Carlew.«

»Aber …«

»Das werden wir ja noch sehen«, fuhr Tante Clothilde auf. »Wir werden das auf jeden Fall noch von einem ordentlichen Anwalt prüfen lassen!«

»Wie Sie wünschen.« Mr Whittington neigte den Kopf.

»Was ich wünsche, ist zu wissen, wie viel das Anwesen wert ist«, sagte Lady Harkness.

Mr Carlew drehte sich um und sah seine Mutter stirnrunzelnd an.

»Schau mich nicht so an, Jonathan. Das wollen wir doch alle wissen, oder? Nun? Wie viel hat er dir hinterlassen?«

Er schüttelte den Kopf. »Mutter, dies ist weder die Zeit noch der Ort für solche Fragen.«

»Du meinst, wegen all der unbeteiligten Personen?« Der grüne Blick flog durch den Raum. »Du hast recht, es sollte im Moment noch in der Familie bleiben.«

»Familie?«, zischte Tante Drusilla. »Die Frau hat Nerven …«

»Ich habe Nerven und ein ausgezeichnetes Gehör, meine liebe Drusilla. Und jetzt nehmen Sie diesen Ausdruck aus Ihrem Gesicht, sonst wird noch die Milch in meinem Tee sauer.«

Irgendjemand kicherte. Catherine blieb der Mund offen stehen. Gab es irgendwas, was diese Frau nicht aussprach?

Sie blickte zu Lavinia hinüber, deren hochgezogene Brauen zweifellos ihrem eigenen Gesichtsausdruck entsprachen. Im Gesicht des Grafen neben ihr mischte sich Schockiertheit mit Amüsement.

Lavinia warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und erhob sich. »Lady Winthrop, ich hoffe, dass es Ihnen bald besser geht.« Dann flüsterte sie Serena etwas zu und nahm Catherine kurz in die Arme. »Sag mir, wenn du Gesellschaft brauchst. Und wenn wir irgendwas für dich tun können, zögere nicht, es uns wissen zu lassen.«

Der Graf kondolierte ihr noch einmal und lächelte sie ernst an. »Sie sagen uns doch ganz bestimmt, wenn Sie etwas brauchen?«

»N-natürlich, Mylord.«

»Gut.« Er nickte, als sei er zufrieden, dann ging er zu Mr Carlew und streckte ihm die Hand hin. Catherine sah, wie die beiden Männer ein paar Worte wechselten, während die anderen Damen sich von Lavinia verabschiedeten. Weitere Nachbarn taten es ihr nach und verabschiedeten sich ebenfalls, bis auf Lady Milton, die selbstzufrieden sitzen blieb, an einem Keks knabberte und das große Reynolds-Porträt über dem Kamin betrachtete, als hoffte sie, unsichtbar zu sein, wenn sie nur jeglichen Blickkontakt vermied.

»Lady … Milton, nicht wahr?«

Mr Carlews tiefe Stimme erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden, einschließlich der in den Anblick der Kunst Versunkenen, die rasch ihren Keks hinunterschluckte. »Ja?«

»Verzeihen Sie meine Unwissenheit, aber stehen Sie in so enger Beziehung zu Lady Winthrop, dass Sie es für Ihre Pflicht halten zu bleiben?«

Die Frau des Gutsbesitzers blinzelte verlegen. Catherine unterdrückte ein Lächeln. Noch nie hatte sie Lady Milton so verdutzt gesehen – außer auf der Hochzeit von Lavinia und dem Grafen. »Ich kenne Elvira seit Jahren, deshalb halte ich es selbstverständlich für meine Pflicht …«

»Oh, schafft sie doch bitte raus«, schnauzte Tante Clothilde. »Keiner will sie hierhaben.«

Lady Milton stand auf, ihre Nase hoch in der Luft. »Das muss ich mir nicht bieten lassen!«

»Wurde aber auch Zeit«, murmelte Tante Drusilla, während die neugierige Nachbarin aus dem Zimmer watschelte.

Catherine hustete, um ihr Kichern zu tarnen. Das Geräusch weckte Mr Carlews Aufmerksamkeit.

Er bedachte sie mit einer kurzen Verbeugung, die sie, höflich, wie sie war, mit einem Nicken zur Kenntnis nehmen musste.

Dann wandte er sich gleich wieder ab. Sie blieb sitzen. Auf einmal fühlte sie sich innerlich wund und wie ausgehöhlt. Sie atmete zittrig aus und zwang ihre behandschuhten Hände, sich zu entspannen. Das Schlimmste war überstanden. Doch ihre Augen brannten.

