Todesmal - Andreas Gruber - E-Book
SONDERANGEBOT

Todesmal E-Book

Andreas Gruber

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Thriller des Nr. 1 Spiegel Bestsellerautors.

Der neue Fall für Sneijder und Nemez.

Eine geheimnisvolle Nonne betritt das BKA-Gebäude in Wiesbaden und kündigt an, in den nächsten 7 Tagen 7 Morde zu begehen. Über alles Weitere will sie nur mit dem Profiler Maarten S. Sneijder sprechen. Doch der hat gerade gekündigt, und so befragt Sneijders Kollegin Sabine Nemez die Nonne. Aber die schweigt beharrlich – und der erste Mord passiert. Jetzt hat sie auch Sneijders Aufmerksamkeit. Und während die Nonne in U-Haft sitzt, werden Sneijder und Nemez Opfer eines raffinierten Plans, der gnadenlos ein Menschleben nach dem anderen fordert und dessen Ursprung in einer grausamen, dunklen Vergangenheit liegt …

Der fünfte Fall für Sneijder und Nemez.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 641

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Kriminalkommissarin Sabine Nemez traut ihren Augen nicht: Eine geheimnisvolle Frau in Nonnentracht betritt das Hauptgebäude des BKA in Wiesbaden. Ganz gezielt fragt sie nach Sabines Kollegen Maarten S. Sneijder. Doch der hat nach einer heftigen Diskussion mit dem neuen BKA-Chef gerade spontan gekündigt, und so ist es an Sabine, die Nonne zu verhören. Was sie erfährt, lässt ihr den Atem stocken: Die eigentlich harmlos wirkende Frau kündigt an, in den nächsten 7 Tagen 7 Morde zu begehen – über Motiv und Mittel schweigt sie sich aus.

Vorsorglich wird die alte Dame festgesetzt, und im BKA bricht Hektik aus – vor allem, als Sabine tatsächlich kurz darauf den ersten Mord trotz aller Bemühungen nicht verhindern kann. Schnell wird klar, dass hinter der ganzen Sache ein äußerst raffinierter Plan steckt, der auch Sneijders Neugier weckt. Er kehrt ans BKA zurück, und zusammen mit Sabine lässt er sich auf das Spiel der Nonne ein. Noch ahnt er nicht, in welch dunkle Abgründe ihn seine neue Gegnerin dieses Mal führen wird …

Weitere Informationen zu Andreas Gruber sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Andreas Gruber

Todesmal

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe September 2019

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Metall-Effekt in Typo: FinePic®, München

Schlange: Flora Press/BIOSPHOTO/Matthijs Kuijpers

Struktur: GettyImages/Pinghung Chen / EyeEm

TH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20539-3V003

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

für

Traude und Franz,

Wolfgang, Uli, Sophie, Jakob und Teresa,

sowie

Martin, Catharina, Felix und Benjamin

»Ein geborener Feind ist schlimmer als ein gewordener.«

– SPRICHWORT –

PROLOG

»Hi’fe!«, rief der Mann durch den Knebel im Mund. In der alten Fabrikhalle war es trotz der momentan vorherrschenden Hitzewelle noch kühl in diesen Morgenstunden. Eine Gänsehaut überzog den Nacken und die Unterarme des Mannes.

Er balancierte mit den Zehenspitzen auf zwei übereinandergestellten leeren Metallfässern und versuchte, keinen Krampf in den Waden zu bekommen. In seinem Mund steckte ein nach Öl stinkendes Stoffknäuel, fixiert mit einem straff um seinen Kopf gebundenen Lederband. Seine Arme waren ausgestreckt über seinem Kopf gefesselt, die beiden Handschellen hingen jeweils an der Aufhängung eines Rohrs, das an der Decke verlief.

Warum zur Hölle tut man mir das an? Er war ein alter Mann, schon halb blind, dem die Gicht in den Knochen saß, bereits alle Zähne im Mund wackelten und die Hämorrhoiden im Hintern bluteten.

Warum quält man mich so?

Diese blöde Fotze!

Es war zweifellos eine Frau gewesen, die ihn so zugerichtet hatte. Vermutlich dieselbe, die ihn zu dieser stillgelegten Fabrik gelockt, niedergeschlagen und mit Chloroform betäubt hatte. Danach musste sie ihm diesen albernen Wollpullover über das Hemd gezogen, ihn auf die Fässer gehievt und unter das rote Kunststoffrohr gekettet haben.

Warum ausgerechnet einen alten verfilzten Pullover? In dieser Hitze? Die Alte war ja nicht ganz richtig im Kopf.

Mit einem ätzenden Geschmack im Mund war er wieder zu sich gekommen, als ihn sein eigenes Gewicht in die Handschellen gedrückt und ihm gefühlt beinahe die Handgelenke abgerissen hatte. In seiner Benommenheit hatte er gerade noch mitbekommen, wie die Frau ein Gerüst neben ihm wegrollte. Die Alte musste verdammt kräftig sein. Sonst hatte er niemanden gesehen.

Trotzdem versuchte er durch den Stofffetzen um Hilfe zu rufen. Aber der Knebel saß so tief in seinem Mund, dass er alles wieder hinunterschlucken musste, was er heraufwürgte. Das kannst du vergessen! Seine Schreie klangen erstickt und schwach. Hier hört dich niemand.

Die Fenster waren mit dunklen, mittlerweile verblassten Graffiti besprayt, sodass nur wenig Tageslicht in die Halle fiel. Was er erkennen konnte, waren eine Reihe Metallfässer, ein alter Gabelstapler, Holzpaletten und einige Bottiche. Und überall im Raum verliefen dicke und dünne Rohrleitungen mit zahlreichen Knicken.

Er selbst hing in der Mitte der Halle, wo der Boden sich zu einer Senke vertiefte – früher wohl eine Art Abfluss. Jetzt lagen hier reichlich Staub und Dreck. Am äußeren Rand der Vertiefung waren noch die gelben Markierungen für die Staplerwege zu erkennen, ebenso frische Fuß- und Schleifspuren. Seine Schleifspuren!

»Hi’fe!«, versuchte er wieder zu schreien.

»Geben Sie sich keine Mühe.«

Er verstummte. Sein Herz raste, und er lauschte. Verdammt, kannte er die Stimme dieser Frau nicht von irgendwoher? Sanft und ein wenig brüchig? Die Alte war bestimmt schon Mitte sechzig oder darüber. Eine alte Geliebte vielleicht, die sich für etwas rächen wollte?

Oder ging es um die Sache von damals?

Aber ich habe die Weiber doch nie angefasst!

Und wie hatte die Alte ihn hier allein hochbekommen?

»Wa’ ’oll da’?«, presste er hervor.

Seine Arme und Schultergelenke schmerzten. Er sah nach oben zu dem Eisengestänge, an dem die Handschellen hingen. Warum zum Teufel hat die mich genau hier aufgehängt? Beinahe wäre er gekippt und von den Fässern gestürzt. Dann hätte er wie eine Rinderhälfte an einem Haken gehangen.

Er versuchte sich zu beruhigen und starrte wieder nach oben. Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass das armdicke Kunststoffrohr über seinem Kopf einen Knick nach unten machte. Direkt über ihm befand sich die Öffnung.

Langsam kam die Panik. Das hier war nicht bloß ein übler Scherz.

Schritte näherten sich ihm von hinten, und obwohl er den Kopf drehte, konnte er nicht erkennen, wer dort stand.

»Es gibt nur einen, der dich retten kann«, sagte die Frau mit sanfter Stimme.

»Re’’en?«, wiederholte er.

Die Schritte entfernten sich, das Klappern der Schuhe hallte durch den Raum.

»Ja, Maarten Sneijder«, sagte die Frau. »Und dafür hat er nicht mal dreizehn Stunden Zeit.«

Eine Eisentür öffnete sich quietschend, fiel schwer ins Schloss. Ein Riegel klackte zweimal.

In der Stille, die in der alten Fabrik herrschte, starrte er wieder nach oben. Die breite Öffnung des Rohrs sah aus wie der schwarze Schlund der Hölle.

Wer zum Teufel war Maarten Sneijder?

1. TAG

Wiesbaden

HESSEN

– FREITAG, 12. MAI –

1. Kapitel

Dirk van Nistelrooy stand am Fenster seines Büros und blickte durch die Jalousie in den Innenhof des Gebäudes. Bis jetzt war der Mai verdammt heiß und schwül gewesen. Nicht so heiß wie letztes Jahr, aber der Sommer war schon deutlich zu spüren und mit ihm die drohenden Gewitter.

Seit knapp einem Jahr war van Nistelrooy Präsident des Bundeskriminalamts in Wiesbaden und damit der direkte Nachfolger von Dietrich Hess. Somit hatte er eigentlich gerade tausend Dinge zu erledigen. Und ausgerechnet jetzt hatte Sneijder um ein Gespräch gebeten.

Van Nistelrooy blickte auf die Uhr. Fünf vor acht. Wie er Sneijder kannte, kam er sicherlich überpünktlich. Und war dann bestimmt auch gleich wieder weg. Der hatte es noch nie lange in seinem Büro ausgehalten, und garantiert würde das heute nicht anders sein, wenn es um die Bedingungen seiner Neueinstellung im BKA ging. Und die mussten endlich geklärt werden, denn Sneijder war bereits seit Monaten wieder im Dienst. Da hörte van Nistelrooy nebenan auch schon das Schlagen der Tür und forsche Schritte im Büro seiner Sekretärin.

Er wandte sich vom Fenster ab, nahm das Sakko von der Lehne seines Schreibtischsessels und schlüpfte hinein. Im nächsten Moment flog die Tür auf.

Sneijder, wie immer im Designeranzug, knurrte ein knappes »Goedemorgen«, warf die Tür hinter sich zu und kam zum Schreibtisch, vor dem er stehen blieb.

