Racheherbst - Andreas Gruber - E-Book
SONDERANGEBOT

Racheherbst E-Book

Andreas Gruber

4,9
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unter einer Leipziger Brücke wird die verstümmelte Leiche einer jungen Frau angespült. Walter Pulaski, zynischer Ermittler bei der Polizei, merkt schnell, dass der Mord an der Prostituierten Natalie bei seinen Kollegen nicht die höchste Priorität genießt. Er recherchiert auf eigene Faust – an seiner Seite Natalies Mutter Mikaela, die um jeden Preis den Tod ihrer Tochter rächen will. Gemeinsam stoßen sie auf die blutige Fährte eines Serienmörders, die sich über Prag und Passau bis nach Wien zieht. Dort hat die junge Anwältin Evelyn Meyers gerade ihren ersten eigenen Fall als Strafverteidigerin übernommen. Es geht um einen brutalen Frauenmord – und eine fatale Fehleinschätzung lässt Evelyn um ein Haar selbst zum nächsten Opfer werden ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 563

Bewertungen
4,9 (98 Bewertungen)
87
11
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Unter einer Leipziger Brücke wird in der Schiffsschraube eines Bootes die verstümmelte Leiche einer 19-Jährigen gefunden. Für deren Mutter, die in Deutschland wohnende Tschechin Mikaela, bricht eine Welt zusammen. Zumal zur gleichen Zeit auch ihre zweite Tochter Dana spurlos verschwindet. Fortan kennt Mikaela nur noch ein Ziel: Sie versucht auf eigene Faust den Mörder zu finden, um Rache zu nehmen. Und um Dana zu retten, die sich – so vermutet sie – in der Gewalt desselben Täters befindet.

Walter Pulaski, zynischer Ermittler beim Leipziger Kriminaldauerdienst, beschließt, sich offiziell krankschreiben zu lassen und Mikaela bei ihrer Suche zu helfen. Weil die Polizei den Fall viel zu schnell zu den Akten legt, und weil Mikaela ein Talent dafür hat, mit ihrer direkten Art in Probleme zu schlittern. Die gemeinsame Jagd führt die beiden vom Leipziger Drogen- und Prostituiertenmilieu durch mehrere Städte bis nach Wien. Überall hat der Killer Spuren hinterlassen.

Zur gleichen Zeit übernimmt die Wiener Anwältin Evelyn Meyers als Strafverteidigerin einen neuen Klienten, der unter Mordverdacht steht. Der neue Fall verlangt ihr alles ab, und sie weiß nicht mehr, wem sie trauen soll. Dann unterläuft ihr eine fatale Fehleinschätzung …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden

Sie am Ende des Buches.

ANDREASGRUBER

Racheherbst

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Oktober 2015

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Th · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15311-3V004

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

für

Christoph Wudy,

danke für deine kreative Starthilfe

»Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.«

– SIR FRANCIS BACON –

PROLOG

Die Musik in der Bar war viel zu laut. Carla musste sich zu Jo herüberbeugen, damit sie überhaupt etwas verstand.

»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte er.

Das ist der Moment, in dem sich alles entscheidet.

Sollte sie sich zieren oder nicht? Jo war fünfzig Jahre alt – knapp doppelt so alt wie sie – und stand bestimmt nicht auf Frauen, die nicht wussten, was sie wollten. Andererseits sollte er auch nicht den Eindruck bekommen, dass sie gleich mit jedem nach dem dritten Date ins Bett stieg. Allerdings war er auch nicht jeder. Eigentlich hieß er Johannes, war Chirurg am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, äußerst durchtrainiert, weil er jedes Jahr beim Wien-Marathon mitlief, und sah mit seinem braun gebrannten Teint und dem grau melierten Haar wie ein Schauspieler aus.

Aber für Carla war das Wichtigste, dass Jo nach diesem Treffen seinen Internet-Account bei der Partnerbörse Sie sucht Ihn, Alt sucht Jung stilllegen würde. Diesen Mann würde sie nicht mehr so leicht vom Haken lassen.

»Gerne«, antwortete sie. »Hier ist es mir ohnehin zu laut, und der Rauch brennt schon in den Augen.«

Jo zwinkerte ihr zu. Er war nämlich Nichtraucher, also hatte Carla sich das Rauchen vor zwei Stunden abgewöhnt. Er zahlte, reichte ihr den Arm, sie hakte sich unter und ließ sich von ihm aus der Bar führen.

Samstagabend, kurz nach elf Uhr war die Wiener Innenstadt immer noch belebt. Obwohl es Ende Oktober war, wehte eine laue Brise durch die Nacht. Studenten und Touristen drängelten sich mit Zigaretten in der Hand unter den Heizkanonen vor den Lokalen und unterhielten sich. Dumpfe Bässe drangen aus den Bars.

Jo führte Carla durch die Menschenmenge, und schon bald spazierten sie durch eine einsame Seitengasse.

»Mir ist ein bisschen kalt.«

Kommentarlos legte Jo den Arm um ihre Schulter, und sie schmiegte sich an ihn. Die Stimmung war einfach perfekt. Jo trug keinen Ehering, es zeichnete sich nicht mal ein heller Strich auf der gebräunten Haut seines Fingers ab. Wie er Carla erzählt hatte, war seine Frau vor zehn Jahren gestorben. Kinder hatten sie keine gehabt, und so lebte er seitdem allein. Weil er einfach noch nicht die Richtige gefunden hatte. Es war eben verdammt schwierig, den richtigen Partner zu finden – damit hatte sie Erfahrung.

Sie hatte erst kürzlich einen Mann im Internet kennengelernt, und auch der hatte sie nach dem dritten Treffen zu sich nach Hause eingeladen. Tolle Wohnung, Toplage im ersten Bezirk – aber der Kerl war eine Enttäuschung gewesen. Jo hingegen war gebildet, zuvorkommend, hatte Manieren und ging nicht gleich mit der Brechstange auf sie los, um sie ins Bett zu kriegen. Er würde ihr sicher zunächst aus seiner Hausbar einen Drink mixen, sie dann auf den Balkon führen und sich mit ihr unter eine Decke auf die Korbstühle kuscheln, um über das Leben und ihre Träume zu philosophieren. Sie liebte solche Männer.

Sie kamen an einer Litfaßsäule vorbei und gingen in eine schmale Seitengasse. Carla kannte die Gegend und auch das aufgelassene Kino, in dessen Schaufenster vergilbte Filmplakate hingen. Die Leuchtreklame war schon lange außer Betrieb. Zu Vermieten stand in breiten Lettern auf einer Scheibe.

Jo schlug exakt denselben Weg ein, den Carla vor ein paar Tagen schon einmal gegangen war. Sie hielten vor einem Torbogen, und Jo kramte einen Schlüsselbund aus dem Mantel.

Carlas Körper verspannte sich. Sie blickte sich um. »Hier wohnst du?«

»Ich weiß, keine besonders belebte Gegend, aber ich mag es ruhig.«

Ja, hier ist es ruhig. Und ich kenne dieses Haus.

Die Beleuchtung im Treppenhaus ging automatisch an, und Jo führte sie am Abstellplatz für Fahrräder und Kinderwagen vorbei. Er holte den Fahrstuhl.

In genau diesem Gebäude wohnte auch der Typ, mit dem sie sich erst vor ein paar Tagen getroffen hatte. Hoffentlich lief sie ihm jetzt nicht über den Weg – immerhin hatte sie ihn ziemlich ruppig abserviert, als sie dahintergekommen war, dass er beim Alter geschwindelt und ihr einen falschen Namen genannt hatte. Aber es war halb zwölf Uhr nachts, und da wäre es schon ein verdammter Zufall, wenn Hans im Treppenhaus gerade aus dem Fahrstuhl steigen würde, während sie mit Jo auf die Kabine wartete.

Das Licht an der Decke flackerte, dann ging es ganz aus.

Jo seufzte. »Die Lampe ist seit einer Woche kaputt.«

»Ja«, murmelte sie.

Aber eines Tages würden sie sich begegnen – keine Frage. Wie sollte sie das auch verhindern? Mann, wie peinlich wäre das! Sie hatte Jo gesagt, dass sie erst seit Kurzem einen Account bei dieser Partnerbörse besitze und er der erste Mann sei, mit dem sie sich getroffen habe. Hoffentlich hielt Hans die Klappe – er war garantiert nicht daran interessiert, dass seine Nachbarn von dem Treffen mit ihr erfuhren.

»Du wirkst etwas angespannt«, stellte Jo fest. »Ist es dir lieber, wenn ich dich nach Hause bringe? Wir könnten uns …«

»Nein, ist schon okay.« Sie lächelte. »Ich kenne jemanden, der hier gelebt hat. Keine schöne Erinnerung«, log sie.

»Das tut mir leid. Aber du musst dir keine Sorgen machen, in diesem Haus wohnen lauter nette Menschen.«

…bis auf Hans.

Das blecherne Rattern des näher kommenden Fahrstuhls und die dunkelrote Farbe an den Wänden waren ihr noch lebhaft in Erinnerung.

Verflucht!

