Die Engelsmühle - Andreas Gruber - E-Book

Die Engelsmühle E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

In einer Villa am Stadtrand Wiens wird der pensionierte Arzt Abel Ostrovsky brutal gefoltert und ermordet. Vor seinem Tod konnte Ostrovsky noch ein Videoband verstecken. Auf der Suche nach diesem Film zieht der Mörder eine blutige Spur durch die Stadt. Dem Privatdetektiv Peter Hogart gelingt es, das Video zu finden, von dem er sich einen entscheidenden Hinweis auf den Täter erhofft. Doch die rätselhafte kurze Schwarz-Weiß-Sequenz, die über den Bildschirm flimmert, gibt Hogart nur noch weitere Rätsel auf. Der entscheidende Hinweis zu deren Lösung scheint in der Vergangenheit zu liegen – und in einer verlassenen Mühle vor den Toren der Stadt ...

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Seitenzahl: 444

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Buch

Der Wiener Privatdetektiv Peter Hogart ermittelt in eigener Sache: Sein Bruder Kurt wird zum Verdächtigen im Mordfall Dr. Abel Ostrovsky. Die brutal zugerichtete Leiche des pensionierten Arztes wurde in einer Villa am Wiener Stadtrand gefunden. Das Einzige, was Hogart dabei helfen könnte, die Unschuld seines Bruders zu beweisen, ist ein geheimnisvolles Video, das Ostrovsky kurz vor seinem Tod versteckt hat. Doch nicht nur Hogart selbst ist auf der Suche nach dieser Aufnahme – bald wird klar, dass er sich mit dem Mörder ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert, der dabei eine blutige Spur durch die Stadt zieht. Hogart kommt ihm zuvor, nur um festzustellen, dass der der Film – eine rätselhafte neunminütige Schwarz-Weiß-Sequenz – noch mehr Fragen aufwirft. Auf der Suche nach Antworten deckt Hogart schließlich die Abgründe einer jahrzehntelangen Familienfehde auf, die ihn zu einer geheimnisvollen alten Mühle vor den Toren der Stadt führt. Doch die Lösung des Rätsels um die Engelsmühle ist weitaus dunkler und gefährlicher als gedacht …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Andreas Gruber

Die Engelsmühle

Thriller

Erstmals erschienen 2008 im Festa Verlag, Leipzig.

Für die erstmals 2018 im Goldmann Verlag erschienene Ausgabe

hat der Autor den Text neu durchgesehen und überarbeitet.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Neuausgabe Oktober 2020

Copyright © 2008 by Andreas Gruber/ www.agruber.com

Copyright © dieser Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München; hypertizer/E+/Getty Images

Karte von Wien: © Peter Palm, Berlin

TH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-22667-1V006

www.goldmann-verlag.de

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Karte

für Timo Kümmel,danke, dass du mich immer wieder zu neuen Taten angetrieben hast

In der sprichwörtlichen Wiener Bescheidenheit vergisst man gern, dass sich in keiner anderen Stadt ein Opernhaus von Weltruf in knapp zehn Minuten Entfernung von bedeutenden Gemäldegalerien, weltbekannten Konzertsälen, zwanzig Theatern, fünfzig Museen, unzähligen Parks, Kaffeehäusern, Konditoreien und Denkmälern befindet. Auf der anderen Seite ist Wien aber die Stadt des Unausgesprochenen und der Abgründe – und Tod und Wahnsinn sind seit Jahrhunderten ihre ständigen Begleiter.

ALBERT GAUGIN

Liebe Krimi-Fans,

nach Die schwarze Dame ist Die Engelsmühle, die Sie soeben in Händen halten, mein zweiter Thriller. Als ich dieses Buch geschrieben habe, war ich noch kein freier Autor wie heute, der seine Brötchen ausschließlich mit dem Schreiben verdient, sondern hatte einen Bürojob als Controller und arbeitete nur nach Feierabend an meinen Texten.

Zu jener Zeit reduzierte ich allerdings meine Tätigkeit im Büro auf einen Teilzeitjob und nahm eine Gehaltseinbuße hin, damit ich noch mehr Zeit zum Schreiben hatte. Denn ich wollte es dem Wiener Privatdetektiv Peter Hogart nach Die schwarze Dame unbedingt ermöglichen, sich in ein weiteres blutrünstiges Abenteuer zu stürzen. Diesmal sollte er allerdings nicht wieder nach Prag reisen, wie im ersten Teil, sondern in Wien bleiben, seiner Heimatstadt – und meiner Geburtsstadt.

Hier hatte ich die Möglichkeit, mehr private Details über ihn zu erzählen, über sein Büro, seinen Bruder und vor allem seine nervende Nichte, die ihm nacheiferte und ebenfalls Privatdetektivin werden wollte.

In die Figur des Peter Hogart packte ich dabei auch einige autobiografische Elemente wie unsere gemeinsame Liebe für alte Schwarz-Weiß-Filme. Oder seine Sammlerleidenschaft, die ich ebenfalls teile, denn wie Hogart, so verbrachte auch ich zu jener Zeit, als ich noch in Wien lebte, viele Stunden auf dem Flohmarkt bei der Kettenbrückengasse, kaufte Heftromane, Musikkassetten, Filmplakate, Schallplatten, Autogrammkarten und alte Videofilme.

Und wie Hogart, so besuchte auch ich gern den Wiener Narrenturm, jenes pathologische Museum mit seinen schrecklichen Ausstellungsstücken, und interessierte mich für die Wiener Geschichte – vor allem für die Pest- und Cholerazeit, die Türkenbelagerungen und die Wiener Sagen rund um den Donauraum. Ja, die gute alte blaue Donau … sie und der Kahlenberg spielen eine wichtige Rolle in diesem Buch.

Als Autor entwickelt man sich natürlich weiter, man lernt dazu, und die Handlungen werden komplexer. So erging es auch mir. Trotzdem ist mir Die Engelsmühle besonders ans Herz gewachsen. Es ist vielleicht mein autobiografischster Roman, und auch wenn sich seit damals vieles geändert hat, würde ich dieses Buch heute genauso wieder schreiben.

Woher ich das weiß?

Nachdem das Buch viele Jahre lang nur als E-Book erhältlich war, ist es mir eine große Freude gewesen, wieder in Peter Hogarts Welt einzutauchen, den Roman gründlich zu überarbeiten und als gedrucktes Buch neu aufzulegen.

Genießen Sie gemeinsam mit Peter Hogart die Reise nach Wien, in diese düstere und gleichzeitig so schöne ehemalige K.-u.-k.-Stadt und begeben Sie sich mit ihm auf Mörderjagd.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und natürlich einige schlaflose Nächte.

PROLOG

Für die meisten Wiener ist der Besuch des Flohmarkts an der Kettenbrückengasse nichts weiter als eine flüchtige Begegnung, ein kurzes Abtauchen in eine andere Welt, die von schmuddeligen Büchern, Postkarten oder anderem Trödel dominiert wird. Doch nicht für Peter Hogart. Für ihn war der Flohmarkt ein nostalgischer Ruhepol, wo er nahezu jeden Sonntag seinen eigenen Stand aufstellte, um der Routine seines Berufs zu entfliehen. An diesem Tag konnten ihn seine Auftraggeber kreuzweise. Er hatte die Nase voll von den vertrackten Betrugsfällen, mit denen ihn die Versicherungsriesen der Stadt betrauten, wenn ihre eigenen Spürnasen keine Fortschritte erzielten.

Andere Leute versuchten es mit Yoga, Spaziergängen oder Aquarellmalerei, doch Hogart entspannte sich am besten, wenn er mit Autogrammen und Filmplakaten aus den Fünfzigerjahren handelte oder Jazz-Singles mit speckigen Hüllen auf der Verkaufsfläche seines Standes platzierte. Seit einem halben Jahr versuchte er auch, die Edgar-Wallace-Videosammlung seines Bruders zu verkaufen, und reduzierte den Preis Woche für Woche um ein paar Cent. Doch niemand interessierte sich für die Kassetten. Letztendlich ging es ihm auch gar nicht darum, das große Geld zu verdienen, was mit diesen Raritäten – andere nannten sie Krempel – ohnehin nicht möglich war. Er suchte den Kontakt zu anderen Verrückten, die ihre Freizeit in den engen Reihen zwischen Hunderten Ständen verbrachten – besonders an einem heißen Frühlingstag wie heute, wenn die Luft über dem Asphalt flimmerte.

