Die EinflussReichen - Ulrich Viehöver - E-Book

Die EinflussReichen E-Book

Ulrich Viehöver

4,4

Beschreibung

Sie heißen Otto und Merckle, Braun oder Beisheim. Ihre Unternehmen sind weltweit bekannt und erfolgreich. Sie gehören zu den reichsten – und mächtigsten – Menschen im Land. Dennoch weiß man so gut wie nichts über diese »SchattenReichen«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
10
2
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LESEPROBE

Ulrich Viehöver

Die EinflussReichen

Henkel, Otto und Co – Wer in Deutschland Geld und Macht hat

LESEPROBE

www.campus.de

Information zum Buch

Sie heißen Otto und Merckle, Braun oder Beisheim. Ihre Unternehmen sind weltweit bekannt und erfolgreich. Sie gehören zu den reichsten – und mächtigsten – Menschen im Land. Dennoch weiß man so gut wie nichts über diese »SchattenReichen«. Unternehmerfamilien wie die Boehringers, Henkels oder Freudenbergs führen ihre Konzerne lieber im Verborgenen. Ihr Einfluss auf die deutsche Wirtschaft und Politik ist gewaltig. Als Personen treten sie jedoch öffentlich nur selten auf. Ulrich Viehöver nimmt sich der großen Unbekannten an und rückt sie ins Licht. Gestützt auf umfassende Recherchen und persönliche Kontakte erzählt Viehöver die Geschichten der Familien und ihrer Unternehmen, zeigt, wie weit ihr Einfluss reicht, und nennt ihre Erfolgsmethoden und Prinzipien.

Informationen zum Autor

Der Wirtschaftsjournalist Ulrich Viehöver lebt und arbeitet in Stuttgart. Er ist zudem als Redaktions-Coach und Ausbilder im Bereich des Journalismus tätig und hält Seminare und Vorlesungen zu diversen journalistischen Themen. 2003 erschien von ihm im Campus Verlag Der Porsche-Chef. Wendelin Wiedeking – mit Ecken und Kanten an die Spitze.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Büro Hamburg

Umschlagmotiv: © Getty Images, David Prince

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN der Printausgabe: 978-3-593-37667-7

E-Book ISBN: 978-3-593-40134-8

www.campus.de

|4|Das Kapitel »Mohn: Die Gutmenschen aus Gütersloh« entstand unter der Mitautorschaft von Rainer Stadler.

|7|Vorwort

Gegen Heuschrecken und Vampire

Der wahre Reichtum an Firmen gerät hierzulande aus dem Blickfeld. Einseitig beherrschen börsennotierte, anonyme Kapitalgesellschaften und ihre (angestellten) Topmanager ungestört das Feld. Dabei haben sie kaum noch Erfolge vorzuweisen. Über ihre Schwächen kann auch das täglich verwirrend, weil widersprüchlich inszenierte Börsengeschehen nicht mehr hinwegtäuschen. Leider lassen sich viele Politiker bereitwillig von den tonangebenden Konzernen und ihren geschmeidigen Lobbyisten um den Finger wickeln. All das führt zu einer Schlagseite bei den Gesetzen. So ist es kein Zufall, dass die Regierenden das Steuer- und Gesellschaftsrecht stark zugunsten von Börsen und Aktiengesellschaften verändert haben. Doch die dafür versprochenen Millionen von Jobs oder die blühenden Firmenlandschaften lassen auf sich warten. Im Gegenteil: Gerade Aktiengesellschaften bauen jetzt Stellen ab und vernichten durch ihr verheerendes Missmanagement Milliardenwerte. Zu bereitwillig geben die Vorstände dem Druck hemmungsloser Börsenspieler nach, gerade den unersättlichen Spekulanten- und Hedgefonds. Und vom Infarkt der Kapitalmärkte um das Jahr 2001 und der Götterdämmerung bei den Banken haben sich viele Gesellschaften und Aktionäre lange nicht erholt. Stattdessen versagen die kapitalen Konzerne und ihre Manager als Unternehmer zusehends. Das Rezept »Börsenkapitalismus für alle«, so viel steht fest, ist wie schon in den 1920er Jahren und Ende des 20. Jahrhunderts die eigentliche Krankheit.

Das Gegenstück sind Familienunternehmen. Die Alternative zeichnet sich dadurch aus, dass die Eigentümer entweder direkt im Betrieb arbeiten oder zumindest ihr Management konsequent kontrollieren. Und in aller Regel besteht eine ausgeprägte innere Bindung der Familie zu »ihrer« Firma. Das Unternehmen spiegelt sogar ein Stück der |8|Sippe auf der sozialen und persönlichen Ebene wider.1 Von dieser besonders hohen Identifikation der Eigner mit ihrer Firma können sogar auch die Mitarbeiter profitieren. Nämlich dann, wenn die über Generationen hinweg zäh verteidigte Selbstständigkeit die Familie und ihren Betrieb sozusagen immunisiert hat, unbedacht allen möglichen Moden und Beratertrends zu folgen oder gar der Hetzjagd hysterischer Spekulanten zu erliegen. Die Firmenpolitik ist eher langfristig auf Sicherheit angelegt. Ihre Inhaber machen sich mehr Gedanken über neue Produkte, kennen ihre Kunden recht genau und erschließen zusätzliche Märkte, anstatt zu resignieren und auf Kosten der Belegschaft aufzugeben oder zu verscherbeln. Auch in der heutigen Zeit vermeiden viele inhabergeführte Betriebe Entlassungen, so weit es geht, weil sie diesen Schritt als persönliche Niederlage empfinden würden. Und trägt der Betrieb den Namen der (Gründer-)Familie, dann treten die Eigentümer noch leiser auf. Diese Vorsicht führt dazu, dass selbst riesige Familienkonzerne öffentlich kaum wahrgenommen werden. Anders als in den USA ist es unter den Superreichen hier nicht Sitte, mit Geld und Vermögen zu protzen. Lieber bleiben ihre Imperien im Verborgenen. Oft nimmt die Öffentlichkeit die Firmen erst wahr, wenn deren Clans sich streiten oder verkaufen und dadurch unrühmlich Schlagzeilen machen. Dann werden sie meist pauschal mit allen Familienbetrieben in einen Topf geworfen und als »verstaubt«, »altmodisch« oder »Auslaufmodell« abqualifiziert. Doch solche Verallgemeinerungen – für viele der Familienunternehmen mögen sie schon längst nicht mehr zutreffen – verkennen sowohl die reale Bedeutung der Unternehmen als auch deren Dynamik.

Deutschlands unbekannte Schatten-Reiche sind in Wirklichkeit ein gewaltiger Machtfaktor. Sie setzen in der Summe Billionen um und geben Millionen Menschen Arbeit. Auch allein übt jede Firmengruppe einen beträchtlichen Einfluss aus. Dieser ist sowohl durch ihre Führungsrolle in einer angestammten Branche – meist international – begründet als auch durch die Rolle als maßgeblicher Arbeitgeber am jeweiligen Firmensitz. In ihren Heimatregionen gelten die Unternehmerdynastien bei Behörden und Politikern oft als kleine (große) Könige. Zudem betätigen sich zahlreiche Clanmitglieder in Wirtschaftsverbänden, Kammern, in der Lokalpolitik oder in kirchlichen Organisationen. Und fast |9|jede Familie der Superreichen unterhält eine oder mehrere Stiftungen für soziale, kulturelle, medizinische, ökologische oder pädagogische Wohltaten. Auch diese üben mit ihren Gaben subtil, aber sicher Einfluss aus. Viele Traditionsunternehmen genießen an ihren Stammsitzen über ihre Position als wichtige Arbeitgeber hinaus aufgrund ihres finanzkräftigen Engagements in der Bevölkerung großes Ansehen. Andere engagieren sich überregional, und nehmen somit zugleich Einfluss auf Politik und Gesellschaft in diesem Land. Beispiele hierfür sind die Bertelsmann Stiftung oder die von Otto Beisheim gestiftete private Hochschule. Für die Öffentlichkeit jedoch bleibt dieser Einfluss meist unsichtbar. Sehr weit geht da Mohns Bertelsmann Stiftung. So beansprucht der Millionen-Trust des Großverlegers, Gesellschaft und Politik im eigenen Interesse gestalten zu dürfen. Auch die von Metro-Gründer Beisheim gestiftete erste private Hochschule Deutschlands will politisch verändern – ein Exempel, das bei Milliardärsfamilien emsig Schule macht. So wissen die Großunternehmen ihr Gewicht in der Arbeitgeber- und Branchenlobby zu nutzen und ihre Interessen gezielt durchzusetzen. Vor allem bei ihren Geschäften vermögen die Clans geschickt aus dem Hintergrund ihre Schatten-Reiche zu erweitern.

