Die Erfindung der Nativität. - Alfred Schmid - E-Book

Die Erfindung der Nativität. E-Book

Alfred Schmid

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Beschreibung

Die Astrologie der Geburts-Horoskope ist sehr wahrscheinlich im 2. Jhdt. v. Chr. in Ägypten in einem bilinguen griechisch-ägyptischen Milieu entstanden. Sie war eine neuartige Form von Divination, in welcher aristotelische Physik mit babylonisch-ägyptischer Tempelwissenschaft kombiniert wurde. Ihr Auftauchen bezeugt einen akutgewordenen Bedarf an Reflexion von individueller Wesensart, sie schafft im Horoskop ein Formular menschlicher Singularität, das mit physikalisch fixierbar globalen Parametern operiert. In diesem Formular der "Gebürtlichkeit" wird Individualität als mundaner Sachverhalt objektiviert. Menschliche Individualität ist somit kein Exklusivmerkmal der Moderne, sondern das vor- oder gar antimoderne und zugleich globale Format einer fatalen Weltbindung menschlicher Subjektivität. Das Horoskop entsprach wohl einem Bedürfnis gemischtkultureller Eliten nach Identität jenseits kollektiv kultureller Differenz, und sie mag zudem das fadenscheinig gewordene Fremd-Königtum der späten Ptolemäer in seiner traditionellen Funktion des Horizonts, der das Menschliche mit dem theophanen Kosmos verbinden sollte, theoretisch-systematisch kompensiert haben. Der König wird in dem astronomisch realen Formular des Horoskops durch das fatale Individuum in seiner "Nativität" ersetzt.

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Seitenzahl: 869

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt:

Vorbemerkung

Einleitung

1: Einführendes zur Methode

2: Das Formular

3. Identität

3.1: Ist das Horoskop als Identitäts-Formular überhaupt denkbar?

Individualität und moderne Identität

Individuum und Subjekt

Individualität

3.2: Warum ist es so schwer, der Antike eine Kultur der Individualität zuzusprechen?

3.3: Nachträge zur Dialektik von Individualität und Subjektivität und zum Problemder Kontingenz

Einmaligkeit und Kontingenz

Das Horoskop als Formular individueller Identität

Gibt es eine Psychologie der Individualität?

4. Astrologie als Psychologie des Individuellen

„Eigenheiten der Seele“

Wirklichkeit und Möglichkeit

Das Ereignis und seine metabolische Struktur

Das Übergreifen des Subjekts: Identität als Umwelt und Kultur als Natur

Exzentrische Identität

Geschlechtlichkeit

Die neue Macht der Individualität

Existenzialistische Emphase und antike Alltäglichkeit: Nachtrag zu Heideggers Konzeption des „Ereignisses“

4.1 (Nachtrag): Astrologie und moderne „Persönlichkeitspsychologie“

5: Why Egypt? Das ptolemäische Ägypten als Ort der Theoretisierung von globaler Identität. Von der sozialen Metaphysik zur Metaphysik des Individuums

Königtum

Individualisierung und Ägypten

„Hellenismus“ als Krise?

Hybridität, Synkretismus, Kolonialismus und die Konstruktion globaler Identitäten

Das Horoskop als Meisterstück „hybrider“ Theoriebildung?

5.1: Nachtrag zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

6: Das Milieu

6.1: Hermetismus und Alchemie

Hermetismus

Alchemie

6.2: Ägyptische Priester, alexandrinische Gelehrte und eine neue Globalität

Fazit

Bibliographie

Abbildungen

Vorbemerkung

Dieses Buch ist die Frucht eines durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) grosszügig vier Jahre lang finanzierten Forschungsprojekts mit eigener Stelle an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, dort angesiedelt im Fachbereich Alte Geschichte unter der Ägide von Stefan Pfeiffer.

Dass es in dieser etwas ‘selbstgebastelten’ Form veröffentlicht wird, hat mit den Umständen seiner Entstehung zu tun, die in die Zeit von 2018-2022 fiel, d. h. in die Zeit der Corona-Restriktionen, die mir auch seit Anfang 2020 nicht mehr erlaubten, nach Deutschland zu reisen. Immerhin sind in der ersten Phase noch Dienstreisen nach Cambridge, Oxford und Heidelberg möglich gewesen. Ein lange geplanter workshop zum Thema der „Ordnung des Singulären“ („The Cultural Background of Birthchart-Astrology. Vorsehung, Schicksal, Teleologie“) hat dann im März 2022 im online-Format doch noch stattgefunden und wäre ohne die kundige Organisation und Leitung von Nesina Grütter nicht möglich gewesen. Ich habe von verschiedener Seite für mein Arbeiten und Fortkommen Hilfe, Zuspruch und Anregung erhalten. Besonders hervorheben möchte ich, neben den schon genannten Stefan Pfeiffer und Nesina Grütter: Enno Rudolph, Stefan Rebenich, Rita Gautschy, Andreas Winkler, Ian Moyer, Hubert Cancik, Hildegard Cancik-Lindemaier, John Weisweiler, Joachim Friedrich Quack, Francesca Rochberg, Geoffrey Lloyd, Livia Capponi, Franziska Naether, Sandra Scheuble-Reiter und Monika Leonhardt als Ansprechspartnerin in Halle. Das Manuskript ist gründlich lektoriert und auch stilistisch sehr verbessert worden durch Viviane Fahr Gratzl. Meine Frau Marceline hat mir die ganze Zeit den Rücken freigehalten.

Die erschwerten Umstände haben die Ausarbeitung meines Projekts nicht entscheidend behindern können, sie haben aber das wissenschaftliche Umfeld, in dem es offiziell, und vom deutschen Steuerzahler unterstützt, angesiedelt war, radikal verändert. Was sich für mich verändert hat, ist die Wissenschaft als Institution einer an Rationalität, Evidenz und intellektueller Redlichkeit ausgerichteten Öffentlichkeit. Diese mag zwar schon immer mehr Ideal und fraglos beschworene Norm gewesen sein als selbstverständliche Praxis, doch schien wenigstens die Norm im Bedarfsfall unter guten Umständen einklagbar zu sein, oder sie wirkte mindestens als Drohung durch das Gewicht einer gewaltigen Autorität, die durch Jahrhunderte von fleissiger und ingeniöser Arbeit aufgetürmt worden ist und im Seminar meiner Ausbildung noch mit Mommsens stechendem Blick über dem Eingang zur Bibliothek Wache hielt. – Das abschreckende Bild der angsteinflössenden Autorität des 19. Jahrhunderts ist übrigens schon länger verschwunden, die Bibliothek in einer grösseren aufgehoben.

Das gewaltige, längst auch schon staatstragende Gewicht wissenschaftlicher Publizität beruht auf der Anstrengung von vielen Generationen, die sich um eine Ausweitung der Lesbarkeit in irgend einer Form, ja der Plausibilität dieser Welt bemüht haben, indem sie die Ergebnisse anderer aufgenommen, in ihren Intentionen verstanden und mit dem schöpferischen Ingenium des Verstehens erneuert weitergegeben haben.

Das alles ist achtunggebietend und tritt entsprechend autoritär im Debattenraum unserer modernen Gesellschaften auf. Und gerade diese Autorität hätte es leicht verhindern können, dass mit Beginn im März 2020 fast alle Gebote wissenschaftlicher Redlichkeit öffentlich missachtet, ja sogar geächtet und bisweilen gar verboten worden sind, dies weltweit und empörender Weise mit der Berufung auf „die Wissenschaft“, die sich eine anfangs nicht sehr grosse, aber medial omnipräsente Kamarilla mediokrer und zutiefst unredlicher Geister als Alleinbesitz1 angemasst hat. In Wirklichkeit hat man überall angefangen, unter Missachtung des angesammelten Wissens über den besten Umgang mit epidemisch viralen Erkrankungen, einer in Panik geratenen und von der Möglichkeit autoritären Durchgreifens elitär faszinierten Politik Hunderttausende von „Studien“ hinterherzuwerfen, um das unerhörte Unternehmen, auf das man sich kopflos und medial aufgehetzt eingelassen hatte, „wissenschaftlich“ zu rechtfertigen und damit zu legitimieren. Und nicht nur das: man hielt es von Anfang an für nötig, abweichende Einschätzungen – also alles in einem ernsthaften Sinne Wissenschaftliche – zu diffamieren, zensorisch auszuschalten oder moralisch zu diskreditieren.