Van Nistelrooy blieb ebenfalls stehen. Ein Gespräch mit Sneijder im Sitzen war kaum möglich. Entweder sprach man mit ihm in Rekordzeit und unter Verzicht auf jeglichen Small Talk, oder es wurde so emotional, dass die Fetzen flogen. Einen Mittelweg gab es selten.

Van Nistelrooy lockerte den Knoten seiner Krawatte. »Morgen.«

»Hast du über meine Forderungen nachgedacht?«

»Ja, und meine Antwort lautet Nein!«

Sneijders Augenbrauen wuchsen zu einem Strich zusammen. Mein Gott, seine polierte Glatze und sein Gesicht schienen noch blasser als sonst und wirkten mit den schmalen schwarzen Koteletten, die von den Ohren zum Kinn hinunterführten, wie in einem besonders kontrastreichen dramatischen Schwarz-Weiß-Film. Der Mann brauchte dringend Urlaub und Erholung. Aber van Nistelrooy wusste, die einzige Möglichkeit Sneijder Farbe ins Gesicht zu zaubern, waren die Mörderjagd und der Unterricht junger unverbrauchter Kollegen an der BKA-Akademie. Bei jeder anderen Tätigkeit würde er jämmerlich zugrunde gehen.

»Nein?«, wiederholte Sneijder. Sein Augenlid zuckte.

»Ich habe deinen Vorschlag mit beiden Vizepräsidenten besprochen, wir sind uns einig.«

»Vervloekt noch mal, das war kein ›Vorschlag‹«, knurrte Sneijder.

Van Nistelrooy atmete tief durch. Er war kurz davor, Sneijder hochkant aus dem Büro zu werfen, doch aufgrund ihrer alten Freundschaft – wobei, Freundschaft konnte man das nicht nennen, sondern viel eher langjährigen Waffenstillstand – entschied er sich zunächst für den diplomatischen Weg. Außerdem waren viele altgediente und erfahrene Kollegen tot, vor einem knappen Jahr binnen weniger Tage ausradiert worden, und er brauchte Sneijder. Aber nicht um jeden Preis, und schon gar nicht zu Sneijders Bedingungen. Die Arbeit beim BKA war kein Wunschkonzert.

»Du hast dein altes Büro wieder«, sagte van Nistelrooy und zählte die nächsten Punkte an den Fingern auf. »Zwei Räume. Deine Massageliege steht auch wieder drin, und deine Masseurin – wie heißt sie noch gleich, Akiko? – darf auch wiederkommen. Von mir aus montier den Rauchmelder ab und rauch dein selbst gedrehtes Marihuanazeug, ohne das du offenbar nicht funktionierst, wirf alle Topfpflanzen aus dem Büro, wenn sie dir den Sauerstoff zum Denken nehmen, und trink so viel Vanilletee, dass die ganze Etage wie eine tropische Insel riecht, aber damit ist meine Toleranz zu Ende.«

»Scheiß auf die Massageliege und den Tee!«, fluchte Sneijder. »Darum geht es doch gar nicht.«

»Worum dann?«

»Wir brauchen ein Team, das …«

»Seit wann arbeitest du im Team?«

»Ich arbeite nicht im Team, ich brauche ein Team!«

»Jetzt auf einmal! Und wem sollen diese Leute unterstellt sein? Der BKA-Führung, so wie alle anderen fünftausend Mitarbeiter? Oder arbeiten die fortan im Sneijder-Universum?«

Sneijder musterte ihn, als wäre plötzlich er, der Präsident, der Kiffer.

»Maarten, du kannst dich nicht einfach über alle bestehenden Regeln hinwegsetzen!«, fuhr van Nistelrooy fort.

»Verdomme!« Sneijder stützte sich mit den Händen am Schreibtisch auf und beugte sich nach vorn. Seine Handrücken waren von seinen Akupunkturnadeln zerstochen, mit denen er sich bei einer Attacke die Clusterkopfschmerzen aus den Nervenpunkten zog. Offenbar waren diese Anfälle in letzter Zeit häufiger geworden. »Du schiebst mich in mein Büro ab, überhäufst mich täglich mit neuen bürokratischen Aufgaben und denkst, alles wäre fein?«

»So ist das nun mal. Die Vorschriften habe nicht ich erfunden.«

»Ja, ständig neue Anträge, Protokolle, Zertifizierungen und strengere Datenschutzbestimmungen – ich könnte kotzen«, rief Sneijder verächtlich und wischte einen Haufen Papiere vom Tisch. »Ich komme vor lauter Onlineformularen, neuen Computerprogrammen und dem restlichen Büroscheiß gar nicht mehr aus meinen vier Wänden raus!«

»Die Zeiten ändern sich. War schon immer so. Dieser Büroscheiß, wie du ihn nennst, gehört nun einmal zu einer funktionierenden Demokratie – und seit den Vorfällen im letzten Jahr werden wir strenger überwacht als jemals zuvor. Und es tut mir leid, wenn du dich dabei in deiner …«, er zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »… kreativen Schaffensfreiheit eingeschränkt fühlst.«

Sneijders Augen funkelten. »Du findest das wohl witzig?«

»Nein, das tue ich nicht!«, rief van Nistelrooy. »Aber ich kann nicht anders.«

»Während sich die Verbrecher immer besser organisieren, werden unsere bürokratischen Hürden immer höher. Sieh dir die Berichte der letzten Einsätze an.«

Van Nistelrooy deutete zu seinem Bildschirm. »Danke, ich habe Dutzende davon.«

»Wir waren nicht schnell genug, weil wir von Vorschriften ausgebremst wurden. Die Art und Weise, wie wir vorgehen, läuft schon lange nicht mehr optimal. Auftragsmörder, Schlepper, Drogendealer, Zuhälter und Waffenhändler arbeiten immer schneller und raffinierter, während unsere Einsätze immer langsamer werden. Wir können nicht mal ein Büro abhören, ohne dass uns Richter, Staatsanwaltschaft und Dienstaufsichtsbehörde auf die Pelle rücken. Wir müssen endlich wieder lernen, schneller zu laufen.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Beginnen wir mit einem kleinen schlagkräftigen Team, das die Möglichkeit hat, sich über Einschränkungen hinwegzusetzen, um rascher zu agieren.«

»Und dieses Team stellst du zusammen?«

»Wer sonst?«

»Und du hältst es unter Kontrolle, damit das Projekt nicht aus dem Ruder läuft?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Van Nistelrooy schüttelte den Kopf. »Ich kann dir so was nicht erlauben.«

»Warum nicht?«

»Herrgott, weil es nicht legal ist!«, brüllte van Nistelrooy. »Wer soll das absegnen? Nicht einmal der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst oder das Bundesamt für Verfassungsschutz haben diese Freiheiten. Aber der große Maarten Sneijder will sie natürlich.«

»Maarten S. Sneijder«, entgegnete er kühl.

»Ja, pfeif drauf!« Van Nistelrooy seufzte. »Die Antwort lautet Nein! Heul mit den Wölfen oder such dir einen anderen Job. Meines Erachtens hast du ohnehin schon zu viele Freiheiten.«

»Du lässt mir keine andere Wahl.«

Van Nistelrooy schwieg. Er fixierte Sneijder und versuchte herauszufinden, was gerade in dessen Gehirn vorging. Der blufft doch sicher nur.

Sneijder griff unter sein Sakko, zog seine Dienstwaffe hervor, eine Glock 17, nahm das Magazin heraus, warf die Patrone im Lauf aus und knallte alles auf van Nistelrooys Tisch.

»Wie wäre es mit einer Beförderung zum ersten Kriminalhauptkommissar?«, schlug van Nistelrooy vor, ohne den Blick auf die Waffe zu senken.

Sneijder machte ein Gesicht, als hätte er sich verhört. »Du weißt genau, dass es mir weder um fünfhundert Euro zusätzlich noch um zwei Dienstgrade, einen eigenen Wagen oder mehr Urlaubstage geht.« Er legte sein Diensthandy auf den Tisch, dann folgten Schlüsselbund, elektronische Zutrittskarte, Magnetschlüssel für sein Büro und sein in Folie verschweißter BKA-Ausweis mit integriertem Chip.

»Du machst tatsächlich ernst?«, fragte van Nistelrooy.

Sneijder schwieg.

»Und was willst du stattdessen tun?«

»Es gibt genug Leute und Organisationen, die mich engagieren würden«, antwortete Sneijder. »Meine Massageliege kannst du behalten. Betrachte sie als Geschenk. Da du dich ja lieber um Vorschriften und Papierkram kümmerst, als Verbrecher zu fassen und Morde zu verhindern, wirst du wohl auch Zeit für ein paar entspannende Stunden haben.«

Das kannst du unmöglich ernst meinen, alter Junge!

Sneijder verharrte einen Moment.

Na bitte, dachte van Nistelrooy. Schon wollte er grinsen.

Doch da wandte Sneijder sich grußlos ab und verließ das Büro.

2. Kapitel

Sabine Nemez marschierte durch die Drehtür in den Eingangsbereich des BKA-Gebäudes, nickte Falcone, dem Portier, zu und ging durch den Ganzkörperscanner. Ihre Dienstwaffe lag im Spind, darum schlug der Metalldetektor nur wegen des Schlüsselbunds und der Geldmünzen in ihren Hosentaschen an.

Auf dem Deckenmonitor über ihr lief ein Infowerbespot. Wir tragen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit bei. Daneben hingen eine Kamera und ein Schild. Dieser Bereich wird videoüberwacht. Der Empfang wirkte so herzlich wie die Personenkontrolle am Gate eines Flughafens, an dem soeben eine Terrorwarnung eingegangen war.

Obwohl jeder hier Sabine kannte, zeigte sie ihren Ausweis. Sie konnte den jungen Kriminalkommissaranwärtern an der Akademie keine Vorschriften predigen und sich dann selbst nicht dran halten. Der Unterricht ihres Moduls würde um halb neun beginnen, aber sie musste vorher noch kurz in ihr Büro, um sich ihre Unterlagen zu holen. Immerhin hatte sie nach dem Unterricht ein wenig Zeit für den längst überfälligen Bürokram. Ohne einen neuen Fall war es im Augenblick eher ruhig, aber Stress und Hektik würden schon noch ausbrechen, da machte sie sich keine falschen Hoffnungen.