Da passt es ins Bild, dass der in Sonntagsreden gepriesene »Mittelstand« (was immer das sein mag) ein blinder Fleck in der Wissenschaft ist. Wer nämlich bei Hochschulen und Universitäten Konkretes über Familienunternehmen erfahren will, geht meist leer aus. Lediglich die – private – Universität Witten / Herdecke (Nordrhein-Westfalen) unterhielt bis vor kurzem noch ein Institut (Hauptsponsor: Deutsche Bank), das bedeutende Familienbetriebe erforschte und einige davon systematisch analysierte. Und nur sehr wenige Berater oder Privatfirmen wie die Akademie für Familienunternehmen Intes oder das Institut für Mittelstandsforschung (beide Bonn) kümmern sich regelmäßig und gezielt um diese Szene. Dankenswerterweise waren sie auch dem Autor bei seinen Recherchen behilflich. Im Übrigen stochern Deutschlands Wissenschaft und Politik mangels sicherer Datenbasis im Nebel. Dabei wäre es längst an der Zeit, die sich wacker schlagenden Schatten-Reiche der Wirtschaft auszuleuchten, um sie kennen zu lernen. In diese Bresche springt dieses Buch. Es verfolgt die Absicht, so erfolg- wie einflussreiche Großunternehmen, ihre Clans und ihre Geschichte sowie ihre individuellen |10|Überlebensrezepte zu beschreiben, um die Diskussion aktuell zu bereichern.

An geeigneten Kandidaten herrscht dabei kein Mangel. Der Geldadel hierzulande besteht aus nahezu einer Hundertschaft von Reichen mit einem Firmenvermögen ab einer Milliarde Euro aufwärts. Und die meisten Clans gestalten ihre Unternehmen aktiv und halten intern zusammen – wesentliche Kriterien für die Auswahl. Indes, die Milliardärsdynastien dominieren vorwiegend in typischen Branchen des Mittelstandes, also im Handel und Verlagswesen, bei Spezialitäten (Pharma, Medizintechnik), im Anlagen- und Maschinenbau sowie als Zulieferer. Bemerkenswert ist, dass die Reichsten der Reichen Händler oder Verleger sind. Um nun eine vielfältige und zugleich charakteristische Auswahl an Unternehmen zu treffen, werden hier Betriebe diverser Wirtschaftszweige mit recht unterschiedlichen Kulturen und Traditionen vorgestellt, deren Produkte und Marken uns im Alltag vielfach begegnen. Die Namen sind mal mehr, mal deutlich weniger bekannt, über die Sippen selbst weiß man jedoch oft nicht viel. Aus dieser Auswahl entstand ein Club mit zwölf starken Dynastien, alle Multimilliardäre, die stark in ihrer Tradition verhaftet sind. Die folgenden Kapitel beschreiben und analysieren diese »Hidden Champions«, die großen Unbekannten der deutschen Oberliga. Zwar haben auch diese Vermögensmilliardäre an einigen Stellen mit Problemen zu kämpfen, aber sie schlagen sich dennoch über lange Zeiträume betrachtet in wirtschaftlicher Hinsicht durchweg mit Erfolg. Diese Durchhaltekraft sichert dem Club der Einfluss-Reichen ihre eigentliche Macht. Selbstverständlich ist in Familienbetrieben nicht alles Gold was glänzt, weshalb auch die negativen Seiten in diesem Buch angesprochen werden. Dennoch, alles zusammen – Ausdauer, Einigkeit und Verantwortungsbewusstsein – scheint ein dauerhaft wirksames Rezept gegen lästige Heuschrecken und Vampire, die anonyme Gesellschaften überfallen und am Ende nur Leere zurücklassen. Familienunternehmen dagegen erfüllen zunehmend eine volkswirtschaftlich stabilisierende Funktion. Kein Wunder also, dass das Interesse der Öffentlichkeit an dieser ursprünglichsten Form der Privatwirtschaft langsam erwacht – willkommen im Club.

Stuttgart, im Januar 2006

Ulrich Viehöver

|11|Kapitel 1

Merckle

Die frommen Gipfelstürmer

Baut ein Mitglied der Familie Merckle ein Haus, dann kann es sich in der eigenen Firma bedienen. Denn hier stehen sämtliche Materialien vom Zement und Sand über Kies, Mörtel und Klinker zur Verfügung, ebenso das Bauholz aus dem privaten Wald. Selbst der Strom kommt aus dem eigenen Wasserkraftwerk im schwäbischen Blaubeuren. Und die Turbine, welche die Elektrizität erzeugt, oder der Generator für ein Windrad ist made by Merckle. Sollten Erdreich oder heftiger Schnee die Bauarbeiten behindern, so beseitigt ein »Pistenbully« der Merckle-Firma Kässbohrer das Problem. Und verursachen am Ende hohe Baurechnungen Magengrimmen oder Kopfschmerzen, dann helfen die Medikamente aus dem eigenen Haus. Denn das Reich der Unternehmersippe Merckle ist fast eine autarke Welt, von deren Dimension die Öffentlichkeit nichts ahnt. Im Laufe von 125 Jahren sammelte sich unter dem Dach der Familie ein Konglomerat, das von A wie Arznei bis Z wie Zement reicht. Besonders Adolf Merckle, Frontmann der dritten Generation, schrieb sich den Ausbau des Erbes leidenschaftlich auf die Fahne. »Wir steigen selten aus. Im Gegenteil, mein Vater hat alles wieder zurückgeholt, was schon mal in der Familie war«, bringt Juniorchef Dr. Philipp Daniel Merckle die Entwicklung auf den Punkt. Er verantwortet seit Sommer 2005 weltweit das Geschäft für die Gruppe Merckle / Ratiopharm. Sein ältester Bruder Ludwig, der bis dahin den Arzneimittelbereich federführend geleitet hatte, stieg aus diesem Sektor aus und übernahm »die Geschäftsführung der VEM Vermögensverwaltung und widmet sich verstärkt den anderen wichtigen Beteiligungen der Familie«.1