Hogarts Sonnenbrille steckte in seinem langen dunklen Haar, wobei der silberne Rahmen perfekt zu den mittlerweile grau melierten Schläfen passte. In den Sandalen, Jeans und dem ausgewaschenen Jazzland-T-Shirt wirkte er nicht wie ein freiberuflicher Versicherungsdetektiv, sondern wirklich wie jemand, der jede freie Minute in Antiquariaten und auf Tauschbörsen verbrachte, sich auf Kurzfilmfestivals herumtrieb und gelegentlich Artikel über die Kunstszene verfasste. Doch von echter Kunst verstand er nicht viel. Diese Abteilung befand sich eine Reihe weiter, wo sich Jugendstilvasen, barocke Bilderrahmen und handgeschnitzte Jesusstatuen aneinanderreihten. Dort wurden oft Preise bis zu eintausend Euro ausgehandelt, und dementsprechend sah auch das Publikum aus, das sich normalerweise in dieser Ecke herumtrieb. Ganz und gar nicht passte allerdings der Junge mit den strohblonden Haaren, den Sommersprossen und den geflickten Shorts dazu. Der zehnjährige Knirps konnte sich bestimmt keinen Biedermeiertisch leisten. Trotzdem zwängte er sich schon seit Minuten zwischen den Leuten hindurch, während sein Blick immer wieder von einem bestimmten Tresen zum Standbesitzer wanderte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er etwas klauen würde. Der Platz war optimal. Ein paar Meter weiter begann der Treppenabgang zur U-Bahn-Station. Von Weitem hörte man die Waggons heranscheppern, das Knirschen der Gleise und das Quietschen der Bremsen. Niemand würde den Jungen erwischen, falls er sich rechtzeitig unter die Fahrgäste mischte.

Hogart starrte zur Station. Soeben kamen zwei Männer, die er nur zu gut kannte, die Treppe hoch. Sie marschierten in die Richtung seines Standes. Der schlanke, hochgewachsene im Anzug wirkte wie ein Lackaffe, der kleinere im ungebügelten Hemd wie jemand, den kürzlich seine Frau verlassen hatte. Beide waren etwa in Hogarts Alter, knapp über vierzig, und beide passten ebenso wenig in das Ambiente des Flohmarkts wie der Junge. Jeder, der auch nur ein wenig darin geübt war, Menschen zu beobachten, hätte bemerkt, dass sie sich weniger für die Waren auf den Tischen als für die Anwesenden interessierten. Ihre Blicke wanderten von einem Augenpaar zum nächsten, als suchten sie nach jemandem – und Hogart ahnte bereits, um wen es sich dabei handelte. Da zischte auch schon der Blondschopf des Jungen an seinem Stand vorüber, worauf sämtliche Videokassetten vom Tisch polterten. Beim Vorbeilaufen hatte sich diese Kröte doch tatsächlich einen der Edgar-Wallace-Filme gegriffen.

Während der Bengel davonlief, schob er sich das Video unter das T-Shirt. Wie ein Pfeil schoss er durch die Menge, die auseinanderstob, als würde ein tollwütiger Terrier durch die Reihen rennen. Für einen Augenblick überlegte Hogart, dem Jungen hinterherzulaufen. Vielleicht sollte er sogar den Stand verlassen, und wenn er dann wiederkäme, hätte der Komplize des Jungen womöglich seinen ganzen Tisch leer geräumt. Hogart atmete tief durch. Pfeif drauf! Er hätte den Film sowieso nie verkauft.

Hogart reckte den Hals, um dem Jungen nachzusehen, wie er im U-Bahn-Schacht verschwand, doch so weit kam er nicht. Das Bürschchen prallte gegen die beiden Männer, die ihm nicht wie alle anderen auswichen, und ehe er sichs versah, packte ihn der eine am Ohr. Brutal schoben die beiden den Jungen durch die Reihen auf Hogarts Stand zu. Der Unrasierte hielt ihn nach wie vor am Ohr fest, während ihm der Lackaffe einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte. Der Kleine brüllte wie am Spieß, woraufhin sich die ersten Leute aufregten. Normalerweise konnte man an einer Wiener Bushaltestelle einer Großmutter die Handtasche klauen, ohne dass einer der Herumstehenden auch nur einen Finger rührte, doch sobald ein Kind lauthals kreischte, traf man den Nerv der Wiener.

Als der Lackaffe den Jungen mit dem Rücken voran gegen Hogarts Stand stieß, erreichte das Gebrüll den Höhepunkt. Es verstummte erst, als der Mann seine Dienstmarke aus der Anzugtasche hervorholte und dem Jungen vor die Nase hielt. Hogart musste nicht hinsehen. Inspektor Wolfgang Eichinger stand unter der Plakette.

»Hallo, Hog, wie geht’s?« Der Mann steckte den Kripoausweis wieder ein.

»Bis jetzt ganz gut«, antwortete Hogart.

Eichinger lächelte, smart wie immer – zumindest hatte ihn Hogart noch nie anders gesehen. Egal ob im Dienst oder privat, er trug stets einen eleganten Anzug und die silberne Rolex am Handgelenk, ein Geschenk seiner Frau, die wie er für das Innenministerium arbeitete. Wenn es für Eichinger einmal nicht mehr so gut bei der Kripo lief – und manchmal sah es ganz danach aus –, konnte er es immer noch als Model für Herrenunterwäsche versuchen. Die gebräunten Gesichtszüge waren genauso schneidig wie sein Anzug, und mit dem perfekt sitzenden, eingegelten schwarzen Haar stellte er den Traumkandidaten für jede Schwiegermutter dar. Nur hatten die keine Ahnung, was im Kopf dieses Mannes vorging.

Eichinger sah seinen Partner kurz an. Garek kam aus einem anderen Milieu, dementsprechend waren sein Aussehen und sein Auftreten: kaltschnäuzig, verbittert, unrasiert, das ungebändigte braune Haar mit einer nassen Bürste nach hinten gekämmt. Sobald man einmal wusste, dass die beiden bei der Kripo arbeiteten, konnte man glauben, zwei Prachtexemplare von Guter-Bulle-böser-Bulle vor sich zu haben. Doch der erste Eindruck täuschte. Wie so oft war es in Wahrheit genau umgekehrt.

»Diebstahl, tätlicher Angriff und Widerstand gegen die Staatsgewalt … beachtlich für dein Alter.« Eichinger sah auf die Uhr, doch den Blick hätte er sich sparen können. Aus der Innenstadt drang das Läuten der Mittagsglocken. »Müsstest du nicht in der Schule sein?«

»Es ist Sonntag«, sagte Hogart, während der Junge wortlos zu Boden starrte.

Garek zerrte am Kragen seines schmuddeligen Hemds. Bestimmt machte ihm die Hitze zu schaffen. »Wir werden deine Mutter verständigen. Sie bekommt eine Anzeige wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, eine Gerichtsvorladung und eine Geldstrafe. Der Bericht geht an die Jugendwohlfahrt, und die machen einen Hausbesuch. Dein alter Herr hat bestimmt ein paar Vorstrafen, was?«

Hogart stöhnte auf. Er wusste, dass die beiden den Jungen nur kräftig verarschten. Erstens arbeiteten sie beim Morddezernat, und zweitens war ihnen bei diesen Temperaturen bestimmt nicht danach zumute, den Jungen aufs Revier zu schleppen, um dort seine Personalien herauszufinden – denn so, wie der Junge aussah, trug er bestimmt keinen Ausweis bei sich.

Hogart ging um den Stand herum und legte dem Burschen die Hand auf die Schulter. »Ronnie, wenn du den Film nicht mehr möchtest, nehme ich ihn zurück, und du überlegst dir, ob du deinem Vater etwas anderes kaufst. Einverstanden?«

Noch bevor der Junge aufsah, hatte ihm Hogart die Videokassette unter dem T-Shirt hervorgezogen und zu den anderen auf den Tisch gelegt. Der Zinker war sowieso noch nichts für einen Zehnjährigen. Hogart nahm einen Fünfeuroschein aus der Geldbörse und reichte ihn dem Jungen. Dieser nahm ihn verdutzt.

»Komm nächsten Sonntag wieder.«

Das ließ sich der Bub nicht zweimal sagen. Eilig zwängte er sich zwischen den Kripobeamten hindurch.

Eichinger sah dem Jungen hinterher. »Dein Stand muss ja mächtig viel Kohle abwerfen, wenn du den Leuten, die dich beklauen, die Euros hinterherwirfst.«

Hogart begann, die Videokassetten aufzustellen. »Na ja, immerhin läuft’s bei mir so weit. Was für euch wohl nicht zutrifft, wenn man euch auf minderjährige Diebe ansetzt.«

»Du …«

»Nicht jetzt!«, fiel Garek seinem Kollegen ins Wort und warf dabei einen leicht mitleidigen Blick auf Hogarts unberührtes Warenangebot. »Was macht denn das Leben als Privatdetektiv so?«

»Ich kann nicht klagen. Morgen habe ich einen Termin bei Helmut Rast.« Kommerzialrat Rast, der Vorstandsdirektor und Geschäftsführer von Medeen & Lloyd, war ein guter Freund von Hogarts Vater gewesen. Ab und zu arbeitete Hogart für das Versicherungshaus.

