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Petra Oelker

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Beschreibung

Rosina folgt der Spur des Verbrechens von Hamburg nach London. April anno 1770. In Hamburg wird ein honoriger Drucker ermordet, ein Mädchen und eine kostbare Münzsammlung verschwinden. Wenige Wochen später wird in London die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wer hasste den Drucker so sehr? Warum musste das Mädchen sterben? Diesmal macht sich die Hamburger Komödiantin Rosina mit Weddemeister Wagner und Madame Augusta in der brodelnden, weltoffenen Stadt an der Themse auf die Suche nach einem Mörder und seinem Motiv. Eine aufregende Jagd, bis sie zwischen Theater, Kaffeehaus und Druckerei, verruchtem Gin-Keller und noblem Salon begreifen, was die beiden Toten an Elbe und Themse miteinander verband.

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Petra Oelker

Die englische Episode

EIN HISTORISCHER KRIMINALROMAN

Über dieses Buch

Rosina folgt der Spur des Verbrechens von Hamburg nach London.

 

April anno 1770. In Hamburg wird ein honoriger Drucker ermordet, ein Mädchen und eine kostbare Münzsammlung verschwinden. Wenige Wochen später wird in London die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wer hasste den Drucker so sehr? Warum musste das Mädchen sterben?

Diesmal macht sich die Hamburger Komödiantin Rosina mit Weddemeister Wagner und Madame Augusta in der brodelnden, weltoffenen Stadt an der Themse auf die Suche nach einem Mörder und seinem Motiv. Eine aufregende Jagd, bis sie zwischen Theater, Kaffeehaus und Druckerei, verruchtem Gin-Keller und noblem Salon begreifen, was die beiden Toten an Elbe und Themse miteinander verband.

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als freie Journalistin und veröffentlichte Jugend- und Sachbücher. Sie schrieb mehrere in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, unter ihnen «Der Klosterwald» und «Die kleine Madonna».

Dem großen Erfolg ihres ersten historischen Kriminalromans «Tod am Zollhaus» folgten weitere Romane, in deren Mittelpunkt Hamburg und die Komödiantin Rosina stehen.

 

Weitere Veröffentlichungen:

(in der Reihe um die Komödiantin Rosina)

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die zerbrochene Uhr

Die ungehorsame Tochter

Der Tote im Eiskeller

Mit dem Teufel im Bunde

Die Schwestern vom Roten Haus

 

(in der Reihe um die Äbtissin Felicitas Stern)

Der Klosterwald

Die kleine Madonna

sowie

Die Neuberin

Tod auf dem Jakobsweg

The great city, an emporium then

Of golden expectations …

 

(Die große Stadt, ein Handelsplatz von goldenen Erwartungen …)

William Wordsworth

Ich muss nach England; wisst Ihr’s?

Hamlet, Prinz von Dänemark

England 1770

An der Küste von Sussex

Als der Tag zu Ende ging, roch die Luft über den Klippen nach Frühling, doch in der Nacht duckte sich das Land wieder unter der Kälte des Februars. Der Himmel über dem Meer war klar, bis die von Sternen glitzernde schwarze Unendlichkeit mit den ersten Stunden des neuen Tages im Dunst verschwand und die Welt klein, eng und tonlos wurde. Der Nebel dämpfte jedes Geräusch: das Schmatzen der Wellen, die sich sanft an den Klippen brachen, den stumpfen Klang der Hufe auf dem Strand, selbst die Stimmen der Reiter.

Die beiden Dragoner, die am Strand Patrouille ritten, froren in dieser kalten Dunkelheit. Die klebrig-nasse Luft legte sich eisig auf ihre Gesichter und durchdrang den festen Wollstoff ihrer Winteruniformen. Vor allem aber gab der Nebel ihnen das Gefühl, allein in Feindesland zu sein, obwohl das nächste Haus der Zoll- und Küstenwache, Unterkunft für fünfzehn Männer und anderthalb Dutzend Pferde, kaum mehr als zwei Meilen entfernt in den Hügeln stand.

«Es ist unsinnig, in einer solchen Nacht Patrouille zu reiten», sagte der Jüngere der beiden, «wirklich unsinnig.» Seine Stimme klang lauter, als er für gewöhnlich sprach, und er fuhr gedämpfter fort: «Heute Nacht ist hier niemand. In so einer Nebelsuppe sieht kein Mensch etwas. Wir nicht und die nicht. Oder glaubst du, die können hexen?»

«Nicht wirklich hexen», antwortete der zweite Reiter bedächtig und wischte sich mit dem Handrücken die Nässe aus den Augenbrauen, «obwohl es manchmal so scheint. Die kennen hier jeden Stein und jeden Ginsterbusch, die machen ihre Geschäfte auch in Nächten, in denen selbst der Teufel zu Hause bleibt.» Er verhielt sein Pferd und neigte lauschend den Kopf zur Seite. «Nichts», sagte er. «Trotzdem wäre ich kaum überrascht, wenn da draußen auf dem Wasser, keine viertel Meile vor unserer Nase, was vor sich geht.»

Beide starrten in den Nebel hinaus, in dem sich das Meer versteckte, bis sie die Kälte wieder vorwärts trieb. Am Ende der Bucht saßen sie ab, führten ihre Pferde behutsam tastend zum Küstenpfad hinauf und ritten weiter nach Westen.

Sie waren kaum hinter dem nächsten Hügel verschwunden, als emsiges, doch nahezu geräuschloses Leben in der Bucht erwachte. Aus den Höhlen der Steilwand, hinter Buschwerk und Felsbrocken huschten hundert, wenn nicht gar hundertfünfzig dunkle Schatten hervor. Stämmige kleine Packtiere standen plötzlich am Strand, die Hufe dick mit Sackleinen umwickelt, die Mäuler gebunden. Zwei flache Boote lösten sich aus dem Uferschilf des Flüsschens, das hier ins Meer mündete, glitten hinaus in die Bucht und waren schon im Nebel verschwunden.

Zwei Stunden später, es war nicht mehr lange bis Sonnenaufgang und mit der aufkommenden sanften Brise begann sich der Nebel in dicke Schwaden zu teilen, kehrten die beiden Reiter zurück. Die auflaufende Flut hatte den Strand schon schmal gemacht.

«Ich hab’s dir gesagt», murmelte der Jüngere mit von der Kälte steifen Wangen, «in so einer Nacht liegen alle in ihren warmen Betten. Außer uns. Wahrscheinlich haben wir sie überhaupt endgültig vergrault. Seit sie wissen, dass sie gehenkt oder zumindest deportiert werden, wenn wir sie schnappen …»

Der Ältere lachte leise und freudlos. Der junge Dragoner aus London musste noch viel lernen. Er blickte auf den Sand hinab, doch über dem Boden war der Nebel noch so dicht, dass er kaum die Hufe seines Pferdes erkennen konnte. Auch nach Sonnenaufgang würde die Suche vergeblich bleiben. Dann hatte die Flut alle Spuren verwischt, auch ihre eigenen.

Zwei Meilen weiter im Land erreichten schwer bepackte Männer, Frauen und Kinder ihr Ziel. Auf dem versteckten Pfad durch die Downs war die kleine Karawane immer kleiner geworden. Bei diesem Busch, bei jenem Stein – immer wieder waren einige der menschlichen Lastträger still verschwunden, als habe sie die dunstige Dunkelheit verschluckt. Die mit den Maultieren hatten eine gute Meile zurück bei der mächtigen, vor Jahren von einem Blitz gespaltenen Esche den Weg zum Dorf eingeschlagen.

Die Männer mit den Booten würden in den nächsten dunklen Nächten zurückkehren, zwei-, vielleicht auch dreimal, und wieder in die Bucht hinausrudern, bis auch die letzte der geteerten Tonnen, die mit dicken Steinen verbunden kurz unter der Oberfläche des Wassers dümpelten, geborgen und in Sicherheit gebracht waren.

Doch jetzt waren auch die Boote längst verschwunden, eines langsamer als gewöhnlich, denn in dieser Nacht war seine Ladung besonders schwer, weit schwerer als die Kisten mit den in Holland ohne Lizenz gedruckten Büchern für die Händler der Provinz. Spätestens bei Sonnenaufgang würde es entladen und fest vertäut am Steg der Pfarrei des Dorfes liegen, als habe es seit Tagen nichts anderes getan.

Hamburg 1770 im April

Kapitel 1

Dieses Mal hatte der Tod sein Spiel verloren. Oder hatte er nur gnädig auf seine Beute verzichtet? Das glaubte sie nicht. Was sollte am Sterben eines Kindes Gnade bedeuten? Sie glaubte, dass der Tod mit dem Leben spielte. Ein unerbittliches Spiel, in dem die Rollen so ungerecht verteilt waren wie in keinem anderen.

Ein böiger Nordwest kam vom Fluss herauf, schärfte sich in den engen Straßen und durchdrang die dicke Wolle ihres Schultertuches. Auch in der Kirche hatte sie gefroren, die Mauern von St. Michaelis hielten die Kälte der langen Wintermonate oft bis weit in den Sommer hinein, sie war froh gewesen, dass Merthe darauf bestanden hatte, ihr den heißen Stein mitzugeben.

Der lag nun erkaltet in ihrer Tasche, aber immerhin waren ihre Füße warm.