Über lokale Grenzen hinaus ist die Milliardärsfamilie bestenfalls durch die Marke Ratiopharm bekannt. Dieses Geschäft machte sie groß |12|und wird sie in Zukunft noch bedeutender machen. Denn ausnahmsweise stieg die Sippe jüngst doch aus einem Geschäft aus. Sie verabschiedete sich nämlich Anfang 2005 von ihrem Stammgeschäft mit Originalpräparaten, das ihr Unternehmertum einst begründet hatte. Zuvor hatten die Merckles alles gründlich bedacht und erkannt, dass sie sich entscheiden mussten: Entweder sie führten nur ihr Geschäft mit rezeptpflichtigen Originalpräparaten der Marke »Merckle« weiter, oder sie konzentrierten sich auf die jüngere Sparte »Ratiopharm« mit den Nachahmerpräparaten. Beides zusammen wäre auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Um ein konfliktreiches Ausbluten der Firma zu verhindern, rangen sich Merckles dazu durch, ihr Geschäft mit den Originalmedikamenten aufzugeben und dafür die zukunftsträchtigere Ratiopharm auszubauen – eine epochale Wende. Dabei ist zu bedenken, dass die so genannten Generika der 1974 entstandenen Marke Ratiopharm den einstigen Kleinbetrieb zum Umsatzmilliardär und zur Großmacht im Pharmageschäft gemacht hatten. Im Gegensatz dazu waren Merckles Stammaktivitäten noch nach fast hundert Jahren mit rund 50 Millionen Euro Umsatz zu klein. Nur in Teilbereichen errangen die mehr als 80 Präparate – Salben, Spritzen, Pillen, Säfte gegen Rheuma- oder Darmerkrankungen – eine beachtliche Stellung. Doch der Markt verlangt eine globale Größe, schon wegen des riesigen Entwicklungsaufwandes. So dauert die Entwicklung eines Originalpräparats im Durchschnitt zehn Jahre und verschlingt bis zu 700 Millionen Euro an Forschungsgeldern – ein riskanter Kraftakt, den selbst ein gut gepolsterter Mittelständler wie Merckle allein nicht mehr stemmen kann. Die Belegschaft bemerkte natürlich die prekäre Lage bei den Originalmedikamenten. Auf einer Betriebsversammlung im Sommer 2004 in Ulm bohrte sie daher nach und fragte nach der Zukunft dieser Sparte, worauf die Merckle-Söhne Ludwig und Philipp eingestanden, die Firma hätte nicht genügend liquide Mittel, um neue Produkte auf dem Markt zu kaufen. Mit dieser bitteren Erkenntnis zogen sich die Schwaben ganz vom Markt zurück. »In der […] Geschichte von Merckle-Arzneimittel hat sich unser Geschäft immer wieder verändert, angepasst und erneuert«, erläuterte Geschäftsführer Philipp Merckle gegenüber den Mitarbeitern.2 Ihr Primärsortiment, für das 180 Menschen arbeiten, veräußerte die Familie an den börsennotierten Pharmahersteller Recordati SpA (1800 Mitarbeiter) in Mailand.

|13|Merckles Herz schlägt in der Medizin

Seit dieser bedeutsamen Amputation überstrahlt die Marke Ratiopharm das Imperium wie eine Krone, national wie international. Der Familienname Merckle rückt in die zweite Reihe und steht für Produktion und Entwicklung aller Präparate. Unter dem Dach Ratiopharm wird eine Vielzahl gängiger Medikamente vermarktet, deren Patentfristen abgelaufen sind. Das Sortiment erbringt einen Jahresumsatz von gut 1,2 Milliarden Euro, rund 24-mal so viel wie einst der Absatz der Originalmedikamente Marke »Merckle«. In Zukunft wird die Gentechnik- beziehungsweise der Biobereich der Schwerpunkt im Pharmageschäft sein. Auch das ist ein wesentlicher Grund für den Ausstieg der Familie aus dem Originalgeschäft, da selbst ihr Erfolgsmodell Ratiopharm vor einem dramatischen Wandel steht. Denn auch ihre Nachahmerprodukte beanspruchen in der Entstehung immer mehr Geld und Zeit. Hinzu kommen hohe Zulassungshürden, weil die Erfinder des Originals ihren Rohstoff langfristig patentieren und die Behörden strenge Sicherheiten bei der Zulassung verlangen. Daher muss auch der Imitator dieser Medizin mehr entwickeln und klinisch testen als je zuvor. So dauert die Entwicklung eines klassisch-chemischen Generikums statt früher rund zwei nun fünf bis sechs Jahre. Zusätzlich wird eine neue Hürde die Imitation generell erheblich erschweren: das Aufkommen so genannter Biopharmaka. Bereits 2006 laufen die ersten Patente von gentechnisch erzeugten Arzneimitteln aus. Und ab 2010 wird jedes zweite neue Medikament ein Biopräparat sein. Aber solche Biopharmaka sind nicht mehr einfach eins zu eins imitierbar wie herkömmliche Präparate aus chemischen Wirkstoffen. Die Hersteller der Originale, wie etwa Boehringer Ingelheim in Biberach, arbeiten nämlich mit lebenden Bakterien oder Säugetieren (Rind, Mäuse oder Hamster) mit dem Ziel, gentechnisch veränderte Proteine (Eiweiße) zu gewinnen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Human-Insulin, wo körpereigene Substanzen (vom Schwein) seit 1982 aus genetisch veränderten Bakterien nachgebaut werden. Doch die gewonnenen Eiweißstrukturen sind in verschiedenen Zelllinien stets unterschiedlich, die des Originals also nicht mit den Nachahmerprodukten identisch. So könnte ein Generikum theoretisch andere Nebenwirkungen aufweisen als die Vorlage. Wegen |14|dieses Verdachts verlangen die Aufsichtsbehörden, dass auch Merckle gentechnisch veränderte Generika entsprechend entwickeln und wie die Originale klinisch erproben lassen muss. Die Folge: Auch Nachahmer brauchen eigene biotechnische Anlagen, um solche Ansprüche erfüllen zu können. Wegen dieser Hürden gleicht die Entwicklung eines Bio-Generikums fast der eines Originals. Dem Nachbauer bleiben nur noch die Irrtümer und Fehlschläge der Anfangsphase erspart.

Die Schwaben sind dabei, diese Herausforderung finanziell wie technisch zu bewältigen. Als Generika-Pioniere wissen sie, dass sie viel Kreativität für dieses neue Standbein brauchen werden. »Mit Biopharmaka geht die Pharmaherstellung für mich neu los«, prophezeit Philipp Merckle. Das im Arzneimittelgeschäft global verantwortliche Familienmitglied, das zuvor die Produktion und Entwicklung der Gruppe Merckle / Ratiopharm steuerte, rückt die Innovation in die Nähe einer Neugründung. Seiner Ansicht nach werden Bioprodukte den Markt künftig stark prägen. Merckle stellt für dieses Abenteuer mit ungewissem Ausgang aus dem Stand rund 100 Millionen Euro bereit, Produktentwicklungen und Vertriebsvorbereitungen mitgerechnet. Auf dem Ulmer Werksgelände entstand 2004 / 05 für 30 Millionen Euro ein Neubau für die Biotechnologie. Schon im Jahr 2000 wurde die BioGeneriX AG gegründet. Diese Forschungsfirma hilft dem Generika-Pionier mit eigenen Zelllinien für Entwicklungstests beim Einstieg in die Gentechnik. Damit fällt BioGeneriX exklusiv die Rolle zu, Biopharmazeutika der Originalhersteller nach Ablauf des Patentschutzes für den weltweiten Markt nachzuahmen. Die Merckle-Tochter mit drei Dutzend Spezialisten sitzt aus gutem Grund im Gen- / Biodreieck Mannheim-Heidelberg-Ludwigshafen, um sich in Distanz zum Stammhaus in Ulm der neuen Aufgabe konzentriert widmen zu können. Zudem wird Merckle mit dem künftigen Standbein erstmals Rohstoffproduzent. Das erste biotechnisch gefertigte Generikum, ein Krebsmittel, kommt 2006 auf den Markt. Auch für diese Sparte gründeten die Ulmer 2004 eigens einen Ableger, die Merckle Biotec GmbH. Für die ferne Zukunft kann sich der Juniorchef gar vorstellen, dass »vielleicht wieder Originalprodukte hergestellt werden«. Einen Hinweis darauf, dass die Ulmer hochwertige Präparate im Auge behalten wollen, bedeutet 2002 der Kauf der Firma Ribosepharm. Der Ableger bei München – 34 Beschäftigte, |15|25,4 Millionen Euro Umsatz (2004) – besetzt die Nische Onkologie (Krebstherapie). Als rezeptpflichtige Spezialität läuft Ribosepharm nicht unter der Massenmarke Ratiopharm. Die hohen Investitionen lassen vermuten, dass die Milliardärsfamilie an ihrem Kerngeschäft unbeirrt festhalten und um ihre Spitzenposition bei Generika kämpfen wird. »Das Herz der Merckle-Gruppe ist der Pharmabereich«, bekräftigt Philipp Merckle. Schließlich erwuchs daraus eine der ältesten Arzneimittelfirmen Deutschlands in Familienhand.