In ihrem Kopf liefen alle möglichen Versionen einer Geschichte ab, die sie Jo auftischen konnte, um zu erklären, woher sie seinen Nachbarn kannte. Aber alle klangen dämlich. Am besten war, so rasch wie möglich mit der Wahrheit herauszurücken und zuzugeben, dass sie bereits seit zwei Jahren Mitglied bei dieser Partnerbörse war. Und dann? Zugeben, dass sie sich mit bisher zwei Dutzend Männern getroffen hatte – manchmal sogar mit zweien gleichzeitig –, immer auf der Suche nach einem reichen Kerl, der gut aussah und ihr das Architekturstudium finanzierte? Ja genau. Guter Plan, Carla.

Sie traten in die Kabine, und Jo drückte auf den Knopf für den vierten Stock.

Das oberste Stockwerk!

Carla wurde übel. Wie viele Wohnungen gab es dort? Zwei, soviel sie sich erinnerte. Jo wohnte also Tür an Tür mit ihrem ehemaligen Date aus der Partnerbörse.

»Wie lange wohnst du schon in diesem Haus?«, fragte sie.

Der Lift ratterte nach oben.

Jo ließ den Schlüsselbund um den Finger kreisen. »Seit zwei Jahren. Die Miete ist günstig für eine Hundertzehn-Quadratmeter-Wohnung, und du wirst die Aussicht lieben. Von der Dachterrasse siehst du den Stephansdom.«

Ich kenne diese Aussicht bereits.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Jo führte sie durch einen Gang zu einer Wohnungstür, an der ein Schild unter der Türklingel hing.

Johannes.

Das war ja klar. Mein Gott, wie dumm war sie gewesen? Es ist dieselbe Wohnung! Hier hatte vor ein paar Tagen noch Hans gewohnt – heute wohnte Jo darin. Wollt ihr mich verarschen? Er sperrte die Tür auf und machte das Licht an. Sie sah den dunkelroten Läufer, die Gemälde an den Wänden, die Mahagonikommode und den Schuhschrank. Das alles kannte sie.

»Komm doch herein!«

»Ich …« Etwas in ihr sträubte sich, die Wohnung zu betreten. Andererseits wollte sie unbedingt herausfinden, was hier gespielt wurde.

»Komm, ich mach uns etwas zu trinken.« Er zog sie sanft ins Vorzimmer.

Carla versuchte, sich ihre Fassungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Wohnst du allein?«

Er schmunzelte. »Klar.«

Was für eine miese Nummer läuft hier eigentlich?

Jo half ihr aus dem Mantel.

»Ich meine, hast du einen Bruder?«

Was für eine blöde Frage! Hans hatte Jo vielleicht von ihr erzählt. Wollten die beiden Männer sie reinlegen? Nein, unmöglich. Es war bloß ein unglaublicher Zufall, dass sie hier war. Immerhin hatte sie Kontakt zu Jo aufgenommen, nicht umgekehrt.

»Nein, wie kommst du darauf? Sieht es danach aus?«

Sie fuhr mit dem Finger über das Holz der Kommode und bemerkte, wie ihre Hand zitterte. »Es ist alles so sauber.«

»Ich habe eine Putzfrau, die einmal pro Woche kommt.«

…und danach borgst du deine Wohnung einem Freund, damit er Frauen abschleppen kann.

»Nimm auf der Couch Platz. Ich mache uns Drinks, in Ordnung?«

Danke, ich kenne den Weg.

»Einen Margarita-Cocktail, falls du den im Haus hast.«

»Ja, den habe ich.«

Ich weiß!

Carla ging ins Wohnzimmer. Sie wusste, wo sich der Lichtschalter befand, drehte das gedimmte Licht heller. Neben afrikanischen Masken hingen moderne Gemälde an der Wand, ein antiker Säbel und ein am Griff signierter Golfschläger. Doch an jener Stelle über dem Piano und der modernen Hi-Fi-Anlage, wo vor einer Woche noch gerahmte Fotos von Hans gehangen hatten, hingen nun Bilder von Jo. Mit klopfendem Herzen betrachtete sie die Fotos. In welchem Verhältnis standen die beiden Männer zueinander?

Sie hörte, wie Jo in der Küche Schränke öffnete und mit Gläsern hantierte. Hastig zog sie im Wohnzimmer einige Schubladen auf und hoffte, dass das Holz nicht quietschte. Sie kramte durch Tischdecken, Kerzen, Aschenbecher, Spielkartensets … und stieß auf gerahmte Fotos von Hans. Das darf doch nicht wahr sein! Sie kannte die Bilder. Hans hatte ihr zu jedem davon eine Geschichte erzählt. Dass er schon seit Jahren allein lebte, erst kürzlich den Schritt gewagt habe, sich in einer Partnerbörse zu registrieren, um eine gleichgesinnte Frau kennenzulernen, mit der er gemeinsame Hobbys ausleben wolle. Sie kannte diese Story. In gewisser Weise ähnelte sie Jos Geschichte – wenn sie es sich recht überlegte, fast sogar haargenau. War das die Erfolgsmasche, mit der die beiden Frauen herumkriegten?

Sie merkte, wie sie ihre Faust ballte. Wut stieg in ihr hoch. Wie konnte sie sich nur so in Jo getäuscht haben? Zwei Kerle, die sich …

Was zum Teufel ist das?

Unter einer Serviette fand sie ein Foto von einem ihr unbekannten etwa fünfzigjährigen Mann. Scheiße! Es waren sogar drei Kerle, die sich diese Wohnung teilten! Dieser allerdings hatte ein schwammiges Gesicht, eine Knollennase und schütteres Haar. Er sah aus wie der typische abgewrackte Familienvater. Ist das zu fassen?

Sie hörte Jos Schritte im Gang und schob rasch die Lade zu. Diesmal ächzte das Holz.

Jo kam ins Zimmer und reichte ihr einen Cocktail mit gehacktem Eis und einer Limettenspalte. »Auf dich, du hast ja bald Geburtstag.«

»In sechs Tagen.« Carla nippte an dem Glas, benetzte aber nur die Lippen. Sie hatte schon zu viel getrunken und musste so rasch wie möglich nüchtern werden.

»Nimm doch auf der Couch Platz, oder wollen wir auf die Dachterrasse gehen?«

»Die kenne ich bereits.«

Jo runzelte die Stirn und blickte zur Terrassentür. Der schwere Vorhang verdeckte die Aussicht.

»Lassen wir die Spielchen.« Sie hielt das Glas so fest in der Hand, dass sie fürchtete, jeden Moment den Stiel abzubrechen. »Wie viele Frauen habt ihr auf dieser Couch schon flachgelegt?«

Jo stellte sein Glas auf das Piano. »Flachgelegt? Wir?«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist«, fuhr sie ihn an. Ihr Ton hatte plötzlich jeglichen Liebreiz verloren, aber das war ihr im Moment egal. »Wie ist dein richtiger Name?«

Jo kam auf sie zu. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren?« Er musterte sie mit skeptischem Blick. »Bist du Privatdetektivin?«

»Was?« Sie lachte laut auf. »Ich war ehrlich zu dir, was man von dir nicht behaupten kann! Du teilst dir mit zwei Kumpels die Miete dieser Wohnung, nicht wahr?«

»Und weiter?«, forderte er sie heraus.

»Wahrscheinlich seid ihr alle drei verheiratet und habt euch dieses Domizil geschaffen, um abwechselnd ein paar Schäferstündchen einzulegen.« Sie redete sich in Rage. Eine Stimme tief in ihr drin sagte ihr, dass es besser wäre, jetzt die Klappe zu halten, aus der Wohnung abzuhauen und sich in ein Taxi zu setzen. Nur rasch weg von diesem Verrückten! Doch in den letzten Minuten hatte sich so viel Zorn in ihr aufgestaut, dass sie diesen nun herauslassen musste. Immerhin hatte sie eine Woche mit diesem windigen Kerl vergeudet!

Er kam auf sie zu. »Rede nur weiter.«

Sie wedelte mit dem Arm. »Ihr sagt, ihr wäret auf Dienstreise oder gebt euch gegenseitig ein Alibi … Herrenabend oder so etwas in der Art. Und dann braucht ihr nur die Fotos an den Wänden auszutauschen und den einsamen, reichen, alleinstehenden Typen zu markieren. Und dumme Frauen wie ich fallen darauf rein.«

»Hast du einen Blick in die Schubladen geworfen?«

Sie gab keine Antwort.

Jo griff zum Golfschläger an der Wand und hob ihn aus der Halterung.

»Was soll das?« Carla lachte hysterisch auf. »Willst du mir etwa drohen?«

Er schüttelte den Kopf. »Willst du mir drohen?«

»Nein, verdammt. Ich will bloß diese kranke Wohnung verlassen und dich nie wieder sehen.«

Als er mit dem Schläger auf sie zukam, schüttete sie ihm ihren Drink ins Gesicht, warf das Glas weg und lief aus dem Wohnzimmer.

Hinter sich hörte sie, wie das Glas auf dem Parkett zerbrach. Plötzlich war sie hellwach. Sie erreichte das Ende des Gangs, aber die Scheißtür war abgesperrt! Sie rüttelte an der Klinke und hämmerte an die Tür. Panisch sah sie sich um. Im Schloss steckte kein Schlüssel.

»Hilfe!«

Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Jo stand hinter ihr, der Alkohol tropfte ihm vom Gesicht, und er holte mit dem Schläger aus.

Als Carla mit dröhnendem Schädel erwachte, lag sie auf dem Rücken. Sie starrte zur Decke. Sie kannte diesen Leuchter. Er gehörte Jo … oder Hans … oder dem dritten Kerl mit der Knollennase. Jetzt war das Licht ausgeschaltet. Dämmerlicht herrschte in dem Raum. Sie drehte den Kopf, während ihr der Schmerz durch die Schläfen fuhr. Der Golfschläger hing wieder an der Wand.