‹Du darfst nicht krank werden›, hatte Merthe gesagt und wie immer Recht gehabt, als sie streng hinzufügte: ‹Du siehst aus, als könnte dich ein Mückenstich umbringen.› Sicher hatte Merthe auch Recht gehabt, als sie entschieden gegen den Besuch der Morgenandacht protestierte: ‹Du brauchst keine kalte Kirchenbank, sondern Schlaf. Geh endlich ins Bett, es wird Gott nicht stören, wenn du deine Gebete unter einer warmen Decke sprichst.›

«Guten Morgen, Madame Boehlich. So früh schon unterwegs? Aber daran tut Ihr recht. Es ist ein herrlicher Morgen, für Mitte April sogar wahrhaft herrlich. Geht es Onne besser?»

Luise Boehlich blieb stehen und schlug ihr Tuch aus der Stirn zurück. Sie war rasch den seit Jahren vertrauten Weg gegangen und hatte nicht bemerkt, dass sie schon den Großneumarkt erreicht hatte. Schröder, der Bäcker aus dem Valentinskamp, stand vor ihr und sah sie freundlich an. Wieder zerrte eine Bö an ihrem Tuch und an ihren Röcken, doch nun fühlte sie die Kälte nicht mehr. Seit Tagen hatte sie ihr Haus nicht verlassen, seit Tagen mit niemandem gesprochen als mit Merthe und dem Arzt, seit Tagen hatte sie nichts gesehen als deren sorgenvolle Mienen und das fiebernde Gesicht ihres Sohnes. Die gesunde Pausbackigkeit des Bäckers, der süße Duft aus seinem Korb, die Spuren von Mehl auf seiner Schürze erschienen ihr wie die Verheißung von neuem Leben, von Wärme und Alltäglichkeit. Von Glück, dachte sie und fühlte dankbar, wie leicht Glück aus einer Kleinigkeit erwachsen kann.

«Danke, Meister Schröder, ja, es geht Onne endlich besser. Das Fieber ist gesunken und Dr. Reimarus hat uns versichert, dass es nun überstanden ist.»

Sie wollte lächeln, doch ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, und sie wischte sich hastig mit ihrem Ärmel über das Gesicht. «Wie dumm von mir, jetzt noch zu weinen», sagte sie und versuchte wieder ein Lächeln.

«Seid froh, wenn Ihr Grund habt, aus Freude zu weinen», sagte der Bäcker, hob das Leintuch von seinem Korb, griff nach kurzer Auswahl ein süßes, zuckerbestäubtes Brötchen und überreichte es Madame Boehlich, als sei es eine duftende Rose. «Nach diesem harten Jahr. Aber nun», er schob das rundliche Kinn vor und sah zum Himmel hinauf, «kommt die Sonne durch die Wolken. Glaubt mir, wenn der Sommer anfängt, wird alles besser. Die Wärme und das Licht machen Euren Sohn im Handumdrehen gesund. Und bald», fügte er nach kurzem Zögern hinzu, als habe er nach etwas besonders Tröstlichem gesucht, «kommt der Mai und dann …»

«Im Juni», widersprach sie hastig, «ganz gewiss nicht vor Juni. Vielleicht erst im Juli. Es ist noch so viel zu tun im Haus und in der Druckerei, das Auftragsbuch ist voll.»

Sie biss in das süß duftende Brötchen, nickte dem Bäcker einen Dank zu und eilte davon.

Meister Schröder sah ihr verdutzt nach, breitete achselzuckend das Tuch wieder über den Korb und setzte seinen Weg fort. Er mochte Madame Boehlich, alle mochten sie. Seit sie vor einem knappen Jahr Witwe geworden war und selbst die Boehlich’sche Druckerei am Valentinskamp führte, manche fanden sogar besser als Abraham, versagte ihr erst recht niemand den Respekt. Boehlich war fleißig und honorig gewesen, allem Neuen gegenüber jedoch mehr als misstrauisch. Doch die Zeiten waren nun mal so, dass es ständig Neues gab, und wer im Geschäft bleiben wollte, durfte sich dem nicht verschließen. Das hatte er, Schröder, Boehlich immer wieder gesagt, wenn sie im Bremer Schlüssel saßen und über Gott und die sich gar zu rasch drehende Welt räsonierten. Das Bewährte, hatte der Drucker dann stets gesagt, bleibe das Bewährte. ‹Lass andere das Neue versuchen und sich ruinieren. Wenn’s doch funktioniert, ist immer noch Zeit, es zu übernehmen.› Sein Faktor war wohl anderer Meinung gewesen, aber klug genug, sich seinem Herrn zu fügen. Sicher war es sein Einfluss, der Luise Boehlich ihre Geschäfte so klug führen ließ, auch wenn sie seit jeher ihren eigenen Kopf hatte. Abraham hatte es in seiner Ehe gewiss nicht immer leicht gehabt.

Nur gut, dachte er und schob die Tür zum Gasthaus Zur blauen Möwe auf, dass die Boehlichin sich nicht mehr lange mit der Druckerei plagen musste. Cornelis Kloth, der Boehlich’sche Faktor, galt als ernsthafter Mensch, als ein Fuchs in Geschäften und als Ehemann – nun, er verstand einen Scherz, war in den besten Jahren und würde sie und ihre Kinder schon nicht in Sack und Asche gehen lassen.

Juni, dachte Luise Boehlich noch, als sie die Caffamacherreihe hinuntereilte. Seit Wochen dachte sie immer wieder: Juni. Das war der verabredete Monat, und damals, im September, war ihr die Zeit bis dahin sehr lang erschienen. Bis zum letzten November. Sie hatte um Abraham getrauert und das Versprechen, das sie ihm in der Nacht vor seinem Tod gegeben hatte, für selbstverständlich genommen. Es war auch jetzt noch vernünftig und ehrbar. Sie musste es einlösen.

Sie bog in den Valentinskamp ein und wandte sich nach rechts. Vor der Schröder’schen Bäckerei blieb sie stehen, schnupperte dem köstlichen Geruch von warmem Brot nach und sah die Straße hinunter, in der sie seit zehn Jahren lebte. Ihr Geist war müde und überwach zugleich. Gegen die Sonne, die gerade erst über die Dächer geklettert war und die noch morgengrauen Fassaden mit sanften Farben bemalte, schienen ihr die Reihen der Häuser wie ein Traumbild, vertraut und doch auf seltsame Weise fremd. Die Luft der frühen Stunde war glasklar – der Tag würde wieder Regen bringen – und ließ sie die Straße wie durch eine vergrößernde Linse sehen. Hatte sie je die zierlichen steinernen Farnwedel über der Tür der Feinwäscherei bemerkt? Die moderigen Flecken an den Balken im Fachwerk des nur zwei Fenster breiten Häuschens am Durchgang zur St.-Anscharkapelle? Oder um wie viel stärker der Giebel ihres Nachbarhauses vorkragte als all die anderen?

Jeden Tag war sie an alledem vorbeigegangen und hatte nichts gesehen. ‹Unsinn›, würde Merthe sagen, sollte sie je so leichtfertig sein, Abrahams Schwester von diesen Gedanken zu erzählen. ‹Unsinn. Was ändert ein Farnwedel, was ändert ein vorragender Giebel an deinem Leben. Warum vertust du Zeit mit Herumstehen und Straßenhinunterstarren?› Merthe war ein durch und durch vernünftiger Mensch.

Als Luise vor einer guten Stunde ihr Haus verlassen hatte, war die Straße bis auf einige Karren und mit schweren Körben zum Markt eilenden Frauen aus den Kohlhöfen verlassen gewesen. Nun waren die Stadttore geöffnet, die Zöllner hatten die ersten Wagen geprüft, und vom Gänsemarkt her ratterten hoch beladene Fuhrwerke über das grobe Pflaster. Vor den Werkstätten fegten die Lehrjungen die Straße, in weit geöffneten Fenstern lag Bettzeug zum Lüften, Wasserträgerinnen schleppten ihre doppelte Last vom Brunnen am Großneumarkt. Eine Schar Jungen flitzte vorbei, gewiss auf dem Weg zu einer der Armenschulen in der Neustadt, und scheuchte lärmend ein paar Hühner auf, die gierig in noch dampfenden Pferdeäpfeln kratzten.

Sie hatte wirklich keine Zeit herumzustehen. Umso mehr genoss sie den Blick entlang der Straße, empfand sie die Wahrnehmung jeder Einzelheit als ein Geschenk. Als sei sie endlich auf einer dieser Reisen, von denen sie als Mädchen geträumt hatte, wohl wissend, dass sie sie nie antreten würde. Sie wollte von nun an dankbar sein: Wohl hatte sie viel verloren, doch ihre Welt war immer noch unendlich reich. Sie musste sich nur bemühen, den Reichtum zu sehen.

An diesem Morgen hatte sie nicht nur Dankgebete für Onnes Rettung gesprochen, sie hatte Gott auch um Vergebung gebeten. Und um himmlischen Schutz für einen Reisenden. Sünde. Das war es wieder, das kleine gemeine Wort. Sünde. Aber Onne lebte, war das nicht ein Zeichen des Himmels, dass ihr vergeben worden war?

Onne habe es geschafft, er sei eben doch ein kräftiger kleiner Kerl, hatte der Arzt im Morgengrauen gesagt. Plötzlich fror sie wieder. Und wenn der Arzt sich irrte? Was war womöglich geschehen in dieser einen kurzen Stunde, die sie fort gewesen war? Wer wusste besser als sie, die ehrbare Madame Boehlich, was eine kurze Stunde bedeuten konnte, wie schnell ein ganzes Leben durcheinander gewirbelt wurde? Rasch warf sie den letzten Brocken des Brötchens den Hühnern zu, wischte sich den Zucker von den Lippen, lief die letzten Schritte bis zu ihrem Haus, dem drittletzten, bevor sich die Straße zum Gänsemarkt weitete, und schob das Hoftor auf.