Von Nordböhmen ins Schwabenland

Die Wiege der Firma steht im nordböhmischen Aussig an der Elbe. Die Industriestadt, nahe der tschechischen Grenze auf dem Weg nach Dresden gelegen, war bis 1918 Teil von Österreich-Ungarn. Gegründet wurde die Firma 1881 von Adolf Merckle unter dem Namen »Adolf Merckle Chemikalien en gros« als »Drogen- und Arzneimittelgroßhandlung«. Aus diesen Anfängen rühren die bestehenden Kontakte zum Pharmagroßhandel wie den Apotheken. Seinen großen Aufschwung nahm der Betrieb im Ersten Weltkrieg, als der rührige Sohn des Gründers, Ludwig Merckle, erstmals 1915 die Produktion aufnahm. Der Pharmaunternehmer gründete zehn Jahre später die »Ludwig Merckle Chemischpharmazeutische Fabrik« und fertigte Körperpflegemittel, Hustensaft, Kinderpuder, Verbandspflaster und sogar Schmerzmittel. Eine tragende Säule bildete die Auftragsproduktion. So stellte Merckle zum Beispiel Nivea-Creme für Beiersdorf und Wundsalbe für die Desitin-Werke her. Mit den Gewinnen aus der Lohnproduktion entwickelte und erzeugte Ludwig Merckle eigene Medikamente. Die »Auslandsdeutschen«, wie damals Deutschstämmige außerhalb der Reichsgrenzen hießen, unterhielten Vertretungen in Prag, Reichenberg, Karlsbad, Brünn und Pressburg. Nach eigenen Angaben stand Merckle mit mehr als 300 Mitarbeitern »an der Spitze der tschechoslowakischen Pharmaindustrie« und war sehr europäisch. Doch der Zusammenbruch 1945 und die Vertreibung aus ihrer Heimat trafen die Familie hart. Das Stammhaus in Aussig wurde zerstört; als Sudetendeutsche wurden Merckles in der Tschechoslowakei enteignet. In Aussig kam es zu einem Massaker an den |16|Deutschen, die Familie entkam. Die Flüchtlinge schlugen sich bis in den Südwesten Deutschlands durch, wo sie seit 1943 ein Haus in Freiburg besaßen, welches nun aber die französischen Besatzer in Beschlag genommen hatten. Also wichen sie ins württembergische Blaubeuren bei Ulm aus. Ihr Ziel war kein Zufall, denn dort lebte die Familie von Luise Merckle, der Frau von Ludwig. Die nahen Verwandten hießen Spohn und beherrschten Blaubeurens größten Brötchengeber, die Zementfabrik. Luises Angehörige waren somit der führende Clan im Städtchen wie in der Region. Hier bildeten die Baustoff-Barone den obersten Honoratiorenkreis mit weit reichenden Verbindungen über Ulm und Stuttgart hinaus. Von Vorteil für die geflohene Spohn-Tochter Luise und ihren Mann Ludwig war es auch, dass sie im tiefsten Schwaben selbst keine Unbekannten waren. »Das Paar aus der Tschechei« hatte nämlich 1931 spektakulär in der Heimat der Braut geheiratet. Eine Zeitzeugin, Gertrud Preuss, die Jahre später bei Merckles arbeiten sollte, erinnert sich an das Großereignis: »Da die Familie Spohn die bestimmende Familie in unserem Städtchen Blaubeuren war, bedeutete diese Hochzeit natürlich auch die Sensation. Man verschlang die Neuigkeiten, die zudem noch aus erster Quelle kamen. Meine Mutter hatte eine Weißnäherin, Fräulein Pauline Schwarz, die auch für Frau Spohn senior arbeitete.«3 Aus der Ehe von Luise und Ludwig Merckle gingen drei Kinder hervor: Tochter Liselotte, dann Adolf, der Stammhalter und Ratiopharm-Gründer, sowie das Nesthäkchen Suse. Unterkunft fanden die Flüchtlinge schließlich in der Villa Spohn, welche zu der Zeit der Heidelberger Zement AG gehörte.

So ist 1945 wie für so viele das Jahr des Neustarts. Ludwig Merckle muss den in Aussig erloschenen Betrieb neu gründen, »mit zähem Fleiß und dem notwendigen Vertrauen in die eigene Kraft«, wie es im Rückblick der Firma zum 90-jährigen Bestehen heißt. Merckles einflussreiche Schwiegerleute stehen ihm da und dort zur Seite, etwa bei Kontakten zu Behörden oder Regierungen oder wenn es um wichtige Transportgenehmigungen geht. Auch in praktischen Dingen, wie die Nutzung einer Werkstatt, helfen die Verwandten. »Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass uns die Firma Spohn eigentlich immer eine Hilfe war. Auch die Verpflegung in der Kantine durften wir mit in Anspruch nehmen.«4 Für den improvisierten Neubeginn rettet Merckle eine einzige Maschine |17|aus Aussig, eine Tablettenpresse, dazu Rohstoffe und Verpackungsmaterial. Immerhin ein wertvolles Produktivvermögen, eingelagert im südbadischen Emmendingen bei Freiburg in der Schuhfabrik »Pionier«. Erst 1946 können die Materialien und die Tablettenpresse, deren Transport beinahe an französischen Grenzkontrollen scheitert, in eine Garage nach Blaubeuren geholt werden. Damit werden notdürftig die ersten Tabletten gefertigt. Anfangs hilft nur ein Arbeiter, ein Chauffeur von der Alb, als Kalfaktor mit. Schwiegervater Dr. Georg Spohn – ein Mann mit deutschnationaler Gesinnung – stellt im Verwaltungsgebäude der Zementfabrik einen Büroraum für die Fabrikation zur Verfügung. Und bald klopfen immer mehr Vertriebene aus Böhmen sowie Ehemalige von Aussig bei Merckles an. Darunter die einstige rechte Hand Ludwig Merckles, eine Halbjüdin, welche im Dritten Reich von ihrem Chef geschützt worden war. Sie bringt Möbel von Aussig »und auch wichtige Dokumente für Herrn Merckle mit«.5 Als erstes Werk dient eine Segelflughalle, welche Dr. Eberhard Spohn, Merckles Schwager und Fliegerpilot im Zweiten Weltkrieg, über den örtlichen Segelfliegerclub vermittelt. Obwohl die Aufbaujahre zäh anlaufen und der kleine Betrieb mehr als einmal am Abgrund steht, erhöht der Nachkriegspionier Ludwig Merckle wacker die Belegschaftszahl. »Der Großvater sagte immer: ›Die Mitarbeiter sind die erweiterte Familie‹«, erinnert sich sein Enkel Philipp. Dieser Geist schmiedet die kleine Gruppe zusammen, macht es möglich, dass die Angestellten hart arbeiten und trotzdem zeitweise auf Gehalt verzichten. Als nach der Währungsreform 1948 erneut Verluste drohen, verkauft der Firmeninhaber aus Not seine Beiersdorf-Aktien zu einem schlechten Kurs. Die Merckles tun alles, um wieder auf die Beine zu kommen: mit Hustensirup und Heilsalben, mit einer Imitation der Nivea-Creme oder Franzbranntwein. Selbst in der Baustoffbranche versucht sich der Pharmaunternehmer – freilich mit wenig Erfolg. Letztlich bleibt es bei Medikamenten, die vorwiegend im Raum Blaubeuren / Ulm und dort an »Flüchtlingsärzte« verkauft werden. Der Chef transportiert die Arzneimittel selbst in einem Leiterwagen. Erst ab 1954 gelingt der Durchbruch, weil das Absatzgebiet stetig ausgebaut und Kliniken als Kunden gewonnen werden. Die erste eigene Fabrik der »Merckle Arzneimittel«, ein schlichter dreigeschossiger Stahlbetonbau, wird 1958 in der Dr.-Georg-Spohn-Straße |18|(nach Merckles Schwiegervater) bezogen. Nun wächst die Nachfrage schneller als das Angebot, wobei das Rheuma-Mittel »Ambene« ab 1967 eine starke Schubkraft entfaltet. Als Ludwig Merckle 1971 seinen 80. Geburtstag und der Betrieb das 90-jährige Bestehen feiern, wird in Weiler (heute ein Teil Blaubeurens) wieder eine große Fabrik bezogen. So beginnt das nächste Kapitel der Firmengeschichte – und es wird erneut ein Neuanfang.