»Der Brand in der Gebietskrankenkasse?«

Hogart nickte. »Ich soll den Fall übernehmen. Die hoffen, es war Brandstiftung.«

»Blödsinn.« Garek wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wer sollte die Krankenkasse anzünden? Jemand, dem die Rezeptgebühren zu hoch sind? Unsere Jungs vom Branddezernat haben sich das schon angesehen. Eine lecke Gasleitung im Keller – und Bumm!« Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß. Aber eben weil die Kripo nichts gefunden hat, soll ich mir das ansehen.«

»Und ein Experte wie du ist sicher schlauer als die Jungs vom Brand.« Eichingers Stimme klang zynisch.

Hogart sagte nichts darauf. Es war nicht notwendig. Eichinger wusste genauso gut wie er, dass er schon öfter Fälle aufgeklärt hatte, die die Kripo ungelöst zu den Akten gelegt hatte.

»Warum seid ihr eigentlich hier?«

»Dienstschluss, eigentlich sind wir auf dem Heimweg.« Garek sah sich um. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Was soll ich diesmal verkaufen? Den Lampenschirm deiner Großmutter?«

Garek zog ein dickes Bündel alter Postkarten aus der Gesäßtasche: Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Wien aus den Dreißigerjahren. »Sind die was wert?«

Hogart schüttelte den Kopf, ohne durch den Stoß zu blättern. »Höchstens zehn, fünfzehn Euro – falls überhaupt.«

»Jede einzelne?«

»Alle zusammen«, antwortete Hogart. Bestimmt hatte Garek die Karten von einem Tatort mitgehen lassen, zum Beispiel aus einer wackeligen Kommodenschublade in der Altbauwohnung einer Rentnerin, die von ihrem Sohn erstochen worden war – oder so etwas in der Art. Gewiss hatten sie den Fall gelöst, und die Karten würde niemand vermissen.

Na ja, ihm war’s egal. Hogart legte die Postkarten zu den anderen. »Wollt ihr eine komplette Edgar-Wallace-Sammlung auf Video? Klaus Kinski, Blacky, Eddi Arent?«

Eichinger, der abseitsstand, als gehörte er nicht dazu, blickte erst jetzt wieder herüber. »Nein danke, das alte Zeug würde ich mir nicht einmal im Fernsehen ansehen, wenn ich einen vierwöchigen Liegegips hätte.«

»Du hast keine Ahnung.« Hogart strich über die Videohüllen. »Das sind noch richtige Filme – wenn das Bild flimmert und der Ton kratzt. Auf diesen kristallklaren Blu-rays siehst du jedes einzelne Pixel. Das sind keine Filme mehr, sondern Computerprogramme.«

»Wie du meinst.« Eichinger fuhr mit einer wegwerfenden Bewegung über den Tisch. »An deiner Stelle würde ich den ganzen Mist ohnehin über eBay verkaufen: ›Sofort-Kaufen‹ und zack! Nach einer Woche ist alles weg.«

»eBay«, schnaubte Hogart verächtlich. Bis auf sein Handy, das er stets bei sich trug, konnte er gern auf den digitalen Wahnsinn verzichten.

Eichinger ließ den Blick über Hogarts Stand schweifen. »Geht natürlich nur, wenn man einen Computer besitzt.« Da läutete sein Handy. Rasch fischte er es aus der Anzugtasche. Bestimmt der letzte Schrei von Nokia mit Infrarotschnittstelle und mindestens fünf Gigabyte Speicherplatz. Damit konnte er sich tonnenweise Mist downloaden – und es passte perfekt zu seinem geschniegelten Outfit.

Gareks Miene verfinsterte sich, als er das Gespräch mitverfolgte. Schließlich legte Eichinger auf.

»Der Chef«, sagte er knapp. »Wir haben einen Fünfundsiebziger. Ein Rentner. Die Haushälterin hat ihn vor einer Stunde gefunden.«

»Scheiße – wir haben Dienstschluss!«, murrte Garek.

»Sag’s dem Chef!« Eichinger setzte sich in Bewegung. Garek folgte ihm.

»Weißt du, wie wir in die Waldorfgasse kommen?«

Im nächsten Moment waren sie außer Hörweite.

Hogart wusste, was ein Fünfundsiebziger bedeutete – und wieder einmal hatte es einen Rentner erwischt. Bald würde Garek wieder hier auftauchen mit einer Tüte Briefmarken oder alten Bildbänden, die auch wieder niemand vermissen würde. Im Prinzip war es Hehlerei, was er da betrieb: Garek brauchte Geld, Eichinger sah weg, und er selbst verkaufte das Zeug auf dem Flohmarkt. Er konnte es sich nicht leisten, Nein zu sagen. Eine Hand wäscht die andere – wie es so schön hieß –, und ohne Gareks Informationen aus dem Morddezernat ließen sich manche Fälle, die er als freiberuflicher Versicherungsdetektiv übernahm, nicht lösen. Wer so lange bei der Kripo war wie Garek, der kam an alle Informationen heran – es war nur eine Frage des Preises. Mit Ehre oder Loyalität hatte Gareks Job schon lange nichts mehr zu tun. Seine Motivation lag auf der Hand: Er besaß einen sicheren Arbeitsplatz. Sofern er sich keine groben Vergehen erlaubte, war er für den Rest seiner Laufbahn unkündbar.

Soviel Hogart wusste, sah die Sache bei Eichinger etwas anders aus. Bevor er zur Kripo wechselte, war er vier Jahre mit dem Funkwagen auf Streife gewesen. In dieser Zeit bekam er von seinem Abteilungskommandanten mehrere inoffizielle Rügen, weil er doppelt so viele Falschparker aufgeschrieben hatte wie die Kollegen auf dem Revier – und dadurch ziemlich schnell deutlich wurde, dass alle anderen zu wenig arbeiteten. Aber nicht nur deswegen hatte Eichinger bei den Kollegen keinen guten Stand gehabt. Er hatte sich auch geweigert, aus seinen Strafzetteln und Anzeigen wegen Überziehung der Ladenschlusszeiten jene auszusortieren, die regelmäßig etwas für die Kaffeekasse des Reviers springen ließen. Ihm war schnell klar gewesen, dass der Fisch vom Kopf her stank. Dahingegen hielt sich Garek getreu an das Motto: Wer viel arbeitete, machte viele Fehler, und wer Fehler beging, wurde nicht befördert. Dass Garek aber trotz seines Alters ebenso wie Eichinger immer noch nur Abteilungsinspektor war, hatte einen anderen Grund, den Hogart nur zu gut verstand. Immerhin kannte er die beiden seit über fünfzehn Jahren.

Das erste Mal hatte er sie im Felsenkeller in Brunn am Gebirge getroffen, einem privaten Schießstand, als er seinen Waffenschein machte. Damals wurde bei der Kripo noch die alte Walther PP, Kaliber 7.65 mm, als Dienstpistole verwendet, mittlerweile trugen die Beamten die Glock 17 im Schnellziehholster. Seit damals war viel passiert, aber Hogart traf die beiden immer noch regelmäßig im Felsenkeller – Garek öfter, Eichinger ab und zu –, wenn es ihm mittlerweile auch weniger darum ging, fit an der Waffe zu bleiben, sondern eher um seine Kontakte zur Kriposzene zu pflegen. Bei seinem Job brauchte er die Waffe nicht wirklich, und bisher hatte er noch nie auf einen Menschen geschossen … bis auf letztes Jahr, als er wegen eines Versicherungsfalls in Prag gewesen war. Seit dem Vorfall lag seine Waffe zwar immer im Handschuhfach seines Wagens, aber er ließ die Finger von der Pistole. Er hatte die Lust verloren zu schießen, selbst wenn es nur auf Pappfiguren war.

Als die Sonne hinter den Häuserdächern versank, begann sich der Platz um Hogart zu lichten. Die Stände wurden der Reihe nach abgebaut, und auch Hogart fing an, seine Schallplatten und Autogramme in Schachteln zu verpacken. Irgendwo unter einem Berg von Klarsichtfolien begann sein Handy zu läuten. Kurt.

Wie jeden Sonntagabend, so musste ihn sein Bruder auch diesmal nerven. Hogart nahm das Gespräch entgegen. »Nein, ich habe deine Filme noch immer nicht verkauft, außer einen, aber den hat der Kunde wieder zurückge…«

»Darum geht es nicht!«, unterbrach Kurt ihn.