«Da bist du ja endlich.» Am zweiten Fenster im ersten Stock stand Merthe, bleich wie immer, ganz in Schwarz wie immer, mit strengem Gesicht. Während der ersten Jahre ihrer Ehe hatte Abrahams Schwester ihr Furcht eingeflößt. Inzwischen, ganz besonders im letzten Jahr, hatte sie gelernt, hinter ihre Fassade zu sehen. Merthe mochte es an Zärtlichkeit fehlen, gewiss auch an Frohmut, an Leichtigkeit, aber ihre Zuverlässigkeit bedeutete Sicherheit, und sie hatte nie versucht, die so viel jüngere zweite Frau ihres Bruders zur Seite zu drängen, was ihr gewiss nicht immer leicht gefallen war. Für die Kinder, die sie auf ihre spröde Art liebte, war ihre Strenge zweifellos ein guter Ausgleich zu Luises allzu großer Nachgiebigkeit.

«Er ist wach», rief Merthe in den Hof hinunter, «komm schnell herauf. Bring frisches Wasser aus der Küchentonne mit, ich will ihn waschen. Und pass auf, dass die Hunde draußen bleiben.»

Die Hunde, zwei dünne weißbraune Zottelgeschöpfe, lagen seit Tagen vor Onnes Tür und warteten auf Einlass.

«Morgen», murmelte Luise, als sie sich mit der Waschschüssel an ihnen vorbeidrängte, «morgen dürft ihr ihn besuchen.»

Onne lag gegen zwei dicke Kissen gestützt in seinem Bett, das Gesicht unter dem vom Fieberschweiß dunklen honigblonden Haar bleich wie die Laken, und lächelte seiner Mutter entgegen. Seine Augen blickten müde, aber klar, der Fieberglanz war verschwunden.

«War es schön in der Kirche, Mama?», fragte er heiser, und Luise stellte zitternd die Schüssel auf den Tisch am Fenster. Sie küsste ihren Sohn und fühlte wieder dieses erdrückende Gefühl der Schuld.

«Und nun geh endlich schlafen», knurrte Merthe, «oder soll ich morgen zwei Kranke pflegen?»

«Ach Merthe», Luise zog Onnes Decke bis an sein Kinn, strich noch einmal über seine Wangen und stand auf, «was täten wir ohne dich?»

Merthe antwortete nicht. Sie beugte sich über die Truhe, suchte nach frischen Laken und tat, als habe sie nichts gehört. Dankbar sah Luise auf den hageren Rücken. Merthe wirkte oft barsch, doch nur wer sie wenig kannte, hielt sie für die kalte Frau, als die sie sich gab. Plötzlich fühlte Luise die Müdigkeit der durchwachten Nächte wie schwere Hände auf ihren Schultern und wusste, dass Abrahams Schwester wieder einmal Recht hatte. Noch einmal küsste sie Onne, flüsterte ihm zu, er solle sich nun gesund schlafen, Merthe werde auf ihn Acht geben, und verließ das Zimmer.

Am Fuß der Treppe zog sie Abrahams Taschenuhr hervor, noch zehn Minuten bis zum Arbeitsbeginn. Die Drucker und Setzer, die Korrektoren, Gehilfen und der Lehrjunge würden gleich kommen. Auch Kloth, der Faktor, der ihnen am Morgen die Tür aufschloss.

Seit Abrahams Tod begann Luise Boehlich ihren Arbeitstag mit einem Gang durch die Druckerei. Sie liebte dieses Ritual, liebte den herben Geruch der Druckerschwärze, den feineren des Papiers. Sie liebte auch die Geräusche: das leise Klicken der Bleilettern, wenn die Setzer sie in den Winkelhaken zu Wörtern und Zeilen zusammenfügten, das Scharren, wenn die Drucker den Karren mit dem Schriftsatz unter die Presse fuhren, das sanfte Quietschen des Bengels, des armlangen Hebels für die schwere Platte, die den Deckel mit dem Papierbogen auf den geschwärzten Schriftsatz presste. In ihrem Ohr hatte jede Presse ein eigenes Geräusch. Sie habe ein zu phantasievolles Gehör, hatte Abraham gesagt, Presse sei Presse. Aber er hatte dabei gelächelt. Er, der Nüchterne, hatte ihre lebendige Phantasie oft belächelt, doch er hatte sie auch gemocht. Egal, was in den letzten Monaten geschehen war, immer noch vermisste sie ihren Mann schmerzlich.

Seit Tagen war sie nicht mehr in der Druckerei gewesen, seit Onne um sein Leben kämpfte, hatte sie nicht einmal daran gedacht. Wenn sie nun nicht länger herumstand und sentimentalen Gedanken nachhing, hatte sie einige Minuten für sich allein in der Druckerei. Und konnte anderen sentimentalen Gedanken nachhängen.

Zwei Tauben flogen auf, als sie in den Hof trat, sie beschloss, dass das ein gutes Omen sei. Sie sah den Vögeln nach und zur Krone der Kastanie hinauf. In der vergangen Woche waren die dicken klebrigen Knospen aufgeplatzt, noch waren die Blätter klein, doch schon bald würde der Baum seine ganze Pracht entfalten und die unreifen Knotengebilde seiner Kerzen sich in kleine Pyramiden aus duftig-weißen Blüten verwandeln. Abraham hatte die Kastanie schon vor Jahren fällen lassen wollen. Sie sei nun zu groß, hatte er gesagt, ihr Schatten verdunkle die Druckerei. Immer wieder war es ihr gelungen, ihm noch ein Jahr für den schönen Baum abzuringen, dann noch eines und noch eines. Doch jetzt, da sie alle Verantwortung alleine trug, ertappte sie sich bei dem gleichen Gedanken.

Sie schüttelte energisch den Kopf: Jetzt erst recht nicht. Während der Tage und Nächte, die sie Stunde um Stunde an Onnes Bett gesessen hatte, war der Blick auf das langsam, gleichwohl stetig wachsende Grün ihr größter Trost gewesen. Die stille Kraft des Baumes, der Jahr um Jahr die tote Zeit des Winters überlebte, um im Frühjahr sein üppiges Laub hervorzubringen, war ihr zum Symbol der Zuversicht geworden. Sie legte beide Hände fest an die raue Rinde, wäre es ihr nicht so unchristlich und töricht erschienen, hätte sie danke gesagt.

Rasch zog sie die Hände zurück und barg sie in den Taschen ihres Rockes. Sie stellte sich Merthes Gesicht vor, wenn sie sie bei der Berührung des Baumes beobachtet hätte. Einem Baum zu danken, seinen Stamm zu streicheln, wäre Merthe nicht einmal ketzerisch vorgekommen, sondern ausschließlich einfältig. Davon bekam man nichts als schmutzige Hände.

Sie würde den Baum nicht fällen lassen. Sicher war es möglich, stattdessen die hinteren Fenster zu vergrößern. Gutes Glas war teuer, aber für eine Druckerei eine sinnvolle Investition.

Erst als sie die Klinke hinunterdrückte, fiel ihr ein, dass sie den Schlüssel aus dem Kontor holen und die Tür zur Druckerei aufschließen musste. Doch die Tür gab nach und sie ertappte sich bei einem leisen Gefühl der Genugtuung: Cornelis Kloth hatte vergessen abzuschließen. Es war angenehm, einen fehlerlosen Mann bei einem Fehler zu ertappen.

Der vordere Raum des Hinterhauses war düster, ihn erreichte das wenige Tageslicht, das die Kastanie hindurchließ, zuletzt, deshalb wurde er als Lager benutzt. Ihr Blick glitt über die Vorräte von Papier verschiedener Qualitäten, registrierte unwillkürlich die Zahl der Stapel und deren Höhe, die kleinen Tonnen mit Ruß und die Kannen mit Leinöl für die Druckerschwärze, glitt weiter über das Regal mit allerlei Gerätschaften, über die schweren Schürzen der Drucker an den Wandhaken, den langen, von Hockern umringten Holztisch für die Mittagspause.

Die Tür zum hinteren, dem größeren Raum stand halb geöffnet. Sie schob sie ganz auf und stutzte. Die Angeln hatten immer ein bisschen gequietscht, nun bewegten sie sich geräuschlos. Cornelis musste sie in den letzten Tagen geölt haben.

Noch stand die Sonne zu tief, um den Raum ganz zu erhellen. An der ersten der drei Pressen konnte den größten Teil des Jahres erst am Spätvormittag gearbeitet werden, doch durch die hinteren Fenster fiel schon das klare Licht des Morgens auf die schrägen Tische mit den Setzkästen und auf die anderen Pressen. Abrupt blieb sie stehen. Die Setzkästen? Die Tische waren leer. Wo waren die Setzkästen? Niemals in all den Jahren hatte sie die Tische leer gefunden. Rasch trat sie vor – und da sah sie es. Das konnte nicht sein, das war nur ein schlechter Traum, sie hatte viele Nächte kaum geschlafen, ihre überreizte Phantasie spielte ihr einen Streich. Es knirschte leise unter ihren Füßen und sie wusste, dass es doch wahr war.