Ratiopharm – billige Blockbuster braucht das Land

Ludwig Merckles Sohn, der Enkel des gleichnamigen Gründers Adolf Merckle steigt relativ spät in den Familienbetrieb ein. Erst 1967, mit 33 Jahren, übernimmt der studierte Jurist die Zügel in Blaubeuren aus der Hand des Vaters. Rund ein Jahrzehnt hatten ihn seine Liebe zum Advokatenberuf und zu Hamburg gefesselt. Vorher studierte er an den Hochschulen von Hamburg, Tübingen und Grenoble Jura. In Hamburg, damals mehr als eine Welt von Schwaben entfernt, praktizierte er als engagierter Anwalt. Irgendwann musste er sich eingestehen, dass er als Nachfolger seinen nach Hilfe rufenden Vater zu lange hat warten lassen. Andererseits brachte diese zeitweilige Entfernung vom Elternhaus auch Vorteile: Adolf Merckle kann so die Pillenbranche aus der Distanz betrachten, wobei ihm die Blaubeurer Firma eher als lokale Veranstaltung erscheint. Bei Übernahme des väterlichen Schreibtisches setzt der pharmazeutische Betrieb gerade mal vier Millionen Mark um und beschäftigt 80 Menschen – nicht eben ein großes Rad. Im Schwabenland fehlt dem vorwärts drängender Anwalt die Herausforderung, obwohl die Firma stetig wächst und mit Einführung des Rheumamittels »Ambene« gerade der »Durchbruch zum mittelgroßen Pharmaunternehmen« (Eigenwerbung) gelingt. Adolf Merckle arbeitet sich nach seinem Einstieg in Blaubeuren ehrgeizig ins Wirtschafts-, Steuer- und Bilanzrecht ein. Dieses Spezialwissen macht das Oberhaupt der dritten Merckle-Generation schließlich reich. Denn durch seine Sachkenntnis kann er weit über einzelne Betriebe und Branchen hinaus im Geschäft vernetzt agieren. Und Grenzen zu sprengen ist gerade damals wichtig, denn die Pillenindustrie ist wie das ganze Gesundheitswesen |19|erstarrt. Jeder verharrt auf seinem Platz, und über allem thronen wenige Pharmariesen sowie ein Heer von Funktionären. Das kundenfeindliche Kartell kennt nur starre Festpreise für Medikamente, geschützt durch ein ritualisiertes Wohlverhalten zwischen Industrie, Ärzten, Großhändlern, Apothekern und Politikern. Marktwirtschaft kommt bestenfalls in Sonntagsreden vor. Dieser Zustand missfällt dem Juristen Adolf Merckle, der die Branche aus seinem kritischen Blickwinkel betrachtet. Philipp Merckle, sein Sohn, weiß noch, wie befremdet der Vater darüber war, dass so wenig Konkurrenz bei Medikamenten herrschte. »Weder Apotheker noch Ärzte oder Krankenkassen zeigten daran ein besonderes Interesse«, sagt Philipp Merckle, der damals in die Grundschule von Blaubeuren ging. Adolf Merckle aber fesselt die Idee, »durch Wettbewerb etwas bewegen zu können«. Der Vater findet heraus, dass die Medikamentenpreise in den USA bereits purzeln. Auslöser sind kleine Innovatoren, die kräftig den Markt aufmischen, indem sie gängige Medikamente imitieren, deren Patentschutz abgelaufen ist. Weil die Imitate bei geringen Entwicklungskosten günstig herzustellen sind, können sie auch preiswerter als die Originale vermarktet werden. Das Konzept solcher »Nachahmer« oder »Generiker« imponiert Merckle, und er realisiert seinen Traum. Obwohl ihm Experten wie Banken scharf abraten und selbst engste Mitarbeiter sich sträuben, startet der Chef stur durch und führt Anfang der siebziger Jahre den Preiswettbewerb in der Pillenindustrie ein. Irgendwie liegt diese Revolte in der Luft – billige Blockbuster braucht das Land.

Bald, im Jahr 1974, hebt Merckle sein Baby aus der Taufe. Unter dem einprägsamen Kunstnamen Ratiopharm GmbH, das »r« kleingeschrieben, gehen die Imitationen an den Start. Des Gründers oberstes Prinzip sei es, »Qualität zum günstigen Preis zu offerieren«, berichtet Philipp Merckle. Seine Familie ist mit der Idee für Generika vermutlich nicht allein gewesen – auch andere Pharmafirmen basteln daran –, doch Bergsteiger Merckle arbeitet sich zäh aus dem Stand bis zur Spitze empor. Seine Frau Ruth ist ihm auf dem steinigen Weg eine aktive Begleiterin. Er ist der Mann der Tat, sie erweckt durchs Wort und bekleidet dazu eine Reihe von Ehrenämtern – von der Elternsprecherin über evangelische Kirchengemeinderätin und EKD-Ratsmitglied bis zur Skisportwartin. Viele Mitarbeiter der ersten Stunde kommen von Boehringer aus |20|dem nahen Biberach. Das spätere Supergeschäft mit Generika folgt einem simplen Gedanken: Standardmedizin zu erschwinglichen Preisen. In seiner schlichten Art ähnelt Merckles Geschäftsmodell dem der Aldis und deren striktem Kurs Richtung Kunde. So gesehen ist der Name Ratiopharm, den sich der Gründer Adolf Merckle als alter Lateiner ausdenkt, ein Stück Programm: »vernünftig vom Preis her«, wie sein Sohn Philipp die Marke deutet. Anfangs sollen die angestellten Manager etwa vom mächtigen Bayer-Konzern über den kauzigen Nobody aus Schwaben und seine »Billigpillen« nur herzlich gelacht haben. Doch als Merckle &Co. nicht weichen, sondern im Gegenteil wachsen, setzen die Etablierten im Arzneimittelmarkt ihre ganze Macht ein, um das verrückte Paar aus Blaubeuren zu stören und zu stoppen. In Scharen schickt das Hochpreiskartell seine Außendienstler, so genannte Pharmareferenten, zu Ärzten und Apothekern, die vom Glauben abgefallen und auf »das billige Zeugs« umgeschwenkt sind. »Fachkreise« zetteln eine Diskussion an, welche die Qualität von Generika pauschal in Misskredit zieht und die Nachahmer als schädliche Billigheimer abstempelt. Doch als immer mehr Kunden den (Preis-)Vorteil der weiß-orangefarbenen Packungen honorieren, weicht die Arroganz der mächtigen Bosse gegenüber dem Nobody und sie beklagen ihre Marktverluste. Obwohl als Familienfirma ausgesprochen schwäbisch schweigsam, macht Merckles Siegeszug immer lauter von sich reden. Weltkonzerne wie Bayer, Hoechst oder Boehringer Ingelheim müssen schließlich von ihren Spitzenplätzen weichen. Obwohl die Etablierten bis heute gegen die Preisbrecher und ihre geniale Geschäftsidee opponieren, vermögen sie diese nicht zu stoppen. Ratiopharm wächst unaufhaltsam, bereits 1978 überholt der Tochterbetrieb das Mutterhaus Merckle Pharma GmbH. 1985 überspringt der Umsatz die Grenze von 100 Millionen Mark. Längst wissen die Ulmer, dass sie mit Generika auf eine Goldader gestoßen sind. Ihre preisbrechenden Präparate profitieren von unzähligen Gesundheitsreformen seit der Regierung Helmut Schmidts (SPD). Heute wirken die Billiganbieter im einst statischen Arznei-, Apotheker- und Ärztemarkt als verlässliche Kostenbremser und helfen der Berliner Gesundheitsreform auf die Beine. Der Werbeslogan »Gute Preise. Gute Besserung« trifft den Nerv der Zeit und etabliert sich als geflügeltes Wort für alle Gesundheitsreform-Geschädigten. Das Sparpotenzial durch niedrigere Preise |21|wird auf gewaltige vier bis fünf Milliarden Euro jährlich veranschlagt. Wie sehr Nachahmerprodukte inzwischen eine Größe im riesigen Pharmamarkt Deutschlands geworden sind, zeigt ihr hoher Anteil: Etwa 60 Generika-Firmen haben es geschafft, fast ein Drittel vom Gesamtkuchen (2005) zu erobern.