Es roch nach Putzmittel.

Sie wollte sich aufrappeln, konnte sich aber nicht bewegen. Zur Hölle! Sie hob den Kopf und sah, dass sie halb nackt war und nur ihren Büstenhalter trug. Und sie lag auf einer großen Plastikfolie, die, soweit sie sehen konnte, im ganzen Wohnzimmer ausgebreitet war. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Trübes Licht fiel durch den Spalt. War es noch Nacht oder dämmerte bereits der Morgen? Trotz der Dunkelheit sah sie, dass sämtliche Möbelstücke zur Seite gerückt waren. In der Ecke stand ein dreibeiniges Stativ mit einer Kamera darauf. Eine rote Lampe blinkte. Das Objektiv war auf sie gerichtet.

Was für kranke Sachen passieren hier?

Und warum kann ich nur den Kopf drehen und mich sonst nicht bewegen?

Soviel sie erkennen konnte, waren weder ihre Arme noch ihre Beine gefesselt, und sie spürte rein gar nichts.

Da hörte sie ein Rascheln hinter sich.

»Ja, ich habe dich angelogen.«

Jos Stimme!

Sie versuchte den Kopf zu drehen.

»Aber in einer Sache habe ich die Wahrheit gesagt: Ich bin Arzt!«

»Lass mich gehen, du perverses Schwein!«, rief sie.

»Das ist leider unmöglich.« Er kam um sie herum und stand vor ihr. »Du kannst nicht mehr gehen. Deine Wirbelsäule ist gebrochen. Du bist vom Hals an abwärts gelähmt.«

Sie begriff die Worte zunächst nicht. Jo stand mit Lackschuhen, schwarzer Anzughose und nacktem Oberkörper vor ihr. Jeder Muskel auf Schultern, Armen und Bauch war exakt definiert. Seine Brust war rasiert und glänzte spiegelglatt … und auf seiner Haut befanden sich riesige grässliche Tattoos.

Sie leuchteten!

Die Konturen sahen gespenstisch aus, als hätte er weinrote Neonflächen unter der Haut. Der Schimmer spiegelte sich sogar in der Glasvitrine. Das Motiv auf Brustkorb und Bauch zeigte einen Skorpion, der sich im Tanz mit erhobenem Stachel aufbäumte. Aber das Schreckliche an diesem Motiv war, dass es so fürchterlich dreidimensional aussah. Der Skorpion wirkte, als brannte er sich schmerzvoll durch Jos Eingeweide.

»Was hast du gesagt?«, keuchte sie.

»Du bist gelähmt, meine Liebe.«

Sie versuchte erfolglos die Finger zu bewegen. »Bin ich gestürzt?«

Er schüttelte den Kopf. Gleichzeitig ließ er die Fingerknöchel knacken. »Ich habe dir den dritten Halswirbel gebrochen.«

»Hilfe!«, schrie Carla so laut wie möglich. Sie konnte ihren Körper nicht aufbäumen. Ihre Atmung versagte für einen Moment. »Hil…!«

Da war Jo bereits über ihr und stopfte ihr ein Taschentuch in den Mund. Sie versuchte ihn in den Finger zu beißen, doch er hatte sie schon mit einem Lederband geknebelt.

Augenblicklich würgte sie. Die Panik kam.

Nimm mir das Ding aus dem Mund!

Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln. Ein Brechreiz überkam sie, und ihr Magen stülpte sich um.

»Beruhige dich! Atme ruhig durch die Nase, sonst kollabierst du.«

Sie versuchte nicht zwanghaft zu schlucken und ihre Atmung zu beruhigen.

Das ist doch alles nur ein Albtraum! Das passiert nicht wirklich.

Das Blut rauschte in ihren Ohren. Jo erhob sich und verschwand nach hinten in die Dunkelheit. Sie sah nur die schimmernden Skorpione, die sich in der Finsternis bewegten, auf seiner Brust, den Oberarmen und an den Seiten. Dann trat er wieder vor sie hin.

Kommentarlos stellte er einen großen Metallkoffer neben sie auf die Plastikfolie, den er langsam öffnete.

1. TEIL – Ein Jahr später, Mittwoch, 26. Oktober

1

Die Geschäfte in der Abflughalle des Leipziger Flughafens erwachten zögernd. Einige Shops luden bereits zum Einkauf ein, doch die meisten Rollläden waren noch geschlossen. Verdammt früh, dachte Walter Pulaski. Gerade mal zwei Dutzend Menschen schoben ihre Koffer zur Gepäckaufgabe. Pulaski schien es, dass es jedes Mal weniger Fluggäste wurden, wenn er herkam. Flogen die Menschen heutzutage nicht mehr?

»Mach nicht so ein Gesicht, Papa!«

Pulaski betrachtete seine Tochter. Unfassbar, wie rasch das eigene Kind groß wird!

Je mehr sich Jasmin zu einer jungen Erwachsenen entwickelte, desto schmerzvoller wurde Pulaski bewusst, wie alt er war. Schon vierundfünfzig! Als alleinerziehender Vater hatte er es geschafft, Jasmin zu einer vernünftigen jungen Dame zu erziehen, auch ohne seine Frau, die vor acht Jahren gestorben war.

»Papa, du hast versprochen, mir täglich eine SMS zu schicken.«

»Ja, habe ich.«

»Und du hast versprochen, kürzerzutreten.«

»Ja, jetzt mach schon!«

Jasmin hob die Augenbrauen. »Denk an deine Asthmaanfälle! Keine unnötigen Anstrengungen! Hast du gehört?«

Er verdrehte die Augen. »Ja, Mama.« Sie werden erwachsen! Und wie!

Jasmin schulterte den Rucksack. Er wollte ihr mit dem Riemen helfen, doch sie war schneller. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, presste ein vorwurfsvolles »Du kratzt« heraus, nahm ihren Trolley und ging zur Passkontrolle.

Von hinten erinnerte sie ihn an ihre Mutter. Das lange braune Haar, die schmalen Schultern und der immer wieder leicht hüpfende Gang. Jasmin sah nicht aus wie fünfzehn, sondern älter … und das bereitete ihm ein wenig Angst. Aber Veränderungen, die keine Angst hervorriefen, waren keine echten Veränderungen. Jasmin trug Turnschuhe, Designerjeans mit Löchern, ein rotkariertes Hemd, einen Seidenschal und eine Windbreaker-Jacke. In ihren Haaren steckte eine Sonnenbrille.

Die Brille wirst du nicht brauchen, Schatz– es ist Oktober. Der heutige Morgen hatte zwar sonnig begonnen, aber das Wetter würde in den nächsten drei Wochen grässlich werden, besonders in Schottland. Kaum über fünf Grad. Er hatte es gegoogelt, aber nicht gewagt, es ihr zu sagen. Jasmin hätte es als Bevormundung empfunden. Denn seit einem halben Jahr hatten sich ihre Rollen um hundertachtzig Grad gedreht. Nun war sie die Erwachsene, die sich um ihn kümmerte. Was für ein Witz! Aber seine Krankheit und sein Beruf bereiteten ihr Sorgen, also ließ er sie gewähren. Als er ihr jetzt nachsah, machte es ihn außerdem verdammt stolz, wie sie ihr Leben im Griff hatte und genau wusste, was sie wollte. Und wenn sie dann eben fror, hatte sie immer noch die Prepaid-Kreditkarte mit fünfhundert Euro Guthaben, die er ihr spendiert hatte, und konnte sich jederzeit in einem Laden eine wärmere Jacke kaufen.

Im nächsten Moment war Jasmin hinter einigen Shops verschwunden. Nun war sie also weg! Beinahe hätte sie auf die drei Wochen Sprachkurs in Edinburgh verzichtet, da seine Asthmaanfälle wieder häufiger geworden waren. Aber das war ihr großer Traum, und den wollte er ihr nicht zerstören. Er zog das Spray aus der Tasche und inhalierte.

Sie hatte sich nicht umgedreht, aber er wusste, dass sie irgendwo hinter einem Drehständer unauffällig hervorlinsen würde, um zu sehen, wie lange er noch vor der Passkontrolle stehen blieb.

Er drehte sich um und ging durch die Halle. Neben ihm schaukelte eine Rolltreppe nach oben. Er wollte sich auf eine Bank setzen und warten, bis der Start der Maschine nach Edinburgh auf der Anzeigetafel bestätigt wurde. Doch sein Handy läutete.

Herrgott! Jasmin konnte es wohl kaum erwarten, mit ihm zu telefonieren. Er zog das Telefon aus der Jacke. Aber es war nicht Jasmin, sondern das Büro.

»Pulaski«, meldete er sich.

»Hallo Walter.« Es war Horst Fux, sein Vorgesetzter. »Sitzt deine Kleine schon im Flieger?«

»Ist gerade durch die Passkontrolle gegangen.«

»Okay, dann bist du ja wieder im Dienst … Im Elsterbecken unter der Zeppelinbrücke liegt ein Boot.«

»Und?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits ahnte.