Weder die Theaterzettel für die Wanderkomödianten noch die Warenlisten des Konfitüren- und Spezereienhändlers am Schaarmarkt würden heute gedruckt werden, gar nichts würde unter die Pressen kommen. Auf den schwarzen Dielen vor den Tischen lagen die Kästen wie auf einem mattsilbernen Teppich aus Tausenden von Lettern.

«Mein Gott!», flüsterte sie und sank auf die Knie. Mit flatternden Händen griff sie nach den Lettern, starrte auf ein großes C, fühlte ein winziges Y, fand einen Punkt und ein Fragezeichen – und ließ die kleinen Bleistücke mit den erhabenen Zeichen wieder fallen. Es war hoffnungslos. Es würde Wochen dauern, bis alle wieder in ihren Fächern lagen. Sie waren winzig, und die Setzer mussten blind nach ihnen greifen und darauf vertrauen können, dass alle Zeichen in den richtigen Fächern lagen.

Drei Kästen lagen auf dem Boden, einer musste also noch auf seinem Platz auf dem hinteren Tisch stehen. Wenn seine Fächer gut gefüllt waren, konnten sie die Lettern auf zwei Kästen verteilen, konnten zwei Setzer arbeiten, jedenfalls so lange, bis die ersten Buchstaben ausgingen. Aber wenn nicht, wenn er nur in einer anderen Ecke lag? Hinter der dritten Presse ausgeleert wie die andern?

Hastig beugte sie sich vor, schirmte mit der Hand die Augen gegen das schräg einfallende Licht und sah zwischen den stämmigen Beinen der Druckpressen hindurch. Ihr Herz machte einen Satz und sie erstarrte. Da lag kein Setzkasten, da lagen auch keine Lettern. Da lag ein Mann. Ein blutiges Rinnsal aus seinem rechten Ohr war an seinem Hals entlang und in seine weiße Halsbinde gesickert.

***

Die Braut saß in der ersten Reihe und strich immer wieder zärtlich über den Stoff ihres lichtblauen Kleides. Es war das schönste und ganz gewiss auch das feinste, das sie je besessen hatte, ein wertvolles Geschenk einer alten Dame, die sie bis heute nicht einmal gekannt hatte. Es war nicht ganz neu, doch selbst die glänzenden weißen Bänder am Dekolleté und an den Ärmeln schimmerten makellos. Dass die ungewohnten Stäbe aus Fischgrat über der Taille sie zwangen, sehr aufrecht zu sitzen, störte sie nicht, heute war ein Tag zum Aufrechtsitzen. Ihre rechte Hand, dünn wie ihr ganzer kleiner Körper und rau und gerötet – daran hatten auch die Einreibungen mit Mattis kostbarer Beinwellsalbe nur wenig geändert –, tastete behutsam nach der Seidenblume in ihrem Haar. Auch die war ein Geschenk, von Rosina, der jungen Frau, die neben ihr in der Bank unruhig hin und her rutschte.

«Ich bin gleich wieder da», flüsterte die ihr zu, «lauf nicht weg.»

Karla nickte, ohne ihren Blick von dem geschnitzten Mittelschrein des Altars abzuwenden. Das leidend-selige Gesicht der heiligen Barbara unter der Gloriole, vielleicht auch die zahlreichen vergoldeten biblischen Figuren auf den Seitenflügeln, schien sie völlig in Anspruch zu nehmen. Oder sie starrte nur auf den einsam davor wartenden Trauschemel.

Rosina schritt rasch durch den kurzen Gang der Seitenkappelle, beantwortete die Fragen in den Gesichtern der anderen Hochzeitsgäste mit einem beruhigenden Lächeln und eilte, so rasch es der Anstand an einem geweihten Ort erlaubte, über die uralten Grabplatten des Seitenganges der St.-Johanniskirche zum Portal. Sie hatte befürchtet, dass es bei dieser Hochzeit die eine oder andere Konfusion geben würde – aber schon bevor die Zeremonie begann?

Als sie vor zwei Stunden vor der Tür der kleinen Wohnung am Plan eintraf, in der das junge Ehepaar ab heute wohnen wollte, fand sie sie unverschlossen und verlassen. Kein guter Anfang für einen Hochzeitstag. Karla lief manchmal in der Stadt oder auf den Wiesen des Hamburger Berges herum und vergaß, beizeiten nach Hause zu gehen. Es gebe dort so viel zu sehen, hatte sie sich mit ihrer dünnen Stimme entschuldigt, wer höre da schon ständig auf die Glocken und denke an die Uhr?

Man müsse das Kind nehmen, wie es sei, hatte Matti, in deren Haus Karla das letzte Jahr gelebt hatte, milde erklärt. Sie sei brav, fleißig, ein wenig langsam, das wohl, aber nicht so dumm, wie es scheine. Das sei mehr, als man von manchen jungen Frauen sagen könne, und wer sei schon gänzlich frei von Marotten? Dabei hatte sie Rosina mit ihren weisen, immer noch veilchenblauen Augen angesehen, und die fühlte sich auf diese liebevolle Art ertappt, auf die sich nur Matti verstand. Ihr Unmut schwand – bis heute Morgen.

Matti, die alte Hebamme vom Hamburger Berg, war eine geduldige Frau. Wofür sie Rosina, der diese Tugend völlig fehlte, bewunderte. Also klopfte sie geduldig an die Türen der Nachbarn, aber niemand hatte Karla gesehen, kaum einer kannte sie, sie war ja erst am Tag zuvor eingezogen.

Dann erinnerte sie sich: die Kleine Alster! An deren Ufer, nur wenige Schritte entfernt neben dem Durchgang zum Gymnasium, hatte Karla ihren geheimen Lieblingsplatz. An den habe sie sich früher oft geflüchtet, hatte sie Rosina vor einigen Tagen anvertraut, während sie gemeinsam das zu große Kleid für die Hochzeit passend machten.

Hier fand Rosina sie auch an diesem Morgen. Sie habe nicht gedacht, dass Rosina so früh kommen werde, erklärte Karla, das Ankleiden gehe doch rasch. Sie habe nur auf die Sonne gewartet, schließlich sei es ein besonderer Tag.

«Schau nur. Ist der Morgen nicht schön?» Ihre hellen Augen glänzten wie die eines Kindes, und Rosina ließ sich aufseufzend auf einen runden Stein sinken. Sie war schlank, auf der Bühne glänzte sie in Hosenrollen und als Tänzerin, nie hatte sie sich als grobe oder gar plumpe Person gesehen, niemand tat das. Aber neben Karla, die mit ihren fast achtzehn Jahren doch nur einige Jahre jünger war als sie, fühlte sie sich wie eine Matrone. Breit, abgeklärt, sogar blind für den Zauber eines sonnigen Frühlingsmorgens. Es war lange, sehr lange her, dass sie selbst die Welt mit so staunenden Augen erfahren hatte.

«Schau», sagte Karla noch einmal und zeigte auf die im Wasser schaukelnden Entenmütter mit ihren flaumigen Küken, auf die leuchtenden Sumpfdotterblumen im Gras und die rosafarbenen und violett gefärbten Morgenwolken über den Dächern. Der Morgen war wirklich schön, und für einen Moment war Rosina froh über Karlas Eskapade. Es hätte schlimmer sein können. Immerhin hatte sie sie gleich gefunden. Manchmal, so hatte Matti besorgt berichtet, verlasse sie das Haus auch mitten in der Nacht. Sie sei somnambul, nur hin und wieder, doch sie bedürfe deshalb besonderer Fürsorge, es sei sehr zu hoffen, dass dies den jungen Ehemann nicht überfordern werde.

Im Moment, dachte Rosina wütend, als sie nun vor das Kirchenportal trat, ist es der junge Ehemann, der uns alle überfordert.

«Wo kann er nur sein?», fragte sie Jean, der vor der Kirche stand und sein Gesicht in die Sonne hielt. Als Prinzipal und Heldendarsteller der Becker’schen Komödiantengesellschaft fühlte er sich verpflichtet, seinem Gesicht schon mit der ersten Frühlingssonne die kräftige Farbe zu geben, die einen verwegenen Mann auf den ersten Blick erkennen ließ.

«Du machst dir mal wieder zu viele Sorgen, Rosina», sagte er gut gelaunt, «unnötig und zu früh. Es kann doch erst kurz vor zehn sein.»

«Richtig, kurz vor zehn. Um halb zehn sollte er hier sein. Er kommt doch sonst nie zu spät.»

«Vielleicht hat er es sich anders überlegt», murmelte Jean und zupfte ein Staubkörnchen von seinem kirschroten Samtrock, der wie die Kniehosen aus silbergrauem Satin zu den besten Stücken aus den Kostümkörben gehörte. Nur mit Mühe hatte Helena, amtlich angetraute Madame Becker und die erste Heroine der Gesellschaft, verhindern können, dass er auch noch eine frisch gepuderte Perücke über sein volles, noch fast schwarzes Haar stülpte. Die mächtige schwarze Seidenschleife in seinem Nacken schien ihm zwar nur eine geringe Entschädigung für die Pracht aus weißen Locken, aber vornehmer, da hatte er seiner Frau schließlich widerwillig zugestimmt, sei die schlichtere Eleganz. Jedenfalls am Vormittag und in dieser Stadt im Norden. In den südlichen Städten, in denen die Becker’sche Gesellschaft bei ihren Reisen durch die deutschen Länder auch hin und wieder spielte, galt weißer Puder auf dem Kopf auch um diese Stunde immer noch als Zeichen der Bedeutung eines Mannes. Eine ungepuderte Perücke wäre wohl passend gewesen, doch wozu brauchte die ein Mann, der so prächtiges volles Haar hatte wie er?