»Nun, wollen wir weitermachen?« Der Anwalt sah sich um.

Mama saß bei Tante Drusilla. Tante Elizabeth, Papas ruhige Schwester, die drei sehr unruhige Mädchen großgezogen hatte, saß auf einem anderen Sofa, ihre rot geränderten Augen verrieten ihren echt empfundenen Kummer und zeigten, dass zumindest sie über den Tod ihres Bruders trauerte. In die vielen Gefühle, die momentan auf Catherine einstürmten, mischte sich Frustration. War Mamas Kummer womöglich weniger ein Ausdruck echter Trauer über Papas Tod als vielmehr die Reaktion auf den Verlust ihrer Stellung und des Hauses, grübelte sie? Ein liebloser Gedanken, bei dem sie sich dennoch versteifte. Sie wechselte ihren Platz und setzte sich neben ihre trauernde Tante. Tante Elizabeth nahm ihre Hand.

Catherine sah zu Tante Clothilde und Peter hinüber, die beide noch immer höchst missmutige Gesichter machten. Auf der anderen Seite des Kamins saßen Lady Harkness und Julia, Mutter und Tochter, mit einem Gesichtsausdruck, den man nur als erwartungsvoll bezeichnen konnte. Hinter ihnen stand Mr Carlew, bewegungslos, sein Gesicht so ernst, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Mann sah wahrlich nicht aus, als bereite das Ganze ihm Freude.

Mr Whittington sprach weiter. Seine trockene Stimme und die noch trockeneren juristischen Phrasen lullten sie ein, bis sie sich kaum noch konzentrieren konnte. Endlich wandte er sich an ihre Mutter. »Lady Winthrop, wie Sie vielleicht wissen, hat Ihr Mann ziemlich hohe Schulden hinterlassen. Die Aktiva, die er besaß, sind mit hohen Hypotheken belastet. Es tut mir außerordentlich leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie von einer erheblich kleineren Zuwendung werden leben müssen, als Sie es gewohnt sind.«

»Was?«

»W-wie viel kleiner?«, fragte Catherine.

Mr Whittington wandte sich an sie. »Es tut mir sehr leid, Miss Winthrop, doch außer den Beträgen für die Mitgift, die für Sie und Ihre Schwester beiseitegelegt wurden, falls Sie heiraten sollten, ist fast nichts mehr da.«

Sie schwieg. »Wie k-kann fast alles weg sein?« Krampfhaft mied sie Mr Carlews Blick, ihre Wangen brannten angesichts der Demütigung, dass er soeben nicht nur von ihrem Vermögensverlust erfuhr, sondern auch noch Zeuge ihres Stotterns wurde.

»Heißt das, wir haben gar kein Geld mehr?«, fragte Mama. »Das … das ist unmöglich! Walter hätte mich niemals mittellos zurückgelassen!«

Mr Whittington hustete. »Ich fürchte, das hat er getan, Madam.«

»Nein. Nein, das glaube ich einfach nicht. Walter hätte nie …«

»Mama«, murmelte Catherine.

Lady Harkness blickte selbstzufrieden auf ihren Nachwuchs. »Das Nichtvorhandensein von Geldmitteln berührt uns nicht, darf ich wohl sagen. Mein Mann war ein exzellenter Versorger.«

»Mein Mann, dass ich nicht lache«, murmelte Tante Drusilla. »Wie viele Ehemänner hatten Sie? Und alle sind tot. Die schwarze Witwe, heißt es …«

»Tante!« Die erneute Demütigung ließ Catherine abermals erröten. Wie konnte Papas Tod nur in so schreckliche Manifestationen ungehobelten Betragens münden?

»Lady Winthrop, Sie werden ein kleines Einkommen haben, vielleicht acht- oder neunhundert im Jahr …«

Mama stöhnte auf.

»Und Ihre Töchter werden eine ähnliche Summe erhalten, wenn sie heiraten …«

Catherine hätte beinahe auch aufgestöhnt. Warum, warum nur musste ausgerechnet er anwesend sein und wie sie den Zweifel aus der Stimme des Anwalts heraushören? Durfte eine alte Jungfer von Fünfundzwanzig überhaupt noch hoffen, jemals zu heiraten? Würde es tatsächlich noch einen Mann geben, der sie haben wollte? Seine Zurückweisung hatte diese Frage doch längst beantwortet!

