Rachefrühling - Andreas Gruber - E-Book
BESTSELLER

Rachefrühling E-Book

Andreas Gruber

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Martin Kilian betreibt einen erfolgreichen True-Crime-Podcast. Dank seiner Recherchen wurden schon mehrere unschuldig Verurteilte wieder aus dem Gefängnis entlassen. Bis Kilian plötzlich selbst zum Verdächtigen wird: Bei dem grausamen Mord an der Wiener Chirurgin Dr. Rashid spricht alles gegen ihn. Verzweifelt wendet er sich an die renommierte Anwältin Evelyn Meyers, doch deren Nachforschungen gestalten sich komplizierter und gefährlicher, als anfangs gedacht. Und so bittet Evelyn den Leipziger Kommissar Walter Pulaski, der gerade in Wien Urlaub macht, um Hilfe. Anders als sie kann er inkognito ermitteln und stößt dabei auf ein unglaubliches Geheimnis …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 654

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Der Dresdner Kommissar Walter Pulaski und die Wiener Anwältin Evelyn Meyers haben schon mehrmals äußerst erfolgreich zusammengearbeitet. Endlich findet Pulaski nun die Zeit, Evelyn den lang versprochenen privaten Besuch in Wien abzustatten. Doch aus den geplanten ruhigen Urlaubstagen wird nicht viel, denn kurzfristig werden die beiden in einen aufsehenerregenden Fall verwickelt. Dabei geht es um den brutalen Mord an der renommierten Chirurgin Dr. Aleyna Al-Rashid. Aufgrund eindeutiger Indizien legt sich die Polizei schnell auf einen Hauptverdächtigen fest, den True Crime-Podcaster Martin Kilian. Mit seinem untrüglichen Gespür für spannende Kriminalfälle und ungelöste Rätsel hat sich dieser über die Jahre hinweg eine große Anhängerschaft aufgebaut. Und ausgerechnet er steht jetzt selbst unter Mordverdacht – obwohl er standhaft seine Unschuld beteuert.

In seiner Verzweiflung wendet Kilian sich an Evelyn. Nach anfänglichem Zögern erklärt diese sich bereit, seine Verteidigung zu übernehmen. Doch Kilians Unschuld zu beweisen gestaltet sich schwieriger als gedacht – selbst mit der tatkräftigen Hilfe Pulaskis, der das geplante Sightseeing nur allzu gerne gegen eine verdeckte Ermittlung eintauscht.

Nach und nach arbeiten die beiden sich in den Fall ein, entdecken immer detailliertere Hinweise und neue Spuren – und bemerken allzu spät, dass sie einem besonders raffinierten Verbrecher in die Falle zu laufen drohen …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Andreas Gruber

Rachefrühling

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe September 2023 

Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Getty Images / Mandy Disher Photography; FinePic®, München

TH · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26129-0V002 

www.goldmann-verlag.de

Für Heidi,

danke für deine Begleitung auf dieser langen Reise,

bei der wir nie gewusst haben,

wie lange sie dauert und wohin sie geht

»Wir behaupten oft, ein Mensch habe uns getäuscht,

wenn wir uns in ihm getäuscht haben.«

– Peter Sirius (1858 – 1913) –

PROLOG

Donnerstag, 9. Mai

Es ist kurz vor einundzwanzig Uhr, als die siebte Gondel des Wiener Riesenrads ihren höchsten Punkt erreicht. Während sich das Rad langsam weiterdreht, stellt sich der Fahrgast ans Fenster und öffnet sich an beiden Handgelenken die Pulsadern. Langsam gleitet die Gondel weiter nach unten. Als die ersten Menschen unten am Boden schließlich erkennen, was dort oben passiert, kreischen sie entsetzt durcheinander. Hilflos warten sie darauf, dass die Gondel unten ankommt. Nun weiß jeder, der schon einmal mit dem Riesenrad gefahren ist, wie langsam es sich dreht …

»So beginnt die erste Folge des True Crime-Podcasts von Martin Kilian«, unterbrach die Moderatorin die sonore männliche Stimme vom Band. »Und er ist heute bei uns zu Gast im Studio«, säuselte sie weiter.

Künstlicher Applaus wurde eingespielt.

»Falls Sie ihn noch nicht kennen: Martin Kilian gehört zur Crème de la Crème der österreichischen Podcast-Szene und ist tatsächlich der Spezialist, wenn es um True Crime-Podcasts geht. Zu diesem Thema wird er nun eine Stunde lang Fragen von Hörerinnen und Hörern beantworten.«

Dreyer stand im Korridor und blickte durch die Glaswand ins Tonstudio. Bin neugierig, was du zu sagen hast, dachte sie und beobachtete Kilian, dessen Räuspern über die Lautsprecher auch außerhalb der Tonkabine zu hören war.

Martin Kilian beugte sich lächelnd zum Mikrofon. »Hallo, einen wunderschönen guten Morgen.« Er griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

Der gut aussehende Kerl war gerade mal neunundzwanzig Jahre alt und wirkte durch seine authentische Ausstrahlung extrem sympathisch. Er war groß und schlank, hatte gewellte blonde Haare, Sommersprossen, eine Nerd-Brille und ein verschmitztes Lächeln, das Dreyer überhaupt nicht gefiel. Es wirkte viel zu echt, und gerade das ging ihr furchtbar gegen den Strich. Auf die Masche falle ich nicht rein. Nicht nach dreißig Dienstjahren.

»Martin, du betreust eine Internet-Plattform für Nachwuchs-Talente, die selbst eigene Podcasts auf die Beine stellen wollen, gibst Workshops, schreibst monatlich eine große Reportage für ein österreichisches Magazin und betreibst nebenbei auch noch deinen eigenen True Crime-Podcast mit gigantischen Downloadzahlen. Du bist seit Jahren ein Experte zum Thema Wahre Kriminalfälle und bekommst sensationelle Kritiken. Mittlerweile hast du sogar ein eigenes Tonstudio im Keller deines Reihenhauses und …«

»Ein kleines Tonstudio«, ergänzte er und nestelte an seinem altmodischen grauen Sakko mit den schillernden Perlmuttknöpfen. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt.

»Wie bist du ausgerechnet aufs Podcasten gekommen?«, fragte die Moderatorin.

Kilian lächelte sie wieder an und schob sich die Brille zurecht. »Ich habe schon früher neben dem Publizistikstudium an der Uni Wien als selbstständiger investigativer Journalist gearbeitet. Auf das Medium Podcast bin ich zunächst als Hörer aufmerksam geworden. Nachdem ich es entdeckt hatte, wollte ich es unbedingt selbst ausprobieren, um damit experimentieren zu können, um neue Möglichkeiten zu erschließen und ein größeres Publikum zu erreichen … und zwar mit einem Thema, das mich interessiert. Ich habe im Lauf der Jahre sozusagen mein Interesse zum Beruf gemacht.«

»Kriminalistik«, fügte die Moderatorin erklärend hinzu. »Aber warum gerade einen Podcast? Warum kein Sachbuch oder weitere Artikel für Zeitschriften?«

Kilian rückte die Kopfhörer zurecht und wischte sich die blonden Locken aus der Stirn. O Mann, dieses Lächeln, dachte Dreyer. Gut, dass die Hörer das nicht sehen konnten. Jede potenzielle Schwiegermutter wäre dahingeschmolzen. Aber schon Kilians sympathische Stimme genügte wohl, um einen Großteil der Zuhörerinnen für ihn einzunehmen.

Kilian rutschte auf dem Sitz herum. »Jeder hat ein Smartphone in der Tasche und ist permanent online. Zuhören kann man sogar während des Autofahrens oder des Kochens. So erreiche ich mehr Menschen – aber der eigentliche Grund ist einfach der: Es macht mir richtig Spaß.«

»Dass das Medium dir liegt, merken wir auch hier im Studio. Und auch deine Hörerinnen und Hörer lassen sich mitreißen, denn pro Podcast zu einem neuen Kriminalfall gibt es mehrere Tausend Kommentare von deinen Abonnentinnen und Abonnenten.«

»Herrgott, muss das sein?«, knurrte Fichtinger.

Dreyer warf ihrem Kollegen, der neben ihr direkt unter dem leuchtenden On Air-Display stand und mit den Augen rollte, einen Blick zu. Sie wusste, dass Fichtinger übertriebenes Gendern genauso nervte wie sie.

»Kommen wir zur ersten Frage«, sagte die Moderatorin und betätigte einen Knopf. Es folgte kurzer Small Talk mit einer jungen Frau, dann stellte diese ihre Frage. »Warum hast du dich auf mysteriöse Kriminalfälle spezialisiert?«

»Ungelöste und österreichische mysteriöse Kriminalfälle«, ergänzte Kilian. »Ich denke, das sind beides wichtige Aspekte. Mein Podcast soll einen Mehrwert bieten. Dinge, die man sonst nicht erfahren würde – und die eher regionalen Fälle werden ja oft vernachlässigt –, kombiniert mit einem plausiblen Lösungsvorschlag.«

»Und tatsächlich bekommt man dadurch einen anderen Blickwinkel auf so manche Kriminalfälle«, ergänzte die Moderatorin, drückte auf einen weiteren Knopf und begrüßte die nächste Anruferin, die etwas älter klang.

»Wie wählst du deine Fälle aus? Woher bekommst du deine Gäste? Wie kommst du an die Unterlagen ran? Immerhin sind es ja noch laufende Ermittlungen«, lauteten die Fragen.

»Das sind tatsächlich interessante Fragen«, säuselte die Moderatorin.

Dreyer verdrehte die Augen. Sag noch einmal tatsächlich, und ich muss mich übergeben.