Seine Stimme klang nicht so entspannt wie sonst. Als Chiropraktiker nahm Kurt am Sonntag keine Patienten an, da er sich den Tag stets für die Familie frei hielt. Zwar lief es mit Kurts Frau Sabina im Moment nicht gerade rosig, doch normalerweise trübte das Kurts Laune kein bisschen.

»Was gibt’s?«

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Kurt.

Stöhnend ließ sich Hogart auf einer Kiste nieder. Wie es schien, war er Weltmeister im Gefallenerweisen. »Schieß los!«, murrte er.

Kurt erzählte ihm, dass Doktor Abel Ostrovsky ihm am Freitag eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen habe. Der Neurochirurg war Kurts Dozent an der Uni und ehemaliger Primar im Krankenhaus gewesen, wo Kurt nach dem Studium als Turnusarzt gearbeitet hatte.

»Wo warst du am Freitagabend eigentlich?«, unterbrach Hogart ihn. »Ich habe versucht, dich zu erreichen.«

»Sabina war mit Tatjana bei unserer Mutter. Ich war bei einer Patientin. Aber jetzt hör doch mal zu!«, zischte Kurt. »Seit Ostrovskys Anruf versuche ich, ihn zu erreichen. Aber er geht weder an sein Handy noch an seinen Festnetzanschluss. Gestern Abend bin ich zu seiner Villa gefahren, doch er war nicht zu Hause.«

»Kann also nicht so wichtig gewesen sein«, schlussfolgerte Hogart.

»Die Meldung auf dem Anrufbeantworter klang aber danach. Er sagte, er traue niemandem, und schon gar nicht der Polizei oder den Behörden. Er wolle mit jemand Neutralem sprechen, der auf keinen Fall in eine Verschwörung verwickelt sein könne.«

Hogart wurde ernst. »Und warum ruft er ausgerechnet dich an?«

»Witzbold! Ich habe ihm gegenüber einmal erwähnt, dass du als Versicherungsdetektiv arbeitest.« Kurt wurde unruhig. »Ostrovsky sagte, er habe ein Videoband in seinem Haus versteckt und ich müsse es unbedingt finden.«

»Warum hat er dir das Video nicht in einem Paket geschickt?«

»Ich weiß es nicht. Seine Stimme klang ziemlich gehetzt.«

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Hogart. »Soll ich dir den Mann ans Telefon zaubern?«

»Du könntest zu ihm fahren, um nach dem Rechten zu sehen«, schlug Kurt vor.

»Du warst doch schon dort!«

»Ja, gestern.«

Hogart sah auf die Uhr, dann betrachtete er die halb eingeräumten Pappkartons. »In einer Stunde. Wo wohnt er?«

»Draußen in Döbling, in der Waldorfgasse.«

Hogart stand auf. In Döbling lag eine Villa neben der anderen. »Du sagtest, er sei dein Mentor an der Uni gewesen. Ist er mittlerweile pensioniert und hat eine Haushälterin?«

»Bestimmt sogar. Wie kommst du darauf?«

Hogart dachte an den Fünfundsiebziger. »Seine Haushälterin hat gegen elf Uhr vormittags seine Leiche entdeckt.«

»Hast du das etwa aus den Nachrichten? So alt und krank war er noch gar nicht.«

»Er wurde ermordet!«, korrigierte Hogart ihn.

Vom anderen Ende der Telefonverbindung war kein Ton zu hören. »Oh«, sagte Kurt schließlich. »Dann hat sich die Sache mit dem Video erledigt.«

»Warum?«

»Weil es bestimmt nicht mehr im Haus ist.«

»Kommt darauf an, wo er es versteckt hat«, sagte Hogart.

»Heißt das, du willst trotzdem hinfahren?«

Hogart dachte nach. »Im Moment wimmelt es dort von Kripobeamten sowie von den Leuten der Spurensicherung, und der Rechtsmediziner ist sicher auch da … besser, wir fahren morgen früh gemeinsam hin.«

»Wir?« Kurt klang nicht gerade begeistert. »Was bringt das?«

»Ich kenne die ermittelnden Beamten.«

»Dann ist die Sache ja geritzt.«

Hogart dachte an Eichinger. »Sei dir da mal nicht so sicher.«

1. KAPITEL

Gegen neun Uhr morgens beruhigte sich der Stoßverkehr in Wien allmählich. Hogart fuhr mit seinem Skoda in die Innenstadt, wo er seinen Bruder vor dessen Praxis abholte. Das Eckhaus mit dem Innenhof lag direkt am Rudolfspark. Kurt wartete bereits vor der breiten Glasfront seiner Praxis. Er trug Sandalen, Bermudashorts und ein aufgeknöpftes weißes Hemd. Die behaarte Brust wurde von einer Kette mit einem Yin-Yang-Symbol verziert. Im Gegensatz zu anderen Ärzten schwamm Kurt als Ganzheitsmediziner und Chiropraktiker mit eigener Praxis voll und ganz auf der Esoterikwelle. Aroma- und Klangschalentherapie waren fester Bestandteil seines Angebots. Sowohl seine Behandlungsräume als auch die zweistöckige Wohnung in den beiden unteren Etagen des Eckhauses wirkten innen wie Teile eines buddhistischen Tempels. Hogart hingegen gingen Heilsteine und Feng Shui am Arsch vorbei.

Als Kurt in Hogarts Wagen einstieg, roch es plötzlich nach Massageöl und Räucherstäbchen.

»Hast du dich für unsere Freunde bei der Kripo fein gemacht?«, fragte Hogart, der selbst Jeans, ein Sakko und darunter ein schwarzes Poloshirt trug.

»Ich hatte gerade mal Zeit genug, meine nächsten beiden Termine abzusagen«, schnaubte Kurt. »Kannst du die Klimaanlage runterdrehen?«

Hogart drosselte sie ein wenig. Dann legte er seinem Bruder die Morgenausgabe der Zeitung in den Schoß. Der Brand in der Gebietskrankenkasse war vom Mord an Primar Abel Ostrovsky in den Innenteil verdrängt worden. Das Foto auf der Titelseite zeigte einen älteren Herrn mit grauem Haarkranz, buschigen Augenbrauen und einem dichten Oberlippenbart. Die Stirnfalten, das Schmunzeln und die wachen, listigen Augen ließen Abel Ostrovsky wie einen netten Großvater erscheinen. In breiten Lettern stand darüber, dass der pensionierte Arzt am Freitagabend in seinem Haus brutal verstümmelt und anschließend ermordet worden sei. Wie immer war unklar, woher die Presse diese Informationen bezog, doch Hogart wusste, dass Garek nicht der Einzige bei der Kripo war, der sich ein paar Extra-Euros dazuverdiente.

Während Hogart nach Döbling an den westlichen Stadtrand Wiens fuhr, erzählte ihm Kurt alles, was er über seinen ehemaligen Dozenten wusste – doch das war kaum mehr, als in der Zeitung stand. Bis zu seiner Pensionierung vor acht Jahren war Ostrovsky als Neurochirurg und Rückenmarkspezialist Primar im Kaiserin-Elisabeth-Spital gewesen. Nach dem Krebstod seiner Frau hatte er sich in seine Villa zurückgezogen und nach und nach die Kontakte zur Außenwelt abgebrochen. Kurt erinnerte sich, dass Ostrovsky lediglich eine Funktion in der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft übernommen hatte, die ihm hin und wieder einen kurzen Auftritt in den lokalen Medien verschaffte. Das war’s. Der Mann hatte unauffällig gelebt und keiner Fliege etwas zuleide getan.

Eine Dreiviertelstunde später erreichten sie Döbling. Die Waldorfgasse, ein enger, von Nussbäumen gesäumter Weg, führte leicht bergauf, was die Stadtgrenze und den Beginn des Wienerwaldes erahnen ließ. Je weiter sie hinauffuhren, desto länger erstreckten sich die Grundstücke und desto größer wurden die Villen. Hinter den Hausdächern zeichneten sich die Baumwipfel des Kahlenbergs ab. In einer Kurve hatten sie einen großartigen Ausblick auf Wien. Wer hier wohnte, wusste, wie man lebte – und bestimmt war Primar Ostrovsky kein armer, unbedeutender Mann gewesen.

Vor dem letzten Grundstück in der Waldorfgasse flatterte das gelbe Band einer Polizeiabsperrung im Wind. Kein Blaulicht, keine Polizeiautos; nur ein paar zivile Fahrzeuge parkten vor dem Gartentor. Die niedrigen Hecken hinter dem Holzzaun waren ebenso ungepflegt wie der Rasen und die Blumenbeete. Ein Gärtner hätte alle Hände voll zu tun gehabt, um die Anlage auf Vordermann zu bringen – und das Gleiche galt für Ostrovskys Villa. Soviel Hogart erkannte, bedurfte das zweistöckige Haus mit seinen zahlreichen Erkern, Dachgiebeln und Gaubenfenstern dringend einer Renovierung. An der Längsseite des Gebäudes standen hohe Tannen, deren Äste bis zu den Fensterläden und den durchhängenden Regenrinnen reichten. Unmittelbar hinter dem Grundstück begann der Wald. Das Zwitschern der Amseln war so nah, der Verkehrslärm so fern.