»Die Leiche einer jungen Frau steckt in der Schiffsschraube.«

Das Wasser der Elster lief träge wie ein schwarzer Teppich unter der Zeppelinbrücke hindurch. Ein hauchdünner Nebelschleier lag auf dem Fluss. Die Sonne verschwand soeben hinter den Wolken, und der graue Himmel ließ das Gewässer noch unheimlicher und absolut unergründlich erscheinen. Nur das zuckende Blaulicht störte die Idylle.

Während Pulaski mit seinem schweren Dienstkoffer in der Hand zwischen den Bäumen über die Böschung zur Brücke hinunterkam, musste er paradoxerweise an Jasmin denken. An ihre löcherigen Jeans und das kurzärmelige Hemd, die Klimaanlage im Flieger und das hundsmiserable Wetter in Edinburgh.

Neben der Brücke beugte sich ein Polizist über die Betonbrüstung. »Sind Sie von der Kripo?«, rief er.

»Nein, vom Gesundheitsamt«, keuchte Pulaski.

Wahrscheinlich nahm man ihm das noch eher ab als seinen wahren Job. Ein Mann, der wegen seiner Asthmaanfälle knapp vor der Frühpensionierung stand, übernahm im Kriminaldauerdienst normalerweise keine Standardermittlungen mehr. Vor Jahren war er beim Landeskriminalamt mal eine große Nummer gewesen, hatte sich jedoch nach dem Tod seiner Frau in den Dauerdienst versetzen lassen. Weniger reisen … und weniger gefährlich. Aber die Arbeit auf der Straße war ihm trotzdem erhalten geblieben. Und das war genau sein Ding, denn ein Bürojob zwischen all den Sesselpupsern und Schlipsträgern hinter ihren Monitoren hätte seinen Tod bedeutet – oder deren.

Der Polizist sah ihn verdutzt an.

»Walter Pulaski, Kripo Leipzig«, sagte er schließlich und zeigte seinen Dienstausweis gerade mal so lange her, dass man genau nichts erkennen konnte. Das Herzeigen war Vorschrift, und daran hielt er sich. Der Rest war ihm piepegal.

»Wir …«

»Interessiert mich nicht«, knurrte Pulaski. »Schalten Sie das Blaulicht aus. Muss nicht jeder wissen, dass es hier unten was zu sehen gibt. Danach sperren Sie den Abgang von der Straße zur Brücke. Hier kann jeder rumlaufen. Auch den Uferstreifen, mindestens fünfzig Meter in beide Richtungen, und dann …« Er verstummte. War das zu fassen? »Was machen die Leute auf dem Boot?«

Unter dem ersten Brückengewölbe lag ein vier Meter langes weißes Sportboot. Und das bei dem Tiefgang, den das Elsterbecken hatte. Gut, ihm konnte es egal sein, wenn der Kiel über den Schotterboden schlitterte. Am Heck standen ein älterer Mann und eine Frau, die sich neugierig über die Reling beugten. Keine Spur von Trauer in ihren Gesichtern. Also kannten sie die Tote nicht.

»Denen gehört das Boot.«

»Ja und?«, rief Pulaski. »Schnappen Sie sich die beiden, dann nehmen Sie deren Personaldaten auf und schaffen sie vom Boot runter!«

»Wohin?«

»Wohin wohl? Zu Burger King? Nein, in den Vernehmungsraum in der Dimitroffstraße. Die sollen dort auf mich warten. Ich komme in einer Stunde hin. In der Zwischenzeit trampelt hier niemand mehr herum. Ist das klar? Und schicken Sie ein Bestattungsunternehmen her.«

Ein anderer Polizist erschien auf der Betonbrüstung und sah Pulaski zu, wie er durch die Büsche unter das Gewölbe der Brücke kletterte. »Morgen Pulaski, wieder mal gut gelaunt?«

»Immer, wenn ich euch sehe.« Pulaski stellte seinen Koffer neben den Betonsockel des Brückenpfeilers. Daneben schäumte das Wasser. Unter der Brücke hing der Duft von Kloake. Gurrende Tauben saßen auf dem Baustahlgitter, das aus dem Beton ragte. Die Viecher hatten alles vollgeschissen.

Während die Polizisten das ältere Ehepaar von dem Boot brachten und zum Streifenwagen führten, fotografierte Pulaski das Heck des Bootes. Im etwa einen halben Meter tiefen Wasser hatten sich Äste, Baumstämme, Laub und Algen in der Schiffsschraube verfangen. Aus dem Wasser ragten zwei nackte Arme, ein Schulterblatt und der Kopf einer langhaarigen Frau, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Seitlich davon erkannte er eine Wade und eine weiße Ferse.

Scheiße!

Die Gliedmaßen waren so unnatürlich verrenkt, dass Pulaski zunächst dachte, es handelte sich um zwei Leichen. Doch es war nur eine.

»Junger Mann, sollte da nicht jemand von der Spurensicherung kommen?«, rief die ältere Frau und beugte sich noch einmal über die Brüstung, bevor der Beamte sie weiter zum Streifenwagen schieben konnte. »Und ein Gerichtsmediziner?«

Junger Mann! Pah!

»Ja, Sie haben recht«, rief Pulaski und blickte kurz hoch. »Am besten verständigen wir gleich den Bundespräsidenten und den Innenminister. Könnte ja sein, dass die nationale Sicherheit in Gefahr ist.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

Mein Gott, also manche Leute… Außerdem hieß es Rechtsmediziner. Meike war eine der besten, aber sie würde die Leiche frühestens auf dem Autopsietisch zu sehen bekommen. Bevor er aber jetzt einen Arzt zur Todesfeststellung herzitierte und eine Stunde lang wartete, würde er die Leiche selbst rausholen.

Pulaski schlüpfte aus Schuhen und Socken und krempelte sich die Hose bis über die Knie auf. Dann zog er sich Latexhandschuhe an und stieg ins kalte Wasser. Ihn fröstelte. Der Steinboden war glitschig und fühlte sich an, als wäre er mit einem Teppich voller Nacktschnecken überzogen. Zum Glück war Jasmin im Ausland. In der morgigen Zeitung hätte sie garantiert Fotos vom Tatort gesehen und ihn ausgequetscht, ob er die Leiche aus dem Fluss gezogen hatte.

Das Wasser schwappte Pulaski bis zu den Knien. Er rutschte aus und fing sich mit der Hand am Außenbordmotor ab. Verfluchte Kacke! Die Kante war scharf. Er hatte sich zwar nicht geschnitten, aber die Hose war bis zum Schritt nass. Und er hatte keine Decke im Wagen.

Als er endlich einen festen Stand fand – eine Hand auf dem Boot, die Füße auf den schmierigen Steinen unter Wasser –, konnte er sich nach vorn zur Leiche beugen. Er nahm die Kamera von der Brust und schoss ein paar Fotos. Dann zog er den Kopf der Leiche an den Haaren hoch. Er hatte schon so viele Wasserleichen gesehen, sodass ihn nichts mehr schockieren konnte. Der Anblick hier war sogar relativ harmlos. Er schätzte die junge Frau auf knapp zwanzig Jahre. Ihre Augen waren bereits von einem grauen Schleier überzogen, aber noch nicht von Fischen angeknabbert worden. Wahrscheinlich trieb sie noch nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser.

Pulaski krempelte sich die Hemdsärmel hoch und tastete den Körper der Frau ab. Die Schiffsschraube hatte sie nicht getötet. Ihre Haut war unversehrt. Vermutlich war sie ins Wasser gestürzt, ertrunken und von der Strömung zu dem Boot getrieben worden. Aber nackt?

Vielleicht handelte es sich trotzdem nur um einen Unfall, der sich rasch aufklären ließ. Eine Aktennotiz genügte, ein bisschen Bürokram, ein Gespräch mit den Hinterbliebenen – Fall abgeschlossen. Als Ermittler im Dauerdienst war er gewohnt, nichts weiter als ein gefälliger Handlanger zu sein, der als Erster zum Tatort kam, die Stelle sicherte, herausfand, ob überhaupt ein Verbrechen vorlag, Zeugen verhörte, Fingerabdrücke nahm und die Fakten so aufbereitete, dass die Beamten vom Landeskriminalamt sich nicht die Finger schmutzig machen mussten. Das war nun mal sein Job, und er hatte es so gewollt.

Um später von Meike einen Todeszeitpunkt zu erfahren, musste er die Wassertemperatur und die Temperatur der Leiche messen. Doch eines nach dem anderen. Zunächst einmal musste er die Tote aus dem Wasser kriegen.

»Soll ich Ihnen helfen?«, rief der Polizist von der Brüstung.

»Ja, machen Sie mir eine Kanne Kaffee und bringen Sie mir aus dem Boot ein Handtuch.«

»Aber ich …«

»Schwarz ohne Zucker!«

Pulaski befreite die Arme der Toten aus dem Geäst. Wahrscheinlich waren die Zweige mit der Leiche angespült worden und hatten sich in der Schraube verfangen. Pulaski bemerkte einen Bluterguss am Handrücken der Frau.

Suizid? Nein, Selbstmörder schneiden sich die Pulsadern auf.

Als er sie endlich herumgedreht hatte und mit der Hand unter dem Kinn an Land ziehen konnte, fiel ihr Kopf zur Seite. Auch an der Halsschlagader befand sich ein Bluterguss wie von einer Punktierung mit einer Nadel.

Also definitiv kein Selbstmord. Um ihre Taille hing ein durchgescheuertes Nylonseil. Außerdem schlenkerten die Beine der Frau seltsam im Wasser.