»Und Peter? Was ist mit ihm?«

Mr Whittington betrachtete Tante Clothilde mit einem Ausdruck wachsenden Missfallens. »Madam, Peter ist im Testament zwar als Erbe des Avebury-Anwesens eingesetzt, doch leider wurde nicht für die laufenden Unterhaltskosten Sorge getragen.« Er wandte sich an Peter, in dessen Miene sich bei seinen letzten Worten Ernüchterung abzeichnete. »Sie besitzen hoffentlich andere Aktiva, die Sie dafür verwenden können?«

»Ich … äh …« Sein pickliges Gesicht wurde rot, er sah seine Mutter an.

Diese schien sich kurz ganz in sich selbst zurückzuziehen, dann straffte sie sich und antwortete steif: »Das geht Sie nichts an.«

»Natürlich, Madam.«

Tante Clothilde stand auf und griff, leicht schwankend, nach Peters Arm. »Das alles riecht nach krasser Inkompetenz! Ich kann nicht glauben, dass mein Peter nicht erhält, was ihm zusteht.« Sie warf Mr Carlew einen giftigen Blick zu. »Der Titel zumindest sollte an jemanden fallen, der echtes Winthrop-Blut in sich trägt!«

Ein Gemurmel der Unzufriedenheit und gegenseitiger Schuldzuweisungen breitete sich im Zimmer aus und stürzte Catherines Seele in noch tiefere Verzweiflung. Wie konnten sie nur! Zankten sich wie streunende Hunde um einen Knochen, knurrten einander an und bissen aufeinander ein! Nahm denn niemand Rücksicht darauf, dass Papa tot war?

Endlich verließen alle bis auf sie selbst das Zimmer.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ließ sich in ihren Lieblingssessel fallen und vergrub sich in die Kissen, als könnte sie sich darin verstecken.

Einatmen. Ausatmen.

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 3

Jonathan schlenderte durch den mit Eichenholzpaneelen vertäfelten Raum, froh, die spannungsgeladene Situation hinter sich gebracht zu haben und sich nach dem Aufruhr in seinem Kopf und in seinem Herzen ein wenig ablenken zu können. Das Eichenzimmer, das Geoffreys, der ungemein distinguierte Butler, ihm gezeigt hatte, war eher eine Art Galerie, ein lang gestreckter Raum, in dem die Porträts längst verstorbener Ahnen hingen, die er nie kennengelernt hatte.

Außer – ja. Er blieb stehen und blickte zu dem riesigen Gemälde hoch. Blaugraue Augen unter buschigen Brauen starrten ihn finster an. Dieses Gesicht kannte er. Seine Lippen verzogen sich zu einer bitteren Grimasse. Er hatte es nie als Kompliment empfunden, wenn seine Mutter ihn darauf hingewiesen hatte, dass er in sehr viel mehr als nur einer gewissen Gewieftheit in Finanzdingen nach seinem Großvater kam, doch wenn er ihn so ansah, musste er zugeben, dass sie recht hatte. Die Kieferlinie zum Beispiel und die Form der Ohren. Doch Jon hoffte, dass er niemals so zutiefst unzufrieden in die Welt blicken würde – auch wenn er manchmal durchaus so empfand.

»Mein lieber Junge, da bist du ja.«

Er drehte sich um und zog eine Braue hoch. »Wie du siehst.«

Seine Mutter lächelte. Dann blickte sie ebenfalls zu den Porträts auf und schauderte theatralisch. »Diese alten Skelette sind einfach makaber.«

»Mutter …«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, warum ich je in diese Familie eingeheiratet habe. Schau sie dir doch an: dermaßen aufgeblasen, dass ihnen der Stolz praktisch von der Nase tropft.« Sie legte ihm besitzergreifend eine Hand auf den Arm. »Dein Großvater war noch der Beste aus diesem üblen Haufen.«

»Besser noch als Vater?«

Sie warf ihm einen verhangenen Blick zu, als wüsste sie mehr als genug zu erzählen, wage es aber nicht. Er spürte, dass er unsicher wurde, wie jedes Mal, wenn sie sich weigerte, von seinem leiblichen Vater zu sprechen. Solange er denken konnte, hatte er Harold Carlew für seinen Vater gehalten, ja, hatte sich so sehr mit ihm identifiziert, dass er schon in frühen Jahren seinen Namen angenommen hatte. Doch hatte Harold nicht etwas übereilt seinen Sohn in ihm gesehen? Hatten die Winthrops recht? War alles ein Irrtum gewesen?