»Anfangs war es schwierig, Gäste für meinen Podcast zu finden, aber mittlerweile ist das dank der großen Reichweite kein Problem mehr. Ich hatte schon ehemalige Gerichtsmedizinerinnen, Detektive, Ärztinnen oder Computerspezialisten vor dem Mikrofon. Da ich auch Kontakt zu Zeugen, Anwälten und den Hinterbliebenen der Opfer habe, ist es mir möglich, relativ einfach an die Unterlagen zu kommen. Und als Journalist darf man Fragen stellen und spekulieren. Das ist sogar unsere Aufgabe.«

»Und so hast du mit deinem Podcast tatsächlich schon einige Verdächtige vor einer vorschnellen Verurteilung bewahren können«, ergänzte die Moderatorin lächelnd.

Tatsächlich! Dreyer sah zu Fichtinger und streckte sich den Finger in den Mund, als wollte sie sich übergeben. Zum Glück gab es jetzt eine kurze Pause mit drei Songs direkt hintereinander, gefolgt von Nachrichten, Wetter und den morgendlichen Staumeldungen um halb acht.

Anschließend ging es gleich mit der Frage eines Hörers weiter, der offenbar selbst Podcaster war, weil er sich hauptsächlich für technische Fragen interessierte, die Kilian alle souverän beantwortete. »… und zuletzt die Frage: Warum läuft dein Podcast so gut? Was ist dein Geheimnis?«

Kilian lächelte, fühlte sich anscheinend geschmeichelt. »Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass es so klingt, als wäre es spontan entstanden und nicht perfekt auschoreografiert. Die Aufnahme sollte handgemacht wirken.«

»Allzu Perfektes klingt tatsächlich langweilig«, ergänzte die Moderatorin.

»Richtig.« Kilian nickte. »Stattdessen konzentriere ich mich aufs Wesentliche, ohne viele Gimmicks und so wenig geschnitten wie möglich mit allen Hängern, Patzern und Versprechern. Das wirkt automatisch sympathischer.«

»Offenbar ist das dein Erfolgsrezept«, sagte die Moderatorin. »Spielen wir noch ein paar Songs, die zum Thema passen – I shot the Sheriff von Bob Marley, Jailhouse Rock von Elvis und Smooth Criminal von Michael Jackson. Danach kommen wir zu unserem letzten Anrufer oder zu unserer letzten Anruferin.«

Es folgte erneut Musik, und Dreyer nickte ihrem Kollegen zu, der sein Handy aus der Tasche holte und sich in eine Nische verkrümelte.

Die Volontärin des Radiosenders nutzte die Unterbrechung im Interview, schlich zu Dreyer und senkte die Stimme: »Möchten Sie vielleicht jetzt eine Tasse Kaffee?«

Dreyer winkte ab, ohne den Blick von Kilian zu nehmen. Es war nicht zu verstehen, worüber er sich in der Pause mit der Moderatorin unterhielt, aber Dreyer schätzte, dass es sich dabei um belanglosen Small Talk handelte, da beide sich gut zu amüsieren schienen.

Nach dem dritten Song zog die Moderatorin das Mikrofon wieder näher zu sich heran. »Kommen wir nun zu unserem letzten Anrufer.« Nach einem kurzen Einführungsgeplänkel hörte Dreyer eine tiefe Männerstimme.

»Wie haben Sie den Tod Ihrer Tochter verarbeitet?«

Augenblicklich gefror Kilians breites Lächeln, sein Blick glitt starr ins Leere. Die Moderatorin grätschte sofort dazwischen. »Tut mir leid, dass ich mich da jetzt einmische, aber wir hatten zuvor vereinbart, dass wir dieses Thema nicht ansprechen.«

»Nein, ist schon okay«, sagte Kilian, woraufhin die Moderatorin verwirrt die Stirn runzelte. Der Podcaster nickte, dann rückte er näher zum Mikro. »Die meisten Hörerinnen werden das nicht wissen, aber mit neunzehn bin ich mit Jana, meiner Jugendliebe zusammengezogen, in das ehemalige Reihenhaus meiner Eltern. Im Jahr darauf bekamen wir eine Tochter. Viktoria wurde nur drei. Sie starb nach einer Operation.« Er machte eine Pause, starrte gedankenverloren vor sich hin. »Man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt. Aber auch wenn ihr Tod jetzt schon sechs Jahre zurückliegt, ist die Trauer immer noch da. Eine intensive Paartherapie hat Jana und mir zumindest ein bisschen darüber hinweggeholfen.«

»Die OP fand in der Bormann-Klinik in Wien statt, richtig?«, fragte der Anrufer.

Die Moderatorin wollte schon wieder dazwischen gehen, aber Kilian winkte ab. Ist okay, formte er mit den Lippen. »Ja, es war die Bormann-Klinik, ein renommiertes Privatkrankenhaus.«

»Wie stehen Sie heute zu Dr. Aleyna Al-Rashid, die Ihre Tochter damals operiert hat?«

Kilian zog einen Mundwinkel hoch. »Sie scheinen erstaunlich gut darüber informiert zu sein, was damals passiert ist«, stellte er fest.

»Der Fall ging seinerzeit durch die Medien«, sagte der Anrufer zur Erklärung.

»Ja, leider.« Mittlerweile war Kilians sympathisches Strahlemannlächeln wie weggewischt. »Und ich habe mich vor laufender Kamera im Affekt zu einer unbedachten Aussage hinreißen lassen.«

Die Moderatorin hob warnend die Hand, das Gespräch jetzt besser abzubrechen, doch Kilian ging nicht darauf ein.

»Dass Sie diese Frau umbringen würden!«, ergänzte der Anrufer.

»Ja, das habe ich gesagt und damit für Schlagzeilen gesorgt«, gab Kilian zu. »Tage später ist mir jedoch klargeworden, dass das unangemessen war. Und auch ein riesengroßer Fehler, denn falls Dr. Al-Rashid jemals etwas zustoßen sollte, würde ich automatisch verdächtigt werden.«

»Das ist vielleicht auch ein Grund«, ging die Moderatorin nun doch freundlich, aber bestimmt dazwischen, »warum du dich später noch intensiver als davor für Kriminalfälle, Psychologie und Polizeiarbeit interessiert hast, weil man schneller, als man denkt, zu einem Verdächtigen werden kann.«

Wiederum verzog Kilian das Gesicht. Nachdenklich starrte er ins Nichts. »Ja, mag sein.«

»Und damit sind wir auch schon wieder am Ende dieser spannenden Fragestunde angelangt«, sagte die Moderatorin und spulte ihre Abschiedsworte und die Ankündigung der folgenden Sendungen herunter.

Kilian nahm die Kopfhörer ab, rutschte vom Stuhl, streckte sich und strich sich die Locken hinters Ohr. Er sah immer noch aus, als wäre er völlig neben der Spur. Während von einem Kollegen im benachbarten Aufnahmeraum die Nachrichten zur vollen Stunde gesprochen wurden, machte die Volontärin im Tonstudio Fotos von Kilian und der Moderatorin für die Facebookseite des Senders.

Währenddessen kam Fichtinger um die Ecke und schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen den Korridor hinunter. Dreyer nickte ihm zu.

Nach einem groß angelegten Händeschütteln und zahlreichen Bestätigungen, wie perfekt die Sendung gelaufen war, trat Kilian aus dem Tonstudio und wollte in Richtung Ausgang gehen. Doch Dreyer stellte sich ihm in den Weg.

»Martin Kilian?«, fragte sie der Form halber. Kilian nickte, woraufhin Dreyer ihren Dienstausweis aus der Tasche holte. »Kripo Wien, wir sind von der Mordgruppe. Ich bin Kommissarin Dreyer …«, sie nickte zu ihrem Partner, »… und das ist mein Kollege, Kommissar Fichtinger.« Auch der zeigte seinen Ausweis und lüftete dabei sicherlich gewollt das Sakko, unter dem sich ein Gürtelholster mit Dienstwaffe befand.

Kilian lächelte und hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe nichts Schlechtes über die Polizei gesagt.« Wie um Unterstützung suchend, blickte er grinsend zu den Leuten des Radiosenders. Die starrten nur verunsichert herüber.

Dreyer blieb ernst. »Nein, das haben Sie nicht.«

Schlagartig wurde auch Kilian ernst. »Worum geht es?«

»Das besprechen wir auf dem Kommissariat«, antwortete Fichtinger. »Würden Sie uns dorthin begleiten?«

Kilian runzelte die Stirn, dann legte er den Kopf schief. »Ich kenne Ihre Stimme. Sie waren der letzte Anrufer.«

Fichtinger nickte.

Kilian wirkte perplex. »Wie haben Sie es geschafft, genau diesen Platz in der Warteschleife zu bekommen?«

»Sagen wir so … der Redakteur war uns noch einen Gefallen schuldig.«

Dreyer konnte richtig sehen, wie die Zahnrädchen in Kilians Gehirn arbeiteten. »Und warum zum Teufel haben Sie das getan? Wollten Sie mich bei einer Live-Sendung provozieren?«

»Wir waren einfach nur neugierig, wie Sie darauf reagieren«, versuchte Dreyer, ihn zu beruhigen.

»Aha … Mordgruppe, sagten Sie?«, wiederholte Kilian gedehnt und senkte die Stimme, da er nun offenbar begriffen hatte, dass es sich nicht um einen Scherz handelte. »Wer wurde ermordet?«

»Darüber können wir auf dem Kommissariat …«

»Ich gehe mit Ihnen nirgendwohin, wenn Sie mir nicht sagen, worum es geht«, unterbrach Kilian sie, der seine Rechte leider besser kannte als der durchschnittliche Bürger.

»Dr. Aleyna Al-Rashid«, antwortete Dreyer und beobachtete Kilians Reaktion.

Der starrte sie erst wie vor den Kopf gestoßen an, dann versuchte er zu lächeln. »Das ist doch wohl ein übler Scherz.«

»Ich wünschte, es wäre so.« Dreyer deutete zum Ausgang.

»Bin ich verhaftet?«, fragte Kilian.

»Nein, wir wollen nur mit Ihnen reden.«

»Also werde ich verdächtigt?«

Dreyer verzog den Mund. »Sie wissen doch, wie das läuft.«

Plötzlich bekam Kilian rote Flecken im Gesicht. »Aus welchem Grund sollte ich sechs Jahre lang damit gewartet haben, Dr. Al-Rashid umzubringen?«, zischte er und schnappte nach Luft.