Als Pulaski endlich keuchend am Ufer saß und die Tote wie eine Gliederpuppe in den Armen hielt, kannte er den Grund. Ganz offensichtlich waren der Frau jede Menge Knochen im Leib gebrochen worden.

2

Statt Mittagessen zu gehen war Pulaski heimgefahren und hatte sich geduscht und umgezogen. Nun stand er mit einer Akte in der Hand im Fahrstuhl und war unterwegs in den Keller der Rechtsmedizin. Die Vernehmung des älteren Ehepaars hatte nur eine halbe Stunde gedauert. Die hatten sich mit ihrem Boot auf den Flüssen Leipzigs komplett verfahren. Eigentlich wollten sie über die Elster und die Kanäle durch die Au zum Cospudener See fahren. Wie verrückt konnte man sein? Der Diesel war ihnen ausgegangen, daher hatten sie einen Tag lang unter der Zeppelinbrücke geankert. Einfach so! Am nächsten Morgen hatten sie den Tank gefüllt, doch der Motor wollte nicht mehr anspringen. Und so hatten sie die Leiche im Geäst entdeckt und die Polizei verständigt.

Ein Streifenwagen hatte das Pärchen wieder zu seinem Boot gebracht, und Pulaski war zur Rechtsmedizin gefahren. Seine Erfahrung sagte ihm, dass die beiden Alten nichts mit dem Mord zu tun hatten und dass die Leiche einige Kilometer weiter flussaufwärts in die Elster geworfen worden war. Pulaski schätzte, dass das in der Nacht des Vortages geschehen war, doch Näheres konnte ihm bestimmt schon Meike verraten.

Außerdem wusste er bereits, um wen es sich bei der Toten handelte. Eine junge Frau aus Berlin. Knapp neunzehn Jahre alt. Er hatte sie aufgrund der Fingerabdrücke als eine gewisse Natalie Suková identifiziert, die wegen Drogenbesitzes vorbestraft gewesen war. Ursprünglich hatte sie in Tschechien gelebt und war vor fünf Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin gekommen. Mehr war nicht über sie bekannt.

Pulaskis Kollegen in Berlin hatten die Mutter des Mädchens ausfindig gemacht. Wie so oft, wollte sie es erst glauben, nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte. Also war die Mutter sofort hergefahren. Sie befand sich schon in der Rechtsmedizin. Pulaski kam das gelegen, da er die Frau gleich persönlich vernehmen konnte.

Pulaski trat aus der Kabine und ging zur Leichenhalle. Er klemmte sich die Akte unter den Arm und stieß die Tür auf. In dem Raum roch es beklemmend nach Krankenhaus; ein Geruch, den Pulaski seit dem Tod seiner Frau nicht mehr ertragen konnte.

Die unteren Etagen der Universitätsklinik Leipzig waren Meikes Reich. Sie zog soeben eine Lade aus dem verchromten Wandschrank. Eine Frau stand daneben, vermutlich Natalies Mutter. Eltern sahen immer wie das nackte Elend aus, sobald sie in der Leichenhalle ihr eigenes Kind identifizieren mussten. Er brauchte nur daran zu denken, wie es ihm ergangen wäre, wenn Meike das Laken zur Seite schlagen würde und er auf Jasmins blasses und lebloses Gesicht starren müsste.

Aber diese Frau sah anders aus. Sie wirkte nicht nur elend, sondern auch von Schuldgefühlen zerfressen.

»Verstehen Sie, was ich sage?«, rief Meike und deutete auf ihre Lippen. Anscheinend glaubte Meike, dass ihre Worte besser Gehör finden würden, wenn sie lauter sprach und jede Silbe extra betonte, wie beim Gespräch mit einer Begriffsstutzigen.

Die Frau nickte kaum merklich und strich sich die langen, pechschwarzen Haare zur Seite. Ihr Aussehen verwirrte Pulaski.

Meike sah zu ihm herüber. »Alles in Ordnung?«

»Sicher.« Pulaski kam näher und betrachtete die Frau erneut von der Seite.

So harte Gesichtszüge, war das Erste, was ihm dazu in den Sinn kam. Doch unter dieser Maske aus Granit lag eine Schönheit verborgen, die ihn an seine verstorbene Frau erinnerte. Bestimmt war Natalies Mutter einst äußerst attraktiv gewesen. Wie mies das Leben doch sein konnte. Er schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie war hochgewachsen und schlank, hatte lange Wimpern, dunkle Brauen, und ihre Augen funkelten so faszinierend wie eine unergründliche Wasseroberfläche.

Er ging zu der Frau und reichte ihr die Hand. Ihre Finger waren schlank, die Haut war rau und der Händedruck kräftig.

»Guten Tag, mein Name ist Pulaski, ich habe die Kollegen in Berlin verständigt.« Hätte er ein Wort Tschechisch gekonnt, hätte er es jetzt angebracht.

Sie musterte ihn mit emotionslosem Blick. »Mikaela.«

Mehr sagte sie nicht, nur Mikaela, mit einem osteuropäischen Akzent und in einem Tonfall, der ausdrückte, dass es nichts weiter dazu zu sagen gab.

»Okay.« Meike warf Pulaski einen Blick zu, der andeuten sollte, dass man dieser Frau noch keine Details darüber mitgeteilt hatte, was ihrer Tochter zugestoßen war.

Doch Pulaski war klar, dass Mikaela bereits ahnte, was passiert war. Er sah es in ihren Augen.

Meike zog das Laken zurück. Die Laboranten der Rechtsmedizin hatten die Leiche bereits gewaschen, und sie stank nicht mehr nach Algen und Abwasser. Ein weißes Gesicht mit geschlossenen Augen und erschlafften Gesichtszügen lag vor ihnen im Licht der Deckenlampe.

Mikaela blickte immer noch emotionslos hinunter. Normalerweise folgten jetzt Schreie, Gewimmer, tiefe Seufzer oder ein Nervenzusammenbruch. Doch nichts dergleichen. Mikaela starrte auf das leblose Gesicht der jungen Frau, als wollte sie … nein, als müsste sie sich diesen Anblick für immer einprägen.

Meike warf Pulaski einen verwirrten Blick zu. Du sagtest doch, das sei die Mutter! Pulaski war selbst einen Moment unsicher. Dann streckte Mikaela die Hand aus und berührte die Tote zärtlich an der Wange, als wollte sie die junge Frau aufwecken. Wach auf, Kleines, du musst gleich zur Schule.

Danach zog Mikaela das Laken vollends herunter. Das Deckenlicht spiegelte sich im weißen Fleisch der Toten. An den Knien, der Hüfte und den Zehenknöcheln zeichneten sich unter der Haut graue Stellen ab, die einst blau gewesen waren und von Knochenbrüchen stammten. Natalie war nicht gestürzt oder von einem Auto überfahren worden. Jemand hatte ihr vorsätzlich die Knochen im Leib gebrochen … Stück für Stück … kurz vor ihrem Tod.

Pulaski sah, dass Mikaela die Tote mit einem Blick betrachtete, wie nur eine Mutter es konnte. Bestimmt waren ihr die Einstiche in Natalies Handrücken und Armbeuge nicht entgangen. Das Mädchen war süchtig gewesen. Wonach, würde die Blutuntersuchung noch ergeben.

»Es tut mir leid«, krächzte Pulaski. Er griff in die Tasche nach seinem Inhalator und zog kräftig daran.

Meike räusperte sich. »Ihr wurden …«

Pulaski schüttelte unmerklich den Kopf. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Knochenbrüche zu reden. Auch nicht darüber, dass Meike herausgefunden hatte, dass der Mörder Natalies Finger und Zehen mit Klebstoff zusammengeklebt hatte. Warum? Noch hatte Pulaski keine Ahnung.

»Sie starb an drei Punktierungen«, korrigierte die Rechtsmedizinerin sich und deutete zu Leiste, Handrücken und Halsschlagader, wo sich jeweils ein großer Bluterguss befand. »Sie ist verblutet.«

Ihr Mörder hatte sie ausbluten lassen traf wohl eher zu.

Die Rechtsmedizinerin bedeckte die Tote wieder mit dem Laken, sodass nur noch ihr Kopf zu sehen war.

Mikaela sah hoch. »Ich will alles wissen.«

Die Angehörigen wollten immer alles wissen … zuerst, aber danach wären sie froh gewesen, wenn sie nie danach gefragt hätten. Pulaski nickte schließlich.

»Ihre Tochter hat Drogen genommen. Ihre Leiche lag etwa dreißig Stunden lang im Wasser des Elsterbeckens«, erklärte Meike. »Sie ist mit einem Nylonseil an einem, wie wir vermuten, schweren Gegenstand befestigt gewesen. Durch die Unterwasserströmung muss sich das Seil wahrscheinlich an einer scharfen Metallkante durchgescheuert haben. Andernfalls hätten wir sie nicht so rasch gefunden. Mehr können wir im Moment nicht sagen.«

»Jedenfalls war es kein Selbstmord«, ergänzte Pulaski. Er hatte so viele Fragen an die Frau, doch die hatten Zeit, bis sie bei einer Tasse Kaffee in seinem Büro saßen.

»Sie müssen in ein paar Tagen noch einmal herkommen.« Meike betonte jede Silbe. Anscheinend hatte sie noch nicht begriffen, dass Mikaela jedes Wort verstand. Nur weil sie wortkarg war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie dumm war.