Während sie auf die Fahrstuhlkabine wartete, hörte sie laute Stimmen am Empfang. Sie sah kurz zum Scanner. Einige Kollegen vom Haussicherungsdienst standen mit der MP bei der Einlasskontrolle und unterhielten sich lautstark. Verhaltenes Lachen. Und dann erkannte sie den Grund dafür.

Das ist doch wohl ein Scherz!

Eine Frau in schwarzer Nonnentracht trat soeben durch die Sicherheitskontrolle. Die Ordensschwester trug ein bodenlanges Kleid mit weiten Ärmeln und weißem Kragen, flache Schuhe und einen schwarzen Schleier, der über ihre Schultern fiel. Noch lag ihr Gesicht im Schatten der Deckenlampe, doch die Frau kam in Begleitung von zwei BKA-Kollegen in Richtung Fahrstuhl auf Sabine zu. Vor dem flachen Busen der schlanken, hochgewachsenen Nonne hing ein schweres silbernes Kreuz an einer Kette, an ihrem Gürtel trug sie einen Rosenkranz.

Obwohl sich die Kabinentür mit einem Klingeln öffnete, blieb Sabine vor dem Lift stehen und beobachtete die Frau. So einen Besuch gab es nicht alle Tage. Nun konnte Sabine einen Blick unter die Kopfbedeckung der Nonne werfen. Die Frau war eher älter, bestimmt schon fünfundsechzig oder noch darüber. Sie hatte zwar harte, kantige und von Falten durchzogene Gesichtszüge, aber einen gütigen und sanften Blick.

Die Fahrstuhltür schloss sich wieder, und die Kabine fuhr ohne Sabine davon.

»Geht es hier in das Besprechungszimmer?«, fragte die Nonne ihre Begleiter. Ihre Stimme hatte einen leichten österreichischen Akzent. Sie wiederholte die Frage, doch die beiden Männer schwiegen. Die Leute vom Haussicherungsdienst waren nicht gerade die gesprächigsten, außerdem hatten sie normalerweise Wichtigeres zu tun, als eine Nonne zu einer Besprechung zu begleiten.

»Zu wem möchten Sie denn?«, wollte Sabine ihr weiterhelfen. Der Gebäudemoloch des BKA war so riesig, dass man auch mit Gottes Segen tagelang umherirren konnte.

»Zu …« Die Nonne senkte den Blick und sah auf eine schon vergilbte und recht zerknitterte Visitenkarte. »… Kriminalkommissar Maarten Sneijder.« Die Frau verströmte einen zarten Duft nach Minzöl.

»Maarten S. Sneijder«, korrigierte Sabine die Frau. »Mittlerweile ist er Kriminalhauptkommissar, aber das können Sie weglassen. Darauf legt Sneijder keinen Wert. Vergessen Sie in seiner Gegenwart nur bloß nicht das S.«

Die beiden Männer sahen sich kurz an, verzogen aber keine Miene.

»Das ist ihm wichtig?«, fragte die Frau.

»Ja«, seufzte Sabine. Das würde die Nonne selbst noch früh genug herausfinden, und Sabine beneidete sie nicht darum. Sie wusste, dass Sneijder überzeugter Atheist war und mit Priestern und Nonnen genauso wenig anfangen konnte wie der Papst mit der Missionarsstellung.

Da wurde die Tür zum Treppenhaus aufgezogen, ein Mann im dunklen Designeranzug kam schnaufend heraus und ging mit langen Schritten in Richtung Ausgang. Sneijder!

Sabine deutete auf ihn. »Da ist er übrigens.« Ihr fiel auf, dass die Nonne Sneijder interessiert betrachtete, während ihre grauen Augen einen merkwürdigen Glanz bekamen.

»Er sieht nicht so aus, als wäre er gut gelaunt«, bemerkte die Nonne.

»Das ist er nie.« Sabine musste unwillkürlich lachen. Allein die Vorstellung eines gut gelaunten Sneijders war irritierend.

Da kam Sneijder an ihnen vorbei.

»Seit wann nehmen Sie die Treppe?«, fragte Sabine.

Sneijder blieb kurz stehen. »Ich hoffe nicht, dass Sie mir jetzt ein Gespräch aufzwingen wollen, Nemez. Ich bin nicht in Stimmung für Small Talk.«

Wann wären Sie das jemals gewesen?

Sabine deutete zur Nonne. »Diese Dame möchte Sie gern sprechen.«

Sneijders Blick glitt kurz über das schwarze Ordensgewand. Nemez, rufen Sie im Zoo an, wir haben den entlaufenen Pinguingefunden, schien sein Blick zu sagen. Dann setzte er sein Leichenhallenlächeln auf. »Zu spät, ich bin ab sofort nicht mehr im Dienst.«

Sabine hob belustigt die Brauen. »Seit wann machen Sie Urlaub? Sie müssten ja schon weit über fünfzig Wochen …«

»Nemez! Versuchen Sie nie wieder in meiner Gegenwart witzig zu sein«, unterbrach er sie. Dann sah er die Nonne an. »Wenden Sie sich an jemand anderen. Ich habe gekündigt.« Ohne weiteren Kommentar ging er zur Schranke, passierte das Drehkreuz und verließ das Gebäude.

Mit offenem Mund starrte Sabine ihm nach. Gekündigt? Sneijder? Nach all dem Scheiß, den sie letztes Jahr gemeinsam durchgemacht hatten, und nachdem Sneijder nach der Suspendierung seinen alten Job zurückerhalten hatte?

Die Worte der Nonne holten sie wieder in die Gegenwart zurück.

»Äh … was?«, fragte Sabine.

»Ich sagte, dass er schon bald wieder zurückkommen wird.«

Sabine betrachtete die Ordensschwester mit einem mitleidigen Blick. »Wenn er einmal einen Entschluss gefasst hat, bleibt er dabei.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass Sie sich irren.«

»Das glaube ich kaum.«

Die Nonne lächelte. »Vertrauen Sie mir.«

3. Kapitel

Sabine saß leger auf ihrem Pult im Vortragsraum der Akademie und ließ ein Bein hinunterbaumeln. Die Ärmel der Bluse hatte sie bis zu den Ellenbogen aufgerollt, und ihr langes braunes Haar fiel ihr über die Schultern.

»Bei meinem letzten Fall, den ich vor einigen Tagen mit einer Kollegin abschließen konnte, waren wir in Berlin unterwegs.«

»War Ihre Kollegin Tina Martinelli?«

Sabine nickte. Sie merkte, wie die Studenten nach vorn über ihre Notebooks gebeugt an ihren Lippen hingen. Sie hatte sich angewöhnt, den Unterricht mit einer kleinen Anekdote zu beginnen. Zum Aufwärmen. Und da die Anwärter sowieso eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet hatten, konnte sie bedenkenlos über echte Fälle erzählen. Sozusagen aus dem Nähkästchen plaudern.

Dagegen hatte Sneijders Methode gelautet, die Studenten regelmäßig zusammenzuscheißen. Von der ersten Minute an. Es schafften sowieso nur dreißig Prozent den Abschluss, und seiner Meinung nach halfen seine Demütigungen, das Material besser auszusieben. Sabine und Tina hatten das vor Jahren am eigenen Leib erfahren dürfen – und ja, es stimmte, seine Methode hatte sie auf die Praxis vorbereitet und ihnen vielleicht sogar geholfen, die eine oder andere lebensgefährliche Situation dort draußen zu meistern. Aber Sabine wollte die jungen Kollegen durch ihren eigenen Stil prägen. Und der hieß: Kollegialität zeigen und Vorbild sein!

»Der Mann war Privatdetektiv und führte sein Büro am Kurfürstendamm. Noble Gegend, reiche Klientel. Er stand im dringenden Verdacht, eine junge Frau entführt, sexuell missbraucht und möglicherweise schon ermordet zu haben. In seiner Berliner Wohnung war er nicht, also versuchten wir es in seiner Detektei. Aber als wir am Kurfürstendamm ankamen, fanden wir nur einen Briefkasten vor.«

Die Studenten lehnten sich weiter nach vorn.

»Die Adresse seiner Detektei war nur eine Postanschrift. Wie wir später erfuhren, hatte er diese bewusst gewählt, um bei Kunden und vor allem bei seinen Eltern, die seine Arbeit nie gewürdigt hatten, Eindruck zu schinden. Tatsächlich lag sein echtes Büro in einer miesen Gegend am Stadtrand von Berlin. Hätten wir einen rascheren und unkomplizierteren Zugang zu Grundbuch, Mietverträgen und Kontodaten gehabt, wären wir mit dem neuen Durchsuchungsbeschluss schneller in seiner Kanzlei gewesen. Dort fanden wir dann nämlich einen Hinweis auf die entführte Frau.«

»Und wo war die?«

»Der Hinweis führte uns in den Brandenburger Wald in eine Blockhütte. Dort fanden wir die Frau – leider eine Stunde zu spät.«

Schweigen herrschte im Saal, bis endlich ein junger Mann die nächste Frage stellte. »Warum war das BKA und nicht die Berliner Kripo dafür zuständig?«

»Der Verdächtige hatte in den Monaten zuvor bereits in Detmold, Sulingen, Niedernhausen, Dietzenbach, Schwaig bei Nürnberg und am Brocken im Harz gemordet. All diese Fälle hingen zusammen. Morgen werden Sie darüber ausführlich in der Presse lesen. Ich …«

Das Klingeln ihres Handys unterbrach sie. Sabine wollte den Anruf bereits wegdrücken, sah dann jedoch, dass er aus Dirk van Nistelrooys Büro kam. Das hat doch hoffentlich nichts mit Sneijders Kündigung zu tun?