Jeans Verdacht erschien Rosina keiner Antwort wert. «Vielleicht sollten wir Titus oder Fritz bitten, nach ihm zu sehen», schlug sie vor.

«Besser nicht. Von seinem Zimmer in der Neustadt führen so viele verschiedene Straßen und Gänge hierher. Wer weiß, welchen Weg er heute nimmt. Warum gehst du nicht wieder hinein, Rosina, und unterhältst die Leute mit diesem neuen Lied, das wir gestern geprobt haben? Das vertreibt allen die Zeit und dann ist Wagner sicher da.»

«Das hier ist eine Kirche, Jean.» Rosina lachte, die Sorglosigkeit ihres Prinzipals, seine Fähigkeit, Hindernisse und Gefahren einfach zu ignorieren, erzürnte sie oft, doch heute tat sie ihr gut. Er war so überzeugt von der Kunst der Komödianten, dass er nie darüber nachdachte, ob sie gerade passte oder nicht. «Karla würde es sicher gefallen, aber ich glaube kaum, dass der Pastor ein Schäferlied vor dem Altar gutheißt. Selbst wenn der Text englisch ist. Hoffen wir, dass Wagner bald kommt. Es ist schrecklich kalt dort drinnen, wenn es noch lange dauert, erfriert ihm seine Braut. Karla weigert sich, ihr neues Kleid unter einem Schultertuch zu verstecken.»

Sie warf einen letzten suchenden Blick die Straße hinunter, vergeblich, von dem dringend erwarteten Bräutigam war weit und breit nichts zu sehen, und ging zurück in die Kirche.

Karla hatte sich inzwischen von Madame Augusta überzeugen lassen, dass eine vor Kälte zitternde rotnasige Braut weder die heilige Handlung noch das anschließende Fest schmückte. Sie saß immer noch still, doch endlich in ein wärmendes Tuch gehüllt in der ersten Reihe. Auch die anderen Gäste saßen noch in den Bänken, aber der Pegel ihrer Stimmen war erheblich gestiegen. Helena Becker, deren kastanienbraune Locken im Licht, das durch die alten Kirchenfenster fiel, schillerten, schwatzte munter mit Madame Augusta, der vornehmen alten Dame aus dem Handelshaus Herrmanns und Spenderin des Hochzeitskleides. Titus, der grimmige Spaßmacher der Becker’schen Gesellschaft, hielt ein gerade konfisziertes Kartenspiel in der breiten Faust und erläuterte mit nicht unbedingt christlichen Worten den beiden jugendlichen Komödianten Fritz und Muto, dass es nicht angehe, sich in einer Kirche beim sündigen Kartenspiel erwischen zu lassen. Titus war immer nah am praktischen Leben.

Proovt, der wie immer elegante Polizeimeister von Altona, erst seit dem letzten Jahr mit dem Bräutigam freundschaftlich verbunden, lauschte mit höflich zugeneigtem Kopf einer in fein gesetzten Worten geführten Debatte zwischen Madame Matti und Domina van Dorting, der ehrfurchtgebietenden ersten Frau des Damenstifts im Kloster St. Johannis. Ausnahmsweise ging es nicht um Mattis Heilkräutergarten, sondern um die Notwendigkeit von Reinlichkeit bei der Geburtshilfe. Rosina hatte nicht gedacht, dass sich eine Dame aus gutem hanseatischem Haus, die zudem den Titel Ehrwürdige Jungfrau trug, in solcherlei unfeinen Themen versiert zeigte.

Dann war da noch Jakob Jakobsen, der Wirt des Bremer Schlüssel. Er saß in der dritten Bank inmitten einiger seiner Stammgäste, zu denen auch der Bräutigam gehörte, und erläuterte sein Hochzeitsgeschenk, nämlich die Speisefolge des zweiten Frühstücks, das alle nach der Trauung in seinem Gasthaus erwartete. Es klang köstlich, und Rosina fiel ein, dass sie an diesem Morgen noch nichts gegessen hatte.

Nur zwei Menschen saßen still und geduldig, wie es sich gehörte, in der vorletzten Bank. Rudolf, der Kulissenmaler und Baumeister der Becker’schen Gesellschaft, und Gesine, die Kostümmeisterin. Beide in schlichtem dunkelgrauem, nur mit kleinen weißen Kragen geschmücktem Tuch. Sie glichen so gar nicht den Vorstellungen der Bürger von vermeintlich sündigen Wanderkomödianten. Die Köpfe in einträchtigem Schweigen gesenkt, waren sie das Abbild eines frommen Ehepaares.

Fehlte nur noch Manon, ihre Tochter. Rosina entdeckte das Mädchen in einer jener Seitenkapellen, in denen Buchhändler Stände aufgeschlagen und ihre gedruckte Ware unter großen Tüchern verborgen hatten. Seit dem letzten Winter zeigte Manon eine leidenschaftliche Liebe für diese neuen Romane um tragisch liebende Edelfräulein. Rosina hoffte still, sie werde der Versuchung, ein Exemplar ‹auszuborgen›, widerstehen.

Das Geräusch des Kirchenportals ließ sie herumfahren. Endlich, dachte sie aufseufzend. Aber nicht der Bräutigam betrat die Kirche, sondern ein um einige Jahre jüngerer Mann. Er trug einen ärmlichen schwarzen Rock, und seine Schuhe sahen aus, als sei er darin von Rom an die Elbe gewandert. Rosina konnte sich nicht erinnern, ihn je zuvor gesehen zu haben.

Sie glitt neben Madame Augusta in die Bank und fragte flüsternd, ob sie den Neuankömmling kenne.

«Nein», flüsterte Augusta zurück. «Ich glaube nicht. Obwohl ich manchmal Gesichter vergesse. Vielleicht ist er ein Reisender und erwartet hier einen Gottesdienst. Oder unser Bräutigam hat ihn vorm Galgen errettet, danach sieht er eher aus, und er will ihm an diesem Freudentag seine Reverenz erweisen. Wenn es denn ein Freudentag wird», fügte sie hinzu und zog mit vergnügtem Spott die Nase kraus, «eine Hochzeit ohne …»

Da scharrte wieder die Kirchentür und Jean trat ein, eilte mit langen Schritten zur Barbara-Kapelle, gefolgt von dem vermissten Bräutigam, dessen etwas kurz geratene Beine kaum mit den langen des Prinzipals Schritt halten konnten.

«Du meine Güte», flüsterte Madame Augusta amüsiert, «was hat er mit seinen Strümpfen gemacht? Den Boden aufgewischt? Nun gut, die Hauptsache, er ist endlich da.»

Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Hochzeitsgäste, alle setzten sich aufrecht, zogen Halstücher, Röcke und Hauben zurecht und sahen erwartungsvoll der Zeremonie entgegen.

Der Neuankömmling ließ sich, immer noch atemlos, neben seine glücklich lächelnde Braut auf die erste Bank fallen, griff mit der Rechten ihre Hand, mit der Linken nach seinem großen blauen Tuch und wischte sich eilig die schwitzende Stirn.

«Und wo», fragte da Karla sanft in die plötzlich eintretende Stille, «wo ist jetzt der Herr Pastor?»

***

«Ich habe es mir doch gedacht!» Merthe stand in der Tür zur Druckerei und sah wie ein wandelndes Strafgericht auf ihre Schwägerin hinab. «Lettern sortieren – was für ein Unsinn. Lass das die Männer machen, die verstehen mehr davon und haben die ganze Nacht geschlafen. Du bist so müde, dass du kaum eine in das richtige Fach legen wirst. Geh endlich schlafen, Maria-Luise.»

Luise zuckte zusammen. Niemand nannte sie bei ihrem vollen Vornamen, außer Merthe, wenn sie zornig war.

«Bald, Merthe», sagte sie. «Ich kann jetzt nicht schlafen, und die Lettern müssen doch …»

«Wir machen das schon, Madame Boehlich», unterbrach Hachmann sie sanft und warf Merthe einen dankbaren Blick zu. «Wenn die Mädchen kommen, geht es ganz fix. Na ja, ziemlich fix. Ein paar Tage wird es dauern, aber das schaffen wir schon.» Hachmann hatte, kaum dass die Männer von der Wedde und der Arzt gegangen und der Tote abgeholt worden war, nach seinen Töchtern geschickt. Alle vier konnten lesen und schreiben, kaum schlechter als er selbst, alle hatten flinke Finger und einen schnellen Verstand, was oft lästig war, aber in diesem Fall von großem Vorteil. «Versucht zu schlafen, Madame, es war ein schlimmer Morgen nach einer schweren Nacht. Und um das da», fügte er bedächtig hinzu und zeigte mit dem Daumen über die Schulter, «kümmern wir uns auch.»

‹Das da› meinte den blutigen Fleck auf dem Boden hinter der letzten Presse.

«Wenn du meinst.» Sie wusste, dass es mit ‹ein paar Tagen› nicht getan sein würde, auch Hachmann wusste das, aber sie stand auf, strich umständlich ihre staubigen Röcke glatt und blickte prüfend in die Gesichter der Männer, die auf dem Boden hockten und versuchten, aus dem Haufen bleierner Klötzchen die zusammengehörigen herauszuklauben.