»Romantisch.« Hogart öffnete das Gartentor und stieg über die Polizeiabsperrung. Sie gingen den Kiesweg entlang auf den Eingang zu.

»Bist du sicher, dass wir das Richtige tun?«, flüsterte Kurt.

»Nein.«

»Was?«

»Sei still!«

Vor der offenen Tür standen einige Beamte. Aus dem Haus drangen das Knacken der Funkgeräte und die verzerrten Stimmen des Polizeifunks. Hoffentlich hatte die Kripo das Videoband noch nicht gefunden, denn aus irgendeinem Grund hatte Ostrovsky gewollt, dass Kurt es als Erster zu sehen bekommen sollte.

Während einer der Beamten kurz zu Hogart blickte und sofort zum Funkgerät griff, bemerkte Hogart, dass weder der Türrahmen noch das Schloss beschädigt waren. Im nächsten Moment kamen Garek und Eichinger aus dem Haus.

Hogart blieb abrupt stehen. »Scheiße! Wolf und Rolf!«

Kurt stand hinter ihm. »Ich dachte, du kennst die Ermittler.«

»Ja, aber ich hatte gehofft, sie wären heute nicht mehr da. Solange die am Tatort sind, sichern sie die Umgebung ab wie eine Atomsperrzone.« Hogart warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu. »Wir kommen nie ins Haus.«

»Und was sagen wir jetzt?«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, zischte Hogart.

Im nächsten Augenblick standen die beiden Beamten vor ihnen.

»Rolf Garek, Wolfgang Eichinger – mein Bruder«, stellte Hogart die Männer einander vor.

Wie immer war Eichinger wie aus dem Ei gepellt und wirkte an diesem Tatort eher wie ein Staatsanwalt als wie ein Ermittler. Bloß die Tatsache, dass er Latexhandschuhe trug und das Ende seiner Krawatte im Hemd steckte, gab ihn als Ermittler zu erkennen.

Garek trug immer noch dasselbe Hemd wie am Vortag, was Hogart nicht überraschte. Die dunklen Augenringe ließen vermuten, dass er die Nacht durchgearbeitet hatte. Dementsprechend war der Empfang.

»Was soll die Scheiße, Hog?«

Kurt zuckte zusammen.

»Wir …«, begann Hogart, doch weiter kam er nicht.

Eichinger machte einen Schritt auf ihn zu. »Was immer du uns erzählen willst, behalt es für dich. Die Sache hier hat nicht das Geringste mit dem Brand in der Gebietskrankenkasse zu tun – und jetzt nimm deinen Bruder schön an der Hand und zieh Leine, wir haben zu tun.«

Hogart schluckte. Er hatte den Termin um neun Uhr im Büro des Versicherungsdirektors völlig vergessen. Dummerweise hatte er bereits zugesagt, den Fall zu übernehmen. Nun musste er dringend mit Kommerzialrat Rast telefonieren, um das Gespräch zu verschieben.

»Was ist?«, bellte Eichinger. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ich höre dir immer zu.« Noch bevor Hogart mehr darauf erwidern konnte, stürzte ein Beamter aus dem Haus.

»Sieben Anrufe auf Ostrovskys Handy. Die Nummer wurde nicht unterdrückt. Wir haben jetzt Uhrzeit und …«

»Nicht jetzt!«, unterbrach Garek den Kollegen.

»Aber es ist dieselbe Nummer wie auf der Clipbox am Festnetz.«

»Nicht jetzt!« Garek drehte sich um und schob den Beamten wieder ins Haus zurück. »Stellen Sie fest, wem die Nummer gehört, und wenn ich sage nicht jetzt, dann …«

»Ich will euch hier nicht wiedersehen!« Eichinger drehte sich ebenfalls um und ging auf den Hauseingang zu.

»Ich weiß, wem die Nummer gehört«, rief Hogart ihnen nach.

Augenblicklich drehten sich die Beamten um.

»Verarsch mich nicht, Hog.« Garek strich sich das fettige Haar aus der Stirn.

»Die Nummer gehört einem von Ostrovskys Bekannten, einem ehemaligen Studenten. Mittlerweile arbeitet er als Chiropraktiker, und manchmal treffen sie sich, um über alte Zeiten zu plaudern.« Hogart wandte sich an seinen Bruder. »Du hast doch am Samstag öfter versucht, Ostrovsky zu erreichen, weil ihr euch wieder mal verabreden wolltet, oder?«

Kurt starrte die Beamten perplex an. »Ja, habe ich.«

»Wie lautet Ihre Telefonnummer?«, fragte Garek.

Kurt nannte die Nummer seines Festnetzanschlusses.

Garek wandte sich dem jungen Beamten zu. Dieser nickte kurz.

»Wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir bis heute Abend noch ein Geständnis.«

Eichinger ging langsam auf Hogarts Bruder zu.

Kurts Augen wurden groß. Zorn funkelte in seinen Pupillen. Hogart ahnte, dass er ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre – doch wozu die zahlreichen Anrufe abstreiten, mit denen Kurt versucht hatte, Ostrovsky zu erreichen? Die Kripo wäre spätestens in zwei Stunden vor Kurts Praxis aufgetaucht, um ihn mit aufs Revier zu schleppen.

»Wir sehen uns heute Abend um 18 Uhr auf dem Posten in der Landstraße 148a, dritter Stock, Zimmer 318«, erklärte Eichinger. »Im Moment nimmt der Beamte nur Ihre Personalien auf.«

»Aber ich …«, protestierte Kurt.

»Warum verhört ihr ihn nicht gleich hier und jetzt?«, fiel Hogart seinem Bruder ins Wort.

»Hog, seit der Morgenausgabe der Zeitungen werden wir mit Hunderten telefonischer Hinweise belagert, die wir der Reihe nach durchackern müssen.« Garek rieb sich die Augen. »Was, glaubst du, machen wir hier?«

»Wir sind jetzt hier, ein kurzes Gespräch, und in fünfzehn Minuten ist alles erledigt«, schlug Hogart vor.

Eichinger und Garek warfen sich einen Blick zu. »Bringen wir es hinter uns«, seufzte Garek.

»Und du bleibst hinter der Absperrung.« Eichinger deutete zur Straße.

»Alles klar. Ich warte im Wagen.« Hogart ging den Kiesweg zum Gartentor zurück, während die Beamten seinen Bruder umringten. Im Prinzip war es Hogart gleichgültig, was Kurt ihnen erzählte, solange er sie eine Viertelstunde beschäftigte und mit keinem Wort das Videoband erwähnte.

Bei seinem Skoda angekommen ließ er den Wagen mit dem Funkschlüssel einmal aufpiepen. Dann öffnete er die Fahrertür, um sie im nächsten Moment wieder geräuschvoll zuzuschlagen. Während er gebückt neben den Hecken entlang des Gartenzauns zur Rückseite des Grundstücks lief, wählte er mit dem Handy die Nummer von Helmut Rast, dem Geschäftsführer von Medeen & Lloyd.

Die Mitarbeiter dieses Versicherungsriesen schlossen keine gewöhnlichen Haushaltspolicen ab, sondern versicherten Millionenwerte: Rennpferde, Diamanten, Oldtimer, barocke Gemälde, Güterzüge, Fluglinien und Öltankerflotten. Dazu offerierte das Unternehmen Serviceleistungen, deren Liste länger war als das Wiener Branchenverzeichnis.

Wie nicht anders zu erwarten, war Rasts Nummer besetzt. Die Sekretärin stellte Hogart zum Außendienstleiter durch, dessen Bekanntschaft er bereits letztes Jahr gemacht hatte, als er für die Versicherung wegen eines verzwickten Falls nach Prag geflogen war.

»Herr Hogart«, begrüßte ihn Kohlschmied in einem Ton, der eine Spur zu freundlich war. »Wir warten seit einer geschlagenen Stunde auf Sie.« Kohlschmied schien sich kein bisschen verändert zu haben. Hogart sah ihn förmlich vor sich: einen Meter sechzig groß, im schicken Anzug, mit reichlich Pomade im Haar und dem zynischen Lächeln eines Kredithais, dem soeben das Geschäft seines Lebens geglückt war.

»Mir ist etwas dazwischengekommen, worüber ich am Telefon nicht reden kann«, keuchte Hogart.