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie knapp und nahm das Gespräch entgegen.

Es war van Nistelrooy persönlich. »Nemez, kommen Sie sofort ins Hauptgebäude. Zweites Untergeschoss, Verhörraum 2B.«

»Ich bin mitten im Unterricht und …«

»Hör ich mich so an, als interessierte mich das? Wir brauchen Sie hier. Es ist dringend!«

»Worum geht es?«, fragte sie, doch van Nistelrooy hatte bereits aufgelegt.

Zehn Minuten später hatte sie das Areal der Akademie verlassen, die Straße überquert und erneut das BKA-Gebäude betreten. Das zweite Untergeschoss war komplett fensterlos, sogar ohne Lichtschächte, und wurde nur von Leuchtstoffröhren erhellt.

Als sie das Vorzimmer zum Verhörraum 2B betrat, stieß sie auf eine Handvoll Leute: Kollegen, Beamte vom Haussicherungsdienst und Techniker, die eilig die Geräte am Schaltpult für die Bild- und Tonauswertung justierten. Und auf Dirk van Nistelrooy.

Anscheinend ist es wirklich ernst.

Van Nistelrooy winkte sie sogleich zu sich her. »Sie sind als Spezialistin für Verhöre und Profilerstellung ausgebildet«, sagte er knapp. »Ich möchte, dass Sie eine Person vernehmen.«

»Ich?« Eigentlich arbeitete sie in der Mordgruppe und Sneijder war der Verhörspezialist. Doch richtig, der hatte ja heute Morgen den Dienst quittiert. »Worum geht es?«

Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich in van Nistelrooys Stahlrahmenbrille, seine kantigen wettergegerbten Gesichtszüge und die von Akne vernarbten Wangen lagen teilweise im Schatten. »Eine Frau hat sich freiwillig gestellt und sieben Morde gestanden.«

Sieben Morde! Sabine zuckte die Achseln. »Dann ist doch alles geklärt.«

»Ist es nicht.« Van Nistelrooy trat zur Seite, und auch die Techniker, die herumstanden, nahmen Platz.

Nun konnte Sabine durch die Einwegglasscheibe sehen, auf deren anderer Seite sich ein Spiegel befand. Der Verhörraum war hell erleuchtet, und in der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf einem davon saß die Nonne, der Sabine zuvor begegnet war, in ihrer schwarzen Tracht.

»Diese Frau hat sieben Morde gestanden?«, entfuhr es Sabine. »Wie heißt sie?«

»Wissen wir nicht. Ihre Fingerabdrücke haben auch keinen Treffer ergeben. Bisher wissen wir nur, dass sie Narben an Hals und Handrücken hat und mit einem bayerischen Akzent spricht.«

»Einem österreichischen«, korrigierte Sabine ihn. »Ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen.« Da sie selbst aus München kam, kannte sie die Unterschiede zwischen den Dialekten.

»Von mir aus«, murrte van Nistelrooy, »dann haben Sie ja schon eine gute Basis für Ihr Gespräch. Finden Sie heraus, worum es da geht.«

Sabine betrachtete die Nonne, die reglos auf ihrem Stuhl saß, die Arme auf dem Tisch, und meditativ in eine Ecke blickte. Eine gute Basis! Neben Sneijder gab es noch eine Handvoll weiterer ausgezeichneter Verhörspezialisten im BKA. Warum wollte van Nistelrooy ausgerechnet sie haben? Egal, sie würde den Grund dafür schon noch herausfinden.

»Wir sind so weit!«, sagte ein Techniker.

Van Nistelrooy sah sie auffordernd an. Doch als Sabine gerade die Tür öffnen und den Verhörraum betreten wollte, hielt er sie noch einmal zurück.

»Eine winzige Kleinigkeit sollten Sie jedoch noch wissen …«

4. Kapitel

Einige Minuten später betrat Sabine das Zimmer und nahm wieder den feinen Geruch nach Minzöl wahr. Sie setzte sich auf den freien Stuhl, legte ebenfalls die Arme auf den Tisch und beugte sich nach vorn. »Möchten Sie ein Glas Wasser haben?«

Die Nonne schüttelte den Kopf.

»Einen Tee? Eine Tasse Kaffee vielleicht? Wir haben einen guten Automaten im Haus. Für Gäste mit Haselnuss- oder Mandelgeschmack. Oder Amaretto, Schokolade, Marzipan?«

Die Nonne lächelte. »Das ist nett, aber vielen Dank, nein.«

Die Frau hatte lange Wimpern, eine schmale Nase und volle, geschwungene Lippen. Ein Muttermal zierte ihre Wange. Die Haarfarbe der Nonne ließ sich nur erahnen, Sabine glaubte jedoch eine schlohweiße Strähne unter dem Schleier zu erkennen. Letzterer wurde durch einen Haarreifen versteift, wodurch er anscheinend besser hielt und wie eine Haube wirkte.

»Haben Sie einen Anwalt?«, fragte Sabine.

»Nein.«

»Brauchen Sie einen? Wir könnten Ihnen …«

»Nicht nötig.«

»Gut.« Dann war das schon mal geklärt. »Mein Name ist Sabine Nemez«, stellte sie sich vor. »Ich bin polizeiliche Fallanalytikerin und forensische Kripopsychologin.«

»Profilerin?«

»Ja, könnte man so sagen. Und ich arbeite in der Mordgruppe. Deshalb bin ich hier«, antwortete Sabine. »Sie haben sieben Morde gestanden?«

»Nein, das ist nicht richtig.«

Sabine blickte kurz zur Spiegelwand und sah dann wieder die Nonne an.

Diese tippte mit den Fingern auf dem Tisch. Wie van Nistelrooy gesagt hatte, waren hässlich verheilte Narben auf den Handrücken zu sehen. Auch am oberen Teil des Halses befanden sich Narben, die unter dem Kragen der Nonnentracht verschwanden. Wie weit und tief sie reichten, ließ sich nur vermuten. »Ich habe lediglich gestanden, dass ich an jedem einzelnen der nächsten sieben Tage ein Verbrechen begehen werde! Es werden sieben Menschen sterben.«

»Durch Sie?«

Die Frau nickte.

»Warum sollten Sie das tun?«, fragte Sabine.

»Insgesamt bleiben Ihnen sieben Tage Zeit, um es herauszufinden«, antwortete die Nonne.

»Und wie wollen Sie das anstellen? Denn ab jetzt sitzen Sie in diesem Vernehmungsraum fest, und das beste Angebot, das Sie erhalten werden, nämlich einen Kaffee mit besonderem Aroma, haben Sie soeben ausgeschlagen.«

Die Nonne schwieg.

»Können Sie mir Details nennen?«, fragte Sabine. »Die Namen der Opfer, wo sie wohnen oder den Grund für Ihre Tat?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Welchem Orden gehören Sie an?«

»Das müssen Sie selbst herausfinden.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Finden Sie es heraus.«

Verdammt! Wollte die Frau sie verarschen? »So kommen wir nicht weiter«, seufzte Sabine.

»Das ist richtig. Anscheinend hat man Sie nicht darüber informiert, zu welchen Bedingungen ich mich gestellt habe.«

»Doch«, antwortete Sabine, aber van Nistelrooy hatte ihr keine Möglichkeit gegeben, mit den Kollegen zu reden und sich in den Fall einzuarbeiten. »Würden Sie Ihre Worte mir zuliebe trotzdem noch einmal wiederholen?«, bat sie.

»Natürlich, aber es ist nicht meine wertvolle Zeit, die verstreicht, sondern Ihre.« Die Nonne zog die Hände vom Tisch, ließ sie in den weiten Ärmeln ihrer Tracht verschwinden und lehnte sich zurück.

Mist! Falls Sabine die Körperhaltung richtig deutete, hatte sie den Draht zu ihrem Gegenüber soeben verloren. »Also, Sie haben gesagt, Sie würden gern mit einem Fallanalytiker sprechen. Nun, ich bin …«

»Mit Kriminalhauptkommissar Maarten Sneijder«, unterbrach die Nonne sie. »Nur er wird von mir erfahren, was ich zu sagen habe.«

»Okay, das weiß ich bereits, aber warum ausgerechnet Sneijder?«, fragte Sabine.

»Ich vertraue sonst niemandem, keinem Einzigen.«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen, denn wie Sie zuvor selbst gehört haben, steht er für Gespräche dieser Art nicht mehr zur Verfügung. Sie müssen also schon mit mir vorliebnehmen. Oder mit einer anderen Person«, bot Sabine an.

»Sie können sich die Mühe sparen.« Die Nonne atmete tief durch. »Wie ich bereits sagte: Ich werde nur mit ihm sprechen!«

Sabine sah sie lange an, und die Frau wich ihrem Blick nicht aus. Ihre grauen Augen glänzten. Es lag eine große Barmherzigkeit in diesem Blick, aber auch ein starkes Selbstbewusstsein, das von Sekunde zu Sekunde wuchs. Trotzdem hielt Sabine dem Blick stand. Schließlich sah die Nonne doch weg.

Das war der Grund, warum van Nistelrooy ausgerechnet sie für diesen Job haben wollte. Weil Sneijder sie ausgebildet hatte, sie zusammengearbeitet hatten und sie ihn von allen Kollegen im BKA am besten kannte. Aber offenbar schien ihr das jetzt nicht viel zu nützen.

Eigentlich war es an der Zeit, das Gespräch zu beenden und den Verhörraum zu verlassen. Die Nonne würde nichts mehr sagen, aber Sabine wollte noch nicht aufgeben. »Sie sagten, Sie würden nur Sneijder vertrauen?«, wiederholte sie.

Die Nonne schwieg, nicht die kleinste Reaktion war auf ihrem Gesicht abzulesen.