»Weil Sie dachten, es wäre mittlerweile Gras über die Krankenhaussache von damals gewachsen«, belehrte Dreyer ihn. »Aber das ist es nicht!«

1. TEIL

DIE ANKLAGEFreitag, 10. Mai

Walter Pulaski parkte seinen Škoda in der Tiefgarage des Hotels Rembrandt im ersten Wiener Bezirk, checkte an der Rezeption ein, gab seinen Koffer dem Hotelpagen und ging dann zu Fuß direkt in die Altstadt zur Gonzagagasse. Als er die richtige Hausnummer gefunden hatte, bemerkte er auch gleich das Schild der Rechtsanwaltskanzlei, das dort zwischen denen einer Zahnarztpraxis und einer Werbeagentur hing.

Dr. Evelyn Meyers

Strafverteidigerin

Er klingelte, der Summer öffnete automatisch die Tür, und Pulaski verschwand durch den Spalt ins angenehm kühle Innere des Altbaus. Was für eine Affenhitze! Die für Anfang Mai ungewöhnlich hohe Temperatur drückte extrem auf seine Laune. Wie würde es erst am Nachmittag oder Abend werden, wenn es schon jetzt kurz vor Mittag so heiß war, dass ihm der Schweiß über den Rücken lief?

Er nahm den Fahrstuhl in die oberste Etage. Flo erwartete ihn bereits und drückte ihm fest die Hand.

»Kommen Sie herein. Kaffee? Ich weiß, Sie mögen keinen Cappuccino-Pulverdreck aus dem Automaten. Wir haben eine …«

Pulaski winkte ab. »Ein großes Glas kaltes Wasser reicht.« Nach den knapp sechs Stunden Autofahrt von Dresden direkt hierher war er ziemlich ausgetrocknet.

»Kommt sofort.« Flo verschwand in die Küche. Flo – oder Florian Zock, wie der junge Rechtsanwaltsanwärter eigentlich hieß – war zwar mit seinen dreißig Jahren noch relativ jung, arbeitete aber schon seit mittlerweile vier Jahren als Evelyns Assistent in der Kanzlei, um sich die letzten Semester seines Studiums zu finanzieren. Jetzt kam er mit einem Wasserkrug und einem Glas mit Eiswürfeln zurück und führte Pulaski von der Garderobe in das Besprechungszimmer, wo dieser an einem niedrigen Couchtisch Platz nahm.

Die Räume waren klimatisiert, allerdings schaltete Flo die entsprechende Anlage nun aus. »Wir machen nur noch die Büros dicht, dann sind wir offiziell im Urlaub.« Er aktivierte den Anrufbeantworter, fuhr seinen PC herunter und schaltete auch den Drucker aus.

Inzwischen trank Pulaski ein Glas Wasser in einem Zug aus, fischte einen Eiswürfel aus dem Glas, den er sich über die Schläfe rieb, lehnte sich auf der Couch zurück und ließ seinen Blick auf Flo ruhen. Der trug Jeans, blitzblanke schwarze Lackschuhe und ein weißes Slim-Fit-Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Kein Wunder, dass Evelyn sich in den Kerl verknallt hatte. Mit seinem krausen rotblondem Haar und dem blonden Dreitagebart sah er richtig gut aus. Außerdem arbeitete er ehrenamtlich als Rettungssanitäter für das Rote Kreuz. Welche Frau konnte da schon widerstehen?

Als Nächstes lief Flo über den knarrenden Parkettboden und ließ die Außenrollos an den Fenstern herunter. »Evelyn ist noch nebenan. In der kleinen Nachbarwohnung, die sie vor vier Jahren dazugemietet hat, um die Kanzlei zu vergrößern. Aber sie kommt sicher gleich.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und Evelyn trat ein. Im Gegensatz zu Pulaski, dem man ansah, dass er knapp vor der Pensionierung stand, war sie seit ihrer letzten Begegnung scheinbar keinen Tag älter geworden und sah keineswegs wie vierzig aus. Brünettes, schulterlanges, wuscheliges Haar, blonde Strähnen und wache, strahlende Augen. Sie trug eine schwarze Hose, eine weiße Bluse mit breitem Kragen und einen schwarzen Blazer, den sie jetzt mit einem erleichterten Seufzer abstreifte und über die Lehne eines Ohrensessels warf.

Mit ausgestrecktem Arm kam sie auf Pulaski zu. »Wie lange ist es her? Drei Jahre?«

Er nickte. Ein gemeinsamer Fall hatte Evelyn damals nach Deutschland geführt.

»Und ich dachte, Sie würden nie auf einen Besuch nach Wien kommen«, fügte sie hinzu.

Stimmt, fast hätte er auch diesmal wieder abgesagt, da er Städtereisen todlangweilig fand – allerdings ging es bei diesem Besuch ja nicht wirklich um Sightseeing. Er hatte einfach Evelyn sehen wollen, der er jetzt freudig die Hand drückte. »Es passte gerade. Meine Tochter studiert mittlerweile in Berlin und wohnt mit einer Freundin in einer WG.«

»Jasmin ist schon so groß, Wahnsinn, wie die Zeit vergeht – und Sie schuften immer noch beim Kriminaldauerdienst in Leipzig?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin inzwischen von Leipzig weggezogen und habe wieder meinen alten Job beim LKA in Dresden angenommen.«

Flo, der gerade die Aktenschränke abschloss, hielt inne und sah ihn neugierig an. »Evelyn hat mir erzählt, dass Sie vor Ihrer Zeit beim Dauerdienst eine große Nummer beim LKA Dresden gewesen sind.«

Pulaski hob die Schultern. »Ja, das war ich mal. Jetzt bin ich es nicht mehr. Mein alter Chef ist im Ruhestand, und der neue könnte mein Sohn sein. Der hält nicht viel von der alten Garde.«

»Wie war denn …?«

Evelyn klatschte in die Hände. »Ich möchte einen Vorschlag machen. Wir reden die nächsten drei Tage nicht über unseren Job – keine Kripoermittlungen, keine Mordfälle, keine Gerichtsverfahren –, und wer es dennoch tut, bezahlt das Abendessen.«

»Wenn es sein muss.« Enttäuscht sah Flo zu Pulaski. Sein Blick verriet, dass er gern zugehört hätte, wie Pulaski aus dem Nähkästchen plauderte. »Aber eine Sache noch.« Flo reichte Evelyn ein paar Kuverts. »Das sind die letzten Rechnungen an unsere Klienten.«

»Ich kümmere mich darum.« Evelyn ging zum Ohrensessel und stopfte die Briefe in die Innentasche ihres Blazers. »So, und ab jetzt kein Wort mehr über Mord und Totschlag.« Sie sah auf. »Sind Sie gut im Hotel Rembrandt untergekommen?«

Pulaski nickte, war aber mit den Gedanken woanders. Das kann ja heiter werden. Auch er liebte es, über den Job zu reden. Zwar hauptsächlich mit Kollegen, die wie er vom alten Schlag waren und verzwickte Kriminalfälle noch mit Notizblock, Bleistift, Grips und der nötigen Portion Menschenkenntnis lösten. Aber er hätte auch nichts dagegen gehabt, sich mit einem Jungspund wie Flo auszutauschen.

»Machen Sie nicht so ein Gesicht. Ich zeige Ihnen Wien abseits der Touristenpfade, das wird Ihnen gefallen«, meinte Evelyn, die seine Gedanken wohl erraten hatte.

Flo schnappte sich sein Sakko und reichte Evelyn den Bund mit den Kanzleischlüsseln. »Also gut, dann ab in den …«

Es läutete an der Tür.

Evelyn warf Flo einen Blick zu. »Haben wir einen Termin übersehen?«

»Sicher nicht.« Flo ging durch die Garderobe zur Eingangstür. Es läutete erneut, diesmal begleitet von einem Pochen an der Tür.

»Scheint dringend zu sein«, bemerkte Pulaski.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Evelyn. »Wer immer es ist, ich wimmle ihn ab.«

»Keinen Stress, ich mache mich inzwischen im Bad frisch.«

Evelyn zeigte ihm die richtige Tür, dann ging sie in den Vorraum.

Pulaski sah vom Bad aus, wie Flo die Tür öffnete und ein groß gewachsener Mann in Begleitung von zwei nicht minder großen und noch dazu sehr muskulösen Kerlen eintrat. Der Anführer war um die sechzig, hatte ein markantes Gesicht, dichte Augenbrauen, einen schwarzen Vollbart und eine etwas dunklere Hautfarbe. Alle drei trugen teure Anzüge, und Pulaski wusste sofort, dass die Typen Ärger bringen würden.

»Meine Verehrung, Frau Doktor Meyers. Mein Name ist Kamal Al-Qasem, aber nennen Sie mich besser nur Qasem, das ist einfacher, und es klingt nicht so wie dieses Schmerzmittel, das Sie hier haben …« Er schnippte mit den Fingern.

»Alka-Seltzer?«, fragte sie verdattert.

»Genau.« Lächelnd nahm er Evelyns Hand und deutete eine Verbeugung an.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Evelyn immer noch verblüfft, »aber die Kanzlei ist …«

»Ich brauche nicht viel Ihrer kostbaren Zeit«, sagte Qasem. »Dort entlang?«, fragte er und ging zielsicher in Richtung Besprechungszimmer.

Vierundzwanzig Stunden zuvor

Die Autofahrt vom Tonstudio des Radiosenders zum Polizeikommissariat in Liesing am südlichen Stadtrand von Wien hatte nur fünfzehn Minuten gedauert. Während dieser Zeit hatte Martin Kilian kein Wort von sich gegeben. Da Kommissarin Dreyer ihm sein Handy abgenommen hatte, hatte Kilian nur stumm auf der Rückbank gesessen, hatte aus dem Fenster geblickt und ihr keinen Anhaltspunkt gegeben, was hinter seiner gerunzelten Stirn vorging.