Mikaelas Stirn legte sich in Falten. »Ich habe kein Geld für eine weitere Zugfahrt von Berlin hierher.« Sie sprach ein schönes Deutsch, wenn auch mit einem harten tschechischen Akzent.

»Die einfache Fahrt mit dem ICE kostet siebenundvierzig Euro. Sie werden doch wohl …«

»Mein Mann ist arbeitslos, und ich arbeite als Putzfrau.«

»Tja, was soll ich sagen?« Meike hob verständnislos die Schultern. »Sie müssen kommen. Die Kripo hat sicher noch ein paar Fragen. Außerdem müssen Sie sich um die Überführung der Leiche kümmern, nachdem wir sie freigegeben haben, oder soll sie hier in Leipzig beerdigt werden? Sie …«

Pulaski unterbrach sie. »Ich schlage vor, wir besprechen das in meinem Büro. Ich habe sowieso noch einige Fragen an Sie. Es wird nur eine Stunde dauern. Anschließend finden wir sicher eine Lösung, wie das Kommissariat die Reisekosten übernimmt. Einverstanden?«

Mikaela nickte.

Die Frau war ihm sympathisch. »Haben Sie Hunger?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie etwas trinken?«

Sie schüttelte erneut den Kopf.

Pulaski erntete einen verständnislosen Blick von Meike. Zum einen verbrachte sie so viel Zeit mit Toten, dass sie im Lauf der Jahre gegenüber den Gefühlen der Lebenden abgestumpft war. Zum anderen hatte sie ihn nach Dienstschluss schon öfter angerufen. Soviel er wusste, lebte Meike allein.

Hallo, mein Held. Noch Lust auf ein Bier in einer Kneipe?

Vom Universitätsklinikum zur Dimitroffstraße waren es gerade mal fünfzehn Minuten zu Fuß, doch er hatte immer abgelehnt. Erstens trank er kein Bier, sondern nur Kaffee – und das literweise, auch wenn sein Körper schon völlig übersäuert war. Und zweitens war er nach Karins Tod jahrelang allein zu Hause gehockt und hatte ihre Fotos angestarrt, die er vor seiner Tochter in der Schublade versteckt hielt. Mittlerweile war er über Karins Tod hinweg – aber Meike war einfach nicht die Richtige für ihn. Umso befremdlicher musste es jetzt für sie sein, wenn er zu anderen Frauen nett war.

»Okay, dann bringe ich Sie jetzt raus«, sagte er.

Mikaela blieb stehen. »Ich brauche noch etwas … bitte.«

Pulaski drehte sich zu ihr um. »Und zwar?«

»Ein Foto von Natalie.«

Meike und er warfen sich einen Blick zu. »Wir haben keinen Ausweis von Ihrer Tochter gefunden. Wir wissen noch nicht mal, wie und wann sie von Berlin hergekommen ist.«

»Sie sind vor einem Jahr nach Leipzig gefahren«, sagte Mikaela.

»Sie?«, wiederholte Pulaski.

»Natalie und ihre jüngere Schwester Dana. Sie ist sechzehn.«

»Sie haben zwei Töchter?« Pulaski betrachtete sie erstaunt. »Wissen Sie, wo die beiden gewohnt haben?«

Mikaela schüttelte den Kopf. Jetzt sah sie ihm zum ersten Mal in die Augen. »Haben Sie Dana gefunden?«

»Nein.« Der Fall schien komplizierter zu sein, als er anfangs gedacht hatte.

»Können Sie mir ein Foto von Natalie geben?«, bat sie erneut.

Pulaski schlug die Mappe der Rechtsmedizinerin auf und fand ein Foto von Natalies Gesicht. Ihre Haare waren noch verfilzt und das Licht der Autopsielampe spiegelte sich in den trüben Pupillen. Zögernd reichte er Mikaela die Aufnahme.

»Danke.« Sie warf einen kurzen Blick darauf, faltete das Bild zusammen und steckte es in ihre Tasche.

3

Während der Zugfahrt zurück nach Berlin hatte Mikaela die ganze Zeit über das Foto angestarrt und gar nicht mitbekommen, wie die Bahnsteige und Wartehäuschen am Fenster vorbeirasten. Erst der Schaffner hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Doch kaum hatte sie die Fahrkarte hergezeigt, deren Kosten ihr tatsächlich die Kripo Leipzig erstattet hatte, war sie schon wieder in Natalies Foto vertieft gewesen.

Die trüben Augen, die eingefallenen Wangen und der glasige, starre Blick, der ins ferne Nirgendwo gerichtet war. Die Haut im blauen Licht der Autopsielampe, die Lippen in einem noch tieferen Blauton, als wären sie tiefgefroren. Warum ist dir das nur zugestoßen? Natalies dichte schwarze Haare lagen wie vom Wind zerzauste Strähnen um ihr Gesicht. Mikaela würde sie nie wieder bürsten können. Nie wieder streicheln. Nie wieder an ihnen riechen. Und das Schlimmste von allem: Sie würde ihre Tochter nie wieder in die Arme nehmen können.

Hätte sie doch bloß ihren Mann nicht dazu überredet, den Job in Deutschland anzunehmen und gemeinsam mit ihren Töchtern nach Berlin zu übersiedeln. Sein Unfall wäre ihr erspart geblieben. Ebenso ihre zweite Ehe. Sie hätte sich nie darauf einlassen dürfen, stattdessen hätte sie ihre Kinder nehmen und zurück in die Tschechische Republik gehen sollen. Dort hätte sie schlimmstenfalls genauso als Putzfrau arbeiten können wie in Berlin.

Um 17.05 Uhr kam sie am Berliner Hauptbahnhof an und fuhr gleich mit dem Bus weiter nach Grunewald, in jene Villengegend, in der jede Menge Diplomaten, Prominente und Millionäre lebten. Es begann zu dunkeln, die Straßenbeleuchtung ging an, und die Lichter der Schaufenster und Ampeln zogen an Mikaela vorüber. Sie fröstelte. Je länger sie fuhr, desto mehr Leute stiegen aus, bis nur noch eine Handvoll Personen im Bus saß. Die Leute, die hier wohnten, fuhren nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie eine SMS an Timo.

Bin erst jetzt wieder zurück– fahre noch zu den Hainbrechts. Komme anschließend heim. Hab dich lieb.

Der letzte Satz war gelogen. Sie liebte Timo schon lange nicht mehr. Seit er ihre Töchter geschlagen hatte und die beiden von zu Hause ausgerissen waren. Aber sie brauchte jetzt Verständnis und ein wenig Zuneigung. Andernfalls würde sie durchdrehen. Vielleicht würde sich Timo wenigstens heute Abend für sie Zeit nehmen, nur um mit ihr zu reden oder ihr einfach zuzuhören und sie weinen zu lassen. Mehr wollte sie gar nicht.

Der Bus brachte sie in die Pücklerstraße. Nicht weit von der Haltestelle entfernt lag die Villa der Hainbrechts. Zweistöckig, mit Balkon, Veranda und kleinem Vorgarten. Der Mercedes des Hausherrn parkte hinter dem schmiedeeisernen Tor in der Zufahrt, wo er wie ein dunkles Ungetüm wirkte. Nur im Arbeitszimmer von Herrn Hainbrecht brannte eine Schreibtischlampe, in den restlichen Fenstern spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen.

Eigentlich hätte Mikaela seit heute Morgen das gesamte Haus putzen sollen, doch der Besuch der Berliner Kripo war ihr dazwischengekommen. Zuerst hatte sie gedacht, die Beamten wollten den Hausherren sprechen, doch stattdessen wollten sie zu ihr. In Leipzig wurde die Leiche Ihrer Tochter gefunden. Die Kollegen haben ein paar Fragen. Falls möglich sollten Sie nach Leipzig fahren. Sie hatte im Foyer der Hainbrechts eine handschriftliche Notiz hinterlassen und war zum Bahnhof gegangen. Zugfahrt nach Sachsen, Besuch in der Rechtsmedizin, Befragung durch diesen Pulaski.Danach ging das Leben wie gewohnt weiter – zumindest für alle anderen.

Bevor die Hausherrin abends heimkommen würde, musste Mikaela zumindest das Geschirr in der Küche weggeräumt und die Betten im Schlafzimmer neu bezogen haben. Do prdele!, fluchte sie im Geist. Ja, Scheiße, und den Wäschetrockner musste sie auch noch ausräumen. Wieder dachte sie an Natalie. Wie oft hatte sie die Kleider ihres kleinen Mädchens gewaschen und gebügelt? Und wie rasch sie groß geworden war!

Tränen sammelten sich in ihren Augen, während sie das Haus betrat und sich im Raum für die Bediensteten umzog, als wäre nichts gewesen. Sie war nun mal pflichtbewusst, und die Arbeit würde sie ablenken. Im Zug hatte sie ohnehin stundenlang grübeln können. Jetzt würde Mikaela kein Wort darüber verlieren. Ihre Arbeitgeber hatten noch nie Verständnis für ihre persönlichen Probleme aufgebracht, und sie durfte diesen Job nicht verlieren. Wie in Trance erledigte sie die Arbeit in der Küche. Ihre Gedanken waren ganz woanders.