Gekonntes Marketing ist von Beginn ein Erfolgsgeheimnis: Merckle gelingt es, Ratiopharm vom Ruch des Billigen fern zu halten und als Markenprodukt zu profilieren. Das wird mit durchgängigem Design, dem auffallenden Orange auf weißem Grund (Ruth Merckle wirkte bei der Farbgebung mit) sowie durch einprägsame Werbung erreicht. Diese suggeriert den Kunden, dass sie den Apotheker zuerst nach einem Präparat von Ratiopharm fragen sollen. Das zieht: Die Marke wird ebenso zum Gattungsbegriff wie »Maggi« oder »Tempo« in ihren Segmenten. Ratiopharm belegt als langjähriger Branchenprimus bei Generika in Deutschland den ersten Platz bei verschreibungspflichtigen Medikamenten. Aus anfangs knapp 100000 verkauften Packungen werden mehr als 300 Millionen im Jahr – die Masse macht’s. Die erste Umsatzmilliarde in Euro wird 2003 übersprungen. Das Angebot von gut 850 rezeptpflichtigen und -freien Präparaten deckt viele therapeutische Gruppen ab bis hin zu pflanzlicher Arznei. Mit namhaften Anbietern wie B. Braun Melsungen gehen die Ulmer Partnerschaften (bei Insulin) ein. Und für mehr als tausend neue Präparate läuft das Zulassungsverfahren. Ratiopharm und die über Produktion und Entwicklung eng verbundene Merckle Pharma beschäftigen in Deutschland rund 3110 Menschen (2005). Das Hauptwerk Ulm wird ständig erweitert, ebenso die zwei Betriebe in Blaubeuren. Schmuck glänzt die Pharma-Tochter nicht nur durch ihre Dynamik, sondern sie entpuppt sich auch als Gans, die goldene Eier legt. Ratiopharm wirft so viel ab, dass Adolf Merckle aus den Gewinnen nebenbei mit ruhiger Hand sein Imperium über Jahre ausbauen kann.

Die Revolution frisst ihre Kinder

Inzwischen lassen Wachstum und Erträge bei Generika kräftig nach; der heimische Markt zeigt Spuren von Sättigung, die Zunft stellt sich im Inland auf Stagnation ein. Ein Grund für die Skepsis ist die sprunghafte |22|Gesundheitspolitik. »Nach der Reform ist vor der Reform«, bringt es Ex-Ratiopharm-Geschäftsführer Claudio Albrecht auf den Punkt. So sparen Patienten und Käufer von Arznei nicht nur beim Kauf, sondern sie verzichten – wo es geht – auf Medikamente. Das trifft auch die Nachahmer, die nun nicht mehr automatisch die Gewinner der Gesundheitsreform sind. Die Revolution frisst ihre Kinder – und Generiker liefern sich gegenseitig harte Rabattschlachten, was die ohnehin mageren Margen weiter reduziert. Bitter klagt Albrecht bereits 2004 anlässlich der 30-Jahr-Feier von Ratiopharm in der Presse über den starken Kostendruck und »signifikante Profiteinbußen […] Und sie können davon ausgehen, dass der Mittelstand erst recht leidet«. Der im November 2005 überraschend gefeuerte Manager meint vorwiegend die etwa 60, meist kleinen Konkurrenten in Deutschland. Düster sagt der Pharmamanager voraus: »Nur große Anbieter, die fähig sind, in die Zukunftsmärkte zu investieren und große Mengen selbst zu produzieren, werden auch künftig eine umfassende Versorgung mit Generika sicherstellen können.« Nach Albrechts Szenario wird bis 2007 »die Mehrheit der deutschen Generika-Firmen den Eigentümer wechseln«. In Europa könnten nur noch drei bis vier multinationale Konzerne plus fünf bis sechs Nischenanbieter »wirklich eine Rolle spielen«. Seine Prophezeiung scheint sich zu bewahrheiten, der Ausleseprozess läuft auf Hochtouren. Im Frühjahr 2005 stürmt der Schweizer Pharmariese Novartis (Marke »Sandoz«) an Ratiopharm vorbei. Die expansionshungrigen Eidgenossen schlucken die ewige Nummer zwei hinter den Ulmern, die Familienfirma Hexal samt deren US-Beteiligung, und sind nun Weltmarktführer. Zuvor rangierten Ratiopharms Generika lange in Deutschland und Europa an erster Stelle. Weltweit liegen die Ulmer nun hinter Novartis / Hexal und Teva (Israel) auf Platz drei, etwa gleichauf mit der Watson-Gruppe (USA). Solche Brocken jedoch, wie sie den Multis schmecken, stehen bei Merckles nicht auf dem Speiseplan. Die Familie bevorzugt eine organische Kost, gegebenenfalls denkt Ratiopharm an den Erwerb ausgewählter Spezialisten.

Unter den wenigen Überlebenden, daran lassen Merckles keinen Zweifel, wird Ratiopharm auf den vordersten Plätzen in Europa und der Welt sein. Den Optimismus beziehen die Pioniere der Pillenimitation aus der Tatsache, dass sie längst weltweit agieren. Die Ratiopharm |23|International tritt mittlerweile in mehr als zwei Dutzend Ländern auf und beschäftigt dort bald 2500 Menschen, vorwiegend im Vertrieb. Dank dieser Öffnung wachsen die Ulmer wacker weiter, trotz Stillstands im Inland. In den Niederlanden wurde ein Betrieb gekauft, der bis 2004 unter dem Namen Magnapharma produzierte, zuvor Merckles Großhandelsfirma Phoenix gehörte und drittgrößter Generiker der Niederlande ist. In Kanada erwarben sie im Jahr 2000 in Montreal die Produktionsfirma Technilab Pharma, zugleich Nummer drei im Land. Beim großen Nachbarn USA – weltweit größter Markt für Nachahmerpräparate – unterhalten die Schwaben mit »Martec« vorerst eine kleine Basis samt Werk. Hier streben sie aus eigener Kraft eine starke Stellung an, um ihre Expansionschancen im Ausland zu verbessern. Dabei spielt Europa neben Nordamerika die Hauptrolle. Hier laufen zahlreiche wichtige Patente auf Arzneimittel ab, deren Verkaufsvolumen Ratiopharm-Chef Albrecht auf 1,4 Milliarden Euro schätzt. Besonders im Visier: Italien, Frankreich und Polen. Globalisierung ist aber für die Familie Merckle nicht identisch mit einer Verlagerung der Produktion. Bis 2005 wurden fast 80 Prozent aller Medikamente im Inland (Blaubeuren / Ulm) hergestellt. Und Philipp Merckle hält es weiter für möglich, die europäischen Märkte überwiegend von Deutschland aus zu beliefern. Andererseits werden die meisten Arbeitsplätze bei Ratiopharm im Vertrieb und in den Auslandsorganisationen geschaffen. Zum Reizthema »Indien« – einige deutsche Firmen verlegen Teile ihrer arbeitsintensiven Forschung und Entwicklung und lassen offen, ob auch die Produktion folgt – gibt Firmenchef Philipp Merckle Entwarnung. Entsprechende Befürchtungen in der Belegschaft seien unbegründet. Tatsächlich baut Merckle auf dem Subkontinent eine Entwicklungseinheit für klassische chemische Wirkstoffe auf, um dort Patente für neue Produkte anzumelden. Der Grund dafür ist Zeitgewinn: In Indien ist es im Gegensatz zu Deutschland erlaubt, freizügig mit Originalpräparaten zu laborieren und bereits ein Nachahmerpräparat zu entwickeln, während der Patentschutz noch gilt. Dieser Vorsprung wird genutzt, um in Europa schnell im Markt zu sein. Philipp Merckle: »Jeder versucht, die gewünschte Menge am Tag eins sofort den Apotheken ausreichend zur Verfügung zu stellen.« Wer zu spät kommt, den bestraft der Markt. Grundsätzlich, so versichert der Juniorchef, stehe die Familie zu ihren |24|deutschen Standorten. Dieses Bekenntnis sei auch abgeleitet von der christlichen Ethik und Moral, welche Merckles als Basis ihres unternehmerischen Handelns verstehen.