Drei Stunden lang hatten sie ihn danach bei warmen Temperaturen in dem engen, fensterlosen Vernehmungsraum warten lassen – ohne Gang zur Toilette, ohne Kaffee oder ein Glas Wasser. Nun betrat Dreyer das Zimmer, gefolgt von Fichtinger. Auch wenn sie zu zweit waren, hatten sie vorher abgesprochen, dass sie sich die Nummer Guter Bulle – Böser Bulle bei Kilian sparen konnten. Mit seiner Erfahrung hätte der bloß daraus geschlossen, dass sie im Prinzip nur Indizien gegen ihn in der Hand hatten – und diese Blöße wollte sich Dreyer nicht geben.

Gemeinsam nahmen sie vor Kilian Platz. Trotz der langen Wartezeit wirkte er ziemlich gefasst. »Darf ich jetzt endlich erfahren, worum es geht?«

Dreyer deutete zur Decke und in die Ecke des Raums. »Unser Gespräch wird aufgezeichnet. Sind Sie damit ein…?«

»Ja, sicher«, murrte Kilian. »Also, worum genau geht es?«

»Wo waren Sie gestern, am Mittwoch, den achten Mai, um fünf Uhr früh?«, fragte Dreyer.

»Wurde da Dr. Al-Rashid ermordet?«

Dreyer ignorierte die Frage. »Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?«, wiederholte sie nur.

»Ich war mit meiner Geliebten zusammen. Leider ist sie mit einem hochrangigen Politiker verheiratet und wird mir daher kein Alibi für die Nacht geben. Aber zum Glück haben wir im Hilton übernachtet, und die dortigen Kameras sowie Dutzende Leute vom Personal werden bestätigen, dass ich mein Hotelzimmer nicht verlassen habe.«

Dreyer starrte ihn emotionslos an. »Und das soll ich Ihnen glauben?«

»Nein, natürlich nicht!«, seufzte Kilian. »Schön wär’s. Ich war allein zu Hause und habe kein Alibi. Hätte ich allerdings gewusst, dass Dr. Al-Rashid ermordet wird, hätte ich mir eines besorgt.«

Dreyer legte ihre Ermittlungsmappe auf den Tisch. Dr. Al-Rashids Leiche war gestern Mittag von ihrer Putzfrau im Badezimmer gefunden worden. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits etwa sieben Stunden tot gewesen. Staatsanwalt und zuständiger Richter hatten sofort grünes Licht für den Beginn der Ermittlungen gegeben.

Noch während die Kollegen in Al-Rashids Villa mit dem Sichern der Spuren beschäftigt waren, hatten Dreyer und ihr Team bereits sämtliche Arbeitskolleginnen und den Direktor der Bormann-Klinik befragt und jene Operationen der Ärztin unter die Lupe genommen, bei denen jemand gestorben war, es einen Versicherungsfall, eine zivilrechtliche Klage, ein Strafverfahren wegen Körperverletzung oder eine interne Untersuchung des Krankenhauses gegeben hatte.

Am selben Abend hatten sie bereits drei Spuren gehabt: erstens Martin Kilian. Als zweiten Tatverdächtigen Geert Niemeyer, einen Mathematikprofessor kurz vor dem Ruhestand, der an der Universität Wien lehrte und dessen Frau kürzlich nach einer OP verstorben war, die Dr. Al-Rashid geleitet hatte. Und zuletzt Dr. Al-Rashids eigene Angehörige. Letztere waren in den Fokus der Ermittlungen gerückt, weil Dreyer von den Kollegen der Fremdenpolizei erfahren hatte, dass die Ärztin mit neunzehn aus Saudi-Arabien vor ihrer Familie geflüchtet und unter falscher Identität in Wien untergetaucht war. Bis jetzt lagen Dreyer keine Hinweise vor, dass Aleyna Al-Rashid sich mit ihrem Vater ausgesöhnt hätte, und bevor sie nicht wusste, was dahintersteckte und wie die konservative arabische Familie zu der abtrünnigen Tochter stand, konnte sie auch hier ein Mordmotiv nicht ausschließen.

Da sie die Familie bisher nicht erreicht hatten, widmeten sie sich zuerst Niemeyer – der im Nebenraum brütete – und Martin Kilian. Letzterer sah Dreyer nun hoch konzentriert und mit messerscharfem Blick an.

»Wollen Sie einen Anwalt?«, fragte Fichtinger. »Falls Sie kein Geld haben, bekommen Sie einen Pflichtverteidiger, der …«

»Danke, ich brauche keinen Verteidiger«, unterbrach Kilian ihn. »Es ist doch so …« Er nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem T-Shirt. »… ich bin offensichtlich nur aus einem einzigen Grund hier, und zwar weil ich vor sechs Jahren eine unbedachte Aussage gemacht habe.«

»Sie haben gedroht, Dr. Al-Rashid zu töten«, erinnerte Dreyer ihn.

Kilian nickte, schluckte, dann hob er die Hand. »Richtig.« Er setzte sich die Brille auf. »Aber wir können das ganz schnell klären. Ich habe keine Ahnung, wo und wie sie ermordet wurde – und das will ich auch gar nicht wissen«, fügte er rasch hinzu. »Mich interessiert nur eine Sache: Wurden Fingerabdrücke oder fremde DNA-Spuren am Tatort gefunden?«

Dreyer sagte nichts, sondern schaute ihn nur an.

»Dann könnten wir rasch klären, ob ich der Täter bin.« Kilian streckte die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. »Nehmen Sie meine Fingerabdrücke.«

»Dürfen wir auch Ihre DNA nehmen?«

»Sicherlich.« Kilian atmete tief durch. »Je eher, desto besser. Dafür hätten Sie mich hier nicht drei Stunden lang ohne Klimaanlage braten lassen müssen.«

Dreyer wählte eine Kurznummer auf ihrem Handy, wartete, bis jemand abhob, und sagte dann: »Ihr könnt reinkommen.«

Eine halbe Stunde später betrat Dreyer mit Fichtinger erneut den Verhörraum. Diesmal hielt sie einen Plastikbeutel mit einem Steakmesser mit kunstvoll gefertigtem Holzgriff und langer, gezackter, blutiger Klinge in der Hand.

Fichtinger blieb stehen, sie hingegen setzte sich Kilian gegenüber und platzierte das Messer zwischen ihnen auf dem Tisch.

Kilian wurde blass. Sein Atem ging schneller, seine Stirn legte sich in Falten, während er ungläubig auf das Messer starrte. »Ist das die Tatwaffe?«, krächzte er.

Dreyer nickte. »Erkennen Sie das Messer wieder?«

Kilian sagte erst einmal nichts, doch auf seinen Lippen war deutlich das stumm geformte Wort Scheiße zu lesen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Sind …?«, krächzte er.

Dreyer nickte. »Ja, auf der Tatwaffe befinden sich Ihre Fingerabdrücke. Und wenn das Labor in Innsbruck mit der Untersuchung fertig ist, wissen wir auch, ob sich Ihre DNA am Tatort und auf der Leiche befindet.«

Kilian schluckte. Vorbei war es mit der Unbekümmertheit, die er noch bis vor einer Minute an den Tag gelegt hatte. Immer noch starrte er ungläubig auf das Messer und die eingetrockneten rostbraunen Flecken.

»Warum haben Sie es getan? Aus Rache für den Tod Ihrer Tochter?«, fragte Dreyer leise.

Kilian gab keine Antwort.

Dreyer interpretierte das als Eingeständnis. »Sie haben ein Motiv, kein Alibi, und Sie haben Ihre Fingerabdrücke auf der Tatwaffe hinterlassen«, sagte Dreyer ruhig. »Sie wissen, was das bedeutet? Ich muss Sie dem Haftrichter vorführen und in U-Haft nehmen.«

Nun blickte Kilian auf. »Ich möchte telefonieren«, flüsterte er.

Verdutzt sah Evelyn zu, wie sich Kamal Al-Qasem in ihrem Besprechungszimmer auf die Couch setzte, die Sakkofalten glättete und ein Bein über das andere schlug. Seine beiden Begleiter, ein jüngerer Kerl etwa in Flos Alter und ein älterer grauhaariger Muskelprotz mit Dutt blieben wortlos zu beiden Seiten der Tür stehen.

»Sie können nicht einfach ohne Termin in meine Kanzlei stürmen«, protestierte Evelyn, »noch dazu, wo ich …«

Qasem hob die Hand und streckte seine sauber manikürten Finger aus, an denen mehrere Goldringe steckten. »Nur fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit.«

»Kaffee und Kuchen?«, fragte Flo spitz.

»Nein danke.« Qasem zeigte generös auf den Ohrensessel. »Nehmen Sie bitte Platz.«

Evelyn blieb stehen. »Da Sie sich vermutlich nur schwer rauswerfen lassen …«, seufzte sie, »… also bitte, fünf Minuten. Was wollen Sie?« Sie blickte in Richtung Badezimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Im Schatten dahinter erkannte sie Pulaskis Silhouette und seine funkelnden Augen. Noch verhielt er sich ruhig und beobachtete die Szene. Wären Pulaski und Flo nicht hier, hätte sie wahrscheinlich schon längst die Polizei gerufen.

»Ich stamme aus Saudi-Arabien«, begann Qasem in, bis auf einen abgehackten, leicht arabischen Akzent, schönstem Hochdeutsch.

»Sie können unsere Sprache gut«, stellte Evelyn fest.

»Ich habe geschäftlich oft mit der Schweiz zu tun und bin regelmäßig in Genf.«

»Genf liegt in der französischen Schweiz, Herr Qasem«, bemerkte Evelyn.

Er lächelte. »Ich spreche ebenso gut Französisch und Englisch. Aber bitte, Evelyn – ich darf Sie doch Evelyn nennen, oder? Nennen Sie mich einfach nur Kamal.« Freundschaftlich breitete er die Arme aus. Nun sah sie auch die goldene Uhr am Handgelenk. Mit einem Schnippen hielt er eine Visitenkarte in der Hand, die er auf den Couchtisch legte. »Ich bin heute Morgen direkt von Riad nach Wien geflogen.«

»Ein Direktflug nach Wien?«, fragte Evelyn misstrauisch, da sie seinen Aussagen ebenso wenig traute wie seiner aufgesetzten Höflichkeit.