»Aber das wundert mich schon etwas«, fuhr Sabine fort, »denn vor einer Stunde haben Sie noch nicht einmal gewusst, wer Sneijder überhaupt ist. Sie wussten nicht, wie er aussieht, kannten das S seines zweiten Vornamens nicht und hatten nur eine alte Visitenkarte von ihm in der Hand.«

Die Nonne presste die Lippen aufeinander.

»Wenn Sie sieben Morde begehen möchten, obwohl Sie hier festsitzen, brauchen Sie draußen zumindest einen Komplizen, der Ihnen hilft. Da Sie Sneijder nicht kannten, nehme ich an, dass Ihr Komplize Sneijder kennt. Vermutlich haben Sie Sneijders Visitenkarte von ihm erhalten.« Sabine dachte nach, während sie die Regungen im Gesicht der Nonne genau beobachtete. Sie war auf dem richtigen Weg, denn die Nasenwurzel der Nonne kräuselte sich und ihr Augenlid zuckte.

»Da es sich bei der Visitenkarte um ein altes, abgegriffenes Exemplar handelt, nehme ich weiter an, dass Ihr Komplize Sneijder schon länger kennt. Und da Sie sagten, Sie würden niemand anderem vertrauen, hat Ihr Komplize offenbar einen tiefen Einblick in die verworrenen Strukturen des BKA.«

Die Nonne presste die Lippen aufeinander, ihre Kiefer mahlten.

»Darf ich die Karte noch einmal sehen?«, fragte Sabine. »Ich würde Sie gern auf Fingerabdrücke untersuchen lassen.«

Die Nonne schüttelte den Kopf.

Gut, dachte Sabine. Das bestätigt meine Vermutung! Andere Fingerabdrücke als die der Nonne wären ohnehin nicht mehr drauf gewesen.

»Sie halten sich wohl für sehr schlau«, sagte die Frau.

»Sie lassen mir keine andere Wahl, als meine eigenen Schlüsse zu ziehen«, entgegnete Sabine. »Ihrem Akzent nach zu urteilen kommen Sie aus Österreich, leicht zu verwechseln mit einem südbayrischen Akzent … aus einer Gegend an der deutschen Grenze. Vielleicht Oberösterreich?«

Die Nonne schwieg.

»Wie lange habe ich Zeit, um den Mord zu verhindern?«, fragte Sabine.

Keine Antwort.

»Nachdem Sie in einer Woche sieben Morde begehen wollen, nehme ich an, dass der erste …«, sie blickte auf die Uhr, »… in nicht ganz fünfzehn Stunden, also spätestens kurz vor Mitternacht, passieren wird, da morgen schon Opfer Nummer zwei auf dem Plan steht, richtig?« Sabine kniff die Augen zusammen und dachte nach. Was noch? »Aus Erfahrung weiß ich, dass Serientäter, ihrem Instinkt folgend, normalerweise in ihrer näheren Umgebung beginnen und erst danach den Radius ihrer Taten ausweiten. Ich nehme also an, dass die erste Tat auch wegen des heutigen knappen Zeitfensters im Großraum Wiesbaden stattfinden wird.«

Der Mundwinkel der Nonne zuckte kurz. Ihr Blick wurde skeptisch, als versuchte sie hinter Sabines Gedankengänge zu kommen. »Hat Sneijder Sie ausgebildet?«, fragte sie.

Sabine beantwortete die Frage nicht, sondern beugte sich nach vorn. »Wiesbaden also«, stellte sie fest. Es war nur geraten, aber die Reaktion der Frau bestätigte ihr, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand.

Plötzlich lehnte sich die Frau ebenfalls nach vorn über den Tisch. Ihre Hände kamen aus den Ärmeln heraus. Sie umfasste den Tisch an beiden Seiten. »Vergessen Sie Ihre Psychotricks«, flüsterte sie. »Ich werde nichts sagen, da können Sie noch so lange Vermutungen anstellen. Ich rede nur mit Maarten Sneijder.«

Sabine betrachtete sie. Binnen Sekunden nahm sie jedes Detail in sich auf. Jeder Informationssplitter konnte wichtig sein. Die Fingernägel der Nonne waren schmutzig und eingerissen. Das recht aufdringliche Minzöl diente vielleicht nur dem Zweck, einen anderen verräterischen Geruch zu überdecken. Aber welchen? Sabine blähte die Nasenflügel und atmete tief ein, aber da war nichts.

Nun rückte Sabine mit dem Stuhl zur Seite und musterte die Tracht der Frau. Der Saum des Kleids lag auf dem Boden. Nicht einmal die Spitzen der flachen Schuhe waren zu erkennen, doch Staub und Fasern hatten sich im Stoff verfangen, ebenso wie seitlich an der Hüfte. Von ihrem Besuch im BKA konnte der Staub nicht stammen. Hier wurde täglich geputzt, sodass es ständig nach Scheuermittel roch.

»Verraten Sie mir wenigstens, woher die Narben auf Ihren Handrücken stammen?«, versuchte Sabine einen weiteren Hinweis zu bekommen.

Unwillkürlich strich die Nonne einen Ärmel hoch und betrachtete ihren Handrücken. Eine Geste, als wollte sie auf die Armbanduhr sehen. Aber da war keine, bloß ein kleines Tattoo auf dem linken Handgelenk. »Nein, das tue ich nicht.« Rasch streifte sie den Ärmel wieder über die Hand.

Sabine versuchte sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Eine Ordensschwester mit einer Tätowierung? Sabine hatte eine schwarze Rose erkannt mit erblühter Knospe und dornigem Stiel.

Möglicherweise saß ihr gar keine echte Nonne gegenüber, sondern bloß eine ältere Frau, die sich ein Kostüm geliehen hatte. Obwohl Sabine das eigentlich nicht glaubte – die Frau wirkte authentisch, ebenso ihre Bekleidung. Jedenfalls hatte Sabine genug erfahren. Sie wollte keine Zeit mehr verlieren, erhob sich und ging zur Tür.

»War’s das?«, fragte die Nonne.

»Ja.« Sabine klopfte, legte die Hand auf die Klinke, wartete auf das Klicken und zog die Tür auf.

»Sie geben auf?«

»Ich habe genug erfahren.«

»Was immer Sie glauben, herausgefunden zu haben«, rief die Nonne ihr nach. »Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten.«

Sabine drehte sich um.

»Vertrauen Sie mir?«, fragte die Nonne.

»Wie kann ich jemandem vertrauen, der sieben Morde begehen will?«

Die Nonne lächelte. »Gehen Sie durch den Haupteingang!«

Nachdem die Tür wieder verschlossen worden war und Sabine im Vorraum stand, schoss van Nistelrooy auf sie zu. »Sind Sie verrückt, diese Frau zu provozieren und das Gespräch jetzt abzubrechen, wo wir möglicherweise den ersten wirklich wichtigen Hinweis erhalten haben? Ab jetzt wird sie kein Wort mehr verraten.«

»Vielleicht ist dieser kryptische Hinweis mit dem Haupteingang auch nur eine falsche Fährte.« Sabine betrachtete die Nonne durch die Glaswand. Die Frau starrte in den Spiegel. Bestimmt ahnte sie, dass sie von mehreren Personen beobachtet wurde. »Ich weiß genug.«

»Fein.« Van Nistelrooy hob die Hand. »Wenn nur ein einziger Mord passiert und dann auch noch durchsickert, dass wir ihn hätten verhindern können, aber unfähig waren, eine alte Nonne zu verhören, sind wir geliefert!«

Der gute Ruf des BKA! Das war das Einzige, was ihn interessierte. Doch ihr ging es vor allem darum, ein Menschenleben zu retten. »Ich brauche Tina Martinelli und eine SoKo.«

»Sie kriegen alles, was Sie wollen«, schnaubte van Nistelrooy und wandte sich an die Kollegen. »Bringt die Nonne in eine Einzelzelle.«

Ein breitschultriger Beamter vom Haussicherungsdienst erhob sich und wollte zur Tür gehen.

»Warten Sie!«, stoppte Sabine ihn. »Lassen wir sie in diesem Raum. Kein Kontakt nach draußen und volle Audio- und Videoüberwachung.«

Van Nistelrooy nickte. »Okay.«

»Haben wir einen blinden Kollegen im Haus?«, fragte Sabine.

»Wozu das?« Van Nistelrooy betrachtete die Anwesenden.

Einer der Techniker nickte. »In der Spurensicherung arbeitet eine blinde Frau, die Brailleschrift beherrscht. Warum?«

»Bringen Sie die Nonne zum Erkennungsdienst, um ihr noch einmal die Fingerabdrücke abzunehmen. Oder sonst was, lassen Sie sich einen Vorwand einfallen. Aber diese Kollegin soll sie hinführen. Dabei soll sie auf Tuchfühlung gehen.«

»Wozu?«, fragte van Nistelrooy.

»Blinde Menschen haben ausgeprägte andere Sinne. Die Nonne versucht mit dem Pfefferminzöl einen Geruch zu überdecken, und ich möchte wissen, welchen.«

5. Kapitel

Eine Stunde später traf Sabine in einem der Konferenzräume im ersten Stock des BKA-Gebäudes auf eine Handvoll Kollegen aus den Abteilungen Erkennungsdienst, Datenarchiv, IT und Spurensicherung, die ihr für die SoKo zur Verfügung gestellt worden waren.

Auf ihren Wunsch hin befand sich auch Tina darunter. Sie beide hatten in ihrem Jahrgang als einzige Sneijders Modul für Fallanalyse und forensische Psychologie bestanden, arbeiteten seitdem zusammen und waren mittlerweile enge Freundinnen geworden, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam hatten. Tina stammte ursprünglich aus Sizilien, hatte pechschwarzes Haar – auf einer Seite lang, die andere Seite abrasiert –, ein Nasenpiercing und statt der Augenbrauen eine geschwungene tätowierte Linie. Außerdem trug sie ein ziemlich schräges Skorpion-Tattoo am Hals. Wer Tina sah, konnte meinen, einer verdeckten Ermittlerin in der Drogenszene gegenüberzustehen. Tatsächlich arbeitete sie im BKA jedoch als Spezialistin für Entführungsfälle.