»Der Sachschaden in der Wiener Gebietskrankenkasse wird auf mindestens sieben Millionen Euro geschätzt, abgesehen vom Datenverlust, der bisher noch nicht absehbar ist«, sagte Kohlschmied, den Hogarts Ausreden, wie es schien, nicht im Geringsten interessierten. »In einer Klausel der Versicherungspolice ist festgehalten, dass wir die Versicherungssumme im Falle eines Brandes binnen sieben Tagen zu zahlen haben, es sei denn, wir können Beweise für eine Brandstiftung vorlegen.«

Mittlerweile hatte Hogart das Ende des Grundstücks erreicht. Hier endete die Zivilisation. Die schmale Waldorfgasse führte mit zahlreichen Serpentinen durch den Wald zur Spitze des Kahlenbergs hinauf. Jenseits der Hecken und des Gartenzauns sah Hogart die von Efeu umrankte Rückseite von Ostrovskys Villa. In der Nacht lag dieser Fleck wegen der schlechten Straßenbeleuchtung völlig im Dunkeln – ideal, um unbemerkt ins Haus einzudringen. Irgendwo würde auch er eine Stelle finden, um über den Zaun zu gelangen. Hogart schlich entlang der Heckenreihe querfeldein.

»Die Zeit drängt. Wenn Sie den Fall nicht übernehmen, müssen wir einen anderen Versicherungsdetektiv beauftragen.« Mittlerweile klang Kohlschmieds Stimme alles andere als entspannt. Der Mann hatte einfach keine Nerven.

»Das ist nicht nötig«, flüsterte Hogart, während er über die Wurzeln zwischen den Sträuchern hinwegstieg. »Ich habe bereits mit den Recherchen begonnen.«

»Und die Rahmenbedingungen?«

»Das übliche Standardmodell für externe Berater«, schlug Hogart vor. »Eine Pauschale von achthundert Euro pro Tag, zuzüglich Tagesdiäten und eventuellem Wochenendzuschlag sowie eine Akontozahlung über eintausend Euro. Meine Kontonummer kennen Sie. Kosten für Leihwagen und Unterkunft übernimmt, falls nötig, die Versicherung.«

Kohlschmied schwieg eine Weile. »Es ist ziemlich unorthodox, diese Dinge am Telefon zu besprechen. Aber von Ihnen war ja nichts anderes zu erwarten.« Es klang nicht wie ein Kompliment.

Hogart erreichte ein Gartentor, das den Wald mit Ostrovskys Grundstück verband. Ein Privatzugang. Wie vermutet hatte jemand die Tür gewaltsam aufgebrochen. Auf dem Metallgriff und dem Schloss haftete der weiße Staub, mit dem die Kripo nach Fingerabdrücken gesucht hatte. Hogart schob das Tor mit dem Fuß auf.

»Im Erfolgsfall beträgt mein Honorar zwei Promille der Versicherungssumme.«

»Warum flüstern Sie?«

»Zwei Promille der Versicherungssumme!«, wiederholte Hogart.

Kohlschmied seufzte. »Ist mir bekannt.«

»Falls Sie damit einverstanden sind, schicken Sie mir den Vertrag zu, und ich retourniere Ihnen ein unterschriebenes Exemplar.« Hogart schlich über die Wiese zum Haus. »Aber streichen Sie den Absatz mit der Konkurrenzklausel.« Hogart hatte noch nie andere Verträge akzeptiert. Andernfalls konnte er nicht für mehrere Versicherungen gleichzeitig tätig werden, und als Freelancer suchte er sich gern die Aufträge aus, die er übernehmen wollte. Was keine Chance auf Erfolg hatte, war uninteressant.

»Wenn Sie nicht schon ein paarmal gewinnbringend für uns gearbeitet hätten, würde ich dieses Gespräch auf der Stelle beenden«, sagte Kohlschmied. »Aber ich bin einverstanden. Sofern es Brandstiftung war, brauchen wir spätestens Donnerstagabend die Beweise.«

»Kein Problem.«

»Kein Problem?«, echote Kohlschmied. »Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie einen Ruf in der Branche zu verlieren haben, falls Sie …«

»Kein Problem!« Dieser Bürohengst brauchte ihm nicht zu sagen, wie er einen Auftrag durchzuführen hatte.

Hogart stand an der Hausmauer neben der Veranda. Er sah ziemlich plumpe Schuhabdrücke, die in den Blumenbeeten rund ums Haus führten. In der Erde steckten die Tafeln, mit denen die Beamten die Beweise nummeriert hatten. Verborgen hinter einem Busch bemerkte er eine eingeschlagene Fensterscheibe.

»Verlassen Sie sich auf mich.« Hogart sah sich auf der Terrasse um. Auch auf dem Glas und der Türklinke der Terrassentür klebte der weiße Puder. Die Tür stand offen. Er wollte sich bereits die Schuhe ausziehen, um in Socken das Haus zu betreten, als er auf einem Beistelltisch neben der Veranda ein Paar Latexhandschuhe und blaue Überzieher für die Schuhe fand.

»Ich melde mich wieder bei Ihnen«, flüsterte er.

»Eine Sache noch«, sagte Kohlschmied, bevor Hogart das Gespräch beenden konnte.

Hogart hielt in der Bewegung inne. Aus dem Haus drangen einige Stimmen auf die Terrasse. Er presste sich an die Mauer.

»Sie berichten täglich an Frau Domenik, um sie über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Seien Sie ständig über Ihr Handy erreichbar, denn vielleicht müssen wir noch vor Donnerstag einen Bericht an die Gebietskrankenkasse melden.«

»Einverstanden. Auf Wiederhören.« Frau Domenik konnte ihn gernhaben. Sie würde sich schon bei ihm melden. Hogart schaltete das Handy aus und steckte es in die Hosentasche. Rasch schlüpfte er mit den Schuhen in die Überzieher, zog sich die Latexhandschuhe an und verschwand durch die offene Tür ins Innere des Hauses.

2. KAPITEL

Peter Hogart stand in Doktor Abel Ostrovskys Wohnzimmer. Im Türspalt zum Nebenraum leuchteten die Blitzlichter des Kripofotografen, und über die Treppe drangen die Wortfetzen und Schritte der Spurensicherer vom oberen Stockwerk herunter.

Aus der Vorhalle hörte Hogart die Stimmen von Eichinger, Garek und seinem Bruder. Rasch sah er sich im Wohnzimmer um. Der dunkle Raum wurde von einem wuchtigen Teppich, massiven Wandschränken und einem gewaltigen Kronleuchter beherrscht. Auf den schweren Kommoden standen gusseiserne Kerzenständer, eine Pergamentrolle in hebräischer Schrift unter einem Glassturz und merkwürdige Ton- und Steinskulpturen in Glasvitrinen.

Hogart fiel auf, dass sich Aushöhlungen in den Türrahmen befanden, worin bemalte und mit Schnitzereien verzierte Schriftkapseln steckten. Die Papierrollen darin beinhalteten Gebete aus der Tora. Er kannte diese Glücksbringer vom Flohmarkt, nur hatte er sie bislang noch nie in einem Haus gesehen.

Als Hogart durch den Raum schlich, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Sein Vater hatte unter anderem einen Antiquitätenladen besessen und jede Menge Krempel in der Wohnung gestapelt, weil die Verkaufsräume zu klein gewesen waren. Für seinen um drei Jahre jüngeren Bruder waren die drückenden Gegenstände immer eine Belastung gewesen, doch Hogart hatte sich zwischen den Antiquitäten wie ein Fisch im Wasser gefühlt.

Je genauer er sich umsah, desto mehr kam er zu dem Entschluss, dass Ostrovsky keinem Einbruchdiebstahl zum Opfer gefallen war. Keine hellen Flecken auf der Tapete, keine einzelnen Nägel an den Wänden. Der Mörder hatte nicht einen der antiken Bilderrahmen gestohlen. Mit Sicherheit gab es wertvollere Objekte im Haus, aber zumindest das silberne Amulett mit den hebräischen Buchstaben auf dem Couchtisch, die Kette mit dem Davidsstern als Anhänger oder der kleine siebenarmige, mit Diamanten besetzte Leuchter hätte in jede Tasche gepasst – und kein Dieb hätte sich die Gelegenheit entgehen lassen, diese Menora einzusacken.

Als Hogart um einen hölzernen Raumteiler mit Topfpflanzen herumging, sah er die mit Kreide gezeichneten Umrisse auf dem Teppichboden. Die Leiche befand sich längst in der Rechtsmedizin. Da Ostrovsky am Freitagabend sein letztes Telefonat mit Kurt geführt hatte, war er vermutlich kurz darauf ermordet worden. Andernfalls hätte er versucht, Kurt am nächsten Tag erneut zu erreichen. Hogart starrte auf die Kreidelinien mit den Umrissen eines gekrümmt daliegenden Menschen. Es sah so aus, als hätte jemand Ostrovskys Beine gefesselt und ihm die Arme auf den Rücken gebunden. Anders ließ sich diese seltsame Stellung nicht erklären.