Familie und soziale Kultur

Die Eintracht der Familie besitzt bei Merckles einen sehr hohen Stellenwert, sie wird als integraler Bestandteil der Firmenkultur betrachtet. »Wir sind noch eine Familie«, bekräftigt Philipp Merckle. Es sei selbstverständlich, das Unternehmen über Generationen hinweg als Ganzes zu erhalten. Und obwohl eine Erbregelung existiert, hält Merckle die Sippe für überschaubar genug, die Arbeit außerhalb des Paragrafendschungels im Team zu bewältigen. Zur Familie zählen Ruth und Adolf Merckle als Vertreter der Elterngeneration, dazu in der vierten Generation vier Kinder – Ludwig, Philipp, Jutta und Tobias – sowie (Sommer 2005) sieben Enkel. Bisher ist die Hierarchie im Hause flach und klar geregelt. Grundsätzlich erhält jeder im Clan die Chance, entsprechend seinen Fähigkeiten und seinem Engagement eine Stellung in der Firma einzunehmen. Philipp Merckle: »Es wäre meinem Vater am liebsten, wenn alle Kinder im eigenen Unternehmen tätig wären.« Dieser Wunsch jedoch ist unerfüllt und dürfte es noch einige Zeit bleiben. Adolf Merckle ist unbestritten die Nummer eins der Sippe. »Mr. Ratiopharm« und zum Teil seine Frau Ruth prägen die Firmengruppe nach Maßstäben eines lupenreinen Familienbetriebs. Adolf Merckle war die treibende Kraft, die aus einem Kleinbetrieb den Milliardenkonzern schmiedete. Der 1934 in Dresden geborene Firmendynast pflegt seine Ziele äußerst hartnäckig zu verfolgen. Sein Führungsstil läuft direkt über den kleinen Dienstweg, notfalls arbeitet er mit persönlichem Einsatz. So taucht der Patriarch gelegentlich zu Blitzbesuchen bei den Seinen auf, um sich vor Ort ein Bild zu machen; hie und da besucht er auch Kunden selbst. Sein Wissen über das weite Firmengeflecht besorgt sich der juristisch geschulte Steuermann von Gewährsleuten, die er auf Schlüsselpositionen verteilt. Dieses Informationsnetz gewährleistet ihm eine lückenlose Kontrolle. Andererseits genießen Merckles Manager im Tagesgeschäft weit reichende Freiheiten, solange sie ihm loyal ergeben |25|sind. Wen der gelernte Anwalt ins Herz schließt, wie die beiden promovierten Anwaltskollegen Bernd Scheifele und Susanne Frieß, den zieht er ins Vertrauen, fördert nach Kräften. Wer in seiner Gunst fällt (wie unzählige seiner Manager, wie zum Beispiel Ende 2005 auch Ratiopharm-Lenker Claudio Albrecht samt Finanzchef Peter Prock) oder ihn reizt, gegen den zieht er unerbittlich zu Felde. Obwohl auch im schwäbischen Blaubeuren aufgewachsen, fühlt sich Adolf Merckle eher als Sudetendeutscher, wo sein Vater und der Betrieb herstammen. Böhmische Spezialitäten stehen für den Mann der ruhigen Hand mindestens so hoch im Kurs wie (schwäbische) Genügsamkeit. Beide Kulturen haben ihn geprägt. Bewohner Blaubeurens, denen er ab und zu auf dem Fahrrad oder beim Waldspaziergang begegnet, halten ihn für einen Einzelkämpfer. Sie erzählen sich die Geschichte, dass Vater Merckle einem seiner Söhne aus Ärger über dessen »schlechte Leistung« den Kauf einer Bahnkarte von München nach Ulm verweigerte, der Filius musste nach Hause trampen. Und Bahnreisende pflegt der sparsame Sudeten-Schwabe darauf hinzuweisen, dass der Zug in der ersten Klasse nicht schneller als in der zweiten fährt. Selbst geht der Ehrensenator der Universität Tübingen und Ehrendoktor der Medizin der Universität Ulm am liebsten zu Fuß. Gelegentlich bewegt er sich auf zwei Rädern oder auf Skiern fort. Als Adolf Merckle den Umzug der Firmenzentrale nach Ulm plante, da fuhr er die Strecke mit dem Fahrrad ab, um zu prüfen, ob die 19 Kilometer auch den Mitarbeitern zuzumuten wären. Sein Test fiel positiv aus.

Bei Merckles fährt wohl niemand erster Klasse, speist in einem VIP-Casino oder beansprucht Milliardärs-Privilegien – auch und gerade Seniorchefin Ruth Merckle nicht. Die Ehefrau von Mr. Ratiopharm ist die kunstsinnige, fromme Seele des Betriebs. Nach den harten Aufbaujahren kümmert sich die Endsechzigerin nun vorwiegend ums kulturelle Niveau sowie um die Firmen- und Familientradition. Für Letzteres hat sie eine Projektgruppe ins Leben gerufen. Der gebürtigen Ulmerin ist es ein Anliegen, den Mitarbeitern bildende Kunst nahe zu bringen. Sie veranlasst, dass in den Gebäuden überall Bilder und Gemälde aufgehängt, Skulpturen und Plastiken aufgestellt werden, was der Firmenzentrale die Anmutung einer Kunsthalle verleiht. Sogar in der Fabrik hängen Originale, geschützt hinter sicherem Glas. Die mehreren Tausend |26|Ausstellungsstücke sind im Computer gespeichert, sodass jeder Mitarbeiter sich die Kunst im Werk auf seinen PC holen und aus dem reichhaltigen Angebot sein Lieblingsobjekt aussuchen kann, um es an seinem Arbeitsplatz aufzuhängen. Mancher wechselt häufig das Bild, andere lassen es einfach hängen. Insgesamt meint Philipp Merckle, »kommt das Kunstangebot gut an«. Neben der Kunst als Mission ist Ruth Merckle, die ausgleichende Kraft, auch im evangelischen Glauben engagiert. Viele Freunde der Familie kommen aus kirchlichen Kreisen. Sie war lange Synodalin der Evangelischen Kirche Württembergs und prägte die Firmenkultur aus ihrem Glauben heraus. Deshalb existiert in der Firma gleichrangig neben Personalabteilung und Betriebsrat eine dritte Instanz – die Seelsorge. Als theologischen Beistand für die Mitarbeiter finanziert Ruth Merckle eigens eine Pastorin. Zur Weihnachtsfeier in der Firma werden Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine (aus dem Pietismus hervorgegangene Gemeinschaft, auf die Böhmischen Brüder zurückgehend) verteilt. Ruth Merckle geht auf Menschen zu. Sie selbst bezeichnet sich als sehr begeisterungsfähig, »egal was ich tue, was ich arbeite, was ich anpacke, gleich, ob in der Firma, in der Familie oder beim Bergsteigen«.6 Neben Christentum, Kunst und Kultur steht sie seit jeher für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Motto: »Mensch bleiben in Familie und Beruf.« So bietet Merckle längst mehr als hundert Arbeitszeitmodelle an. Diese werden überwiegend von Frauen genutzt, die fast zwei Drittel der Belegschaft stellen. Auch Erziehungsurlaub wird sechs Jahre gewährt und damit doppelt so lange wie vom Gesetz vorgeschrieben. Praktische Einrichtungen wie etwa Betriebskindergarten und Wäscherei kommen dazu. Diese Errungenschaften samt einem Frauenreferat gehen auf den Einsatz von Ruth Merckle zurück. Denn schon als junge Frau engagierte sich die gelernte Krankengymnastin für ein günstiges Verhältnis zwischen Beruf und Familie. Mitte 2002 zog sich die Seniorin als Geschäftsführerin »für Unternehmenskultur und soziale Belange«, wie ihre Kinder es nannten, zurück. Die Rolle der »Einmischerin«, die sie im positiven Sinne des Wortes einnimmt, wird sie wohl behalten.