Zunächst hatte das Durcheinander der Lettern total ausgesehen, doch als Luise sie zusammenschieben und in Schüsseln füllen wollte, hatte Peters, der älteste der Setzer, ihren Arm festgehalten. ‹Nein›, hatte er gesagt und sich blinzelnd über die Lettern gebeugt. Wer immer das gemacht habe, habe die Kästen nicht einfach runtergeworfen, sondern schnell und aus niedriger Höhe umgedreht. Der Weddemeister habe das auch vermutet, obwohl der gewiss nichts von ihrer Arbeit verstehe. Eine ganze Menge von gleichen Buchstaben liege noch beieinander. Am besten, man lasse sie so und sortiere sie vom Boden. Das könne viel Zeit sparen.

«Aber morgen …»

«Morgen sehen wir weiter», rief Merthe ungeduldig. «Morgen wirst du auch ohne die Sortiererei genug zu tun haben. Seit Abrahams Heimgang arbeitest du für zwei, nun wirst du für drei arbeiten müssen, bis du einen neuen Faktor gefunden hast. Wenn Hachmanns Töchter nicht reichen, finden wir noch ein paar andere, die uns helfen. Nun komm.»

Schlafen. Das war leicht gesagt. Behutsam öffnete sie die Tür zu Onnes Zimmer. Das Kind wenigstens schlief, immer noch bleich, aber doch mit rosigen Wangen und ruhigem Atem. Er hatte den ganzen Vormittag geschlafen und die Aufregung, die fremden Schritte und Stimmen im Hof und in der Druckerei nicht bemerkt. Sie seufzte erleichtert. Am Nachmittag würde sie ihm von dem neuen Unglück, das die Familie getroffen hatte, erzählen.

In dem Schlafzimmer mit dem großen Bett, in dem sie seit fast einem Jahr alleine schlief, stieß sie die Fensterflügel auf und atmete tief die frühlingsmilde Luft. Der Hof lag verlassen, Hachmann hatte die Riegel am Außentor vorgeschoben und so auch die letzten Gaffer auf der Straße vertrieben.

Aus der weit geöffneten Tür der Druckerei hörte sie die Stimmen der Männer. Lachte da nicht sogar einer? Leise, gewiss, aber es war eindeutig ein Lachen gewesen.

Cornelis Kloth war tot. Das hatte sie gleich gewusst, als sie ihn fand. Der reglose Körper, die starren Augen, der halb geöffnete Mund ließen keinen Zweifel. Er hatte beinahe friedlich ausgesehen, das hörte man oft von Toten, sie war sicher, diesen Anblick nie vergessen zu können. Sie hatte geglaubt, er sei gestürzt und mit dem Kopf auf eine Kante der Presse geschlagen. Aber so war es nicht gewesen.

Sie sank auf den Stuhl am Fenster und versuchte ihre Gefühle zu erkennen. War sie traurig? Entsetzt? Hatte sie Angst? Sie wusste es nicht. Sie fühlte nichts. Nur ihren Körper, schwer und hölzern.

Cornelis’ Tod war ein Desaster für die Druckerei. Und für sie selbst? Nicht für die Besitzerin der Druckerei, sondern für die Frau Maria-Luise? Ich fühle mich erleichtert, dachte sie und schob den Gedanken hastig fort. Natürlich war sie entsetzt und traurig. Cornelis Kloth war ein tüchtiger Mann gewesen, zuverlässig und fleißig. Niemand, der ihn nicht achtete.

Das hatte sie auch dem kleinen dicken Mann von der Wedde erzählt, nach dem Dr. Reimarus gleich geschickt hatte.

«Es tut mir Leid, Madame Boehlich», hatte der Arzt gesagt, der ihr bei seiner Ankunft tröstlich vertraut erschienen war, nachdem er während der letzten Tage und Nächte so oft an Onnes Bett gestanden hatte. «Euer Sohn wird wieder gesund, Euer Faktor hingegen, nun ja, Ihr seht es selbst. Jemand hat ihn erschlagen, mit einem Hieb, aber gründlich. Man muss die Wedde holen.»

Sie hatte genickt, als habe er eine belanglose Bemerkung über das Wetter gemacht und einen der Männer auf den Weg geschickt.

‹Jemand hat ihn erschlagen, mit einem Hieb.› Das klang so unwirklich. Und sie war so müde. Dennoch war sie nicht bereit gewesen, die Druckerei zu verlassen. Die Drucker und Setzer trafen ein, die Gehilfen, der Lehrling, als sie noch über den Toten gebeugt auf dem Boden kniete. Hachmann, der Altgeselle, als Erster, er lief gleich nach dem Arzt. Alle standen um sie herum, nah, als müssten sie sie beschützen, und sahen auf den Arzt und den Toten hinter der letzten Presse. Schließlich nahm Hachmann ihren Arm und führte sie zu einem der Hocker an den Setztischen. Dort wartete sie und starrte hinaus, bis der Weddemeister und sein Gehilfe kamen.

Sie saß einfach da, blickte auf den rauen Stamm der Kastanie, und seltsame Gedanken wanderten durch ihren Geist: Wie hoch die Kosten für die neuen Fenster sein mochten, welche Suppe Onne heute Abend am liebsten essen würde oder dass sie unbedingt Tuch für zwei neue Schürzen kaufen musste. Alltägliche Gedanken, an einem Morgen wie diesem jedoch seltsam.

Schließlich trugen Männer, die sie nicht kannte, Cornelis’ Leichnam hinaus und zum Eimbeck’schen Haus, wohin alle zur genaueren Untersuchung kamen, die eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Sie sah ihnen nach, hörte ihre von der Last schweren Schritte im vorderen Raum verhallen und wischte die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie weinte. In diesem Augenblick hatte sie noch gespürt, was sie fühlte: Angst. Aber sie wusste nicht, warum.

Der Weddemeister schickte die Männer, die sich immer noch bei der hinteren Presse drängten, in den vorderen Raum und trug ihnen auf zu warten, er habe mit allen zu reden. Seinen Gehilfen, Grabbe, schickte er zum Tor, damit er die Gaffer, die sicher bald auftauchen würden, zu Ruhe und Ordnung rufe und vertreibe.

Sie beobachtete all das, ohne sich dem, was geschah, zugehörig zu fühlen. Es erschien ihr wie eine Szene aus einem Roman.

Plötzlich war es still in der Druckerei. «Madame?», hörte sie den Weddemeister sagen und roch einen Hauch von Rosenwasser. Ein parfümierter Weddemeister? Auch das war unwirklich.

«Wagner», nannte er seinen Namen, zog einen Hocker heran und setzte sich ihr gegenüber. «Ein trauriger Anlass», fuhr er fort und rutschte auf die vordere Hockerkante, «nun ja, sicher seid Ihr nicht in der Stimmung, aber», er räusperte sich und wischte sich mit einem großen blauen Tuch über Stirn und Nacken, «aber Ihr werdet verstehen, ich muss Euch einige Fragen stellen. Wenn Ihr dazu lieber ins vordere Haus gehen wollt, in Eure Wohnung …»

«Nein», rief sie und straffte die Schultern. Wenn sie ihr Haus oder das Kontor betrat, das Schlafzimmer gar, begann endgültig die Wirklichkeit. «Nein», wiederholte sie ruhiger, «lasst uns hier sprechen. Was wollt Ihr wissen, Meister Wagner?»

Sie hatte ihn bisher kaum wahrgenommen, nun betrachtete sie ihn mit plötzlicher Neugier. Das rosig-runde Gesicht des Weddemeisters, er mochte dreißig, höchstens dreiunddreißig Jahre zählen, drückte echtes Bedauern aus, in der rechten Hand hielt er einen kurzen Bleistift, den er unablässig zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, in der linken ein paar wenig akkurat geschnittene Zettel. Er trug einen Rock aus dunkelblauem Samt, schwarze Kniehosen und weiße Strümpfe, die bei seinem Eintreffen sicher noch makellos gewesen waren, nun jedoch deutliche Spuren von schmutzigem Staub und Druckerschwärze zeigten. Dass ein einfacher Mann von der Wedde seiner Arbeit so aufgeputzt nachging, erstaunte sie. Sie hätte gerne darüber nachgesonnen, jeder Gedanke, der nichts mit Cornelis zu tun hatte, erschien in diesem Moment verlockend. Entschlossen zog sie ihr Schultertuch vor der Brust zusammen und sah den Weddemeister an.

«Fragt», sagte sie, «ich will Euch alles sagen, wenn ich auch nicht weiß, was das sein könnte.»

«Nun ja», sagte Wagner, «wir werden sehen.» Er wischte ein letztes Mal seine glänzende Stirn und hielt endlich den Bleistift ruhig.

Zuerst wollte er wissen, wie lange der Faktor für das Haus Boehlich gearbeitet hatte. «Aha», murmelte er, «acht Jahre. Eine lange Zeit.»

«Nicht unbedingt», antwortete Luise, «Hachmann, unser Altgeselle, arbeitet fast vierzig Jahre bei uns. Das ist tatsächlich lange. Die beiden Setzer, lasst mich nachdenken, ich glaube, es sind achtzehn und zwölf oder dreizehn Jahre. Nur die beiden jüngeren Drucker und der Lehrjunge gehören kürzere Zeit als Cornelis zu unserem Haus. Und wenn Ihr mich nun fragen wollt, wer von uns ihn so gehasst hat, dass er, dass er …»

Sie stockte und der Weddemeister fragte: «Ihn getötet hat?»