Nachdem sie mit der Küche fertig war, lief sie in das obere Stockwerk zu den Schlafräumen. Verdammt, die Wäsche lag immer noch zerknüllt im Keller im Trockner. Jetzt war Mikaela aber schon oben, sie würde nachher in die Waschküche gehen. Sie zog rasch das Leintuch von der Matratze. Natalie, wo hast du im letzten Jahr geschlafen? Wohl kaum in einem warmen, weichen Bett wie diesem. Ist Dana die ganze Zeit bei dir gewesen? Aber wo ist sie jetzt? An euer Handy geht sie nicht ran.

Plötzlich stand Hainbrecht neben ihr, und Mikaela hätte fast einen Schrei ausgestoßen. Ihre Hände zitterten. Sie ließ das Laken auf das Bett fallen. Sie hatte gar nicht gehört, wie sich die Tür hinter ihr geöffnet hatte. Ihre Nerven! Sie war komplett am Ende.

Die schweren Brokatvorhänge waren zugezogen. Draußen herrschte bereits finstere Nacht, und auf dem Nachttisch brannte nur eine Lampe mit orangefarbenen Quasten.

»Mikaela, nicht doch.« Hainbrecht nahm ihre Hände.

Seine Haut war weich und warm. Trotzdem hasste sie es, wenn er sie berührte.

Er war über sechzig Jahre alt und bei der Kripo wie einst Timo. Sie kannten sich. Timo hatte ihr diesen Job vermittelt. Aber Hainbrecht war kein gewöhnlicher Beamter, sondern irgendein hohes Tier. Doch hatte das keinerlei Auswirkungen auf sein völlig nichtssagendes Aussehen. Er hatte eine trockene Stimme, spröde Lippen, fahle Haut und einen völlig emotionslosen Gesichtsausdruck. Wie immer, wenn er abends zu Hause arbeitete, trug er Anzug, Lederschuhe und Krawatte.

»Nicht doch, beruhige dich.« Er strich ihr wie zufällig über den Handrücken.

Sie zuckte zurück.

»Du weinst ja.« Er wischte ihr eine Träne weg. »Habe ich dich so erschreckt, mein Kind?«

Mein Kind. Sie kannte diesen Tonfall. Hasste ihn und hoffte inständig, dass seine Frau bald heimkommen würde. Sobald sie im Haus war, ließ Hainbrecht sie in Ruhe.

»Es tut mir leid, dass ich die Arbeit liegen gelassen habe, aber mir ist etwas dazwischengekommen. Ich musste nach Leipzig.«

Er lächelte. »Du hättest eine Nachricht hinterlassen sollen.«

Sie schluckte. »Das habe ich. Im Foyer …«

Er kam näher. Eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Der Rest seines schütteren Haars war quer über den Kopf gekämmt. Sie spürte seinen Atem. Er hatte erst kürzlich mit Mundwasser gegurgelt, aber der alte, faulige Geruch aus seinem Mund war immer noch da. Und der würde auch nie mehr weggehen.

»Meinst du nicht, dass du mir eine Entschuldigung für dein Fernbleiben schuldest?« Er strich ihr das Haar aus dem Nacken. »Sechs, sieben Stunden zu spät kommen … Die Arbeit bleibt liegen … während ich mir Sorgen um dich gemacht habe.«

Sein Kopf kam näher, und er küsste sie in den Nacken.

»Nein, bitte nicht!« Sie presste die Augen zusammen, spürte seine trockenen Lippen auf ihrer Haut und roch seinen Schweiß unter dem Anzug. »Bitte nicht.«

»Was denn?«, hauchte er. »Ich tu dir doch nichts.« Gleichzeitig legte er seine Hand auf ihre Hüften und versuchte sie an sich zu pressen.

Sie schrie auf und riss gleichzeitig den Arm hoch. Vielleicht hätte sie ihn sogar geschlagen, doch er packte ihr Handgelenk und drückte fest zu.

»Ich sagte dir doch«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »dass ich dir nichts tue. Warum zierst du dich so?«

»Lassen Sie mich los«, schluchzte sie.

»Ich wollte doch nur ein bisschen nett zu dir sein, aber du verstehst das gleich falsch.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Frau Hainbrecht stand im Türrahmen. Sie hatte noch den Mantel an. Die kleine Frau führte ein strenges Regiment im Haus, und genauso sah ihr Gesichtsausdruck jetzt aus.

»Was zur Hölle ist hier los? Die Zimmer sind nicht gemacht, im Trockner stapelt sich die Wäsche … Und was, bitte schön, macht ihr beide da?«

Sie kam ins Zimmer und blickte auf das zerwühlte Bett.

Hainbrecht hielt immer noch Mikaelas Hand umklammert.

»Es tut mir leid«, begann Mikaela. »Ich musste dringend …«

»Ja, sie brauchte Geld!«, rief Hainbrecht. »Und ich habe das falsche Luder erwischt, als es deine Schmuckschatulle durchwühlt hat.« Sein Kopf war hochrot, und seine Halsschlagadern quollen dunkelrot wie knorrige Äste unter der Haut hervor.

»Mein Schmuck?«, wiederholte die Hausherrin.

Mikaela war für einige Sekunden mit der Situation überfordert. Geld? Welche Schmuckschatulle? Sie blickte zu dem Nachtschrank ihrer Arbeitgeberin. Dann verstand sie.

In dem Moment hatte Hainbrecht auch schon mit der freien Hand die Schatulle geöffnet und eine Brosche herausgenommen. »Die hatte sie in der Hand, als ich zufällig das Schlafzimmer betrat.«

»Das ist …« Mikaela schnappte nach Luft.

»Ist das wahr?«, fragte die Hausherrin.

»Nein, natürlich nicht.«

»Und wie erklären Sie sich dann, dass mein Mann Sie an der Hand festhält?«

»Ich … ich …«, presste Mikaela hervor, brachte aber keinen weiteren Ton hervor.

Hainbrecht ließ endlich ihren Arm los. »Ich habe dir gleich gesagt, dass wir keine aus dem Ostblock nehmen sollen. Die sind unzuverlässig, kommen zu spät oder gar nicht, und dann beklauen sie dich auch noch.«

Mikaela rieb sich das Handgelenk. »Ich habe nichts gestohlen.« Ihre Gedanken überschlugen sich. Hainbrecht hatte es schon so oft bei ihr versucht, doch diesmal war er zu weit gegangen. Seine Frau musste endlich davon erfahren.

»Ihr Mann wollte mich …« Doch mehr brachte sie nicht über die Lippen. Es hatte auch Momente gegeben, in denen er nett und verständnisvoll zu ihr gewesen war.

»Was? Ich?«, rief er entrüstet und warf die Arme in die Luft. »Als hätte ich es notwendig, etwas mit einer Ostblockschlampe anzufangen.« Er blickte zu seiner Frau. »Marga, du weißt doch, dass ich …«

»Sei still!«, unterbrach diese ihren Mann. »Mikaela, es reicht. Es ist besser, Sie packen jetzt Ihre Sachen und gehen.«

»Aber der Haushalt?«

»Ich hole morgen eine andere Putzfrau.«

»Aber ich …«

»Es ist gut!« Frau Hainbrecht riss die Augen auf. »Danke, aber Sie gehen jetzt. Ich möchte Sie nicht länger hier sehen.«

Mit gesenktem Kopf verließ Mikaela das Schlafzimmer.

Wenn Timo erfuhr, dass sie gekündigt worden war, würde er ihr den Kopf abreißen.

4

»Timo, wir müssen miteinander reden.« Mikaela stand vor den Autoabstellplätzen des Gemeindebaus, in dem sie wohnten. Zögernd trat sie in das offene Garagentor.

Eine nackte Glühlampe hing von der Decke. Die Garage war an sich schon eng und so mit Werkzeug, Kanistern und alten Schrottteilen vollgestopft, dass nur Platz für eine Person war. Timo trug einen alten Polizeioverall, den er für die Arbeit benutzte. Er beugte sich über sein Motorrad und montierte gerade das Nummernschild ab. Seine großen Hände waren ölverschmiert.

Obwohl er vor zwei Jahren suspendiert worden war und seither keinen Job mehr gefunden hatte, achtete er auf sich. Er war immer noch schlank und sah gut aus – sofern er nicht in der Garage arbeitete.

Timo schraubte noch eine Weile mit einem Schlüssel am Motor herum, ehe er sich umdrehte. »Worüber?« Er blickte auf die Armbanduhr. »Es ist spät.«

»Ich weiß, tut mir leid. Ich komme gerade von den Hainbrechts.«

»Ich habe deine Nachricht gelesen. Ich habe mir selbst Abendbrot gemacht.«

»Tut mir leid.«

»Schon gut, was gibt es so Dringendes?«

»Frau Hainbrecht hat mir gekündigt.«

Er legte den Schraubenschlüssel beiseite. Auf seinem Gesicht zeichnete sich keine Emotion ab. Theoretisch hätte er auch denken können, Kein Problem, Mikki, der Job war ohnehin nicht gut genug für dich, mach dir keine Sorgen, wir finden etwas anderes oder in der Art. Aber die Wahrscheinlichkeit war gering. Timo war nicht gerade der verständnisvolle Typ. Nicht wenn es um Geld ging.

Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und schmierte sich dabei Öl auf den Spitzbart an seinem Kinn. »Wie war das?«

»Sie haben mich rausgeworfen.«

Er kam auf sie zu und legte den Kopf schief. »Du hast den Job verloren? Warum zum Teufel?«

»Nicht so laut«, zischte sie.