»Erinnerst du dich noch, wie wir deinen Großvater besucht haben?«

Er nickte. Wie könnte er das je vergessen? Damals war ein Traum für ihn Wirklichkeit geworden. Ein unmöglicher Traum.

»Ich habe mich so gefreut, dass du die Chance hattest, ihn kennenzulernen, bevor …«

Ihre Worte verklangen, sie sprach den Satz nicht zu Ende. Er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie sacht. Sie seufzte. »Ich gehe davon aus, dass du bald hier einziehen willst?«

»Mutter, ich kann mir nicht anmaßen …«

»Aber warum denn nicht? Du bist schließlich der rechtmäßige Erbe.«

War er das wirklich? Er betrachtete sie prüfend, doch ihr heller Blick verriet nichts. »Ich hoffe sehr, dass Lady Winthrop mich einlädt und ich mich nicht aufzudrängen brauche.«

Sie lachte ein trillerndes Lachen. »Da wirst du ewig warten können. Im Übrigen wäre es kein Aufdrängen. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dich nicht solchen Gefühlsduseligkeiten hingeben darfst? Du gehörst hierher, nicht sie, keine von ihnen.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Mutter …«

Sie sah ihn forschend an. »Du hast heute Nachmitttag ein wenig betroffen gewirkt.«

Er schien die Zähne zusammenzubeißen.

»Also wirklich, ich hätte sie in hundert Jahren nicht wiedererkannt! Sie ist stärker gealtert, als man je für möglich halten würde. Sie sieht aus wie eine verblühte graue Maus.«

Verblüht. Er zwang sich zu nicken. Ja, verblüht war der richtige Ausdruck. Und die gerechte Strafe für das, was sie ihm angetan hatte.

»Ich hoffe nur, dass diese Frau nicht noch weiteres Unheil anrichtet.«

»Catherine?« Ihr Name fühlte sich fremd an, wenn er ihn aussprach.

Seine Mutter schürzte die Lippen. »Nein, ihre lächerliche turbantragende Tante. Du weißt schon, die Mutter des armen Jungen, der ihrer Ansicht nach der rechtmäßige Erbe ist. Stell dir das doch nur mal vor – wie soll ein pickliger, einfältiger Junge wie er all das hier leiten?« Sie wies in den Hof hinaus – einen von zweien, wie Geoffreys ihn auf einer kurzen Tour durch das Herrenhaus informiert hatte, nachdem die Scharmützel im Salon am Tiefpunkt gegenseitiger Beleidigungen angelangt waren.

»Ich kann mir noch viel weniger vorstellen, wie er Avebury leiten soll.«

»Ich auch. Eines der größten Anwesen von ganz Wiltshire – in so unerfahrenen Händen? Eher könnte ein Spatz einen Löwen bändigen. Oder heißt es, einen Tiger?« Sie legte den Kopf schräg und drückte seinen Arm. »Es ist so wundervoll, dich wieder zu Hause zu haben, zu wissen, dass du in Sicherheit bist und dich nicht mehr an einem solch gottverlassenen Ort herumtreibst.«

»Gott war auch dort mit mir, Mutter.«

»Nun ja. Vielleicht.« Sie tätschelte seine Hand. »Aber ich freue mich trotzdem, dich wiederzuhaben.«

Sie lächelte ihn an und plötzlich stieg eine Welle warmer Zuneigung in ihm auf. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Dann gingen sie gemeinsam weiter, das belanglose Plaudern seiner Mutter vertrieb die Unsicherheit, die er eben noch empfunden hatte. Seine Mutter mochte geheimnisumwittert sein, doch er hatte nie daran gezweifelt, dass sie ihn liebte und ihm absolutes Vertrauen schenkte.

Sein Lächeln erlosch. Im Gegensatz zu anderen.