«Ja. Getötet hat. Das tat niemand. Der Faktor war tüchtig, zuverlässig, auch gerecht. Er war geachtet. Von allen. Nicht nur in unserem Haus, in der ganzen Stadt. Ihr werdet nirgendwo anderes hören.»

Das Licht fiel nun hell durch das Fenster hinter ihrem Rücken in den Raum und ließ ihr schmales Gesicht wie aus grauem Marmor erscheinen. Nur ihre Augen leuchteten dunkel. Der Weddemeister beugte sich über seine Zettel und kritzelte ein paar Zeilen, von denen er wusste, dass er sie später nur mit Mühe würde entziffern können. Wie Cornelis Kloth wirklich gewesen war, würde er besser von den Männern erfahren, die jahrelang unter ihm gearbeitet hatten. Und die gewiss weniger geschickt mit der Sprache umzugehen verstanden als eine Madame Boehlich. Geachtet, hatte sie gesagt, ein Wort, das er bei seinen Ermittlungen oft hörte. Es wurde nur selten in Gesellschaft von ‹beliebt› genannt. Höchst selten.

«Ihr seid heute Morgen schon vor allen anderen in der Druckerei gewesen und habt den Toten gefunden. Gewiss sehr unerfreulich, nun ja, tragisch. Was wolltet Ihr so früh in der Druckerei, Madame? Und warum war sonst noch niemand da?»

Das akkurate Setzen und Drucken, erklärte sie, brauche Licht, deshalb beginne die Arbeit in der Druckerei später als bei den meisten anderen Gewerben, nämlich im Sommer um sieben, in den Wochen mit den besonders langen Tagen um die Sommersonnenwende eine halbe Stunde früher, in der dunklen Jahreszeit hingegen eine Stunde später.

«Bei sehr eiligen Aufträgen, bei denen es weniger auf die absolute Akkuratesse ankommt als zum Beispiel beim Druck von Urkunden für den Senat oder die Commerzdeputation, wird notfalls auch bei Lampenlicht länger gearbeitet. Im Winter sogar ziemlich häufig, weil die Tage sonst allzu kurz sind.»

«Zu kurz, gewiss», murmelte Wagner, unverdrossen kritzelnd. «Und Ihr seid immer morgens vor Euren Leuten in der Druckerei?»

Luise schloss für einen Moment die Augen. Was wollte dieser Mensch nur alles wissen? Wozu war das wichtig?

«Natürlich gehe ich an jedem Morgen in die Druckerei, seit ich für alles verantwortlich bin. Allerdings für gewöhnlich später. Cornelis war immer der Erste, er schloss die Druckerei am Morgen auf und am Abend ab. Als Faktor hatte er seit dem Tod meines Mannes einen eigenen Schlüssel.»

Beinahe hätte sie ihm erzählt, wie wichtig es seitdem war, die richtige Balance in ihrem Verhalten zu finden. Sie musste zeigen, dass sie nun die Herrin des Hauses war, auch dem Faktor. Gleichzeitig durfte sie seine Autorität nicht in Frage stellen. Wenn auch keiner der Männer in der Druckerei ihr den Respekt verweigerte, war sie nicht sicher, ob das so bleiben würde, wenn sie sich zu deutlich vor Cornelis drängte. Und weil sie wusste, dass es die kleinen Dinge sind, die die Menschen bewegen, überließ sie es ihm auch, am Morgen der Erste in der Druckerei zu sein. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie keine Sekunde an solche Gedanken verschwenden müssen. Aber sie war nun mal kein Mann. Während des letzten Jahres hatte sie das an manchen Tagen bedauert.

«Morgens», sagte sie und faltete die Hände im Schoß, «habe ich zu viele Pflichten im Haus. Heute war ich allerdings sehr früh da.» Wegen der Krankheit ihres Sohnes sei sie seit mehreren Tagen nicht mehr in der Druckerei gewesen, nun, da es Onne besser gehe, habe sie gleich nach dem Rechten sehen wollen.

«Und da habt Ihr ihn gefunden. Sofort, als Ihr den Raum betratet?»

«Nein, nicht sofort. Zuerst sah ich die Lettern auf dem Boden, dann erst habe ich hinter die letzte Presse geguckt und da», sie schluckte, räusperte sich leise und fuhr fort, «da habe ich ihn gefunden. Dann kam der Altgeselle – er war heute Morgen nach mir der Erste – und hat gleich Dr. Reimarus geholt. Danach erst kamen die anderen, noch bevor Hachmann mit dem Arzt zurück war.»

«Ihr wart mit Monsieur Kloth verlobt, Madame, Ihr müsst ihn gut gekannt haben. Es wird äußerst schmerzlich für Euch sein …»

«Verlobt?» Das Wort erschien ihr unpassend. «Ja», stimmte sie zögernd zu und ignorierte Wagners letzte Bemerkung, was ging ihn ihr Schmerz an?, «das waren wir. Obwohl es darüber keinen Vertrag gibt. Ich bin Witwe, das wisst Ihr sicher, es ist nur natürlich, dass ich den letzten Wunsch meines Mannes erfülle. Er hat Cornelis vertraut, der Faktor ist …», sie ließ ihren Blick wieder zum Fenster wandern, «er war ein anständiger Mensch und guter Faktor. Eine Druckerei braucht einen Meister, und ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich bin eine Witwe in mittleren Jahren mit zwei Kindern.»

Wagner nickte. Was er da hörte, war alltäglich. Eine Handwerkerwitwe, die ihr Geschäft, ihre Werkstatt nicht verlieren wollte, tat gut daran, so bald wie möglich und schicklich wieder zu heiraten. Und zwar einen Mann aus dem richtigen Amt, um ihrem Unternehmen einen neuen Meister zu geben. Kaum eine schaffte es länger als zwei Jahre, die Geschäfte allein aufrechtzuerhalten, denn wer vergab schon gern Aufträge an eine Frau, auch wenn sie noch so tüchtige Gesellen hatte. Wagner zweifelte nicht an diesem Usus. Es war, wie es war. Über solche Dinge war es müßig nachzudenken.

«Monsieur Kloth war kein junger Mann mehr, lebte er allein?»

Luise nickte. «Er war achtunddreißig Jahre alt. Seit seine Mutter vor drei Jahren starb, lebte er alleine am Alten Steinweg. Seine Schwester ist mit einem Drucker im Rheinischen verheiratet, sonst hat er keine Angehörigen.»

«Wann habt Ihr ihn zuletzt gesehen, Madame Boehlich?», fragte Wagner, während er seine Zettel wieder mit dem kratzenden Bleistift traktierte.

«Vorgestern. Er kam am Abend zu mir, nachdem die Arbeit für die Woche beendet war und er die Druckerei abgeschlossen hatte. Mein Sohn ist sehr krank, und er wollte hören, ob es ihm besser geht.»

«Wie lange habt Ihr mit ihm gesprochen?»

«Nur wenige Minuten. Ich wollte schnell zu meinem Sohn zurück. Cornelis kam oft nach der Arbeit zu uns, wir haben dann alles besprochen, wozu tagsüber keine Zeit war. Geschäftliche Dinge», fügte sie hastig hinzu, «das war schon so, als mein Mann noch lebte. Aber am Samstag hatte ich dafür keinen Sinn, es ging Onne sehr schlecht.»

‹Geschäftliche Dinge›, kritzelte Wagner und dachte an das, was er die Männer vor wenigen Minuten hatte flüstern hören. «Er ist gestern Abend, wahrscheinlich in der Nacht erschl …, ich meine gestorben», sagte er. «Was hat er mitten in der Nacht, dazu in einer Sonntagnacht, in der Druckerei gemacht?»

«Darüber denke ich schon den ganzen Morgen nach», log Luise. «Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hatte er etwas vergessen, was er dringend brauchte.»

«Was könnte das gewesen sein?»

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. «Nichts, Meister Wagner. Ich kann mir nichts vorstellen, was nicht bis zum Montagmorgen warten konnte.»

«Papiere? Ein Problem mit einem Auftrag? Vielleicht Listen für Bestellungen?»

«Alle Papiere, wenn Ihr damit Aufträge, Schriftmuster und derlei meint, liegen im Kontorschrank im Vorderhaus. Um eilige Bestellungen ging es gewiss nicht, unser Lager ist gut sortiert, die letzte Papierlieferung ist erst zehn Tage her. Außerdem gehört das zu meinen Aufgaben. Es gibt nichts, was er nachts in der Druckerei tun konnte. Wie ich schon sagte, für die Arbeit wird gutes Licht gebraucht. Wir haben zwar sehr viele Aufträge, tatsächlich sind wir schon ein wenig in Verzug, einer unserer Gesellen hat uns gerade verlassen, da fehlen zwei Hände. Trotzdem gab es keine ernsten Probleme. Jedenfalls keine, von denen ich weiß, und er hat mir nie welche verschwiegen.» Sie hoffte still, dass das die Wahrheit war.

Wagner nickte. Auch das hörte er bei seinen Ermittlungen in Mordsachen oft. Am Anfang zuwenigst, der Sinn erschloss sich gewöhnlich erst am Ende. «Er war also nie vorher nachts in der Druckerei?»