Dabei ist die angemessen kritische Einschätzung dieser „Pandemie“ und ihrer politischen Verarbeitung ein Thema für sich; sowohl der wissenschaftliche wie der mediale mainstream – beide weichen kaum voneinander ab – fallen hier aus, weil sie sich in den Prozess der verfassungswidrigen Autorisierung einspannen liessen, somit selbst Teil sozial destruktiver Politik geworden sind. Unter den Publikationen, die das heute immer erkennbarer werdende Debakel dieser Jahre beschreiben und zunehmend auch seine Vorgeschichte zu erhellen beginnen, nenne ich hier nur einige – ihre Lektüre lässt die Ausmasse eines Desasters klar erkennen, das auch ein Desaster der Wissenschaftlichkeit gewesen ist: WODARG 2021; KENNEDY 2021; VAN ROSSUM 2021; LAUSEN/VAN ROSSUM 2021; FRANK 2023; MAUL 2023; MEYEN 2024; RÖHRIG 2023 (zur Rechtslage); KUTSCHERA 2022, ANONYM 2022 (ein französisches Autorenkollektiv), DESMET 2022, HOFBAUER 2022 (zur Entstehung aktueller Zensurpraxis); SÖNNICHSEN 2023; MÜLLER-ULLRICH 2023 (eine Quellensammlung zum öffentlichen Stil); die französische Überblicksdarstellung von MICHEL (2024), von der ich erst den ersten Band gelesen habe, und zuletzt als ernsthafter Aufarbeitungsversuch aus der Wissenschaft selbst diverse Beiträge in BUCHENAU/FECHNER 2024. All diese Bücher – einige sind brillant geschrieben, alle sind sie anständig recherchiert und transparent – haben offenbar gemeinsam, dass man sie auf Universitätsbibliotheken kaum findet. Sie werden auch medial nicht besprochen oder auf Praktikantenniveau diffamiert, ohne dass je auch nur ein Argument aus ihnen zitiert worden wäre – kurz: sie existieren öffentlich nicht, auch nicht für den wissenschaftlichen Debattenraum. Was den Medizinanthropologen Jean-Dominique Michel angeht – seine Darstellung ist besonders konsequent („Autopsie d’un désastre“) und schlicht beklemmend –, so hat es dieser Autor sogar geschafft, von Wikipedia, einem Zentralorgan des aktuellen „polit-medialen Komplexes“, offenbar zur Strafe gestrichen worden zu sein.

Gewiss kann rechtlich niemand verpflichtet werden, sich Klarheit über das Geschehen seiner Zeit zu verschaffen, auch deshalb, weil das zur politischen Stellungnahme und damit gefährlich werden kann. Für Wissenschaftler lag aber und liegt der Fall hier noch etwas anders: Sie sind dafür zuständig, werden dafür bezahlt und haben meist diesbezüglich noch einen Promotionseid beschworen, wo sie versprechen „die Wahrheit zu suchen und zu bekennen“, dass gerade sie den Bereich öffentlicher Rationalität vor jedem Zugriff, auch der Politik, die gerade als Demokratie auf Öffentlichkeit beruht, zu schützen hätten. Sie sind die Priester einer kunstvoll und bisweilen umständlich geregelten Debattenkultur, in der es zur unabdingbaren Pflicht gehört, jedes mögliche Argument, das gegen das eigene spricht, anzuhören und das eigene schlüssig zu verteidigen oder fallenzulassen. Bei „Corona“ hat das alles nicht mehr gezählt, deswegen sind soziale Experimente mit Menschen im grössten Ausmasse möglich geworden, denn es gab für fast alle sogenannten „Massnahmen“ – von Abstandsregeln und Lockdowns bis Maskenpflicht – keine wissenschaftlichen Grundlagen, dagegen viele fundierte Einwände, und gerade die so ungemein wirksamen „Modellrechnungen“, die der degradierten und desinformierten Öffentlichkeit vormachten, wieviele Hunderttausende bei Nichtannahme ihrer autoritären Vorgaben zur Sozialdisziplin umkommen müssten, lassen sich einwandfrei als wissenschaftlicher Betrug oder als Scharlatanerie erkennen. Ihr grundlegender Schwindel bestand schon darin, eine empirische Sozialwissenschaft wie die Epidemiologie mit der prognostischen Prägnanz einer exakten Naturwissenschaft auftreten zu lassen.

Im Moment, wo gerade Anthony Fauci in den USA vor dem Repräsentantenhaus zugibt, für seine Abstandsregeln keine wissenschaftliche Basis gehabt zu haben – das wurde offenbar von ihm einfach ad hoc erfunden2 –, wo auch der regierungsberatende deutsche Soziologe Heinz Bude am 21. 1. 24 in einer öffentlichen Diskussion in Graz von „Folgebereitschaft“ sprach, die es bei den Leuten in künftigen Krisensituationen zu erzeugen gelte, und er sich brüsten konnte damit, dass man 2020 Parolen dafür gefunden habe, die „so nach Wissenschaft aussehen“, wie „flatten the curve“3, – und wo man, wenn man will, in einem videofeature den damals amtierenden „Mister Corona“ der Schweiz, der für alle Bundesmassnahmen letzte Instanz gewesen ist und sich übrigens auf Anfrage öffentlich als Anhänger des Schwindelmodellierers Neil Ferguson bezeichnete, erklären hören kann, wie doch die Massnahmen eigentlich „böse gesagt“ „mimikry“, also Nachahmung dessen, was andere machen, gewesen seien (hätte China nicht angefangen, „ein totalitäres Land mit totalitären Massnahmen“, so hätten wohl viele Länder anders reagiert)4 – in diesem Moment werden immer noch Menschen verurteilt, die damals etwa gegen die Maskenpflicht verstossen, an untersagten Demonstrationen teilgenommen oder als Ärzte Maskenatteste, etwa eine Kinderpsychiaterin für Kinder, ausgestellt haben. Wobei es niemals eine wissenschaftliche Evidenz für die epidemiologische Wirksamkeit des allgemeinen Maskentragens aber viel Evidenz gegen sie gab und gibt.5 Allein die Tatsache, dass Schweden, das auch diese Pflicht niemals kannte, für den gesamten Zeitraum der Pandemie die niedrigste Übersterblichkeit der Bevölkerung in ganz Europa aufweist,6 liesse das Ausmass an todernst „wissenschaftlichem“ Humbug im Dienste einer vom Weg abgekommenen Macht erkennen.

Politiker können sich täuschen – sie bleiben dennoch Politiker. Wenn aber Wissenschaftler sich weigern, eine Sachlage rational zu debattieren und jedes mögliche Argument kritisch und unvoreingenommen zu evaluieren, dann hören sie einfach auf, Wissenschaftler zu sein.

So hat z. B. ein führendes Mitglied der „wissenschaftlichen Taskforce“ in der Schweiz im August 21 hochoffiziell verkündet: „Liessen sich alle impfen, wäre die Epidemie in acht Wochen vorbei.“7 Und wäre er ein Astrologe oder Wahrsager gewesen, hätte das niemanden erstaunt, für einen Wissenschaftler vom Fach sind solche Aussagen aber einfach unzulässig, auch oder gerade wenn sie einfach die Reklame des Herstellers, in diesem Falle Ugur Sahin von der Firma BionTech, wiedergaben. Laut einem Kommentar auf mdr vom 2. Dez. 228 hat sich Sahin im Februar 21 auf eine israelische Studie bezogen: „Doch die angepriesene Hoffnungsstudie war keine wissenschaftliche Arbeit im herkömmlichen Sinn, sondern ein vorläufiger Bericht des israelischen Gesundheitsministeriums und der Hersteller Biontech und Pfizer. So gaben die Autoren des Papiers selbst zu bedenken, dass der Effekt der Impfung auf Infektionen überschätzt werden könnte.“ Und: „Dabei sei das Versprechen einer Herdenimmunität von Anfang an nicht zu halten gewesen, so der Virologe Alexander Kekulé. Bei Atemwegsinfektionen gebe es kein einziges Beispiel, dass dies gelungen sei.“ Ein Proseminarist wäre ob solch unfundierter Meinungsäusserung sofort zurechtgewiesen worden – aber in dem zitierten Fall wäre jeder Einwand unverzüglich als „verschwörungstheoretisch“ diffamiert worden. Dabei ist gerade diese Art der Diffamierung, die eine nie geführte Debatte ersetzen musste, in Deutschland nicht zuletzt durch den zur irrealen Lichtgestalt erhobenen ‘Staatsvirologen’ Christian Drosten sozusagen zur Norm erhoben worden, der wiederholt davor warnte, Leuten zu glauben, welche andere Ansichten als die seinen bzw. ihm genehmen verbreiteten – laut der Boulevardzeitung Blick vom 13. 5. 20 übte er scharfe Kritik an Ärzten und Wissenschaftlern, die „irgend einen Quatsch in die Welt setzen.“ Er forderte „härteres Vorgehen“ gegen abweichende Meinungen („Corona-Falschinformation“) – diese „Verschwörungstheorien“ seien „sehr gefährlich und unverantwortlich“. – Das öffentlich durchgesetzte Verbot abweichender Meinungen wird im Moment auch von einem in der Corona-Zeit amtierenden Schweizer Bundesrat, der damals selber im Zentrum der Macht sass und als zuverlässige Quelle gelten muss, als symptomatisch moniert; in einer Titelüberschrift der NZZ vom 4. 2. 24 wird Altbundesrat Maurer folgendermassen zitiert: „Wer eine kritische Frage stellte, wurde aussortiert, indem man ihn als ‘Verschwörer’ oder als ‘Rechtsextremen’ brandmarkte“. Das „Frageverbot“, im Sinne Eric Voegelins ein zuverlässiges Symptom für das Vorhandensein einer Ideologie,9 wurde oft als striktes ‘Diskussionsverbot’ greifbar, bezeichnend dafür die Äusserung eines ZDF-Moderators: „Wenn die andere Seite vollständiger Quatsch ist, dann dürfen wir unsere Zeit nicht damit verschwenden, ihnen zuzuhören.“10