»Wir suchen nach einer Person, die möglicherweise bereits entführt worden ist und höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten vierzehn Stunden im Großraum Wiesbaden ermordet wird«, begann Sabine, nachdem alle Platz genommen hatten. »Wir kennen weder die Identität des Opfers noch wie es passieren oder den Ort, wo es passieren wird. Aber wir kennen die Mörderin. Sie sitzt einige Stockwerke tiefer im Vernehmungszimmer 2B.«

Ein Raunen ging durch den Raum, aber Sabine unterband alle auftauchenden Fragen. »Ich bitte um Geduld – Sie werden es gleich verstehen.« Sie verdunkelte mit der Fernbedienung die Jalousien, aktivierte den Videobeamer und projizierte die Aufnahme des Gesprächs mit der Nonne auf die Leinwand. Augenblicklich wurde es ruhig.

Das Video zeigte mit einem Splitscreen gleichzeitig die Aufnahmen aus drei verschiedenen Kamerablickwinkeln. Das Bild war scharf, der Ton gut. Man sah jede Reaktion der Nonne und hörte jedes Atmen und Knistern im Raum.

Nachdem das Video zu Ende war, kippte Sabine die Lamellen der Jalousie, sodass es wieder heller wurde. Bis auf eine Kollegin waren sich alle anderen einig, dass es sich bei der Frau um eine echte Nonne handeln musste, die sich nicht bloß wichtigmachen wollte, sondern tatsächlich vorhatte, jemanden zu ermorden. Mimik, Gestik, ihr Verhalten und die Wortwahl deuteten darauf hin, dass die Ankündigung von sieben bevorstehenden Morden ernst zu nehmen war.

»Während wir hier sitzen, wird die Nonne von einer Psychologin und einem Verhörspezialisten weiter befragt«, erklärte Sabine rasch, bevor die Fragen ihrer Kollegen auf sie einprasseln konnten. »Sobald sich Neuigkeiten ergeben, erfahren wir es sofort, aber bis jetzt hat sie kein weiteres Wort gesagt.«

»Haben wir weitere Anhaltspunkte?«

»Ja, wir wissen noch etwas«, antwortete Sabine. »Eine blinde Kollegin hat die Nonne zum Erkennungsdienst geführt und unter dem Duft von Minzöl zwei Gerüche wahrgenommen. Leichte Spuren von Chloroform und von Lacken oder Lösungsmitteln.«

»Chloroform?«, wiederholte Tina. »Das verflüchtigt sich doch.«

»Die blinde Kollegin hat die Nonne an der Hand berührt und Reste davon unter ihren Fingernägeln bemerkt.«

»Okay, und jetzt glaubst du, dass die Nonne ihr Opfer mit Chloroform betäubt hat? Und möglicherweise in einem …« Tina wedelte mit dem Arm. »… Fachgeschäft für Lacke und Farben gefangen hält?«

»Oder in einer Lagerhalle oder Lackfabrik«, ergänzte Sabine. »Ich habe Staub und Fasern an ihrer Kleidung entdeckt, was möglicherweise auf einen schon lange leer stehenden Raum hinweist.« Sabine betätigte die Fernbedienung und projizierte ein großformatiges Standbild vom Gesicht der Nonne auf die Leinwand.

»Mit diesem Foto«, fuhr sie fort, »sollten wir sämtliche Aufnahmen von Verkehrskameras abgleichen, die sich in der Nähe von Hallen, Kellern, Schuppen oder Lagerräumen befinden.«

»Die Nadel im Heuhaufen«, murrte ein Kollege.

»Ich weiß«, seufzte Sabine. »Aber das ist im Moment einer von zwei Anhaltspunkten, denen wir nachgehen können.«

»Und wie weit zurück soll das Videomaterial reichen?«, fragte eine Frau.

Sabine hob die Schultern. »Irgendwelche Vorschläge?«

»Die Nonne hat auf dem Film nicht sehr müde gewirkt«, überlegte Tina laut. »Ich nehme an, sie hat die Nacht nicht durchgearbeitet, sondern einen ausgezeichneten Schlaf genossen.«

»Das bedeutet?«, fragte Sabine.

»Entweder hat die Nonne ihr Opfer erst heute Morgen oder schon gestern Abend entführt. Darum würde ich mit gestern Abend beginnen«, schlug Tina vor.

»Also gut«, entschied Sabine. »Überprüfen wir die letzten zwanzig Stunden.«

»Und was ist der zweite Hinweis?«, fragte ein Kollege vom Erkennungsdienst.

»Falls die Nonne tatsächlich einen Komplizen hat, stammt er möglicherweise genauso wie sie aus Oberösterreich und kennt Sneijder ziemlich gut. Überprüfen Sie also zunächst alle Kontakte, die Sneijder in den letzten fünfzehn Jahren nach Oberösterreich hatte.«

»Alle?«

»Ja«, knirschte Sabine. »Freunde, Kollegen, Bekannte.«

»Das dürfte eine kurze Liste werden«, sagte ein anderer.

Einige lachten.

Auch Sabine musste trotz der Anspannung schmunzeln. Jeder wusste, dass Sneijder als misanthropischer Einzelgänger so gut wie keine Freunde hatte – mit Ausnahme von Vincent, einem Basset, der mit ihm außerhalb von Wiesbaden am Waldrand in einer ehemaligen Mühle lebte. »Überprüfen Sie aber auch Sneijders Fälle der letzten fünfzehn Jahre, ob es da Verbindungen nach Oberösterreich gibt, zu irgendwelchen Kollegen oder zu Leuten, die er in den Knast gebracht hat.«

»Warum fragen wir ihn nicht selbst?«

»Das dürfte im Moment schwierig werden«, seufzte Sabine, beließ es jedoch bei diesem Kommentar. »Aber ich kümmere mich darum.«

Die Kollegen wollten sich bereits erheben.

»Und noch etwas«, sagte sie. »Eine Linguistin soll sich das Video ansehen. Vielleicht erkennt sie, aus welcher Gegend der Dialekt der Frau stammt. Möglicherweise finden wir so ihre Identität heraus.« Sie blickte auf die Uhr. »Wir treffen uns wieder hier um vier Uhr nachmittags.«

Während alle das Büro verließen, wählte sie Sneijders Nummer.

Am späten Nachmittag betraten die Kollegen der Reihe nach den Konferenzraum. An ihren gestressten und erschöpften Gesichtern erahnte Sabine, dass kaum jemand von ihnen eine Mittagspause gemacht hatte. Darum hatte sie für frischen Kaffee und Kekse gesorgt, auf die sich jetzt alle gierig stürzten.

»Danke, dass Sie pünktlich gekommen sind«, eröffnete Sabine die Sitzung und blätterte in ihren Unterlagen. »Aus dem zweiten Untergeschoss gibt es leider nichts Neues. Die Nonne schweigt immer noch. Was haben Sie herausgefunden?«

Ohne viel Zeit zu verlieren, wurden die Ergebnisse ausgetauscht.

»Eine Sprachwissenschaftlerin glaubt den Dialekt der Nonne der Gegend von Braunau am Inn zuordnen zu können«, erklärte ein Kollege.

Sabine sah auf. »Braunau, der Geburtsort von …?«

»Ja, genau.«

Ach, wie schön, dachte sie zynisch.

»Aber bisher konnten wir die Nonne nicht identifizieren. Außerdem ist aus keinem der Nonnenklöster in dieser Umgebung eine Frau abgängig.«

Sackgasse!

»Darüber hinaus haben wir die Kostümverleiher der Stadt befragt«, ergänzte eine Kollegin. »Es wurde weder eine Nonnentracht verborgt noch verkauft. Eine diesbezügliche Onlinebestellung gab es in den letzten Monaten zwar dreimal, aber weder die jeweiligen Farben noch die Größen stimmen überein. Und es gab keine Anzeige, dass eine derartige Bekleidung aus einem Kloster gestohlen worden wäre.«

Guter Gedanke. Immerhin war bis jetzt die Echtheit der Nonne noch nicht bewiesen worden. Aber leider ist auch das eine Sackgasse. Sabine blickte zu den Leuten vom Datenarchiv. »Was haben Sie gefunden?«

»Unseren Recherchen zufolge gibt es nur zwei Spuren, die Sneijder mit Oberösterreich verbinden. Und beide Männer sitzen seit drei Jahren im Knast. Die letzten Besuche fanden vor über fünf Wochen statt.«

Und die nächste Sackgasse!

»Das habe ich mir gedacht«, gab Sabine zu. »Ich habe in der Zwischenzeit mehrmals mit Sneijder telefoniert. Wie einige von Ihnen vielleicht schon wissen, hat er heute Morgen den Dienst quittiert.«

Ein Raunen ging durch das Besprechungszimmer – offenbar funktionierte die Stille Post im BKA doch nicht so gut, wie Sabine gedacht hatte. »Aber ich habe ihn trotzdem erreicht und ihm das Foto von unserer Nonne geschickt. Er hat diese Frau heute Morgen zufällig kurz am Fahrstuhl gesehen, aber er kennt sie nicht. Ebenso wenig hat er irgendwelche Kontakte nach Oberösterreich, die uns weiterhelfen könnten.«

»Ist Sneijder bereit, mit dieser Frau zu sprechen?«, fragte Tina.

»Ich habe es versucht, aber seine Antwort lautet Nein.« Mit einem letzten hoffnungsvollen Blick sah Sabine zu den Kollegen von der IT-Abteilung, denn die waren im Moment ihre letzte Chance auf eine Erfolgsmeldung.

»Wir haben die Nonne auf keinem einzigen Video einer Verkehrskamera gefunden.«

»Und wie ist sie heute Morgen zum BKA gekommen?«, fragte Sabine.