Neben den Umrissen lag ein umgekippter Stuhl. Hogart ging in die Hocke. An den Stuhlbeinen befanden sich Reibspuren eines Seils, das sich vermutlich bereits im Labor befand. Es war nicht notwendig, sich den Bericht des Rechtsmediziners zu besorgen. Die Spuren sprachen Bände. Brutal ermordet – wie es in der Zeitung hieß – war die Untertreibung des Jahres. Den über dem gesamten Teppich verstreuten dunklen Flecken zufolge musste der Mörder sein Opfer auf schreckliche Weise verstümmelt haben.

Neben dem Stuhl stand eine Lampe mit gefiltertem Ultraviolettlicht. Hogart tippte mit der Schuhspitze auf den Schalter, sodass das Licht den Teppich überflutete. Plötzlich entstand ein Meer unterschiedlichster Flecken, die alles Mögliche bedeuten konnten: Blut, Urin, Speichel, Sperma oder Schweiß. Doch wegen des Eisengehalts erschienen Blutflecken stets schwarz, und davon gab es mehr als genug. Man musste kein Kriminaltechniker sein, um zu erkennen, dass es sich dabei um keine gewöhnlichen Spritzspuren, sondern um Schleuderspuren handelte. Die Blutflecken reichten meterweit durchs Zimmer. Der Mörder hatte sein Opfer mit wilden, wahllos durchgeführten Schnitten regelrecht abgeschlachtet. Die Messerklinge musste mit raschen Zügen über Ostrovskys Gesicht, seinen Hals, seine Arme oder Beine gezogen worden sein, da das von der Klinge weggeschleuderte Blut sogar auf der Glasvitrine klebte, die neben dem Raumteiler stand. Auf eine Scheibe hatte jemand mit dem Blut die Zahlen 05 geschmiert.

Außerdem musste der Mörder auf einer Folie oder einem Tuch von etwa vier Quadratmetern gestanden haben, das er nach der Tat möglicherweise zusammengerollt hatte, weil es hier keine Blutspritzer auf dem Boden gab. Aber warum die Mühe? Garantiert, um keine Fußabdrücke oder DNS-Spuren zu hinterlassen. Ein solcher Anblick war Hogart nicht unbekannt, da er als Versicherungsdetektiv bei Fällen von Einbruch, Unfall oder Totschlag gelegentlich mit der Wiener Kripo zusammenarbeitete. Doch eine Sache war ihm noch nie untergekommen. Neben dem Stuhl stand ein Wassereimer, in dem ein blutiger Schwamm trieb. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Der Peiniger musste Ostrovsky mehrmals zurück ins Bewusstsein geholt haben. Demnach war die Misshandlung eine vorsätzlich inszenierte Folter gewesen. Doch aus welchem Grund sollte jemand einen alten, zurückgezogen lebenden Rentner zu Tode quälen? Hogart dachte an das ominöse Videoband.

Auf der Kommode neben dem Telefon lag ein aufgeschlagenes Telefonbuch: Seeger bis Setznagel. Hogart schloss für einen Augenblick die Augen und versuchte, die letzten Stunden vor Ostrovskys Tod zu rekonstruieren. Möglicherweise führte Ostrovsky an jenem Abend ein Gespräch. Dabei hörte er, wie jemand an der Rückseite der Villa eine Scheibe einschlug. Ein Fremder war ins Haus eingedrungen, und der pensionierte Primar wusste, dass ihm etwas Schreckliches zustoßen würde. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden. Er machte sich auf den Weg, um das Einzige, was ihm noch wichtig erschien, zu erledigen: eine bestimmte Videokassette zu verstecken. Während er durch die Räume rannte, rief er vom Handy aber nicht die Polizei, sondern seinen ehemaligen Studenten Kurt Hogart an. Ostrovsky erreichte aber nur den Anrufbeantworter, worauf er gehetzt seine letzte Nachricht sprach. Danach musste er seinem Mörder in die Hände gefallen sein. Der alte Mann war leicht zu überwältigen gewesen. An den Stuhl gefesselt wurde er gefoltert und musste mehrmals zurück ins Bewusstsein geholt werden. Entweder war Ostrovsky zäh gewesen, oder er hatte geschwiegen, weil er gar nicht wusste, was sein Peiniger von ihm wollte.

Hogart schreckte hoch, als er einen Beamten die Treppe herunterkommen hörte. Rasch schlüpfte er in den nächsten Raum und versteckte sich hinter der an die Wand gelehnten Tür.

»Welcher Idiot hat die Lampe brennen lassen?«, brüllte der Beamte durchs Haus. »Krajnik, warst du das?«

»Leck mich!«, dröhnte es vom oberen Stockwerk herunter.

Hogarts Herz schlug bis zum Hals. Er hörte, wie der Mann das Gerät ausknipste, danach drang das Schnalzen von Gummihandschuhen durch den Raum.

Hogart atmete flach. An die Wand gepresst blickte er zum Türstock hinauf. Auch hier lag eine Schriftkapsel in einer aus dem Rahmen geschnittenen Aushöhlung. Angeblich brachte es Glück, wenn man die Mesusa berührte, doch Hogart fasste sie nicht an. Nicht einmal Ostrovsky hatten die Gebete Glück gebracht, und der hatte sicher daran geglaubt.

Vorsichtig lugte Hogart hinter der Tür hervor. Offensichtlich befand er sich nun im Arbeitszimmer des Primars. Ihm gegenüber stand ein Schreibtisch, auf dem eine Kippa und ein Gebetsbuch für Chanukka lagen. Auf dem Kleiderständer neben der Stehlampe hing eine schwarze Robe mit Zipfelquasten, dahinter füllte ein wuchtiger Wandschrank mit bis zum Platzen vollgeräumten Regalen den Raum aus.

Während weitere Schritte auf der Treppe zu hören waren, betrachtete Hogart die beschrifteten Aufkleber der Musikkassetten, die sich zu Hunderten in den Regalen stapelten. Nur Nummern, ohne jede Erklärung. Darunter standen ein Fernsehgerät und ein Videorekorder. Neben der Fernbedienung lag ein Adapter mit dem Format einer VHS-Videokassette zum Abspielen von Bändern eines Camcorders.

Im Nebenraum unterhielten sich die Beamten lautstark über Belanglosigkeiten. Plötzlich erschien Hogart das Gespräch wie ausgeblendet, als ihm dämmerte, was Ostrovsky bei seinem Anruf tatsächlich gemeint hatte. Der Primar hatte nicht von einer VHS-Videokassette gesprochen, sondern von dem Band einer Videokamera – und die Hunderte Hüllen im Schrank enthielten keine Musikkassetten, sondern 8-mm-Filmbänder. Daher der Adapter. Womöglich hatte sich Ostrovsky in der Mordnacht kurz vor seinem Tod jene bestimmte Kassette angesehen – und der Adapter lag nicht zufällig neben dem Videorekorder. Das Gerät war sogar noch eingeschaltet. Die Uhrzeit blinkte.

Hogart betrachtete die Kassetten. Sie waren allesamt durchnummeriert, doch in der dritten Reihe von unten fehlte eine: die Nummer 348. Vorsichtig verließ Hogart sein Versteck hinter der Tür. Er warf einen Blick in den Adapter, der allerdings leer war. Mit den Fingern öffnete er die Klappe des Videorekorders. Ebenfalls leer. Entweder hatte der Mörder das Band mitgenommen, die Kripo hatte es sichergestellt … oder es befand sich noch im Haus. Hogart wartete noch einige Minuten, bis die Beamten vom Wohnzimmer auf die Terrasse gingen. Er hörte, wie sie sich draußen Zigaretten ansteckten, während sie redeten.

»Wer ist der Kerl dort draußen eigentlich?«

»Der Typ, der ständig hier angerufen hat.«

»Rolf hat ihn ganz schön in der Mangel.«

Die Männer lachten. Hogart nutzte die Chance und lief durchs Wohnzimmer zur anderen Seite des Hauses. Die Überzieher raschelten auf dem Teppichboden, doch die Ermittler waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie ihn hörten. Offensichtlich arbeiteten zurzeit nicht mehr Beamte im Haus, da keine Geräusche aus den anderen Räumen drangen.

Im Salon öffnete Hogart alle Kommoden, durchsuchte die Minibar und stieg auf einen Stuhl, um die Abdeckung der Klimaanlage abzunehmen. Doch in der Wandvertiefung befanden sich nichts als Staub und Spinnweben.