Dazu noch ein kleines Beispiel aus der Schweiz: Dem Infektiologen Pietro Vernazza, der sich für eine „gezielte Durchseuchung“ aussprach und durchaus als Fachmann gelten darf, wurde via Twitter von einem Journalisten vorgehalten, dass er „Stuss“ erzähle, was dem Journalisten das öffentliche Lob des abtretenden damaligen Vorsitzenden der wissenschaftlichen „Task-Force“ des Bundes (Matthias Egger) einbrachte (am 20. 7. 20 – siehe medinside.ch/de/post/chefarzt-vernazza-erzaehlt-stuss). Am 26. 7. 20 lasen wir dazu in der Boulevardzeitung Blick, dass die aktuelle Task-Force gegen solche Ansichten vorgehen wolle: schon „die Aussage, dass man Covid-19 mit einer Grippe vergleichen könne, sei falsch“; und weiter heisst es dazu: „Die Taskforce will verhindern, dass Vernazzas Idee an Popularität gewinnt. Laut der ‘SonntagsZeitung’ hat sie eben erst beschlossen, einen sogenannten ‘Policy Brief’ zum Thema Durchseuchung zu verfassen. Die vom Bund eingesetzte Taskforce hat schon diverse solcher Faktenblätter publiziert, an denen sich Behörden und Politik orientieren.“

Andreas Sönnichsen verlor als führender Vertreter des Ärzte-Netzwerks „Evidenzbasierte Medizin“ seine Professur in Wien, dabei hatte er nur das getan, was dieses Netzwerk immer getan hatte, nämlich Therapien und Methoden auf ihre Effektivität hin zu überprüfen: „Die meist bewusst kritischen Stellungsnahmen des Netzwerks wurden vor Corona nicht immer geliebt, aber doch in der Regel diskutiert und, wie in der Wissenschaft bisher selbstverständlich, als fundierte Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs respektiert.“11 – Was an die Stelle des „wissenschaftlichen Diskurses“ trat, war der Kult um angebliche Superwissenschaftler wie Drosten in Deutschland, zu dem sich der Altersmediziner Jürgen Pantel am 23. 10. 23 auf multipolar äussert (zur Art und Weise, in der Drosten medial dargestellt wurde, hier noch im Herbst 23 auf der Frontseite der Zeit): „Schon auf der Titelseite prangt ein halbseitiges Portraitfoto mit verschmitztem Lächeln und Wuschelhaar, als handele es sich bei dem Drosten-Interview um das wichtigste Ereignis der vergangenen Wochen. So präsentiert man nicht einen von vielen Experten, sondern einen Popstar, den Dalai Lama, den Papst oder eine andere nicht hinterfragbare Instanz. Entsprechend kommen kritische Fragen im Laufe des Interviews praktisch nicht vor.“12

Wie sehr die Notstandsherrschaft im Namen der nicht hinterfragbaren „Wissenschaft“ – bekannt der Ausspruch des deutschen RKI-Chefs, des Tierarztes Lothar Wieler vom 28. 7. 2020: Die Massnahmen „dürfen nie hinterfragt werden. Das sollten wir einfach so tun“ – auf nonsense beruhte, belegt schon die Art und Weise der Erhebung der Verstorbenenzahlen, die für die Einschätzung der Schwere des Geschehens und damit für politisch weitreichende Entscheidungen absolut zentral waren. Bekanntlich hat man nicht zwischen „an“ oder „mit“ Corona Verstorben unterschieden, und dies nicht bloss aus Zufall. Es gibt dazu eine Erläuterung des schweizerischen Bundespräsidenten, der auch ausgebildeter Arzt ist; in einer Diskussionssendung am Fernsehen meinte Ignazio Cassis – er ist nicht deutscher Muttersprache – auf Anfrage: „Also einer der mit einem Autounfall stirbt und Corona-positiv ist, ist ein Corona-Toter. [D. h. der berühmte George Floyd, der laut Autopsiebericht Corona-positiv war, war statistisch in den USA ein Corona-Toter! – und wurde als solcher erfasst] Das hängt von der Definition ab. Weltweit hat man Definitionen festgelegt, und die müssen überall gelten. Ob die absolute Zahl richtig oder … oder fast richtig ist, kommt gar nicht drauf an, weil ganz wichtig ist in einer Epidemie der Verlauf, und es hat immer ein marge d’erreur, also eine Fehlermarge in jeder Aufstellung, aber Sie müssen ja irgendwie eine Corona-Falldefinition haben, wenn Sie den Fall Corona nicht definieren, wie können Sie das zählen? […] Aber Entschuldigung, das hat gar nicht die Schweiz gemacht, das hat die WHO gemacht, damit wir alle gleich zählen, sonst zählen die andere Kartoffeln und die andere … äh … Äpfel“.13

Diese Art der Erhebung ist in der Weise ihrer bundespräsidialen Erläuterung reines Kabarett, sie hat aber mit Sicherheit dazu gedient, die Wirklichkeit des Krankheitsgeschehens weltweit zu verschleiern, denn die Tests sind nachweislich äusserst ungenau gewesen, so dass die Fehlannahmen hier gewaltige Dimensionen annehmen mussten. Auch der Impfstatus der Hospitalisierten wurde übrigens nie systematisch erhoben – etwa der französische Senat hat auf Anfrage eines Epidemiologen die Forderung nach Erhebung des Impfstatus aller Verstorbenen explizit abgelehnt.14 – Kurz: so verhält sich Wissenschaft nicht, bloss noch ihre Parodie. Und das Perverse solcher Parodie des befugtesten Ernstes war einfach der Ausdruck davon, dass Wissenschaft Komplizin und Sprachrohr der aktuellsten Form der Macht geworden war.15

Ein mir präsentes Beispiel dafür ist der erste Vorsitzende der spontan gebildeten wissenschaftlichen „Taskforce“ des Bundes in der Schweiz, der Virologe Matthias Egger, der dieses Gremium fast im Alleingang mit seinen Gesinnungsgenossen bestückt hat, und der damit Vorsitzender eines politisch und gesellschaftlich enorm einflussreichen Gremiums wurde, von dem in einem kritischen Artikel vom 19. 2. 21 auf Re-Check.ch (CATHERINE RIVA, SERENA TINARI) zu lesen war: „Es soll zunächst daran erinnert werden, dass die Task Force ein nicht gewähltes und nicht repräsentatives Gremium ist, sie ist weder dem Volk noch dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. Sie hat sich auf Initiative, unter anderem, einiger ihrer Mitglieder selbst konstituiert“. Im Auftrag des Bundesrates – vorgeschlagen haben sich die hier federführenden Wissenschaftler mit einem Konzept allerdings selbst – wurde eine regierungstreue Eingreiftruppe gebildet (Abweichler der Einheitsmeinung wurden gar nicht zugelassen), welche die Bevölkerung zielgenau mit den üblichen Alarmbotschaften im Namen der „Wissenschaft“ terrorisierte. Regelmässig (es gibt keine Protokolle und Unterlagen zur entsprechenden Meinungsbildung) wurden „policy briefs“ publiziert. Dazu RIVA/TINARI (wie oben): „Ende Juli 2020 wies InfoSperber darauf hin, dass im Policy Brief ‘Strategy to react to substantial increases in the numbers of SARS-CoV-2 infections in Switzerland’ (Nur auf Englisch verfügbar) vom 1. Juli 2020 z. B. die Behauptung, eine Meta-Analyse habe gezeigt, dass das Tragen einer Maske die Übertragung des Virus ‘um bis zu 80%’ reduzieren könne, auf methodisch unhaltbaren Verkürzungen und ungenauen Zitaten beruht. Aber es gab den Medien die Munition, um Druck auf die kantonalen Behörden und den Bundesrat auszuüben. Und wurde trotz der von InfoSperber aufgezeigten Mängel nicht korrigiert.“