»Ach was, scheiß auf die Nachbarn, die können mich kreuzweise!«, brüllte er. »Wie kann man so blöd sein, diesen Job zu verlieren? Du musstest doch nur putzen. Mein Gott, Mikki, das kannst du doch! Wäsche waschen, bügeln und ein bisschen schrubben. Das kann doch nicht so schwer sein – zumindest einfacher, als in einem Pflegeheim zu arbeiten.«

»Hainbrecht hat behauptet, ich hätte etwas gestohlen.«

Timo wurde leiser. Es war gefährlich, wenn er leise sprach. »Und hast du?«

»Natürlich nicht.«

Aber eigentlich wollte er mich begrapschen. Aber davon würde sie Timo nichts erzählen. Sie wollte ihn nicht auf die absurde Idee bringen, dass sie Hainbrecht absichtlich schöne Augen gemacht und mehr in dem Haus getan hätte, als bloß zu putzen. Zuzutrauen wäre es ihm. Er war schon immer eifersüchtig gewesen – selbst auf Männer wie Hainbrecht, die einen Kopf kleiner und zwanzig Jahre älter waren als er.

»Wie kann man nur so blöd sein, diesen Job zu verkacken? Die Hainbrechts leben in Grunewald! Weißt du, was das bedeutet? In dieser Gegend bekommst du nie wieder die Chance zu arbeiten.«

»Timo, ich bewerbe mich gleich morgen auf eine andere Stelle.«

»Viel Erfolg«, spie er aus. »Und das stellst du dir so einfach vor?«

»In der Zwischenzeit bekomme ich Arbeitslosengeld und …«

»Gar nichts bekommst du!«, rief er. Dann wurde er leiser. »Du warst dort nicht angemeldet.«

»Was? Ich …« Sie schnappte nach Luft. »Du hast mir die Arbeit doch verschafft …« Und dann dämmerte es ihr plötzlich. Sie arbeitete schwarz. Deshalb erhielt Timo ihren Lohn bar auf die Hand.

»Ja, jetzt weißt du es … Wir sind am Arsch.«

»Timo, sprich nicht so!«

»Am Arsch!«, brüllte er. »Wir sind mit der Miete drei Monate im Rückstand, und im Frühjahr braucht die Kiste einen neuen Vergaser.«

»Du hast gesagt, ich bin dort angemeldet.«

»Dann habe ich eben gelogen.«

»Du hast versprochen, nie mehr zu lügen!«

»Dann habe ich da eben auch gelogen.«

»Aber du …«

»Halt den …!« Er holte mit der Hand aus, bremste sich aber rechtzeitig.

Mikaela zuckte nicht zurück, sondern blickte ihm kalt in die Augen. Vor einem Jahr, als ihre Mädchen von zu Hause ausgerissen waren, hatte er versprochen, sie nie wieder zu schlagen. Bisher hatte er sich daran gehalten – aber sie hatte sich geschworen, ihn zu verlassen, falls er es noch einmal wagen sollte, sie anzurühren.

In diesem Moment erinnerte sie das Funkeln in seinen Augen an den Blick ihres Vaters. In Timo steckte der gleiche Jähzorn wie in ihrem alten Herrn, der ihre Mutter oft grün und blau geprügelt hatte. Die beiden Männer waren sich in vielerlei Hinsicht ähnlich – auch bei den guten Eigenschaften. Vielleicht war das der Grund, warum sich Mikaela anfangs zu Timo hingezogen gefühlt hatte. Damals, als er noch völlig anders gewesen war.

Timo hielt noch immer die Hand erhoben. Aber er schlug nicht zu. Noch hatte er sich unter Kontrolle. Die Frage lautete bloß: Wie lange noch?

»Mir fröstelt, ich gehe rauf«, sagte sie und wandte sich ab.

»Es heißt, mich fröstelt«, korrigierte er sie.

»Ja.«

»Und räum den Saustall in der Küche auf!«, rief er ihr nach.

Kommentarlos betrat sie das Gebäude und ging durchs Treppenhaus in ihre Wohnung. Der Geruch von gebratenen Eiern und verbranntem Speck schlug ihr entgegen. Das Geschirr von Timos Abendbrot stapelte sich in der Spüle. Er hatte sich nicht besonders bemüht, die Küche sauber zu halten.

Sie schlüpfte aus dem Mantel, setzte sich auf die Bank und starrte im düsteren Licht der Dunstabzugshaube auf Natalies Foto. Ihr Gehirn war so taub, dass sie an nichts denken konnte. Am liebsten hätte sie geweint, wie so oft in den letzten eineinhalb Jahren, doch ihr Körper fühlte sich an, als hätte sie alle Tränen verbraucht.

Die ins Schloss krachende Haustür im Erdgeschoss ließ sie aufblicken. Schwere Schritte polterten durch das Treppenhaus. Der Schlüssel klimperte im Schloss, und Timo betrat ihre kleine Dreizimmerwohnung. Vor einem Jahr hatte er in Natalies und Danas Zimmer ein Büro eingerichtet, in dem zwei Computer standen und er Werkzeug und Ersatzteile in Schränken lagerte. Vor seiner Polizeikarriere war er KFZ-Mechaniker gewesen – und nun arbeitete er hin und wieder schwarz.

Er ging ins Bad, wusch sich die Hände und kam anschließend in die Küche, wo er sich aus dem Kühlschrank ein Glas Milch eingoss. Nach einem kurzen Blick in die volle Spüle setzte er sich zu ihr an den Tisch, nahm ein Motorsportmagazin von der Fensterbank und blätterte darin. Ein Abo, das sie ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.

»Du fragst mich gar nicht, wie es war«, sagte sie nach einer Weile.

»Bei Hainbrecht?«

»Nein, in Leipzig.«

»Und wie war es?«

»Die Leiche, die sie gefunden haben, ist tatsächlich meine Tochter.«

Er verzog nur kurz den Mund und blätterte weiter.

»Sie ist tot!«, sagte sie.

Er blickte kurz auf. »Ja, ich hab es gehört! Scheint dich aber nicht sehr zu berühren.«

Ihr Gaumen und ihre Kehle wurden trocken. »Dich auch nicht.«

»Ist ja auch nicht meine Tochter.«

Sie sprang auf. »Aber wenn du die beiden nicht geschlagen hättest, wären sie nicht abgehauen. Natalie hat Drogen genommen. Keine Ahnung, woher sie die hatte. Und jemand hat sie umgebracht und in den Fluss geworfen.«

»Ich habe dir schon immer gesagt, dass aus der nichts wird, worauf du stolz sein kannst«, murmelte er. »Wahrscheinlich ist sie in Leipzig auf den Strich gegangen.«

»Nein, ist sie nicht! Nicht meine Natalie!« Sie hielt ihm Natalies Foto vors Gesicht. »Sieh sie dir an! Jemand hat sie ausbluten lassen.«

»Was soll das?«, fuhr er sie an. »Warum bringst du dieses Foto heim?«

»Du weißt, warum.« Plötzlich spürte sie Tränen in den Augen. »Du hast alle anderen Fotos von Natalie und Dana weggeworfen.«

»Damit du sie vergisst. Die Mädchen haben dir doch nur Kummer bereitet.«

»Kummer? Wie könnte ich meine Töchter je vergessen?«

Timo packte das Foto und riss es zweimal durch. Jeder Riss fuhr Mikaela wie ein Hieb durch die Eingeweide. Völlig starr sah sie zu, wie er die Teile vom Tisch fegte und sie langsam zu Boden glitten.

»Das ist die einzige Erinnerung an Natalie, die mir geblieben ist.« Sie bückte sich, hob das zerrissene Bild vom Boden auf und presste es an ihre Brust.

»Ja, heb sie nur gut auf und gewöhn dich daran. Dana wird auch bald so aussehen.«

»Du hättest mich nicht daran hindern dürfen, sie in Leipzig zu besuchen.«

»Du hattest einen Job, und wir brauchten das Geld.«

»Wenigstens einmal!«

»Wie hättest du sie denn finden wollen?«

»Du hast doch immer noch Kontakte zur Polizei.« Sie sank schluchzend auf dem Stuhl zusammen. »Du hättest mir nur erlauben müssen, nach ihnen zu suchen … mehr nicht.«

»Aha, jetzt bin ich auch noch schuld daran, dass sich die Schlampe mit Drogen vollgepumpt, mit ihrer kleinen Fotze Geld verdient und irgendein anderer Junkie sie in den Fluss geworfen hat?«

»Ja!« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Und rede nicht so über …«

Sie hatte Timos Hand nicht kommen sehen. Es ging so rasch, und sie spürte nur den Schmerz im Gesicht, der sie augenblicklich erstarren ließ.

5

Als Inge in ihren Bademantel schlüpfte, klingelte es zum zweiten Mal an der Wohnungstür. So spät kam doch niemand mehr zu Besuch. Sie schlich zur Tür und blickte durch den Spion.

Um Himmels willen!

Sofort nahm sie die Kette ab und sperrte die Tür auf. Mikaela stand im Flur.

»Komm rein, mein Liebes. Du zitterst ja am ganzen Leib.«

Mikaela trat ein, und Inge führte sie ins Wohnzimmer, wo sie auf der Couch Platz nahm.

Inge blieb stehen und ballte die knöchernen Finger zur Faust. »Hat dieser elende Lump es also wieder getan.«

Mikaela schwieg. Ihr geschwollenes Auge und die blutige Lippe genügten als Antwort.