»Mit einem Taxi. Der Fahrer hat sie zwanzig Minuten vorher am Waldrand, westlich von Niedernhausen, aufgenommen. Dort verliert sich die Spur.«

Und das ist garantiert eine falsche Spur, um uns zu verwirren.

»Was ist mit den Überwachungskameras in Haltestellen und Busbahnhöfen?«, hakte Sabine nach. Langsam gingen ihr die Ideen aus.

»Auch negativ – wir haben sogar eine Gesichtserkennungssoftware verwendet …« Er senkte die Stimme. »… ohne richterlichen Beschluss. Hat aber nichts gebracht.«

Verdammt!

»Außerdem haben unsere Kollegen das Foto an alle Taxifahrer im Raum Wiesbaden geschickt, ebenso an Busbahnhöfen und Ticketschaltern in Zugbahnhöfen herumgezeigt. Null Treffer.«

»Kameras bei den Geldautomaten?«, sprach Sabine ein heikles Thema an, weil sie hier die Sicherheitslücken des Systems für ihre Zwecke ausnutzten.

»Wir haben mit dem Bundestrojaner die Server der Bankomatbetreiberfirmen gehackt – natürlich auch ohne Beschluss.« Der Kollege von der IT-Abteilung wedelte mit der Hand. »Egal … auch da gab es keine Treffer.«

Fuck!

»Aber das zeigt doch nur eines«, schlussfolgerte Tina. »Dass die Nonne, falls sie ihr Opfer tatsächlich in einer leer stehenden Halle gefangen hält, wie wir vermuten, einen Platz gewählt hat, wo es keine Kameras gibt.«

Sabine zog eine Augenbraue hoch. »Okay, sprich weiter!«

Tina breitete einen großen Stadtplan von Wiesbaden am Tisch aus, auf dem sie sämtliche Orte markiert hatte, die auch nur im Entferntesten etwas mit Lacken oder Farben zu tun hatten.

Alle kamen näher und beugten sich über die Karte.

»Welche Orte scheiden aufgrund einer Videoüberwachung aus?«, fragte Sabine.

Der Kollege von der IT nahm einen Rotstift und strich nach dem Ausschlussprinzip alle Orte weg, bei denen ihnen irgendeine Kamera einen Hinweis hätte geben müssen. Am Ende blieb keine markierte Stelle übrig.

»Aber hier … die Ponts-Lackfabrik«, sagte Tina.

»Stimmt«, sagte der Computerfachmann. »Die Vorderseite der Fabrik wird zwar von einer Verkehrskamera gefilmt, aber nicht die Rückseite.«

»Steht seit fünf Jahren leer«, erklärte eine Kollegin, die in Wiesbaden aufgewachsen war.

Gehen Sie durch den Haupteingang!, erinnerte Sabine sich an die letzte Aussage der Nonne. »Diese Fabrik muss es sein.«

»Ja, das ergibt einen Sinn«, sagte eine Kollegin. »Aber woher hatte die Nonne all die Informationen, um sich wie ein Geist durch die Stadt zu bewegen?«

»Das werden wir noch herausfinden.«

Sofort griff Tina zum Handy und tippte eine Kurzwahl. »Wir haben den Ort gefunden«, sagte sie knapp. »Wir brauchen in der nächsten halben Stunde ein mobiles SEK-Team für eine Geiselbefreiung.«

Sabine nickte ihr zu. Sie würden mit schwerem Geschütz in diese Halle hineinkrachen und alle festnehmen, die verdächtig aussahen.

Nachdem Tina das Gespräch beendet hatte, grinste sie übers ganze Gesicht. »Das haben wir clever gelöst.«

Einige der Kollegen klatschten in die Hände oder klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Einzig allein Sabine blieb skeptisch.

Freut euch nicht zu früh!

»Was hast du?«, fragte Tina.

»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Sabine. »Irgendwie ging mir das alles zu einfach und zu glatt.«

»Das nennst du einfach?«, wiederholte Tina.

Sabine nickte und blickte zur Videowand, auf der immer noch das Bild der Nonne zu sehen war. »Von dieser ruhigen, intelligenten und scheinbar integren Frau hätte ich mir mehr Raffinesse erwartet.«

»Die hat eben nicht mit uns gerechnet«, entgegnete Tina.

Sabine nickte schweigend.

6. Kapitel

Kurz vor halb sechs standen sie vor dem Haupteingang der Ponts-Lackfabrik. Die schwarzen Toyota Landcruiser des BKA sowie die Einsatzfahrzeuge der Observierungsgruppe des MEK hatten die Straßen im Umkreis von fünfhundert Metern abgesperrt.

Der Himmel verdunkelte sich soeben, und am Horizont zogen schwarze Regenwolken auf. Innerhalb der nächsten Stunden würde sich vermutlich ein Sommergewitter über Wiesbaden entladen.

Sabine stieg aus ihrem Wagen und spürte förmlich die Feuchtigkeit, die in der statisch aufgeladenen Luft lag. Mit einer raschen Bewegung band sie sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Sie trug Jeans, feste Turnschuhe, ein schwarzes T-Shirt, eine kugelsichere Weste und hatte darüber ihr Schulterholster für die Glock festgezurrt.

Tina kam ihr entgegen. Sie hatte ebenfalls eine Kevlarweste an, trug ihre Sig Sauer jedoch im Sicherheitsholster mit Schnapper und Drücker am Gürtel. »Das Sondereinsatzkommando ist bereit. Schönfeld leitet es.«

Das ist gut. Schönfeld war einer von Sabines und Tinas ehemaligen Studienkollegen an der Akademie gewesen. Er war mit Meixner verheiratet, die damals ebenfalls mit ihnen und Gomez in Sneijders Modul an der Akademie gewesen war. Allerdings hatte Sneijder die drei der Reihe nach kleingekriegt, woraufhin sie nach zwei Semestern das Handtuch geworfen hatten. Gomez war zum Haussicherungsdienst gegangen, aber im Zuge der Ermittlungen eines Falls ermordet worden. Meixner arbeitete immer noch bei der Autobahnpolizei, und Schönfeld war zum SEK gewechselt, wo er mit seinem Fitnesswahn und seiner robusten körperlichen Erscheinung auch perfekt aufgehoben war. Er und Meixner hatten eine kleine Tochter, die jetzt auch schon fünf Jahre alt war.

Tina begleitete Sabine über den spröden, aufgerissenen Asphalt des Firmenparkplatzes zum Haupteingang der Halle. Einen halben Meter hohe Unkrautstauden wucherten vor der brüchigen Wand.

Sowohl die Fabrikhalle als auch das angrenzende zweistöckige Bürogebäude mit den eingeschlagenen Fensterscheiben sahen nicht so aus, als stünden sie erst seit fünf Jahren leer. Wahrscheinlich war die Firma schon Jahre zuvor pleitegegangen.

Vor dem Rolltor hockten zwei Beamte des SEK in grauen Uniformen. Sie hatten ein Loch durch das Blech des Rolltors gebohrt und eine Kamera eingeführt. Ein Laptopmonitor zeigte ihnen, wie es drinnen aussah. Ruhig, dunkel und leer.

»Alles sauber, keine Drähte, keine Bombe. Wir könnten rein«, flüsterte einer der beiden.

Schönfeld kam über den Parkplatz, trat an Sabine und Tina heran und nickte kurz zum Gruß. »Ein zweites Team ist auf der Rückseite des Geländes beim Hintereingang. Was …?« Sein Minifunkgerät auf dem Schulterteil seines Protektors knackte.

»Alles ruhig und sauber«, drang die verzerrte Stimme aus dem Gerät.

»Danke – Ende und Aus.« Schönfelds blondes Haar war mittlerweile kurz geschoren. Er war schlanker geworden und sein Gesicht kantiger. In seinen Augen lag bereits die langjährige Erfahrung vieler Einsätze. »Was machen wir? Nehmen wir den Haupteingang?«

Sabine überlegte.

Gehen Sie durch den Haupteingang!, schwirrte der Ratschlag der Nonne immer noch durch ihren Kopf. War das ein gut gemeinter Tipp oder eine hinterhältige Falle? Durfte sie überhaupt einer Frau vertrauen, die sieben Morde angekündigt hatte – auch wenn sie einen gutmütigen Blick besaß? Oder war das alles nur falscher Alarm? Eine groß inszenierte Ablenkung?

»Nein, wir nehmen den Hintereingang«, entschied Sabine sicherheitshalber.

Schönfeld nickte seinen Kollegen zu. »Okay, bleibt hier, haltet euch bereit und wartet auf meine Anweisung, die Tür zu öffnen und das Gebäude zu sichern. Wir gehen zur Rückseite.«

Tina, Sabine und Schönfeld setzten sich in Bewegung und umrundeten das Gebäude. An der Rückseite standen drei weitere Männer des SEK vor einer verschlossenen Metalltür.

Sabine warf einen kurzen Blick auf den Laptop, der ein Bild vom Inneren der Hallenrückseite zeigte. Auch hier war nichts Auffälliges zu erkennen.

In diesem Moment flog eine Drohne über ihre Köpfe. Schönfelds Funkgerät knackte erneut.

»Das Gelände ist sauber. Keine Aktivitäten«, meldete ein Kollege aus dem Wagen des Mobilen Einsatzkommandos.

»Gut, wir gehen rein!«, befahl Schönfeld.

Zwei der Kollegen stemmten eine Ramme hoch, holten zweimal aus und beim dritten Mal schlugen sie mit den Rammkopf Türklinke und Schloss aus dem Rahmen. Die Tür flog auf, und sie stürmten ins Gebäude. Der dritte Kollege und Schönfeld folgten ihnen, danach zogen Sabine und Tina ihre Waffen und traten ebenfalls durch die aufgebrochene Tür.

Die Männer verteilten sich sofort. Sabine hörte aus mehreren Richtungen die Meldung »Gesichert!«, blieb jedoch am Eingang stehen und sah sich um. Sie brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Im Gegensatz zu ihr trugen die Männer des SEK über den Helmen eine Brille, die das Restlicht verstärkte. Dementsprechend forsch drangen sie in die Halle vor und stürmten in jede Nische.