«Natürlich nicht. Jedenfalls weiß ich nichts davon. Aber», fröstelnd schob sie die Hände unter ihre Schürze, «ich wusste ja auch nicht, dass er in dieser Nacht in der Druckerei war. Ich verstehe das nicht. Was hat er nur gemacht?»

Genau das hätte Wagner gerne von ihr gewusst. Er hatte sich in der Druckerei umgesehen, noch nicht sehr gründlich, doch offensichtlich wusste er schon mehr als Madame Boehlich. Falls sie nicht log.

«Ihr habt in der letzten Nacht am Bett Eures Sohnes gewacht, Madame. Es war eine ruhige Nacht, kein Sturm, auch der Regen fiel nur sanft und leise. Habt Ihr etwas gehört? Irgendetwas, das Euch ungewöhnlich erschien. Oder auch gewöhnlich, ganz gewöhnlich sogar. Irgendetwas?»

Luise schloss die Augen und legte müde den Kopf in den Nacken. «Nein», sagte sie, «ich habe nichts gehört. Die Fenster waren fest verschlossen, Onne braucht Wärme. Ich verstehe das trotzdem nicht, wenn jemand die Setzkästen heruntergeworfen hat, dann hätte ich das doch hören müssen.»

«Ja.» Wagner blickte stirnrunzelnd auf den silbrigen Teppich von Lettern. «Andererseits», murmelte er, «wenn er sie nicht umgeworfen hat, sondern vorsichtig ausgekippt …»

«Aber warum? Ich dachte, ich weiß es natürlich nicht, aber ich dachte …»

«Was dachtet Ihr?»

«Nun, ich dachte, warum sollte jemand die Setzkästen ausleeren? Nicht im Zorn, wie man eine Vase oder einen Teller zerschlägt, sondern behutsam. Leise sogar. Das macht doch nur jemand, der verhindern will, dass wir unsere Arbeit tun. Es wird sehr lange dauern, bis die Lettern wieder fehlerlos einsortiert sind. So lange kann nicht gesetzt, also auch nicht gedruckt werden. Ich dachte: Vielleicht gab es einen Kampf und die Kästen sind dabei von ihren Tischen gestürzt. Aber das hätte Lärm gemacht. Glaubt Ihr nicht?»

«Genau das glaube ich auch, Madame. Dann hättet Ihr es gehört?»

«Bestimmt. Es war wirklich sehr still. Wir haben gute Fenster, trotzdem, das hätte ich sicher gehört.»

«Und Schritte? Habt Ihr vielleicht Schritte gehört? Oder eine Tür?»

Nein, Madame Boehlich hatte nichts gehört. Nichts als das Atmen ihres Sohnes. Und einmal die Eule, die oft in der Kastanie rastete.

«Gewiss habt Ihr auch nichts gesehen. Oder habt Ihr mal in den Hof hinausgeschaut in dieser Nacht? Nein. Aha. Kann man vom Zimmer Eures Sohnes, überhaupt von Eurer Wohnung im vorderen Haus, sehen, wenn in der Druckerei ein Licht brennt?»

«Nein. Oder vielleicht doch, von Merthes Kammer. Aber der Holunder vor ihrem Fenster ist so groß geworden – nein, ich glaube, es geht nicht. Höchstens von den beiden kleinen Stuben aus, die in den Etagen darüber liegen. In der einen schläft meine Tochter, aber Lille ist nicht da. Sie wohnt bei meiner Cousine, seit ihr Bruder krank ist. In der anderen, der oberen Stube, wohnt niemand, darin steht nur Gerümpel.»

«Also habt Ihr kein Licht gesehen. Sehr schade. Und wann hat Dr. Reimarus Euer Haus verlassen?»

«In der Nacht? Als Onnes Fieber gesunken war. Es war noch ziemlich dunkel, wohl kurz vor fünf. Bald darauf habe ich die Glocke vom Gänsemarkt schlagen gehört.»

‹Zu spät›, dachte Wagner, ‹da war Kloth längst tot.›

«Nur eine Frage noch, Madame. Ihr kanntet Euren Faktor viele Jahre und als seine zukünftige Frau gewiss auch über das Geschäftliche hinaus. War er am Sonnabend, als Ihr ihn zuletzt saht, anders als sonst? Ihr wisst schon: schweigsamer, schlecht gelaunt, unruhig vielleicht? Oder wirkte er, nun ja, wirkte er bedrängt?»

Auch diese Frage stellte Wagner nur widerwillig. Sie gehörte nun einmal dazu, doch barg sie zwei bedeutende Nachteile. Zum einen war sie zumeist müßig, Punktum. Zum anderen, und das fand er noch unerfreulicher, begannen die Menschen bei dieser Frage zu phantasieren. War ihnen vor einer Minute eine Begegnung noch als ganz gewöhnlich erschienen, glaubten sie nun, dies oder jenes zu erinnern, legten Gewicht auf Gewichtloses, erinnerten sorgenvolle Mienen, wo nur Gleichgültigkeit gewesen war. Kurz, immer wieder nahm er sich vor, beim nächsten Mal diese Frage einfach zu vergessen, nur um sie dann doch wieder zu stellen. Weddemeister Wagner mochte nicht so erscheinen, dennoch war er ein äußerst gründlicher Mensch.

«Anders als sonst?» Luise schüttelte langsam den Kopf. «Er wirkte wohl besorgt, aber nur wegen Onne. Er nahm großen Anteil an der Krankheit meines Sohnes und sprach mir Trost zu. Vielleicht fragt Ihr auch Merthe danach. Sie hat noch mit ihm gesprochen, nachdem ich zu Onne zurückgegangen war. Ich habe nicht darauf geachtet, was sie redeten, sie sprachen auch zu leise, aber ich bin sicher, ich habe ihre Stimmen in der Diele oder auf der Treppe gehört. Sonst war um diese Zeit niemand im Haus, nur Onne, Merthe und ich. Unsere Magd und das Küchenmädchen wohnen bei ihren Eltern, sie gehen am Abend nach Hause. Ebenso der Lehrjunge.»

Damit war der Weddemeister zufrieden gewesen. Für diesen Tag. Er komme wieder, morgen, nein, wohl erst übermorgen, die eine oder andere Frage sei gewiss noch zu beantworten.

Mit den Männern, die im Lager um den Tisch saßen, hatte er nur kurz gesprochen, hatte Hachmann ihr berichtet, obwohl es zunächst aussah, als werde es sehr lange dauern. Er hatte sich alle Namen aufgeschrieben, jeden auf einen eigenen Zettel, hatte gefragt, was für ein Mensch Kloth gewesen war, wer seine Freunde seien und schließlich, was er mitten in der Nacht in der Druckerei gemacht habe. Das wusste niemand, ebenso wenig wie sie selbst.

‹Und dann›, sagte Hachmann, ‹schlug es zehn, der Weddemeister sprang plötzlich auf, rief nach Grabbe, seinem Gehilfen, und war wie der Blitz verschwunden.› Grabbe, schloss er, habe alle gefragt, wo sie in der letzten Nacht gewesen seien. Was für eine Frage: In einer Sonntagnacht sei doch jeder ordentliche Mensch zu Hause in seinem Bett.

Wo alle gewesen seien? Luise stellte sich die Gesichter der Männer vor, einen nach dem anderen, von Hachmann, dem Ältesten, bis zu Joergen, dem Jüngsten. Wenn der Weddemeister den, der Cornelis erschlagen hatte, unter den Männern in der Druckerei suchte, war das eine absurde Idee. Genauso gut konnte er vermuten, sie habe sich von Onnes Bett in die Druckerei geschlichen. Das hätte niemand bemerkt. Nicht einmal Merthe, die in ihrer hinteren Kammer tief und fest geschlafen hatte, bis sie sie eine Stunde vor Mitternacht weckte und wegen Onnes Krisis nach dem Arzt schickte.

Merthe? Hastig erhob sie sich und schloss das Fenster. Noch so ein absurder Gedanke.

Während der Stunden in der Druckerei war ihr Kopf leer gewesen, nun drehten sich darin die Gedanken wie ein Mühlrad. Es musste bald Mittag sein, sie hatte noch nie um diese Stunde geschlafen, auch heute würde sie das nicht können. Aber sie wollte sich auf das Bett legen und ruhen, bevor sie Merthe an Onnes Bett abwechselte. Und die Männer brauchten ein zweites Frühstück, eine Suppe am besten, Speck und Brot, eine Kanne Bier und – da war sie schon tief eingeschlafen. Die Träume, vor denen sie sich gefürchtet hatte, waren gnädig. Sie blieben aus.

Kapitel 2

Im Hof des Kröger’schen Hauses in der Fuhlentwiete herrschte bis auf das übermütige Trillern einer Singdrossel, die sich eine Pause vom Brüten gönnte, noch Ruhe. Wohl klangen von der Straße Stimmen und das Hämmern aus der nahen Schmiede herein, und im Stall schnaubten die drei Pferde der Becker’schen Gesellschaft ungeduldig nach Bewegung. Die Geschäftigkeit von Menschen jedoch fehlte, denn die meisten Mieter der Krögerin schliefen an diesem Morgen länger, für einen ganz gewöhnlichen Wochentag tatsächlich viel länger als üblich. Die Hochzeitsfeier des Weddemeisters hatte erst tief in der Nacht ihr Ende gefunden, als die frisch getrauten Eheleute Wagner schon längst in ihre neue Wohnung am Plan verabschiedet worden waren, begleitet vom weinseligen Johlen der Jakobsen’schen Stammgäste.