Als uneingeweihter Beobachter hatte man im Juli 2020 den Eindruck, dass diese Einführung der Maskenpflicht in der Öffentlichkeit in der Schweiz vor allem das Werk des „Vorsitzenden“ Egger im Verbund mit der Boulevardzeitung „Blick“ gewesen ist, die zuvor ein wochenlanges mediales Trommelfeuer veranstaltet hat, in dem unter anderem fast täglich für Schweden apokalyptische Zustände prophezeit worden sind, die dann nie eintrafen. Der Skandal bestand aber schon in der unangemessenen Stellung Eggers, der damals zugleich der Präsident des Schweizerischen Nationalfonds gewesen ist. Diese Institution ist in der Schweiz für alle Forschung, die nicht direkten Zugang zu industrieller Förderung hat, die konkurrenzlose Instanz für Drittmittelgelder. – Selbstverständlich hätte Egger in seiner Position niemals dieses hochpolitische Amt des Taskforce-Vorsitzenden annehmen dürfen, solange er sozusagen Herr über die Forschungsgelder in der Schweiz war. Denn der SNF agiert wie eine Stiftung und soll die Freiheit der Forschung, auch gerade gegenüber der Politik, garantieren. Und natürlich wollte niemand über den Skandal reden, denn das hätte ebenso wie das Äussern abweichender Meinung zu „Corona-Massnahmen“ als Mass aller Wissenschaftlichkeit ernsthaft die eigene Karriere (zunehmend letztes Erkenntnisziel aller Forschung) gefährdet. Egger hat damit ungestraft im Alleingang der freien Forschung in der Schweiz ein Ende gesetzt. Und er besass auch die Verlogenheit, in mehreren Interviews zu betonen, er sei an Politik überhaupt nicht, sondern nur an Wissenschaft interessiert.

Nicht dass die wissenschaftlichen Bundesexperten sich irrten ist das Problem – RIVA/TINARI schreiben mit Fug dazu: „Die von diesen Forschern erstellten Szenarien, Analysen und Modelle haben sich regelmässig als falsch erwiesen“ – sondern die unkontrolliert autoritäre Manier ihres Auftretens, die von den unzähligen „Kollegen“ bestallter Wissenschaft nie in die Schranken gewiesen wurde. Und so wurden sie von grauen Mäusen aus dem Hades institutioneller Ununterscheidbarkeit zu überall zitierten, interviewten und abgebildeten Popstars, an deren befugten Lippen das ganze Land hängen musste, weil sie erklären durften, was man noch tun und was man noch denken und sagen durfte. Und so haben sie unzählige Vorschriften erlassen – etwa auch darüber, wann und wie lange eine Prostituierte beim oralen Geschlechtsverkehr die Maske abnehmen durfte – die zweifellos irgendwann als der perfide Unfug ersichtlich sein werden, der sie von Anfang an gewesen sind.16 Und ich verstehe dabei sehr wohl den Rausch der Macht, der schon stärkere Geister korrumpierte, und das erhebende Gefühl, „etwas bewirken zu können“, für das gerade Intellektuelle so anfällig sind. Aber damit, dass eine weltweit alimentierte und sozial prominente Wissenschaft als Institution all diesen verheerenden Unsinn mitgetragen hat, hat sie all das verloren, was ihren mehr als sozialen Rang, ihre echte Würde und ihre Bedeutung ausgemacht hat.

Genau wie die Medien, wie die Presse, die sich sehr anmassend und zu Unrecht vor etwa 60 Jahren selber zur „vierten Gewalt“ erklärt hat, so als wäre sie eine unabhängige Alternative zur staatlichen Macht, diese in Schranken haltend,17 ist auch die Wissenschaft nur noch als expertokratisch-elitistische Fassade eine die Offenheit des Öffentlichen behütende Instanz neben der soziopolitischen Machtentfaltung. – Der Medienwissenschaftler Michael Meyen – auch er als Abweichler im Sinne der aktuellen Wahrheitsministerien vom Verfassungsschutz bestraft und von Kollegen ausgegrenzt – erklärt zum „vierten Stand“: „Das sind wir alle“. „Die Leitmedien sind da nur Mitspieler unter vielen und auch nur dann relevant, wenn sie tatsächlich allen ein Forum bieten. Vierte Gewalt heisst dann: Meinungsbildung jenseits von Parlamenten, Apparaten, Gerichten, Meinungsbildung auf der Strasse, am Stammtisch und über Kanäle, die nicht der ‘Koalition zwischen den Unternehmen und dem Staat’ (Sheldon Wolin) gehören.“18 Meyen betont, dass Journalismus unter aktuellen Bedingungen – die „Medienhäuser gehören entweder ultrareichen Familien oder sind fest in der Hand der Politik“19 – gar nicht unabhängig sein kann. Er hat seine servile Gesinnung in den zurückliegenden Jahren schliesslich eindrücklich bewiesen und rührt unterdessen eifrig überall die Kriegstrommel. Doch was für ihn gilt, muss auch für die Wissenschaft gelten: sie wird von der „Koalition von Staat und Unternehmen“ bezahlt, und sie dient sich dieser immer professioneller und immer schamloser an. – Damit hat auch sie die Bedeutung einer „vierten“ oder überhaupt einer wenigstens geistig unabhängigen Instanz verloren, ja sie ist, wie wir alle sehen konnten, ohne Widerrede in den zunehmend auswechselbaren Funktionärsbestand staatlich-autoritärer Wahrheitsministerialität übergegangen. – Doch wie Balzac schon 1843 in der an Victor Hugo gerichteten Vorrede des Romans „Verlorene Illusionen“ (Illusions perdues), der wohl das Vernichtendste ist, das man über den Journalismus schreiben kann, sagen konnte: Es sind nicht die Journalisten, welche im Beschreiben der menschlichen Welt die Obrigkeit nicht verschonen, sondern die Dichter, Leute wie Hugo und Balzac – und gilt das etwa weniger von der Wissenschaft? Hat sie nicht ihre Stellung als Hüterin der Demokratie verwirkt, die als einzige Staatsform ohne wahre Öffentlichkeit, die ihr erst ihre Weltlichkeit verschafft, nicht existieren kann?

Denn in den Gemeinschaften menschlicher Autonomie und Eigenweltlichkeit muss die Offenheit zur Welt und ihrer Wirklichkeit durch Denken und Bewusstsein immer erst erschlossen werden. Ihre Welt wird nicht durch den König als anwesende Sonne erhellt, sondern durch die Offenheit eines von allen geteilten Horizonts für das bedeutsam leuchtende Hellsein der Welt. Das ist die frei zugängliche, auch digital nicht verwaltbare Erhellung einer gemeinsamen Welt, nie endgültig gegeben, nie einfach verfügbar und doch allen prinzipiell zugänglich wie der spontane Akt des Denkens oder das Licht der Sonne. Die „vierte Gewalt“ ist die unkontrollierbare, politisch nie fixierbare und kollektiv nicht organisierbare Basis aller Öffentlichkeit, eben als prinzipielle Weltoffenheit menschlichen Bewusstseins. Sie bietet auch Göttern, Träumen, ja den ‘Urgewässern’ des Unbewussten, aus denen die Welt jeden Morgen als neue heraufsteigt, eine Bühne; aus ihrem Bereich ist die Stimme des grossen Geschichtenerzählers Herodot und seines Nachfolgers Thukydides zum ersten Mal zu hören gewesen, ebenso wie zuvor die Stimme Homers und zu allen Zeiten die Stimme etwa einer Grossmutter, die ein altes Märchen kennt. Sie ereignet sich und tritt in Kraft überall wo Menschen sind, ob zusammen im Gespräch oder allein in der belebten Stille des Denkens, weil sie durch den gemeinsamen Horizont der Welt, der sich spiegelt in der Sinnhaftigkeit gemeinsamer Sprache, verbunden sind. Nur dieser im realsten Sinne öffentliche Horizont gibt auch aller wissenschaftlichen Erkenntnis erst ihren Sinn. Wo sich die Wissenschaft – elitär sich selber Autorität über das Öffentliche anmassend – dieser Quelle auch ihres Bedeutens verschliesst, erziehend, beschneidend, „ratiofaschistisch“ verallgemeinernd, aus purem Opportunismus, aus der kollektiv narzisstischen Gier nach Macht und dem Glanz der „Karriere“, da wird eben auch die Wissenschaft in all ihrer institutionell angewachsenen Mächtigkeit und Organisation bedeutungslos. Die gewesene ancilla theologiae ist ganz offensichtlich inzwischen zur eilfertig eifrigen ancilla potestatis geworden.