Da hörte Sabine ein dumpfes Glucksen über ihr, das sie erstarren ließ. Sie riss die Waffe hoch und sah nach oben. Aber da war nichts. Über ihrem Kopf befand sich lediglich eine transparent rötliche, armdicke Rohrleitung aus Hartplastik, die in ein verschlossenes Plastikfass mündete. Letzteres hing in etwa fünf Metern Höhe an der Decke und besaß bestimmt über dreihundert Liter Fassungsvermögen. Was hatte da gegluckst?

Sabine kniff die Augen zusammen, um weitere Details zu erkennen. Vom oberen Rand der Tür führte ein lockerer Nylonfaden zum Fass. Sie stieß die Tür mit dem Schuh etwas weiter auf, woraufhin sich der Faden spannte. Im nächsten Moment schwang die Tür automatisch zu, und der Faden hing wieder durch.

Da begriff Sabine. Durch das gespannte Nylonseil war ein Hebel gekippt worden, der sich zwischen Fass und Kunststoffrohr befand, und ein Ventil hatte sich geöffnet.

Scheiße! Wir hätten doch den Haupteingang nehmen sollen.

Jetzt strömte eine Flüssigkeit aus der Öffnung des Fasses in das Rohr; daher das Glucksen.

»Alle Mann herkommen!«, rief Sabine.

Sekunden später standen Schönfeld, Tina und ein Kollege neben ihr. Schönfeld hatte die Nachtsichtbrille vom Helm gezogen und sah zum Fass hinauf. Im nächsten Moment erkannte er, was passiert war.

Tina zielte mit der Waffe auf das Rohr. »Geht in Deckung!«

»Was machst du?«, rief Sabine.

»Was immer wir in Gang gesetzt haben, wir müssen das Auslaufen dieser Flüssigkeit stoppen.« Tina wollte bereits abdrücken.

»Halt!« Schönfeld legte die Hand auf Tinas Arm und drückte ihn runter. »Wir wissen nicht, ob diese Flüssigkeit leicht entzündbar ist.«

»Fuck!« Tina rammte ihre Waffe ins Holster.

»Sie hat recht, wir müssen das stoppen!«, rief Sabine. »Dann kappen wir das Rohr!«

Da das Fass viel zu hoch an der Decke hing, konnten sie das Auslaufventil nicht erreichen, um den Hebel wieder umzulegen. Sie hätten eine mindestens drei Meter hohe Leiter gebraucht.

Schönfeld sah sich um. An der Wand neben der Eingangstür befand sich hinter Glas ein roter Schalter für den Feueralarm. Daneben hingen ein Feuerlöscher und eine Feueraxt. Kurzerhand riss Schönfeld die Axt aus der plombierten Verankerung und lief zu einem Fass an der Wand, über dem das Rohr verlief.

»Helft mir mal hoch«, rief er.

Sabine stützte seine Hand, und er kletterte hoch. Während er auf dem Fass balancierte, schwang er das Beil über den Kopf, streckte sich und rammte es in das Plastikrohr, wo es knirschend stecken blieb. Das Plastik splitterte, es entstand ein langer Riss, und die Flüssigkeit quoll aus der Öffnung.

Mittlerweile waren auch die restlichen Kollegen des SEK-Teams hergekommen. Sie hielten alle einen Sicherheitsabstand.

»Haben Sie die gesamte Fabrik durchsucht?«, fragte Sabine, ohne den Blick von Schönfeld zu nehmen.

»Ja, alles, bis auf die Halle mit der roten Tür.«

»Die rote Tür?«, fragte Sabine.

Indessen hatte Schönfeld nach dem Stiel der Axt gegriffen, um sie aus dem Riss zu ziehen.

»Vorsicht!«, rief Sabine. »Wir wissen nicht, was das ist.«

Da brach das Rohr, die Flüssigkeit spritzte hervor und ergoss sich in einem Schwall über Schönfeld. Der stürzte rücklings von dem Fass und blieb mit einem erstickten Schrei auf dem Boden liegen. Die farblose Flüssigkeit fraß sich in seinen Helm, in sein Schulterpolster, den Oberarm und seinen Brustprotektor, der sogleich Blasen warf. Eine stinkende Dampfwolke stieg auf, und Schönfeld schlug mit den Armen brüllend um sich.

Tina sprang zu ihm und zerrte ihn an den Handgelenken zur Seite. Sie und ein weiterer Kollege rissen Schönfeld den Helm vom Kopf und befreiten ihn von der Uniform, bevor sich die Säure weiter bis zur Haut durchfressen konnte.

Im nächsten Moment hatte Sabine ihren Schock überwunden. »Holen Sie den Notarzt!«, rief sie einem Kollegen zu. Dann sah sie zu Schönfeld.

Er wurde von Tina versorgt. Einige Meter neben ihm lief die Säure über den Boden und begann den Beton zu zersetzen. Giftige, ätzende Dämpfe stiegen auf.

»Bringt Schönfeld raus!«, rief Sabine.

Während ein Kollege mit den Sanitätern telefonierte und die anderen Schönfeld durch die Tür ins Freie trugen, hielt Sabine den Atem an und starrte zum Rohr.

Schönfeld hatte das Rohr nicht komplett zerstört, etwa ein Viertel der Flüssigkeit lief immer noch weiter. Doch wohin?

Sabine folgte der Leitung ins Innere der Halle. Wie eine altertümliche Rohrpostleitung wand sich das Kunststoffrohr mit einem leichten Gefälle an der Wand entlang. Es führte durch eine Mauer und verschwand in eine vermutlich dahinterliegende Halle. Darunter befand sich eine Metalltür, von der bereits der Lack abblätterte.

Die rote Tür.

Vorsichtig drückte Sabine die Klinke nach unten und blickte gleichzeitig nach oben. Die Tür schwang auf, sonst passierte nichts. Kein weiterer Mechanismus. Dahinter befand sich eine kleine, tiefer gelegene Halle, deren Betonboden wie in einer Wanne nach unten geneigt war. Das Rohr lief an der Decke entlang und endete genau in der Mitte des Raums über der tiefsten Stelle in einer Senke.

O Gott!

Dort hing ein Mann, bekleidet mit Hose und Pullover, geknebelt und mit den Händen über dem Kopf an die Öffnung des Rohrs gefesselt. Er balancierte mit den Zehenspitzen auf zwei übereinandergestellten Fässern.

Sabine griff zum Funkgerät am Schulterteil ihrer Weste. »Ich brauche Verstärkung in der Nebenhalle. Rasch!« Dann unterbrach sie die Verbindung und lief zu dem Mann.

Ihren ersten Gedanken, die beiden Fässer wegzutreten, verwarf sie schnell wieder. Dann wäre der Mann hilflos zappelnd an dem Rohr gehangen.

»Ich hole Sie hier runter!«, rief sie zu ihm, doch sie bezweifelte, dass er sie hörte, weil er viel zu beschäftigt war, das Gleichgewicht zu halten. Außerdem war er ziemlich alt und schien kaum noch bei vollem Bewusstsein zu sein.

Da lief auch schon der erste Schwall der Flüssigkeit aus der Öffnung und ergoss sich über Kopf und Schultern des Mannes. Schlagartig war er hellwach und brüllte seine Schmerzen durch den Knebel hinaus.

Sabine sah sich um. Weit und breit keine Leiter. Auch war es unmöglich, über die Fässer nach oben zu klettern und die Fesseln zu lösen. So viel Sabine erkennen konnte, handelte es sich um massive Handschellen.

Während der Mann brüllend versuchte, zur Seite auszuweichen, ohne umzukippen, legte sie die Waffe an und zielte auf die Fesseln. Sollte sie riskieren, dem Mann in die Hand zu schießen? Keine gute Idee! Außerdem würde ihm das in keiner Weise helfen. Sie schwenkte die Waffe zur Seite, zielte auf das Rohr und schoss. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Das Rohr zersplitterte, die Flüssigkeit tropfte zu Boden und lief in die Senke hinunter.

Der Mann riss mittlerweile so stark an den Fesseln, dass er den Halt verlor und von den Fässern kippte. Nun hing er mit seinem ganzen Gewicht an den Handschellen und trat mit den Beinen um sich, während ihn die Säure weiter verätzte.

Verdammt! Von Panik erfüllt zielte Sabine nun doch auf die Handschellen und schoss. Beim zweiten Versuch traf sie eine, sodass der Mann jetzt nur noch an einem Arm hing. Es stank nach versengter Haut, verbranntem Stoff und verkohlten Haaren. Der Wollpullover hatte die Flüssigkeit in der Zwischenzeit dankbar aufgesogen, und diese fraß sich durch den Körper des Mannes.

Er schrie erbärmlich auf, zappelte und versuchte verzweifelt, mit den Füßen wieder das Fass zu erreichen. Dabei stieß er das obere um, sodass es polternd zu Boden fiel.

Sabine wollte erneut schießen, musste aber zur Seite springen, als das leere Fass neben ihr auf den Beton knallte und davonrollte.

Mittlerweile tropfte die Flüssigkeit nur noch langsam aus der Öffnung. Aber das genügte. Der Anblick vom Hinterkopf des Mannes war so schrecklich, dass Sabine sich nicht mehr bewegen konnte. Auch das, was von seinem Gesicht, den Schultern und Armen übrig geblieben war, sah nicht besser aus – ebenso wenig der Pullover, der in rauchenden Fetzen an ihm hinunterhing.

Ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie wandte den Blick ab, und ihr Körper wurde vor Ohnmacht und Hilflosigkeit völlig steif. Zudem waren die Dämpfe so ätzend, dass Sabine sich übergeben musste – und weil sie sich in ihrer Starre nicht weiter vorbeugen konnte, ihre Schuhe traf.