»Und, Sir – ich habe Ihnen das blaue Zimmer gegeben, das Sie hoffentlich bequem finden werden.« Geoffreys hüstelte entschuldigend. »Ich weiß, dass Ihnen eigentlich die Zimmer des Hausherrn zugestanden hätten, aber die sind leider noch nicht fertig.«

Jon hob die Hand. »Bitte verändern Sie hier nichts, nicht meinetwegen. Ich möchte im Gegenteil alles so lange wie möglich belassen, wie es ist.«

»Oh.« Geoffreys hoffnungsvolle Augen trübten sich ein wenig. »Verzeihen Sie meine Dreistigkeit, Sir, aber ich bin davon ausgegangen, dass Sie einiges ändern wollten.«

»Vielleicht in Zukunft, aber nicht jetzt, während der Trauerzeit. Ich möchte, dass die Familie, das ganze Haus, so lange wie möglich ungestört bleibt.«

»Natürlich, Mylord.«

Mylord? Jon blinzelte, dann fiel es ihm wieder ein.

Der Butler sah ihn fragend an, doch Jon schüttelte nur den Kopf.

»Ist das alles, Sir?«

»Danke.«

Jon ging langsam durch unzählige Korridore zurück in die Eingangshalle. Schon von Weitem vernahm er die weinerliche Stimme von Peters Mutter und blieb zögernd stehen. Man hatte den beiden nicht angeboten zu übernachten – das sei unnötig, hatte Geoffreys ihm versichert, da sie nur fünfzehn Meilen entfernt wohnten. Es gab Zeiten, da hätte er sich einem angreifenden Elefanten in den Weg gestellt, doch angesichts des unbeugsamen Willens der Winthrop-Frauen und ihrer boshaften Verleumdungen sank ihm das Herz.

Die Tür wurde mit Nachdruck geschlossen, es wirkte, als sei der Diener – war es William? – ebenfalls erleichtert, die beiden abreisen zu sehen. Jon trat aus dem Schatten, sah das betretene Grinsen des Dieners und ging weiter, an der breiten Eichentreppe vorüber – wie viel hatte der ehemalige Baron wohl dafür ausgegeben? –, bis Schritte auf der Treppe, gefolgt von einigen hastig geäußerten Fragen an den Diener, ihn in den Garten fliehen ließen.

Er eilte den Steinweg hinunter, der die große grüne Rasenfläche durchschnitt, in die relative Sicherheit einer dichten Eibenhecke, erst dann drehte er sich vorsichtig um und schaute zurück. Kein hastig geschlossener Vorhang raschelte, kein Gesicht erschien am Fenster. Einen Moment lang konnte er so tun, als sei er allein.

Seine Schultern sackten nach vorn. Endlich.

Die letzten Tage hatten aus einer nicht enden wollenden Parade von Menschen und Terminen bestanden. Er schritt über den unkrautüberwucherten Weg, vorüber an Pflanzgefäßen, die das Gartenpersonal, den verwelkten Bewohnern nach zu schließen, offenbar vergessen hatte. Er seufzte leise. Was wartete sonst noch alles darauf, instand gesetzt zu werden? Das Mauerwerk des Hauses musste neu verfugt werden. Von seinem momentanen Standpunkt aus konnte er mindestens zwei eingestürzte Kamine ausmachen. Darunter bildeten mehrere große Flecken abblätternder Farbe einen starken Kontrast zu der gepflegten Fassade des Hauses. Dabei war seine Inspektion zunächst nur sehr oberflächlich gewesen. Und dann war da noch die Sache mit Avebury.

Er scharrte mit dem Fuß über den Pfad. Ganz offensichtlich besaß der junge Peter nicht die Mittel, das Anwesen zu unterhalten. Whittington hatte ganz offen gesprochen. Der Baron hatte die letzten Jahre auf Kredit gelebt, seine Spielsucht hatte ihn gezwungen, jedes Stückchen Land, das nicht zum Erbhof gehörte, zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Wenn er schon kein Geld für die Instandhaltung dieses Hauses, seiner Hauptresidenz, ausgegeben hatte, wie viel – oder wie wenig – mochte er dann erst in Avebury investiert haben?

Die Anspannung kroch zurück in seine Schultern. Es war ein schwieriger Weg, der da vor ihm lag: Einerseits musste er die Befürchtungen der Familie Winthrop beschwichtigen, andererseits musste er tun, was er konnte, um wenigstens einen Teil ihres Vermögens zu retten. Von den verschiedenen Persönlichkeiten und Erwartungen, die die Zukunft zu einer echten Herausforderung machten, ganz zu schweigen.

Die Sorgen waren erdrückend. Plötzlich empfand er einen starken Schmerz in seinen Nackenmuskeln. Er legte seine Hand darauf und versuchte, den Schmerz wegzumassieren, zwang sich, sich zu entspannen. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er Schwierigkeiten gegenüberstand. Indien hatte ihn immer wieder vor völlig unerwartete Herausforderungen gestellt. Und jedes Mal hatte er sie – mit Gottes Hilfe – gemeistert.