Weil Wissenschaft jedenfalls dort, wo sie für mich etwas bedeuten konnte, belanglos wurde – gewiss gibt es Ausnahmen, und alle sind eingeladen, für sich die Ausnahme zu reklamieren – besteht für mich auch kein Anlass mehr, einen „wissenschaftlichen“ Verlag zu suchen, in welchem diese Vorbemerkung mit Sicherheit nicht hätte gedruckt werden dürfen. Obschon die vorliegende Arbeit eine wissenschaftliche nach all den Regeln ist, die ich gelernt und gelehrt habe, und obwohl in ihr, schon der zeitlichen Ferne des Gegenstands wegen, die Aktualität ihrer Entstehungszeit kaum oder bloss indirekt reflektiert wird, möchte ich mich ohne Reue im Anschluss an sie – ein Wink an potentielle Rezensenten! – aus dem Reich der „ernstzunehmenden Wissenschaft“ verabschieden. Letztere ist, ich wiederhole mich, belanglos geworden, und ich möchte mit dem Wort eines echten Wissenschaftlers schliessen, das heute im Internet gerade noch auffindbar ist im Rahmen einer Stellungnahme von unbotmässigen Wissenschaftlern,20 verschwiegen oder diffamiert vom ‘botmässigen’ mainstream: „Ich schäme mich, Wissenschaftler zu sein.“ (Boris Kotchoubey)21. – Auch diese Leute gab es. Die meisten allerdings schämten sich gar nicht. Und sie haben das, was an der Wissenschaft ehrenwert war, zerstört.

Lauwil, am 14. 6. 2024

1 Anthony Fauci, eine der einflussreichsten Figuren dieser Jahre und der höchstbezahlte Beamte der USA, meinte öffentlich, dass, wer sich gegen ihn stelle, sich gegen die Wissenschaft stelle: in einem Interview vom 9. Juni 2021: “‘Attacks on me’, he explained, ‘quite frankly, are attacks on science’.” (KENNEDY 2021, xvii).

2Berliner Zeitung am 4. 6. 2024

3 „Gesellschaft im Ausnahmezustand. Was lernen wir aus der Coronakrise?“, Diskussion mit Heinz Bude, Alexander Bogner, Klaus Krämer am 24. 1. 24 in Graz, auf youtube leicht zu finden.

4https://youtu.be/BdYpbiszdUc („Wie souverän ist die Schweiz“).

5 Anstelle von unzähligen hier anzuführenden Belegen sei nur auf die eben freigeklagten RKI-Files mit den Sitzungsprotokollen der in Deutschland massgeblichen Instanz verwiesen; siehe etwa bei https://norberthaering.de/news/rki-protolkolle-masken/. Dort steht etwa am 31. 3. 20: „Wo keine/mangelnde Public Health Evidenz verfügbar ist, muss auch weniger harte Evidenz genutzt werden, wichtig ist die Sprachregelung, um für die Bevölkerung akzeptabel zu sein“ und dann am 4. 4.: „Empfehlung für Mund-Nase-Bedeckungen in der Bevölkerung noch nicht aktiv genug propagiert. Die Problematik müsste so aufgearbeitet werden, dass zusätzliche Maßnahmen angesichts der gemäß NowCast weiter steigenden Fallzahlen sinnvoll erscheinen, auch wenn Evidenz für das Maskentragen in der Gesamtbevölkerung noch fehlt“ – Diese Evidenz fehlt bis heute. – Die bis anhin seriöseste und gründlichste Studie dazu vom Februar 23 (https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD006207.pub6/full), welche die völlige Nutzlosigkeit der Maskenpflicht nahelegt, ist zwar in unserer Presse von medizinischen Laien für unzuständig erklärt worden, hat aber immerhin in den USA Anthony Fauci zur seltsamen, teils höhnisch kommentierten Aussage auf CNN gebracht (dazu New York Post vom 3. Sept. 23), Masken würden zwar allgemein nichts aber doch individuell etwas nützen (https://www.youtube.com/watch?v=e3AMslS6cKw).

6 Graphik bei MICHEL 2024, 304 nach Svenska Dagbladet.

7 Die Gratiszeitung 20 Minuten vom 4. 8. 2021.

8 CHRISTIANE CICHY: Corona-Impfung. – Ungeimpfte zu Unrecht beschuldigt? Kommentar am 02.12. 2022

9 Das ist ausgeführt wohl erstmals VOEGELINs Münchner Antrittsvorlesung („Wissenschaft, Gnosis, Politik“, München 1959, 21-61) – Jetzt auch in: Der Gottesmord, München 1999, spezifisch S. 69ff.

10 Zitiert bei MÜLLER-ULLRICH 2023, dort als Nr. 191

11 Die Angst- und Lügenpandemie, Norderstedt 2023, 60.

12https://multipolar-magazin.de/artikel/interview-pantel. – Dass solche Interviews wie viele andere wichtige Informationen nur in ‘alternativen’ Medien erscheinen können – die „Leitmedien“ ignorieren sie offenbar prinzipiell, oder belegen sie bei unumgänglicher Erwähnung regelmässig mit dem Label „rechts“, was meist gar nicht stimmt; auch die oben zitierten Autoren sind politisch fast alle eindeutig der Linken zuzuordnen – ist selber Symptom einer ernsthaft deformierten Öffentlichkeit.

13https://youtu.be/wFEkMiqb018 – eine satirisch kommentierte Version..

14 Dazu MICHEL 2024, 71ff. Der völlige Mangel an belastbaren Daten noch im Juni 2021 wurde etwa vom Medizinpsychologen BORIS KOTCHOUBEY (siehe unten, Anm. 21) moniert.

15 Da unterdessen die RKI-Files vollständig öffentlich gemacht wurden – das Schweizer Fernsehen musste sich nach Klage von der eigen Ombudsstelle öffentlich rügen lassen, weil es darüber nicht berichten wollte – lässt sich nach ersten Auswertungen der riesigen Datenmengen offenbar mit Gewissheit feststellen: Das RKI, vor den deutschen Gerichten letzte Instanz für das „wissenschaftlich“ Gebotene, hat regelmässig seine Einschätzung der Gefahrenlage nach den Bedürfnissen/Weisungen der Politik ausgerichtet. Es hat Politik zu „Wissenschaft“ gemacht, das kommt immer auf Ideologie heraus. Umgekehrt hat die Politik als implementierende Instanz der Erkenntnisse der „Wissenschaft“ ihre autoritären Übergriffe, ja ihre Verbrechen an der Demokratie als über alle Zweifel erhabene „Wissenschaft“ legitimiert.

16 Einer der bekanntesten von ihnen, Marcel Salathé, dessen Gesicht in der Schweiz jedes Kind kennen musste, verkündet unterdessen, im Herbst 24, dass er das Interesse an Corona verloren habe, und meint (laut SonntagsZeitung vom 14. 9.): „KI ist die wichtigste technologische Erfindung der Menschheit (Der bekannte Epidemiologe beschäftigt sich kaum mehr mit Corona. Dafür spricht der Co-Chef des neuen KI-Zentrums der ETH Lausanne über das ‘fast unermessliche Potenzial’ künstlicher Intelligenz“).

17 MEYEN 2024, 25. ROLAND HOFWILER (2024, 312), Gründungsmitglied der taz und langjähriger Spiegel-Redakteur zitiert den Leiter einer Journalistenschule zu den Allmachtphantasien von Journalisten: „Besonders in Deutschland“ sei die „Neigung der Journalisten gross, sich mit dem verfassungsrechtlich bedenklichen Begriff der ‘vierten Gewalt’ zu identifizieren und sich damit als politisch-moralische ‘Über-Instanz’ zu definieren“.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Unter dem hashtag „wissenschaftstehtauf“ damals auf der website der Stiftung Corona Ausschuss veröffentlicht mit zahlreichen anderen Dissidentenstimmen.

21 am 2. Juni 2021, jetzt noch gefunden unter: https://player.odycdn.com/v6/streams/3e82713b33e6d959257191adbbaf11a0cdb56146/b35bba.mp4

Einleitung

Die Geschichte der Astrologie ist seit längerem Gegenstand von Wissenschaft. Sie zieht sich bei einem weiteren Begriff, der die babylonischen Gestirnsomina einbezieht, von den Sumerern bis in die Neuzeit hinein; sie hat selbst in der Gegenwart nicht aufgehört, auch wenn man sie da akademisch längst nicht mehr ernst nimmt, anders als noch im Spätmittelalter, als es in den Curricula wichtiger Universitäten Vierjahres-Kurse zu Ihrer Erlernung gab,22 und damit auch explizit astrologische Lehrstühle. Es hat diverse Versuche zu Gesamtdarstellungen gegeben,23 und doch konnte zu ihr jüngst von Darrell Rutkin gesagt werden: „Although there is much excellent scholarship in many languages over its entire history, there does not yet exist a fully satisfacory overall history in any language.“24

Ein wichtiger oder der entscheidende Abschnitt dieser Geschichte ist sicherlich die Antike25 seit der „Erfindung“ des Geburtshoroskops,26 die Gegenstand dieses Buches ist. Diese Entwicklung oder Erfindung ist spezifisch zu thematisieren; sie setzt eine allerdings nur hypothetisch zu datierende epochale Markierung. Sie verschafft der Geschichte der Astrologie einen neuen Anfang: von nun an ist sie die Geschichte der Horoskope und damit an ein graphisch darstellbares ‘kosmisches Formular’ gebunden.