Die soziale Kultur bei Merckle beurteilen auch Arbeitnehmer vorwiegend positiv. »Es gibt ein vernünftiges Miteinander zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat in beiderseitigem Einvernehmen«, so ein |27|Gewerkschafter. Die Familie betrachte – wohlmeinend – die Mitarbeiter als »ihre Kinder«, was eine gewisse Geborgenheit ausdrücke. Viele Beschäftigte – der Organisationsgrad ist niedrig, und es gibt keine gemeinsamen Gremien der Betriebsräte aus den verschiedenen Firmen – hätten den Familienbegriff verinnerlicht im Sinne von: »Wir sind eine Familie …« Entlassungen seien für beide Seiten schmerzhaft. Als Folge davon wird eine vorsichtige Personalpolitik mit Leiharbeitskräften und befristeten Verträgen verfolgt. »Das Unternehmen muss auch wirtschaftlich gesund sein«, verteidigt Pharmachef Philipp Merckle diese Praxis und hebt hervor: »Ich will ein gesundes Klima schaffen, in dem sich die Mitarbeiter wohl fühlen.« Das war wohl früher unter der Alleinherrschaft des Vaters nicht immer so, besonders was Transparenz und Offenheit anging. Hier versuchen die Junioren nun sachte zu korrigieren. »Führen hat eine spirituelle Dimension«, betont Philipp Merckle. Dieser Geist von einem bodenständig christlichen Familienverbund prägt die fünfzehnköpfige Familie. Der älteste Sohn, Ludwig Merckle (Jahrgang 1965, verheiratet, zwei Kinder), lenkt mit seinem Bruder Philipp die Geschicke im täglichen Geschäft. Ludwig studierte Wirtschaftsinformatik in Mannheim und steht bisher eher fürs Kaufmännische und den Vertrieb. Als erstes Kind der vierten Generation übernahm er 1997 das Kommando vom Vater. Seitdem wurden ihm auch eine Reihe einflussreicher Aufsichtsratsposten übertragen wie die Mandate bei HeidelbergCement oder Kässbohrer. Im Zuge des Konzernumbaus im Jahr 2005 wird sich Ludwig, der Älteste, nun intensiv um die wichtigen Vermögensbeteiligungen der Sippe, allen voran HeidelbergCement im Rahmen der VEM-Beteiligungen (Holding) kümmern müssen. Sein jüngerer Bruder Philipp Daniel (1966 geboren, verheiratet, fünf Kinder) ist dabei, im Stammhaus aufzusteigen. Der gelernte und in Tübingen studierte und promovierte Apotheker fungiert jetzt weltweit als Alleinverantwortlicher der Pharmafirma. Zu seinen Aufgaben in der Gruppe Merckle / Ratiopharm zählen wie bisher die Medikamentenentwicklung, dazu Produktion, Dienstleistungen und Vertrieb. Weil Philipp Merckle an der Berufsakademie Ravensburg auch ein Diplom als Betriebswirt im Fachbereich Industrie erwarb, war er zeitweise fürs Personal verantwortlich, eine Tätigkeit, die ihn sehr reizte. Sein Ideal für Personal und Firma lautet: »Ich will das Unternehmen |28|voranbringen und ein Umfeld schaffen, in dem die Seele aufblicken kann.« Im Gegensatz zu den älteren Brüdern Ludwig und Philipp üben Jutta (geboren 1968) sowie Tobias (Jahrgang 1970) keine aktiven Funktionen aus. Die Schwester studierte in Passau Betriebswirtschaft und Sprachen (darunter auch Chinesisch). Sie arbeitet nun im Management eines Berliner Betriebs der Metallbranche. Jutta Merckle, die als Gesellschafterin mehrerer Firmen in der Gruppe fungiert, könnte jederzeit eine Stellung direkt im elterlichen Konzern übernehmen, denn »jede Verstärkung aus der Familie ist willkommen« (Philipp Merckle). Beim Jüngsten, Tobias, dürfte die Erfüllung dieses Wunsches auf sich warten lassen. Der Sozialpädagoge sieht seinen Fokus in alternativen Projekten mit christlichem Hintergrund. So beteiligte er sich in den USA einige Jahre an einem Gefängnisprogramm. Jetzt lenkt er federführend ein Pilotprojekt (»Prisma«) des Landes Baden-Württemberg zur Resozialisierung jugendlicher Strafgefangener. Zu seiner Arbeit publiziert er auch Bücher. Vielleicht rückt Tobias Merckle eines Tages in diverse Aufsichtsräte im elterlichen Imperium ein.

Was die schwäbische Sippe zusätzlich eint, ist ihre Sportlichkeit. Touren im Hochgebirge und Skisport haben es ihr angetan. Schon Oma Erna Holland (Ruth Merckles Mutter) war eine der ersten Bergsteigerinnen und aktives Mitglied im Alpenverein Sektion Ulm. In dieser Tradition wandern und steigen Merckles auf die höchsten Gipfel, oft von Mitgliedern des Alpenvereins begleitet. Früher, in den Ferien, eroberte die sechsköpfige Familie auf Skiern den Mont Blanc vom Osten her. Und zu zweit schaffte es das Ehepaar Ruth und Adolf Merckle gar, den 5642 Meter hohen Elbrus (Iran) zu erklimmen. Selbst die Spitzen des Himalajas tragen Spuren vom Durchhaltewillen während ihrer mehrwöchigen Treckingtouren. Ihre Selbsterfahrungstrips gehen so weit, dass ein 5250-Meter-Massiv im Zwergstaat Bhutan seit der Eroberung durch die Blaubeurer den Namen Ruth Merckles trägt. Die bis 1983 unbezwungene Bergspitze heißt nun in Bergsteigerkarten »Meru Kang« (Meru steht für Merckle, Kang für Gipfel) – ein spitzenmäßiges Geburtstagsgeschenk des Gemahls. Zehn 6000er und mehr als zwei Dutzend 5000er sollen Adolf und Ruth Merckle weltweit gestürmt haben.7 Doch auch die Junioren schaffen sportliche Hochleistungen. So wurde Philipp Merckle, dessen Hobbys Skifahren, »seine Berge« und Triathlon |29|(Schwimmen, Radfahren, Laufen) sind, 2004 in Sankt Anton als weltbester Fahrer der Ärzte und Apotheker im Riesenslalom der Altersklasse 2 ausgezeichnet. Als Führer für Skihochtouren nimmt er zudem regelmäßig Freunde und Interessierte im Auftrag des Deutschen Alpenvereins auf entlegene Höhen mit. So erstürmt die ehrgeizige Bergsteigerfamilie manchen Gipfel – nicht nur im unternehmerischen Sinne.

Merckle-Gruppe – weit mehr als Ratiopharm

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|49|Kapitel 2

Boehringer

Tue Gutes und schweige besser

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|71|Kapitel 3

Beisheim

Metro-Gründer Professor Dr. h. c. Multimilliardär

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|91|Kapitel 4

Haniel

Oligopole in Familienhand

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|116|Kapitel 5

Freudenberg

Familie mit geschichtlichem Gewissen

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|140|Kapitel 6

B. Braun

Der Marathon-Mann der Medizintechnik

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|169|Kapitel 7

Mohn

Die Gutmenschen aus Gütersloh

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|192|Kapitel 8

Henkel

Persil und Pattex halten sauber den Clan zusammen

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|218|Kapitel 9

Haub

Ein stiller Riese von der Ruhr

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|236|Kapitel 10

Sal. Oppenheim

Europas Geldadel lassen bitten

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|261|Kapitel 11

Röchling

Die Saardynastie erlebt die zweite Wiedergeburt

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|283|Kapitel 12

Otto

Mäzene mit hanseatischem Geschäftssinn

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|307|Anmerkungen

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|313|Literatur

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|315|Register

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.