In der Küche öffnete Hogart den Kühlschrank, alle Schränke und Schubladen, durchwühlte den Serviettenhalter, die Zucker- und Mehldose und warf sogar einen Blick in den Schlitz des Toasters. Die Abschlussleiste der Küchenmöbel ließ sich nicht abnehmen, sonst hätte er die Videokassette unter der Einbauzeile vermutet. Neben der Küche lag die Toilette. Vorsichtig hob Hogart den schweren Keramikdeckel des Spülkastens hoch. Ein beliebtes Versteck, um Geheimnisse zu verbergen – doch weder im Kasten noch unter dem Deckel befand sich eine Kassette.

Sein nächster Weg führte ihn ins Badezimmer, ein großer Raum mit zwei Handwaschbecken, einer Duschkabine, einer Badewanne mit goldenen Fliesen und goldenen Armaturen. Durch den gewaltigen Spiegel im Barockrahmen wirkte der Raum doppelt so groß. Da erblickte Hogart hinter sich eine glatzköpfige Gestalt. Mit hochgerissenen Armen fuhr er herum, doch der Mann bewegte sich nicht. Hogart atmete tief durch. Er stand einer menschengroßen Puppe gegenüber, auf deren Oberfläche Reflexzonen und Akupressurpunkte mit roten Kreisen und Linien aufgemalt waren. In der Praxis seines Bruders stand eine ähnliche Puppe, mit der Kurt seinen Patienten die Wirkung bestimmter Druckpunkte oder Massagetechniken erläuterte.

Hogarts Herz raste immer noch. Er sah sich eilig im Badezimmer um und bemerkte, dass an den Eisenringen, die an der Vorhangstange über der Badewanne baumelten, noch kleine Kunststofffetzen hingen. Der Mörder hatte den Vorhang heruntergerissen und die vier Quadratmeter Folie als Schauplatz für seine Folter auserkoren.

Bis auf die Schränke, die nichts weiter als Handtücher und Toilettenartikel beinhalteten, gab es kein weiteres Versteck für eine Videokassette. Hogart stand unschlüssig in der Mitte des Raums. Durch das gekippte Fenster hörte er Gareks Stimme und die seines Bruders vom Eingangsbereich. Das Verhör dauerte immer noch an, doch im nächsten Moment bekam er mit, wie die Männer sich verabschiedeten. Ihm blieben nur noch wenige Augenblicke, bis man ihn im Haus entdecken würde. Warum zum Teufel ausgerechnet Kurt? Bis auf das Dozenten-Studenten-Verhältnis an der Uni, die gemeinsamen Jahre im Krankenhaus und ein paar sporadische Treffen verband Ostrovsky nichts mit Kurt. Wo lag der Bezug zwischen den beiden? Der eine war Primar und Rückenmarkspezialist geworden und der andere orthopädischer Arzt mit chiropraktischer Ausbildung. Und doch musste es eine Gemeinsamkeit geben … die Puppe! Hogart wandte sich um und starrte auf die lebensgroße Figur. Ein Arm hing schlaff an der Seite herunter, der andere zeigte mitten in den Raum. Nein, nicht mitten in den Raum, sondern auf die Badewanne. Falls das der Hinweis war, den Ostrovsky hinterlassen hatte, würde nur Kurt ihn deuten können.

Hogart kniete sich vor die Wanne und klopfte die Fliesen ab. Eine Kachel in der unteren Reihe klang hohl. Die Putztür für den Abfluss. Dahinter verbargen sich für gewöhnlich die Rohre. Als Hogart die Fliese mit den Fingerspitzen aus der Vertiefung hob, entdeckte er die Kassette eines Camcorders. Ein 8-mm-Videoband von Sony. Die Hülle trug die Nummer 348.

Während Hogart das Band betrachtete, erklangen Gareks und Eichingers Stimmen aus dem Wohnzimmer. Obwohl er die beiden schon so lange kannte, war er sich unschlüssig, ob er ihnen trauen konnte. Grundsätzlich schon – immerhin ging es hier um einen Mord, den die beiden aufklären mussten –, doch andererseits wusste er, wie rasch Beweismittel im Innenministerium verschwinden konnten, falls die entsprechende Anweisung von oben kam. Außerdem haftete immer noch jener eine Satz in seiner Erinnerung, den Ostrovsky auf Kurts Anrufbeantworter gesprochen hatte. Er würde der Polizei nicht vertrauen, denn auch die konnte möglicherweise in eine Verschwörung verwickelt sein. Immerhin hätte Ostrovsky das Band auch der Kripo zuspielen können, doch aus welchem Grund auch immer hatte er sich für Kurt entschieden. Und solange Hogart nicht wusste, was sich auf dem Band befand, würde er es nicht aus der Hand geben.

Langsam ließ er die Kassette in der Sakkotasche verschwinden.

Während Hogart zu seinem Auto ging, stopfte er die Handschuhe und blauen Überzieher in die Tasche.

Kurt wartete bereits ungeduldig vor dem Skoda. »Wo warst du so lange?«

»Im Wald spazieren – steig ein!«

Hogart wendete den Wagen, und sie fuhren die Waldorfgasse hinunter Richtung Stadt.

»Wie war das Verhör?«, fragte Hogart.

»Eichinger ist ein Arsch! Zwischen ihm und dir stimmt doch etwas nicht, oder – Hog?«

Hogart zuckte zusammen, als er diesen schrecklichen Spitznamen aus dem Mund seines Bruders hörte. »Das ist lange her. Halb so wichtig.«

»Aber nicht so lange her, als dass er sich nicht daran erinnern könnte. Falls es dich tröstet – ich mag ihn auch nicht!«

»Die meisten im Dezernat können ihn nicht leiden. Hat er versucht, dir den Mord in die Schuhe zu schieben?«

»Das nicht.« Kurt druckste herum. »Aber sie haben meine Finger- und Schuhabdrücke genommen, mich befragt, ob ich Verbindungen zur Israelischen Botschaft oder zur Israelitischen Kultusgemeinde habe, was ich über antisemitische Bewegungen weiß, welche Petitionen ich in den letzten sechs Monaten unterschrieben habe und wo ich Freitagabend war.«

Hogart merkte, wie Kurts Hände zitterten. »Mach dich nicht verrückt, du hast doch diese Patientin als Alibi.«

»Ich habe gesagt, ich war allein in meiner Praxis.«

»Bist du verrückt?« Hogart wandte den Blick von der Straße. »Hier geht es um Mord!«

»Ich hätte dir nicht davon erzählen sollen.«

»Davon?« Hogart wurde ernst. »Sag bloß, du hast ein Verhältnis?«

»Es ist nur eine Bekannte.«

»Nur eine Bekannte!«, echote Hogart. »Scheiße, du betrügst Sabina! Ich fasse es nicht! O Mann. Hast du ihnen etwas von Ostrovskys Nachricht auf deinem Anrufbeantworter erzählt?«

»Natürlich, was denkst du denn? Aber ich habe die Sache mit dem Video verschwiegen. Hast du es gefunden? Ich habe ständig Ausschau nach dir gehalten, aber ich habe dich nicht ins Haus schleichen sehen.«

»Sagt dir die Zahl 05 etwas?«, fragte Hogart.

»In welchem Zusammenhang?«

»Keine Ahnung.«

»Nein. Wohin fahren wir eigentlich?« Kurt blickte aus dem Fenster.

»In meine Wohnung.« Hogart zog die Kassette aus der Tasche und warf sie Kurt in den Schoß. »Dort sehen wir uns das Video an.«

»Das ist es?« Kurt betrachtete die Hülle. »So klein? Ohne Adapter können wir das vergessen.«

»In der Kiste mit den Tausenden Geburtstags-, Weihnachts- und Hochzeitsfilmen muss einer liegen.«

»Du hast Vaters Filme?«, platzte es aus Kurt heraus.

»Mutter hat sie mir nach seinem Tod gegeben.«

»Aber ich wollte sie haben!«

»Du kannst sie haben.« Hogart tippte auf die Kassette. »Sagt dir die Nummer etwas?«

»Ich fasse es nicht, dass du Vaters Filme hast.«

»Die Nummer!«, wiederholte Hogart.

»Dreihundertachtundvierzig«, las Kurt vor. »Eine Aktenzahl vielleicht.«

»Es gibt noch ein paar Hundert andere Bänder in Ostrovskys Arbeitszimmer, aber wie es scheint, ist nur auf diesem etwas Wichtiges zu sehen.«

»Und was glaubst du, befindet sich darauf?«, fragte Kurt.

»Bestimmt keine Urlaubsvideos.«

»Hoffentlich kein Snuff-Mist.«

Das hoffte Hogart auch.

3. KAPITEL