Das Epochemachende an der Entwicklung des Horoskops ist nicht bloss wissenschaftsgeschichtlich relevant, denn diese war auch kulturgeschichtlich epochal angesichts der langen Karriere dieser Astrologie. Die Horoskop-Astrologie ist eine der kulturübergreifend nachhaltigsten Erfindungen überhaupt, und sie wurde zur wichtigen Klammer wissenschaftlichen Austausches zwischen der muslimischen und der christlichen Welt des Mittelalters.27 Ein Grund des Epochalen ist aber erst noch zu finden; er könnte dem damals Neuen einen kulturellen Hintergrund verschaffen. Das läuft auf eine Definition von Astrologie hinaus, die es noch gar nicht gibt – so meinte jedenfalls der Mediävist Steven Vanden Broecke:28„Astrology hardly monopolized the prediction of future events in the sixteenth century. Some of its most important contenders were Christian theology, popular proverbs, and medical prognosis. This means that a reliable definition of astrology must include a characterization of the things, the ideas, and data that were specific to it. This characterization should also have sufficient spatio-temporal stability tobe at least relevant to late medieval and Renaissance Europe.” – Offenbar hat Vanden Broecke keine spezifischen “Dinge, Ideen und Daten“ gefunden, die der Astrologie als eigentlicher, ihr eigentümlicher ‘Gegenstand’ dienen könnten; seine Definition verbleibt in begriffsgeschichtlichen Abgrenzungen. Damit bliebe ein eigentümliches, ihre supponierte Erfindung erst motivierendes Erkenntnisobjekt der Astrologie als Wissenschaft erst noch zu suchen, was die Forschung bisher offensichtlich unterlassen hat; vielleicht, weil man eh von der Abwegigkeit ihres Wissenschafts- und damit Erkenntnisanspruchs ausging.

Meine Arbeitshypothese zu dieser Frage war, dass das Horoskop von Anfang an Individualität, als fatale Identität, beschreiben sollte. Damit würde der Astrologie erstmals ein eigentümliches Erkenntnisinteresse zugeschrieben. Sie wäre schon im Altertum mit Individualität in einem ontologischen Sinne beschäftigt gewesen. – Diese Hypothese erscheint deshalb als problematisch, weil „Individualität“ ein durch die Moderne exklusiv beanspruchter Begriff ist. So wird zum Beispiel, und das ist plausibel, in der europäischen Bewegung der Romantik eine neue Gewichtigkeit des Individuellen greifbar.29 Es lässt sich zeigen, wie das individuierte Subjekt, nachdem die Kirche als kollektive Instanz an Gewicht eingebüsst hatte, gleichsam zum Tempel von Erhabenheit und Wirklichkeit aufsteigen musste; ja wie seine „Empfindsamkeit“ dem Absoluten gerade in der Kunst zum selber erhabenen Gefäss werden sollte. Und es ist offensichtlich, dass die Historisierung der für das epochale Selbstverständnis der Moderne gewichtigen Individualität im üblichen Modernisierungs-Diskurs30 aus einer neuen Kontingenzerfahrung hergeleitet wird, die mit dem Ableben grosser Traditionen und Institutionen und ihrer kollektiv identitätsstiftenden Funktion einherging.

Wäre dagegen schon die antike Astrologie massgeblich mit einer fatalen Ersichtlichkeit des Individuellen beschäftigt gewesen, dann hätte die herkömmliche Geschichte der Individualisierung einen Haken: sie würde eine Vorgeschichte ausblenden, die noch hinter das Mittelalter zurückreicht. Diese Vorgeschichte kann übrigens auch im Rahmen meines Forschungsprojekts als ganze nicht rekonstruiert werden. Nicht mehr als der möglichst fundierte Hinweis auf eine kulturell erfolgreiche antike ‘Technologie’ der Objektivierung von Singularitäten31 kann hier geboten werden. Dabei wird eine vorzunehmende Begriffsunterscheidung, ausgeführt im dritten Kapitel, zwischen „Subjektivität“ und „Individualität“ eine gewichtige Rolle spielen. Indem ich annehme und dies vorab im vierten Kapitel anhand von Quellenstellen aus der antiken astrologischen Literatur illustriere, dass die „Genethlialogie“ um Individualitäten kreiste – die damit auch Explananda in der multi-kulturellen Umwelt des späteren Hellenismus gewesen sein müssen – bin ich im Rahmen der Arbeitshypothese zu einem Konzept von Individualität gelangt, das sich an der antiken Struktur des Horoskops orientieren kann und sogar an ihr exemplifizieren lässt. Individualität als ein historisierbares „Anthropologem“ (Enno Rudolph) wird dann auf einem antiken Hintergrund ersichtlich, der schon vor der Astrologie im Rahmen des Wesens- oder Substanzen-Essentialismus der platonischen Schule Konturen annahm. Ich habe das anderswo mit dem Konzept einer griechischen „Anti-Moderne“, mit der epochalen Dramatik einer griechischen Moderne und ihrer Krise seit dem 4. Jhdt. v. Chr. in Zusammenhang gebracht,32 doch würde auch dieser Rahmen zu gross werden, um ihn hier angemessen zu erzählen, und er würde als Ingredienz der „hellenistischen“ Astrologie nur die griechische Seite33 des kulturell hybriden Konstrukts beschreiben, das diese Astrologie gewesen ist.

Was hier vorliegt, ist der ausgeführte Hinweis auf ein vergessenes und doch grundlegendes Kapitel in der Geschichte moderner, vormoderner und anti-moderner Individualität, ihrer Erfahrbarkeit und Reflexion, einer Reflexion, die in umfassend systematisierter Form ‘vorliegt’34 in dem, was man zeitgemäss den antiken „astrologischen Diskurs“ nennen könnte. Ich habe, ausgehend von meiner Individualitäts-Hypothese, auch von einer antiken „Psychologie“, einer antiken Psychologie der Individualität im Kontrast zu moderner Psychologie der Subjektivität gesprochen (ausgeführt im 4. Kapitel). Ich möchte die Schwierigkeiten, in welche hier jede Erzählung als Deutung geraten muss, an dem mittelalterlichen Beispiel der astrologischen Autobiographie des Henry Bate, eines mittelalterlichen Zeitgenossen des Thomas von Aquin, mit dem er persönlich bekannt war,35 illustrieren. – Dieses Dokument einer Selbstreflexion mit dem Instrument des eigenen Horoskops als ein eminentes kulturgeschichtliches Zeugnis – nichts Vergleichbares ist aus der Antike übriggeblieben – eignet sich hervorragend zur Untermauerung meiner These: Das Horoskop dient der systematisierten Beschreibung fataler Identität eines Individuums.36 Henry Bate liefert ein echtes astrologisches Selbstportrait, mit Körperbau und Konstitution, mit durchgemachten Krankheiten (durch „Primärdirektionen“ als idiosynkratische Fatalitäten eingeordnet),37 der Beschreibung seiner Musikalität, der Neigung des Klerikers zu Frauen, udgl., und dies, wie die Herausgeber betonen, 300 Jahre vor Cardano,38 dessen astrologisches Selbstportrait für Jacob Burckhardt noch zum Beleg eines erwachenden modernen Menschseins dienen konnte.