Qasem lächelte. »Privat-Jet«, sagte er nur. »Lediglich meine engsten Vertrauten, Mitarbeiter und Familienmitglieder haben mich nach Wien begleitet. Wir sind im Schloss Schönbrunn untergebracht.«

»Sie meinen das Hotel Schönbrunn«, korrigierte Evelyn ihn.

»Nein, ich meine das Schloss Schönbrunn«, sagte er mild lächelnd. »Ich habe dort die Grand Suite und vier Luxus-Apartments gemietet, von wo aus ich im Moment meine Geschäfte führe.«

Offenbar spielten Kosten für Qasem keine Rolle, und er wollte auch, dass sie das wusste, sonst hätten seine geradezu prahlerischen Ausführungen wenig Sinn gemacht. Er tippte auf seine Visitenkarte. »Sie erreichen mich rund um die Uhr unter meiner Privatnummer – oder Sie hinterlassen im Schloss eine Nachricht für mich oder meine Sekretärin. Zahra oder jemand anderer von meinen Leuten wird sich dann sofort darum kümmern.«

Bestimmt ist das so, dachte sie. »Das klingt ja alles irrsinnig verlockend, aber warum sollte ich Sie überhaupt erreichen wollen? Warum sind Sie hier?«

»Sie haben in letzter Zeit mit Ihrer Kanzlei in vielen aufsehenerregenden Fällen brisante Wahrheiten ans Licht gebracht und Ihre Mandanten stets freibekommen.«

Evelyn zog eine Augenbraue hoch. »Und das hat sich bis nach Riad durchgesprochen?«

»Ehrlich gesagt bin ich erst während des Fluges auf Ihren Namen gestoßen.« Er griff unter sein Sakko und holte eine zusammengefaltete Zeitschrift hervor, die er auf den Tisch warf. Eine Ausgabe des Profil vom letzten Monat. Evelyns Bild zierte die Titelseite. Strafverteidigerin aus Passion hieß die Schlagzeile.

»Ach das«, sagte sie. Die Redakteurin hatte sie in der Kanzlei besucht, ein dreistündiges Interview geführt und eine fünfseitige Homestory mit Fotos daraus gemacht.

»Dieser Artikel war sehr aufschlussreich«, sagte Qasem. »Sie studierten bis dreiundzwanzig an der Universität, haben in den Ferien ein Praktikum bei der renommierten Anwaltskanzlei Krager, Holobeck & Partner gemacht, das Jurastudium als Jahrgangsbeste abgeschlossen, alle Zusatzseminare im Strafrecht absolviert, fünf Jahre als Rechtsanwaltsanwärterin bei Krager, Holobeck & Partner gearbeitet, mit achtundzwanzig die Anwaltsprüfung gemacht, vier Jahre als Anwältin bei Krager gearbeitet und sich danach erfolgreich mit eigener Kanzlei selbstständig gemacht. Eine beeindruckende Erfolgsstory.«

»Netter Versuch, mir schmeicheln zu wollen, aber noch einmal: Weswegen sind Sie hier?«

»Ich bin von Ihnen begeistert!«

»Sie müssen kein Süßholz raspeln – im Gegenteil, das verringert die Chance, dass wir ins Geschäft kommen«, entgegnete Evelyn. »Falls das überhaupt Ihr Ziel ist.«

Qasem ging nicht darauf ein, deutete stattdessen auf das Magazin. »Seitdem rennen Ihnen die Kunden vermutlich die Tür ein.«

Evelyn winkte ab. »Im Gegenteil«, gab sie zu. »Der Artikel ist so reißerisch geschrieben, dass er normale Klienten eher abschreckt. Außerdem sind wir nur eine kleine Kanzlei. Ich habe keine Teilhaber und nur einen Assistenten – und große Kriminalfälle gibt es in Österreich sowieso nur alle heiligen Zeiten.«

»Dann brechen diese heiligen Zeiten jetzt offenbar gerade für Sie an«, sagte Qasem.

»Wie meinen Sie das?«

Qasem richtete die Manschettenknöpfe an seinem Hemd. »Ich möchte Sie engagieren.«

»Ich bin seit einer Viertelstunde im Urlaub.«

»Das ist die falsche Reaktion.« Er richtete sich von der Couch auf. »Sie müssten fragen: Wofür?«

»Aber ich bin im Urlaub.«

Qasem wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung weg. »Ihre Kanzlei war offen, und Sie sind noch da. Also wollen Sie nun wissen, wofür ich Sie engagieren möchte?«

»Nein.«

»Meine Tochter wurde ermordet.«

Evelyns Mund klappte für einen Moment auf. Dann dämmerte es ihr. »Sind Sie Dr. Aleyna Al-Rashids Vater?«

Er nickte.

Nun sank Evelyn doch auf den Ohrensessel. »Ich kenne den Fall aus der heutigen Morgenausgabe. Wie haben Sie so schnell davon erfahren?«

»Der Mord passierte vorgestern. Eine österreichische Zeitung hat bereits gestern in der Abendausgabe kurz davon berichtet. Ein guter Geschäftsfreund in Wien, der früher oft zu Gast bei uns in Saudi-Arabien war, hat den Artikel zufällig gesehen, Aleyna auf einem Foto erkannt und mich angerufen. Daraufhin bin ich, wie gesagt, heute Morgen sofort hergeflogen.«

Evelyn schluckte. »Der Verlust Ihrer Tochter tut mir leid.«

Er winkte ab, als wären ihre und sogar seine Gefühle nebensächlich. »Danke. Meine Tochter wohnte in einem kleinen niedlichen Sommerhaus mit Garten im Süden Wiens, an der Grenze zu Niederösterreich, vor Pottendorf, und …«

»Perchtoldsdorf«, korrigierte sie ihn.

Er lächelte. »Richtig. Wir können aber nicht in das Haus rein, weil die Polizei den Tatort abgesperrt hat.«

Evelyn warf einen Blick zu seinen beiden Bodyguards, die reglos wie Marmorskulpturen neben der Tür standen und nicht einmal zu atmen schienen. »Ich bin nur Strafverteidigerin und kann Ihnen nicht dabei helfen, das Haus Ihrer Tochter zu betreten. Dazu müssten Sie …«

»Darum geht es nicht«, unterbrach er sie. »Es geht um den Mord selbst.«

»Ich bin sicher, die Wiener Kripo wird den Täter rasch fassen.«

Qasem lächelte. »Sie hat ihn schon gefasst. Und zwar gestern Früh. Er sitzt seit über vierundzwanzig Stunden in U-Haft.«

»Woher haben Sie diese Information?«

Qasem neigte mit einer selbstgefälligen Geste leicht den Kopf. »Ich habe meine Quellen.«

»Und zwar?«

»Meinen Sie die Frage ernst? Mit Geld kann man alle Informationen kaufen, die man braucht. Gerade Sie als Anwältin müssten das doch am besten wissen.«

»Okay, und bedeuten diese teuer erkauften Informationen zum Stand der Ermittlungen nun gute oder schlechte Nachrichten für Sie?«, fragte sie.

»Kommt darauf an.« Qasem knackte mit den Fingerknöcheln. »So viel ich erfahren konnte, scheint der Fall klar zu sein: Alle Indizien sprechen gegen einen gewissen Martin Kilian.«

»Den Podcaster?«, entfuhr es Flo, der sich nun ebenfalls auf einen Stuhl setzte.

Qasem nickte, dann verzog er das Gesicht. »Für meinen Geschmack hat die österreichische Polizei den Mörder zu rasch gefasst – das erscheint mir eine zu einfache Lösung.«

»Manchmal geht es eben schnell«, erklärte Evelyn.

»Der Mörder hat kein Alibi. Außerdem hinterlässt er seine Fingerabrücke auf der Tatwaffe?«, fragte Qasem. »Ich bitte Sie!«

»Mord im Affekt«, schlug Evelyn vor.

»Von einem Mann, der für seine True Crime-Podcasts bekannt ist?«, entgegnete Qasem. »An dieser Geschichte stimmt doch etwas nicht.«

»Und was wollen Sie nun von mir?«

Qasem verschränkte die Finger und blickte auf seine Ringe, dann hob er den Kopf. »Evelyn«, sagte er mit einem vertraulichen Unterton, »ich möchte, dass Sie herausfinden, wer meine Tochter wirklich ermordet hat.«

Evelyn entfuhr ein kurzes Lachen, woraufhin sie sich sofort die Hand vor den Mund schlug. »Tut mir ja wirklich leid, aber was soll ausgerechnet ich denn Ihrer Meinung nach in dieser Sache unternehmen? Ich bin weder Polizistin noch Detektivin, sondern Strafverteidigerin.«

»Ich weiß.« Erklärend deutete Qasem zu dem Magazin auf dem Tisch. »Aber da es eine laufende Ermittlung ist, könnte mir ein Detektiv nur wenig helfen. Deshalb möchte ich Sie engagieren.«

Fragend hob sie die Augenbrauen. »Für …?«

»Sie sollen Martin Kilian verteidigen. Ich übernehme sämtliche Anwaltskosten.«

»Ich soll was?« Evelyn warf Flo einen Blick zu, doch der wirkte ebenso verwirrt wie sie. Dann wandte sie sich wieder an Qasem. »Ist das Ihr Ernst?«

»Ich möchte mehr über diesen Kilian und die Hintergründe der Tat herausfinden.«

»Angenommen, das würde wirklich funktionieren – Sie könnten dann aber weder Einfluss auf meine Ermittlungen noch auf meine Verteidigung oder den Prozess nehmen.«

Qasem nickte. »Ist mir klar.«

»Vielleicht ist Kilian schuldig, und ich bekäme ihn dennoch frei. Vielleicht ist er aber auch unschuldig und wird trotzdem verurteilt. Es gibt viele mögliche Szenarien«, gab Evelyn zu bedenken.