Er entdeckte mitten in der unbeschnittenen Hecke ein weit offenes, verwittertes Holztor. Es führte in einen Irrgarten, dessen klassisches Ebenmaß auch der Mangel an Pflege nicht hatte zerstören können. In der Mitte stieß er auf eine überwachsene Laube mit einem steinernen Sitz. Im Sommer musste es hier ganz entzückend sein. Hinter der Hecke erhob sich das Haus, ein wachsamer Riese, der auf seine nächste Bewegung wartete.

Wer hätte aber auch an so etwas gedacht? Vor sechs Monaten hatte er noch in Bombay gegen ein Desaster gekämpft, heute hielt er die Schlüssel zu einer Zukunft in der Hand, die er sich nie hätte träumen lassen. Und dieses Haus?

Dieses Haus besaß nicht im Entferntesten die bescheidenen Proportionen, die er mit Herrenhäusern assoziierte. Bei Geoffreys Führung hatten sie das Obergeschoss ausgelassen; Jon hatte nicht mehr als unbedingt nötig stören wollen, doch der Butler hatte ihn informiert, dass es dort mindestens ein Dutzend Schlafzimmer gab, zusätzlich zu der Flucht an Aufenthaltsräumen für die Unterhaltung und den Zeitvertreib zahlreicher Gäste im Erdgeschoss. Winthrop Manor war ganz eindeutig die Hauptresidenz des Oberhaupts der Familie. Das ehrwürdige Alter und die Bedeutung des Anwesens waren überall spürbar und sichtbar, etwa in den Wappen über dem Haupteingang und den Buntglasfenstern der Bibliothek.

Doch bei aller Größe besaß es etwas Heimeliges, sehr viel ausgeprägter als die Carlew-Residenz in London, wo er aufgewachsen war. Das Haus am Portman Square war sehr groß, beinahe ein wenig protzig – Harold Carlew hatte stets gesagt, einem erfolgreichen Geschäftsmann müsse man seinen Wohlstand auch ansehen, denn nur dann würden die Menschen ihm ihr Geld für Investitionen anvertrauen –, mit scharfen Linien und Kanten, alles ein wenig zu neu, zu steril.

Dieses Herrenhaus hingegen besaß einen liebenswürdigen Charme, so wie Carmichaels Großmutter väterlicherseits, die er einmal während seines Studiums in Oxford in den großen Ferien besucht hatte. Die Gräfinwitwe war noch immer eine Schönheit; sie mochte vielleicht ein wenig verblichen sein, doch ihre Großzügigkeit und ihr skurriler Humor hatten jegliche Verlegenheit, die Jon, der Kaufmannssohn, bei der Begegnung mit einer so vornehmen Dame empfinden mochte, gar nicht erst aufkommen lassen. Dieses Haus wirkte ganz ähnlich auf ihn: als würde es seinen Wert seit vielen Generationen kennen und bräuchte keine modischen Kinkerlitzchen und keinen Firlefanz, auf die ein weniger schönes Exemplar vielleicht angewiesen war.

Ein winziger Spatz tanzte vorbei, als feierte er Jons Glück. Sein Herz schöpfte ein wenig Mut und er musste über seine eigene Torheit lächeln. Doch eines war sicher: Sogar Carmichael, dessen riesiges Familienanwesen in Derbyshire er mehr als einmal besucht hatte, würde beeindruckt sein und sich für ihn freuen. Er konnte sich gut vorstellen, was der Vicomte sagen würde: »Jetzt bist du endlich mal auf die Butterseite gefallen, alter Junge.«

Ja. Oder vielmehr, Gott hatte ihn auf die Butterseite gestellt.

Jon ging langsam zurück, schritt wieder durch das Tor in der Hecke. Diesmal wandte er sich nach links und schlenderte einen von Rosenstöcken gesäumten Weg entlang, der zum Haus zurückführte und an dessen Ende ein fleckiger Steinbrunnen stand. Er betrachtete die drei französischen Türen, durch die man aus dem Haus in den Garten gelangte. War das der Salon? Er orientierte sich kurz, nickte und ging weiter, auf die Türen zu. Dabei streifte er ein paar pfirsichfarbene Rosen und plötzlich hing ein süßer Duft in der Luft.