Laut Steven Vanden Broecke liegt hier eine „Selbstanalyse“ vor, die „is both intensely personal, meandering and exploratory“39, wobei der Kleriker aus dem 13. Jhdt. deutlich artikuliert, dass es ihm um das Eigene (proprium) geht, und genauer noch um das Verhältnis des Selbst (meipsum) zur Objektivität des Urteils über sich, das aus dem astronomisch berechneten Horoskop (also aus einer ‘astronomischen Objektivität’) abgeleitet wird. Die Berechnung des Horoskops würde die Selbstbeurteilung (das officium iudicis) externalisieren: „Bate thus portrayed astrological judgement as a profoundly disinterested and philosophical art, which allowed the self to assume the voice of the philosophers in judging itself.”40

So weit, so gut. Doch dem folgt die unvermeidliche Richtigstellung: Das Mittelalter habe „our twentieth-century notions of the ‘individual’ or ‘the personality’“ nicht haben können.41 – Das mag so allgemein natürlich stimmen, doch ist es mindestens missverständlich und als Argument vermutlich zirkulär (ein vormoderner Mensch kann nicht wirklich über Individualität reflektieren, weil diese eben modern ist42 – aber eben das Letztere wäre zu begründen, und dazu wäre schon eine Analyse der Begrifflichkeit in Wortfeldern wie „Individualität“, „Subjektivität“, „Selbst“ oder „Identität“ unerlässlich).43 Wenn für den mittelalterlichen Befund spezifisch zur Astrologie hervorgehoben wird, man habe hier Diversität aufgefasst als „an epiphenomenon of a variable but universal human relation to an equally universal invisible heaven“, und behauptet wird, „human diversity is reduced to (chronological) variety“,44 dann fasst das zwar die Konzeption des Singulären im Formular des Horoskops gut zusammen,45 und das mag im astronomischen Weltbezug des distinkt Persönlichen auch tatsächlich unmodern sein. Doch daraus folgt nicht, dass damit nicht gerade Individualität beschrieben und theoretisiert worden wäre. – Tatsächlich ist nach dem Horoskop die beschriebene Singularität ein globales Format von Identität.46 Doch wer sagt denn, dass nicht gerade dieser ‘Weltbezug’ Individualität im dezidierten Gegensatz zur kulturell und sozial gebundenen, kollektiv verallgemeinerbaren Subjektivität47 bezeichnen kann? Und müsste nicht zumindest in Betracht gezogen werden, dass Individualität gerade nicht als exklusiv Modernes, ja dass sie seit dem „Paradigmenwechsel“ des 4. Jahrhunderts v. Chr.48 sogar als ein polemisch akzentuiertes Gegenüber zur Moderne einer im Kollektiv triumphierenden menschlichen Subjektivität erhöht, ja geheiligt worden wäre? Ich wähle zur Illustration des besagten anti-modernen Paradigmenwechsels wie schon John Stuart Mill49 die revoltierenden Individualitäten von Sokrates und Christus, die zu biographisch reflektierten Paradigmata einer entschiedenen Unmittelbarkeit des Menschlichen zum „Umgreifenden“ der Wirklichkeit der Welt geworden sind. Das war eine Erhöhung des Individuellen zum kontingenten Gefäss des Göttlichen, während vergleichbar die antiken Handbücher zur Astrologie eine umfassende Ausweitung der Zuständigkeit himmlischer Providenz auf die Fährnisse des ‘banalen’, idiosynkratisch-persönlichen Alltags50 erkennen lassen. Für das Mittelalter ist schon einmal explizit von einer „Kontingenzkultur“51 gesprochen worden; ich denke, dass auch der astrologische Befund verdeutlichen kann, dass diese mittelalterliche „Kontingenzkultur“ aus der Antike stammt.

Dem Verstehen einer kulturgeschichtlich fundierenden Episode hellenistischer Antike stehen also Hindernisse in Form von unzureichend analysierten philosophischen Annahmen, etwa über das Wesen von Individualität, und von historischen Epochalisierungen, etwa im Selbstverständnis der Moderne als der Befreiung zum Erfahren von Kontingenz und Individualität im Wege. Das führt dazu, dass in diesem Buch immer wieder entsprechende Abgrenzungen vorgenommen werden müssen, wodurch der Rahmen einer althistorischen Forschungsarbeit stark strapaziert wird. – Man kommt eben nicht immer um begriffliche Abklärungen herum; schon der Begriff des „Althistorischen“, der „Antike“ oder gar des „Hellenistischen“ enthält Vorstellungen, welche immer wieder als Reflex auf die beanspruchte „Modernität“ derer fungieren, die sich forschend mit einer epochalisierten Vergangenheit beschäftigen. Dass die grosse Erzählung der Genese von Individualität in meinem Rahmen nicht einmal umrissen werden könnte, versteht sich vielleicht. Ursprünglich war auch ein illustrierender Vergleich der hier thematisierten „gräko-ägyptischen“ mit der chinesischen und indischen Astrologie geplant gewesen, doch erwies sich dann schon das engere Feld dieser im spätptolemäischen Kolonialreich auftauchenden „Nativitäten“-Astrologie als ein Thema, das nur auf ganz bestimmte Fragestellungen hin im gebotenen Zeitrahmen zu bearbeiten war. Vieles, darunter auch das Problem des rechtlichen Status der Astrologie im römischen Reich oder ihr Verhältnis zum sich ausbreitenden Christentum und später zum Islam musste auf gelegentliche generelle Bemerkungen begrenzt werden.

Ich habe mich auf den Versuch beschränken müssen, der nie wirklich gestellten Frage nach einer ‘Gegenständlichkeit’ für diese Astrologie nachzugehen, und bin, gerade was die Frage nach der Motivation ihrer präsumptiven ‘Erfinder’ angeht, nicht über Mutmassungen hinausgekommen. Dies auch deswegen, weil hier ein mentaler Horizont in einem durchaus „hellenistisch“ interkulturellen Rahmen formend und bedingend wurde, dessen Einschätzung eine gewisse Vertrautheit mit ägyptischen Verhältnissen und ägyptologische Kenntnisse voraussetzen muss. Auch hier waren meinem forschenden Zugriff Grenzen gesetzt.

Das Buch ist folgendermassen angelegt:

im ersten Kapitel wird die Ausgangsfrage zur antiken Astrologie, deren antikes Selbstverständnis sowie ihre Kuriosität für die wegweisende moderne Forschung thematisiert.

Im zweiten Kapitel wird versucht, das Formular des Horoskops auf seine strukturellen Voraussetzungen hin abzufragen, und damit auch auf die ‘Weltanschauung’, hier im Wortsinne, die es enthält und transportiert. Es werden Argumente versammelt, welche die Richtigkeit der ‘Individualitätsthese’ belegen oder nahelegen können.

Im dritten Kapitel wird der für dieses Buch zentralen Definierbarkeit von Individualität, Identität, Subjektivität und Verwandtem ausführlicher nachgegangen. Dazu wird auch ein idealtypisches Schema entwickelt, nach welchem sich die „Anthropologeme“ Individualität und Subjektivität nicht bloss unterscheiden, sondern nach dem sie sogar antagonistisch einander ausschliessen, während sie gleichzeitig „dialektisch“ aufeinander bezogen bleiben müssen. Die Modernität autonomer und anti-monarchischer Subjektivität wird einer antimodernen und eher Monarchie-affinen Individualität gegenübergestellt. Astrologie kann in diesem Zusammenhang zum Beleg einer vor- oder anti-modernen „Kontingenzkultur“ dienen.

Im vierten Kapitel soll möglichst aus den antiken Texten selbst der Frage nach einer spezifischen „Psychologie“ dieser antiken Astrologie, also nach einer Eigenart ihres Charakterisierens nachgegangen werden. Dabei hat sich der Begriff einer „teleologischen Psychologie“ als brauchbares heuristisches Instrument erwiesen, ebenso wie die Hypothese einer „eventualistischen“ oder „ereignisfixierten“ Typologie. Die Astrologie soll als „nicht-subjektive“ Psychologie, und damit eben als Psychologie der individuierenden Singularität sinnvoll gelesen werden können. Wobei das ‘unterbelichtete’ Subjekt auch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit dieser Psychologie erklären kann, die Bereiche des „Nicht-Ichs“ aus der biographisch erzählbaren Identität auszuschliessen, die hier auch Affinitäten zu Partnerschaften, Berufen, Besitztümern, Geschwistern und Nachommen, Lebensmitteln, Katastrophen, Todesarten und anderen „Idiosynkrasien“ umfasst. Und damit erklärt sich auch die methodische Uferlosigkeit dieser Astrologie. Ein Zusatz widmet sich der Eigenart des astrologischen Ereignis-Verständnisses im Vergleich mit der Heideggerschen Emphase des „Ereignisses“. – Das Kapitel hat auch einen Nachtrag, der dem strukturellen Vergleich von Astrologie mit aktueller „Persönlichkeitspsychologie“ gewidmet ist.

Im fünften Kapitel soll der ägyptische Hintergrund für die Astrologie beleuchtet werden. Dazu gehört das Königtum und seine Ritualität, die in Ägypten gerade als Kult des Sonnenlaufs auch eine Ritualität der Zeitlichkeit war; ihr entsprach eine ‘ Semantisierung’ der Sektoren des Himmels. Das Horoskop könnte, als „Formular“ unmittelbarer Verbundenheit mit dem göttlichen Kosmos, als Kompensationsform für eine Schwäche des in Ägypten fremden hellenistischen Königtums dienen. Damit antwortete es, gerade in seiner kulturellen Hybridität, auch auf eine koloniale Realität. Der König diente dabei als paradigmatisches Individuum; seine ‘Welt-Unmittelbarkeit’ – etwa als Verwandter der Sonne – kann auch Vorbild für die neue „Nativität“ des Menschlichen gewesen sein. Die Frage nach Hybridität, nach interkultureller Wesensdifferenz und deren Artikulation und Reflexion auch im Medium der Astrologie, ist hier eigens zu behandeln, ebenso wie die modernen „postkolonialen“ Auffassungen der Dynamik im Verhältnis von „westlicher“ Dominanz zu indigenem Widerstand. Ein Nachtrag widmet sich der kulturellen „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in hellenistischen Kolonialreichen und der Rolle, die einer spezifisch astrologischen Zeitlichkeit hier zukommen könnte.