»Das ist mir klar«, wiederholte Qasem. »Ich will nur herausfinden, ob er wirklich der Täter ist. Und wenn nicht er, wer dann.«

»Als Anwältin ist es nicht meine Aufgabe, den wahren Mörder zu finden.«

»Aber wenn Sie Martin Kilians Unschuld beweisen wollen, wäre es vorteilhaft, wenn Sie dem Gericht und den Geschworenen zumindest eine begründete Alternative bieten könnten, um sie zu überzeugen«, entgegnete er völlig entspannt. »Ich möchte nur die Wahrheit herausfinden.«

Evelyn kaute auf ihrer Unterlippe herum und warf Flo erneut einen Blick zu. Dem war anzusehen, dass ihm die Sache von Minute zu Minute weniger gefiel. »Darf ich ehrlich sein?«

Qasem nickte gnädig. »Ich bitte darum.«

»Wollen Sie vielleicht, dass ich den Mörder Ihrer Tochter rausboxe, damit ihn sich Ihre Leute schnappen und Sie sich an ihm rächen können?«

Qasem blickte kurz zu seinen Schlägern, die entweder kein Wort von dem Gespräch verstanden hatten oder darauf trainiert waren, keine Emotionen zu zeigen. »Sie beleidigen mich«, warf er Evelyn dann vor.

»Das ist der Nachteil, wenn man ehrlich ist«, stellte Evelyn fest. »Manche Leute wollen die Wahrheit nicht hören.«

Qasem lächelte wieder entspannt. »Wofür halten Sie mich? Ich möchte bloß wissen, was passiert ist.«

»Warum?«, hakte Evelyn nach.

»Für den Frieden meiner Seele. Genügt Ihnen das als Antwort?«

Das tat es natürlich nicht, denn Evelyn wusste instinktiv, dass noch mehr dahinter steckte. Doch im Moment würde sie das wohl nicht aus Qasem herausbekommen.

»Wie entscheiden Sie sich?«, fragte er, nachdem sie eine Weile lang nichts gesagt hatte.

»Ich muss Ihr Angebot schon allein deshalb ablehnen, weil Sie der Vater des Opfers und damit befangen sind. Außerdem müsste Martin Kilian als Klient zustimmen – und was er davon hält, wissen wir beide nicht.«

Qasem löste die übereinandergeschlagenen Beine, beugte sich nach vorn und senkte die Stimme. »Wenn Sie Aishas …«, er stockte, »… Aleynas Mörder finden, dann …«

»Wer ist Aisha?«, unterbrach Evelyn ihn sofort.

Qasems Backenmuskeln mahlten. »Das war ihr richtiger Name, den hat sie geändert, als sie nach Österreich gekommen ist.«

»Ist sie aus ihrer Heimat geflüchtet?«, fragte Evelyn.

Qasem gab keine Antwort. »Wenn Sie den Mörder meiner Tochter finden, dann stehen Sie als Dank für den Rest Ihres Lebens unter meinem Schutz.«

Evelyn blieb gefasst. »Warum sollte ich den brauchen?«

»Hat eine berühmte Strafverteidigerin nicht immer ein bisschen Schutz nötig?«

»Und wenn ich ablehne und deswegen nicht unter Ihrem Schutz stehe?«, fragte sie.

»Was das bedeutet, müssen Sie selbst entscheiden.« Er blickte auf seine Armbanduhr und erhob sich. »Ich gebe Ihnen drei Stunden Bedenkzeit – danach brauche ich eine Antwort.«

Evelyn erhob sich ebenfalls. »Danke, die brauche ich nicht, und auf Ihren Schutz kann ich gern verzichten. Zudem bin ich – wie bereits erwähnt – ab heute im Urlaub.«

Ein weiteres stichhaltiges Argument, weshalb sie das Angebot ablehnte, sprach sie jedoch nicht aus. Nur weil die Kripo einen Verdächtigen in U-Haft genommen hatte, hieß das noch lange nicht, dass die Polizei nicht auch andere Fährten verfolgte. Allzu oft wurde ein Mord von Familienangehörigen verübt – und es war durchaus möglich, dass auch Kamal Qasem ein Verdächtiger in diesem Fall war. Der nun Kontakt mit Evelyn aufnahm, um möglicherweise von ihr die eigene Rolle vertuschen zu lassen.

»Ist das Ihr letztes Wort?«, fragte Qasem.

Sie nickte.

»Auch wenn ich Ihnen dreißigtau…?«

»Nein.«

»Schade. Leben Sie wohl.« Er nickte seinen Lakaien zu, und ohne weiteren Kommentar verließen sie gemeinsam die Kanzlei.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, erhob sich auch Flo und stieß die Luft geräuschvoll aus der Lunge. »Puuuh, das war ein merkwürdiges Angebot.«

Die Tür zum Badezimmer schwang auf, und Pulaski kam in den Besprechungsraum. »Wenn ich nicht nach Wien gekommen wäre und wir diesen Urlaub nicht geplant hätten, dann hätten Sie den Fall vermutlich angenommen, richtig?«

Evelyn sagte nichts, woraufhin Flo lächelte. »Vermutlich hättest du zumindest darüber nachgedacht, stimmt’s?«

»Ja, vielleicht. Aber dem ist nicht so, also verschwinden wir«, schlug Evelyn vor, »bevor der nächste Klient in die Kanzlei stürmt.«

In diesem Moment läutete der Festnetzapparat. Evelyn schnappte sich ihren Blazer. »Ich gehe nicht ran.« Sie sah zu Flo. »Und du auch nicht.«

Der Anrufbeantworter sprang an, und nachdem die Ansage vom Band geendet hatte und der Piepton erklungen war, räusperte sich eine junge Männerstimme. »Frau Dr. Meyers? Ich würde Sie gern in einer dringenden Angelegenheit sprechen … Mein Name ist Martin Kilian.«

Evelyn stand neben dem Telefon und blickte ungläubig auf den Anrufbeantworter. In der durchaus sympathischen Stimme des jungen Mannes schwangen Stress und leichte Panik mit.

»Ich müsste Sie wirklich dringend sprechen …«, sagte Kilian, »… ich habe Ihre Ansage am Band gehört, und ich weiß, es ist schon Freitagnachmittag, aber vielleicht sind Sie ja noch in der Kanzlei …« Er machte eine Pause, und Evelyn hörte ihn heftig atmen.

Sie hob den Blick, sah Pulaski an und schüttelte leicht den Kopf.

»Gehen Sie schon ran!«, sagte Pulaski.

»Ich bin im Urlaub.«

»Hören Sie sich wenigstens an, was er will«, beharrte Pulaski.

»Dann gehen Sie doch ran.«

»Ich habe leider nicht viele Telefongespräche zur Verfügung«, sagte Kilian leicht verzweifelt. »Vielleicht können Sie zurückrufen. Die Nummer hier ist …« Papierrascheln war zu hören. »Null …«

Seufzend riss Evelyn den Hörer vom Apparat. »Ja, hallo? Hier spricht Meyers.«

»Gott sei Dank, Sie arbeiten noch.« Es klang, als fiele ihm ein Stein vom Herzen.

Evelyn ließ das Band mitlaufen, damit die anderen weiterhin mithören konnten. »Worum geht es denn?«

»Mein Name ist Martin Kilian, die Polizei hat mich gestern Früh verhaftet, weil eine Chirurgin der Bormann-Klinik ermordet wurde, und ich …«

»Ich bin einigermaßen mit dem Fall vertraut«, unterbrach sie ihn. »Atmen Sie erst einmal tief durch und beruhigen Sie sich.«

»Ich … ich …«, stammelte er. »Sie glauben ja gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass ich Sie noch erreicht habe. Ich bin Podcaster und …«

»Herr Kilian«, unterbrach sie ihn wieder. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich glaube sogar, dass mein Kollege gelegentlich Ihren Podcast hört.« Sie blickte zu Flo, der eifrig nickte und den Daumen hochstreckte.

»Wirklich? Das freut mich«, kommentierte Kilian leicht abgelenkt und seufzte dann. »Ich möchte, dass Sie meine Verteidigung übernehmen.«

Evelyn hielt für einen Moment den Atem an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Pulaski die dichten Brauen hochzog. Sie dachte an Qasems Vorschlag. Was für ein Zufall! »Rufen Sie wirklich aus freien Stücken an?«, fragte sie vorsichtig nach.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Kilian. »Ich bin in U-Haft und verweigere seit gestern Mittag die Aussage. Heute hat man mich endlich telefonieren lassen und …«

»Ja, schon gut, beruhigen Sie sich«, sagte Evelyn. »Ich meine, ob man Sie unter Druck gesetzt hat?«

»Sie meinen die Polizei?«

»Nein.« Evelyn seufzte. »Kennen Sie einen gewissen Kamal Al-Qasem?«

»Was? Nein! Wer soll das sein?«

»Weshalb rufen Sie ausgerechnet mich an?«

»Ich habe keinen festen Anwalt – bisher brauchte ich nie einen. In meiner Verzweiflung habe ich zuerst meine Steuerberaterin angerufen. Sie hat kürzlich einen Artikel in einer Zeitschrift über Sie gelesen und Sie mir empfohlen.«

Evelyn blickte zum Couchtisch, auf dem immer noch das Magazin lag, das Qasem liegen gelassen hatte. Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid, ich kann Ihren Fall nicht übernehmen. Aber ich kann Ihnen eine ebenso gute Anwältin empfehlen, die auf Strafrecht und Mordfälle spezialisiert ist und …« Sie hielt inne, da Pulaski sie äußerst missbilligend anblickte. »Warten Sie bitte einen Moment.« Sie schaltete den Anrufer auf eine andere Leitung und ließ den Hörer sinken. »Was?«

»Sie wollen den Jungen wirklich hängen lassen?«, fragte Pulaski. Flo stellte sich demonstrativ und mit zusammengepressten Lippen neben ihn.

»Und?«, fragte sie perplex. »Ich bin nicht die einzige Anwältin in Wien. Außerdem wollte ich mir ein paar Tage freinehmen, damit ich Ihnen die Stadt zeigen kann.«

»Wegen mir müssen Sie den Fall nicht ablehnen«, sagte Pulaski. »Dann sähe ich Sie wieder einmal in Aktion – außerdem denke ich, dass das mindestens genauso spannend ist, wie wenn Sie mir die Ringstraße, den Zentralfriedhof und den Stephansdom zeigen.«

»Eigentlich wollte ich Ihnen etwas ganz anderes zeigen …«

»Ist das so wichtig?«

Sie dachte kurz nach und blickte zu Flo, der heftig nickte. »Also gut. Wie lange könnten Sie in Wien bleiben?«

»Ich habe eine Woche Urlaub, aber falls nötig, könnte ich eine zweite dranhängen«, antwortete Pulaski. »Doch wenn ich Sie richtig einschätze, werden wir nicht so lange brauchen.«

»Wir?«

»Ich könnte Ihnen vielleicht sogar ein wenig helfen«, bot Pulaski an.

»Bin ich denn hier die Einzige, die ein paar Tage ausspannen will?«

Wieder ein Nicken von Flo, dessen Augen vor Tatendrang sprühten. »Lösen wir den Fall gemeinsam?«, fragte er in die Runde.

Pulaski lächelte. »Wäre ja nicht das erste Mal.«

Männer!, dachte Evelyn, während die beiden grinsten, als hätten sie sich in einer stillen Absprache gegen sie verschworen. Sie hob den Hörer wieder und schaltete den Anrufer auf ihre Leitung. »Sind Sie noch da?«

»Ja, aber ich habe nicht mehr viel Zeit«, sagte Kilian.

»Kein Problem. Ich kann Ihnen nichts versprechen, möchte mir Ihre Version aber einmal anhören. Wo sind Sie?«

»In der Wiener Justizanstalt Josefstadt beim Straflandesgericht.«

»Ich komme so schnell wie möglich zu Ihnen. Sagen Sie in der Zwischenzeit nichts – kein Wort zu irgendwem!«

Eine halbe Stunde später stiegen Evelyn, Flo und Pulaski vor dem Straflandesgericht aus dem Taxi. Während der Fahrt hatten sie sich auf Flos Handy die Aufzeichnung der Sendung im gestrigen Frühstücksradio angehört, bei der Martin Kilian zu Gast gewesen war, und sich parallel dazu auf Pulaskis Handy die Fotos von der Facebookseite des Senders angesehen.

»Scheint ein netter Bursche zu sein, nicht abgehoben«, stellte Evelyn fest, nachdem sie das Taxi bezahlt hatte.

»So wirkt er auch bei seinen Podcasts«, pflichtete Flo ihr bei.

Gemeinsam betraten sie das Gericht und liefen durch den Verbindungsgang, der von der Justizanstalt Josefstadt zum Gefangenenhaus führte.

Evelyns Großeltern hatten die Justizanstalt immer Graues Haus genannt, weil die Häftlinge ursprünglich graue Kleidung getragen hatten. Das war jetzt anders, aber immer noch war die Ausstrahlung des Gebäudes alles andere als farbenfroh. Evelyn war davon überzeugt, dass besonders hier eine U-Haft, in der Martin Kilian bis zur Verurteilung oder zum Freispruch sitzen würde, schrecklicher war als der Knast selbst. Mit insgesamt knapp 1200 Häftlingen – mehr als die Hälfte von ihnen in Untersuchungshaft – war die Justizanstalt zu zwanzig Prozent überbelegt, und Evelyn hatte früher öfters mit eigenen Augen gesehen, dass sich zehn Häftlinge unter menschenunwürdigen Zuständen eine Zelle teilen mussten.

Nach der Personenkontrolle im Vorraum und der Abgabe ihrer Handys meldete Evelyn sie an, um in ihrer Eigenschaft als Anwältin ein erstes Gespräch mit Martin Kilian zu führen. Nur wenige Minuten später holte sie eine ältere Frau in sportlicher Zivilkleidung ab, die sich als Kommissarin Dreyer vorstellte.

»Sie sind also Kilians Anwältin?«, wollte Dreyer wissen.

»So weit sind wir noch nicht. Meine Kollegen und ich möchten uns zunächst einmal Kilians Version der Ereignisse anhören, bevor ich mich entscheide, ob ich seinen Fall übernehme«, gab Evelyn zu.

Dreyer nickte und musterte sie. Dann führte sie sie zu den Fahrstühlen, mit denen es in das zweite Kellergeschoss ging. Dort saßen einige frisch Inhaftierte auf Bänken, jeweils bewacht von bewaffneten Polizisten.

»Scheint gerade Hochbetrieb zu sein«, murmelte Evelyn.

»Hier ist immer Hochbetrieb«, seufzte Dreyer.

Eine junge abgemagerte Frau mit bunter Punkfrisur, Piercings und blauen Lippen von der Ersatzdroge Rohypnol sah langsam auf und betrachtete Evelyn mit großen glasigen Augen. »Sind Sie meine Pflichtverteidigerin?«, fragte sie müde.

»Isabella, ganz ehrlich«, sagte Dreyer. »Sieht diese Dame wie eine Pflichtverteidigerin aus?«

»Schon gut«, sagte Evelyn und warf Dreyer einen missbilligenden Blick zu. Dann zog sie eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und steckte sie dem Mädchen zu. »Ruf mich an, wenn du Probleme hast.«

»Danke.« Die junge Frau strahlte, eine Träne lief ihr über die Wange.

Dann gingen sie weiter den Gang hinunter bis zur Tür eines Besprechungszimmers, vor der ein Polizist Wache schob. Wie Evelyn durch das Sichtfenster sah, saß dort bereits Martin Kilian im dunklen Gefängnis-Overall. »Wir brauchen zwei weitere Stühle«, sagte sie.

»Sie gehen zu dritt da rein?«, fragte Dreyer.

Evelyn blickte die Kommissarin an. »Würde ich sonst darum bitten?«

Dreyer nickte dem Polizisten zu, der sich sofort in Bewegung setzte.

»Gibt es weitere Verdächtige?«, fragte Evelyn.

»Das kann ich Ihnen erst mitteilen, wenn Sie das Mandat als Verteidigerin offiziell angenommen haben.«

»Aber genau diese Information brauche ich, um zu entscheiden, ob ich es annehme.«

Dreyer reagierte nicht.

»Ich könnte mir über den Staatsanwalt Ihre Ermittlungsergebnisse in die Kanzlei schicken lassen. Ist nur eine Frage der Zeit, verursacht aber unnötigen bürokratischen Aufwand.«

»Also gut. Wir verdächtigen noch einen Mann namens Niemeyer«, gab Dreyer seufzend nach. »Er hat zwar ebenso wie Kilian kein Alibi für die Mordnacht und ein Motiv für die Tat, aber die Spuren am Tatort sprechen eindeutig für Kilian als Täter.«

Evelyn nickte und betrat, gefolgt von Flo und Pulaski, den Raum. Kilian blickte panisch auf, entspannte sich jedoch, als Evelyn sich und ihre Begleiter vorstellte. Währenddessen wurden zwei weitere Stühle gebracht, und sie nahmen Kilian gegenüber Platz.

Evelyn wartete, bis die Tür geschlossen wurde. »Bevor wir anfangen …« Sie blickte zur Decke. Keine Kameras und keine Mikrofone – zumindest keine sichtbaren. Das ist schon mal gut! Sie beugte sich über den Tisch. »Ich weiß, dass Sie mich als Verteidigerin wollen, weil es diese Homestory gibt. Aber das ist doch nur ein Artikel, und andere Anwältinnen sind mindestens genauso gut.«

»Es ist nicht nur dieser Artikel«, gab er zu. »Durch meinen Podcast und die dazugehörigen Recherchen bei Kriminalfällen bin ich immer wieder auf Ihren Namen gestoßen. Sie haben einen exzellenten Ruf in der Anwaltsszene.«

»Okay, das ehrt mich, aber auch Pflichtverteidiger – zumindest die, die ich kenne – würden sich ordentlich ins Zeug legen, um Sie …«

»Aber mein Fall liegt etwas anders«, unterbrach er sie. »Ich wurde hereingelegt.«

Das hörte Evelyn nicht zum ersten Mal. »Und ich soll nun herausfinden, wer Sie hereingelegt hat?«

Kilian schüttelte den Kopf. »Das weiß ich bereits. Es geht jetzt nur noch darum, herauszufinden, wie er es gemacht hat und Beweise dafür zu finden.«

Sie neigte den Kopf. »Er?«

»Ich habe einen Verdacht.« Er kaute auf der Unterlippe herum. »Seit gestern zermartere ich mir das Hirn darüber. Eigentlich kann es nur so gewesen sein.«

»Okay, dann hätten wir wenigstens einen Ansatz«, gab Evelyn zu. »Haben Sie schon mit der Polizei über Ihre Vermutungen gesprochen?«

»Nein, ich wollte zuvor mit Ihnen darüber reden.«

»Sehr gut.« Sie nickte. Kilian war vom Fach und reagierte schon dadurch ganz anders als viele ihrer anderen Klienten, die aus Angst Geheimnisse vor ihr bewahrten und sich aus Unkenntnis nicht an ihre Anweisungen hielten. Sie lächelte, um Kilian Mut zu machen. »Klingt beinahe so, als könnten wir beide gut zusammenarbeiten.«

Kilian lächelte ebenfalls kurz, dann setzte er an, etwas zu sagen, zögerte jedoch und schwieg.

»Sie können frei sprechen«, ermutigte Evelyn ihn. »Was immer Sie sagen, bleibt unter uns – und kann nicht gegen Sie verwendet werden. Also nehmen Sie sich Zeit und erzählen Sie, was passiert ist.«

Er atmete tief durch, blickte zur Tür, dann zu Flo, zu Pulaski und schließlich wieder zu Evelyn. »Ich war zu Hause, im Keller in meinem Tonstudio. War gerade mitten in einer weiteren Aufnahme, als es an der Tür läutete.«

»Wann war das?«

Kilian schob sich die Brille hoch. »Am Montag, etwa um zehn Uhr vormittags.«

»Also zwei Tage vor dem Mord?«

»Ja. Ich ging also rauf und öffnete die Tür. Draußen stand ein älterer Herr … um die sechzig.«

Pulaski gab ein kurzes Grunzen von sich.

Kilian schielte kurz zu ihm und hob die Hand. »Sorry. War nicht böse gemeint.«

»Schon gut.« Pulaski kniff die Augen zusammen. »Warum sind Sie überhaupt raufgegangen und haben aufgemacht, wenn Sie doch mitten in der Aufnahme waren?«

»Ich dachte, es wäre die Briefträgerin. Ich hatte ein neues Headset bestellt, auf das ich dringend wartete.«

Pulaski nickte. »Okay, und weiter?«

»Der Mann stellte sich mir als Prof. Geert Niemeyer vor.«

Der andere Verdächtige! »Kannten Sie ihn?«, fragte Evelyn.

Kilian schüttelte den Kopf. »Er hatte einen bundesdeutschen Akzent, klang irgendwie berlinerisch, und sagte, als ich ihn darauf ansprach, er wohne schon seit Längerem in Wien. Und er müsse mich unbedingt sprechen. Ich wollte ihn abwimmeln, aber er behauptete, sein Besuch habe etwas mit dem Tod meiner Tochter zu tun und er habe Informationen, die mich garantiert interessieren würden.«

»Haben Sie ihn ins Haus gelassen?«, fragte Evelyn.

»Nein, das hätte ich nie getan. Außerdem hatte ich gerade auch keine Zeit, also schlug er vor, dass wir uns am Abend für ein längeres Gespräch treffen sollten. In der Wiener Innenstadt, im Black Angus Rib House, einem Steakhouse.«

»Kenne ich.« Flo nickte. »War das Lokal Ihr Vorschlag?«

Kilian schüttelte den Kopf. »War mir vorher gar kein Begriff. Um acht haben wir uns da getroffen.«

»War der Tisch reserviert?«, wollte Evelyn wissen.

»Weiß ich nicht.« Kilian nahm die Brille ab und massierte seine Augen. Als er sie wieder aufsetzte, waren sie gerötet. »Vermutlich nicht. Es war Montagabend, das Lokal war nicht voll, und Niemeyer suchte sich einen Tisch aus. Abgeschieden in einer Nische.« Er atmete tief durch. »Wir bestellten Essen und Getränke, und während wir auf unsere Speisen warteten, erzählte er mir eine seltsame Geschichte.«

Evelyn rückte näher. »Worüber?«

»Er behauptete, seine Frau hätte eine unheilbare Krankheit gehabt …«

Zwei Tage vor dem Mord, im Black Angus Rib House

»Sie hatte Magenkrebs.« Niemeyer schob die Serviette gedankenverloren über den Tisch.

»Hatte?«, wiederholte Kilian, während er die Stirn runzelte. Je länger er in der Gegenwart dieses Mannes war, desto unwohler fühlte er sich. Noch dazu hatte er keine Ahnung, worauf dieses Treffen hinauslaufen sollte.

Niemeyer nickte und strich sich eine gewellte graue Haarsträhne hinters Ohr, die ihm ins Gesicht gefallen war. »Sie ist gestorben. Vor einem halben Jahr.«

»Das tut mir ja wirklich leid für Sie, aber was hat das mit meiner Tochter zu tun?«

Niemeyer fuhr sich mit den Fingern über den borstigen grauen Stoppelbart. Seine Fingerkuppen waren gelb von übermäßigem Zigarettenkonsum. »Warten Sie es ab, ich erzähle Ihnen alles der Reihe nach«, murmelte er. Wieder schob er die Serviette hin und her. »Bevor die Ärzte mit der Chemotherapie begannen, wollten sie ihr sicherheitshalber fast den gesamten Magen herausoperieren, weil der Krebs schon so weit fortgeschritten war.«

»Wird normalerweise nicht zuerst eine Chemotherapie gemacht?«

»Die Ärzte hatten mir erklärt, dass es sich um einen Notfall handle.«

Kilian schluckte, als ihn eine leise Ahnung beschlich. »In welchem Krankenhaus war das?«

»In der Bormann-Klinik.« Niemeyers Ton wurde rau. »Dr. Aleyna Al-Rashid hat sie operiert.«

Bei dem Namen stellten sich die Härchen an Kilians Unterarmen auf, und ein Schauer lief ihm über den Rücken.

Krächzend fuhr Niemeyer fort. »Direkt nach der OP ging es meiner Frau gut. Angeblich war alles perfekt verlaufen. Sie erholte sich von dem Eingriff. Aber am zweiten Tag klagte sie über Schmerzen im Bauch. Normalerweise war Bernadette überhaupt nicht empfindlich und ertrug wortlos größere Torturen, daher musste es etwas wirklich Ernstes sein, wenn sie es erwähnte. Also ging ich zum diensthabenden Arzt, aber der sagte nur, dass das bei diesem Eingriff völlig normal wäre.«

»Aber die Schmerzen ließen nicht nach«, vermutete Kilian.

Niemeyer nickte. »Ständig wechselten die Ärzte bei der Visite. Ich habe mit jedem gesprochen, aber keiner von denen wollte die Verantwortung übernehmen. Immer wurden wir auf den Tag vertröstet, wenn Oberärztin Dr. Al-Rashid wieder Dienst haben würde. Am Morgen des fünften Tages war sie endlich wieder da. Da klagte Bernadette bereits so heftig über die Schmerzen, dass ich wirklich alarmiert war, aber auch Dr. Al-Rashid beharrte darauf, dass das nichts Schlimmes sein könne. Sie hat sie nur abgetastet und die Dosis Schmerzmittel erhöht. Das half natürlich nichts, und am gleichen Abend wurden die Schmerzen so unerträglich, dass Dr. Al-Rashid meiner Frau den Bauch wieder öffnen musste.« Niemeyer biss die Zähne zusammen, schluckte und kämpfte mit den Tränen. »Bernadette hatte einen Darmverschluss«, presste er hervor, darum bemüht, möglichst leise und gedämpft zu reden. »Die Nähte waren aufgeplatzt, und der Magensaft war in den Bauchbereich gelaufen. Alles war entzündet. Sie starb noch in derselben Nacht an einer Blutvergiftung.« Jetzt lief ihm doch eine Träne über die Wange. »Ihr Tod wäre ganz einfach zu verhindern gewesen, wenn man uns nur ernst genommen hätte.« Mehrmals ballte er die Faust und zerdrückte dabei die Serviette.

Kilians Magen krampfte sich zusammen. Die Geschichte klang tragisch, und er fühlte mit dem Mann mit, zumal ihn die Erzählung an die OP seiner eigenen Tochter erinnerte. »Klingt offensichtlich nach einem Kunstfehler«, stellte er fest und merkte, dass seine eigene Kehle rau geworden war. »Haben Sie sich an die Patientenanwaltschaft gewandt?«

Niemeyer wischte sich die Tränen weg und lachte heiser auf. »Ist das Ihr Ernst?«, entgegnete er. »Sie kennen das doch selbst. So etwas wird schnell zu einem jahrelangen zermürbenden Prozess, der sich Ewigkeiten hinzieht und Unsummen Geld kostet. Und irgendwann gehen einem Nerven, Kraft und finanzielle Mittel aus. Die Ärzte sitzen am längeren Hebel – egal, was man tut. Die halten zusammen, behaupten, es wäre alles in Ordnung gewesen. Wie könnte ich das Gegenteil beweisen?«

»Immerhin hat Ihre Frau die letzten vier Tage über heftige Schmerzen geklagt. Sie könnten ein Gutachten anfordern.«

Niemeyer lachte gequält auf. »Am Ende des Tages gibt es dann vielleicht sogar drei oder vier Gutachten, die sich teilweise widersprechen.« Er rückte näher. »Das Dilemma ist doch, dass es wiederum Ärzte sind, die diese Gutachten schreiben. Denen ist bewusst, dass sie vorsichtig formulieren müssen, weil es sonst strafrechtliche Konsequenzen gibt, die den betreffenden Kollegen die Karriere kosten könnten. Und da man nie weiß, ob man nicht selbst mal so ein Gutachten braucht und wer das dann schreibt … Ist es nicht so?«

Kilian nickte stumm. Stimmt. Genauso war es bei seiner Tochter gewesen.

»Wenn überhaupt, dann bräuchte ich einen Gerichtsmediziner, dem ich vertrauen kann und der eine weitere unabhängige Obduktion macht. Aber dafür müsste sich das Krankenhaus selbst anzeigen«, fuhr Niemeyer fort. »Und selbst dann käme nichts dabei heraus.«

»Und falls doch?«, fragte Kilian.

»Tja, falls doch … dann würde ich ein paar Tausend oder vielleicht sogar hunderttausend Euro Schmerzensgeld erhalten. Aber würde mich diese Entschädigung glücklich machen?« Verbittert schüttelte er den Kopf, dann hob er die Schultern. »Im Gegenteil. Ich würde mich schäbig fühlen, aus dem Tod meiner Frau Geld herausgeschunden zu haben.« Er winkte ab. »Und Bernadette kommt dadurch sowieso nicht wieder.«

Eine kluge Entscheidung – und die einzig richtige, die Kilian selbst genau so schon vor Jahren getroffen hatte. »Und warum sitzen wir dann hier? Brauchen Sie jemanden zum Reden?«

»Nein danke, eine dieser sogenannten Gesprächstherapien habe ich schon hinter mir.« Niemeyer beugte sich nach vorn und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe einen anderen Plan, wie ich zu Gerechtigkeit komme.«

Ein ungutes Gefühl beschlich Kilian. »Will ich den hören?«, fragte er zögerlich.