Im sechsten Kapitel stellt sich die Frage nach dem konkreteren priesterlichen Umfeld, in welchem die ersten Texte der Horoskop-Astrologie offenbar entstanden sind. Dafür wird ein Blick auf Literatur, die im selben Umfeld entstanden ist, geworfen: vorab auf die hermetische und alchemistische, und auch auf demotische Erzählungen, in denen Priester als ‘Helden’ auftreten. Die ‘Anschauungswelt’ dieser Texte soll auch den Horizont der frühen Astrologen erhellen helfen. Spezifisch wird nach der Rolle, und einem möglichen Selbstverständnis im „hellenistischen“ Rahmen, eines griechisch gebildeten ägyptischen Priestertums gefragt, nach vermutbaren mentalen Prämissen, nach Bildung und Interessen. – Durch solch indirekte Hinweise soll dem völligen Mangel an biographischen Daten für das Personal der präsumptiven ‘Konstrukteure’ der neuen Astrologie nach Möglichkeit abgeholfen werden.

Ein Fazit fasst kurz ein Ergebnis zusammen.

22 VANDEN BROECKE 2003, etwa 14 (entsprechende Kurse in Bologna und in Ferrara); sein generalisierendes Statement: “the general importance of astrological ‘theory’ (however interpreted) was almost widely recognized in late medieval universities“ (15); ausführlich dazu RUTKIN 2019, bes. 385-418 und sonst.

23 Ich nenne nur KNAPPICH 1967; TESTER 1989; CAMPION 2008/9; VON STUCKRAD 2003; HOLDEN 2006; STEGEMANN 1931/2.

24 2019, ix A 16.

25 Grundlegend waren BOLL 1894; 1903; BOUCHÉ-LECLERCQ 1899; CUMONT 1912; 1937; BOLL/ BEZOLD 1911; BOLL/ BEZOLD/ GUNDEL 1926, dazu viele RE-Artikel vorab von W. GUNDEL; F. CUMONT; F. BOLL; W. KROLL und E. RIESS. Zu erwähnen ist auch die grosse Edition astrologischer Quellen in 12 Bänden, angestossen von BOLL und CUMONT: Catalogus Codicum Astrologorum Graecorum (CCAG), Brüssel 1898-1953. Als weitere wichtige Meilensteine der älteren Forschung seien nur genannt: CRAMER 1954; NEUGEBAUER/ VAN HOESEN 1959; GUNDEL/ GUNDEL 1966 – Überblick zur Forschungsgeschichte bei PÉREZ JIMÉNEZ 2001; HEILEN 2015, 3-9. Neuere wichtige Monographien umfassen: GUNDEL 1992; BARTON 1994; PINGREE 1997; BECK 2007; HEILEN 2015; diverse Arbeiten von W. HÜBNER (etwa 1982); zu Rom Arbeiten von LE BOEUFFLE (etwa 1989); ABRY (etwa 1993); SCHMID 2005; zur Rechtsproblematik FÖGEN 1997. – Zur babylonischen Vorgeschichte (u. a.): KUGLER 1907-1935; ROCHBERG-HALTON 1988; HUNGER 1992; REINER 1995; KOCHWESTERNHOLZ 1995; HUNGER/ PINGREE 1999; BROWN 2000; ROCHBERG 1998; 2004; konziser Überblick zur Forschungsgeschichte bei SWERDLOW 1999.

26„sometime in the late 2nd or early 1st century BC someone, perhaps in Egypt, invented genethlialogical astrology“ (PINGREE 1997, 26).

27 Ein Klassiker dazu ist LEMAY 1962.

28 2003, 7.

29 Etwa MATUSCHEK 2021, 304 zu dem neuen Dante-Bild der Gebrüder Schlegel „Das Dichterindividuum soll mit einem einzelnen, originellen, grossen Werk aufs Ganze gehen und aus sich heraus etwas Allumfassendes erschaffen.“; 214: „das Neue, das sich mit der Romantik ereignet, ist aber die Markierung der Individualität“.

30 Dazu unten, Kap. 3.

31 Das Thema ist durchaus aktuell (siehe nur etwa RECKWITZ 2019), und der Missverständnisse sind viele, gerade im Zusammenhang mit dem modernen Individualismus-Postulat; einige davon hoffe ich etwas zurechtrücken zu können.

32 SCHMID 2020; 2016 (Kap. 7).

33 Eine etwas ausführlichere Beschreibung dieser ‘metaphysischen’ Vorgeschichte (z. T. auf den Spuren von FESTUGIÈRE’s magistraler Darstellung im zweiten Band seiner „révélation d’ Hermès Trismegiste“) von Platon bis Augustus in SCHMID 2005, 119-202.

34 Das ‘Vorlegen des Vorliegenden’ entspricht der herodoteischen Bedingung des „Historischen“ (das immer schon Erzähltes erzählt) als dem legein ta legomena. Das kommt natürlich auf ein Deuten und Interpretieren heraus.

35 STEEL/VANDEN BROECKE in STEEL 2018, 33.

36 Aus dem Klappentext der Buchrückseite der modernen Edition: “The present book reveals the riches of the earliest known astrological autobiography, authored by Henry Bate of Mechelen (1246–after 1310). Exploiting all resources of contemporary astrological science, Bate conducts in his 'Nativitas' a profound self-analysis, revealing the peculiarities of his character and personality at a crucial moment of his life (1280). The result is an extraordinarily detailed and penetrating attempt to decode the fate of one’s own life and its idiosyncrasies.”

37 STEEL/VANDEN BROECKE in STEEL 2018, 40ff.

38 Ebd. V; zu Cardano und Astrologie GRAFTON 1999.

39 VANDEN BROECKE ebd. 57.

40 Ebd. 58.

41 Ebd. 60.

42 Weitere Beispiele solch zirkulärer Argumentation, die im Rahmen soziologischer Modernisierungstheorien die Regel ist, die aber auch in mediävistische und althistorische Fachbereiche eingedrungen ist, unten, vorab Kap. 3. – Zu dem speziellen, damit zusammenhängenden Problem einer angeblich exklusiv modernen „Geschichtlichkeit“ siehe schon SCHMID 2016, 451-466 (zu Kosellecks These vom „Kollektivsingular“) sowie SCHMID 2020; REBENICH 2020.

43 Siehe auch CANCIK 2020 und CANCIK-LINDEMAIER 2020, die ‘erzmoderne’ Kategorien wie Kulturgeschichte und Selbstreflexion in der Antike nachweisen.

44 VANDEN BROECKE 2018 in STEEL 2018, 60 – dort auch etwa „variety inside this universal model“.

45 Dazu ausführlich unten, Kap. 2; Kap. 4, 5 und 6.

46 Dazu auch unten, Kap. 6 zur Verbindung von Astrologie mit alexandrinischer Sphären-Geographie.

47 Das Nicht-Individuelle und grundsätzlich Verallgemeinerbare von Subjektivität im Gegensatz zur Individualität wird breiter ausgeführt unten im 3. Kapitel.

48 SCHMID 2020.

49 Unten, 79f.

50 Unten, Kap. 4.

51 SCHELLER 2016. Dazu unten, 108.

1: Einführendes zur Methode

Hat die antike Astrologie einen Gegenstand? – Die Frage ist so unverblümt bisher zumindest in der Forschung nicht gestellt worden. Dies vielleicht deswegen, weil das Definieren von ‘Gegenständen’, etwa im Sinne der alten sokratischen ‘Was-ist-das-Frage’, in den Geisteswissenschaften nicht gerade en vogue ist (wegen des Verdachts auf „essentialistische“ Festlegungen), und dazu kommt, dass die hier am ehesten zuständige Philosophie sich mit Astrologie kaum beschäftigt hat. Gemeint ist natürlich nicht die antike Philosophie, von der Wilhelm und Hans-Georg Gundel noch meinten, in ihr habe die „werdende Astrologie“ eine „sehr starke Stütze“ gefunden.52 – Die Altertumswissenschaft, die damit für das philosophisch-wissenschaftliche Aschenbrödel zuständig wurde, sieht in dieser Horoskop-Astrologie vor allem – und dies schon zu Zeiten eines Auguste Bouché-Leclercq – eine Methode oder Technik, mittels welcher Experten (die Astrologen) Aussagen machten, in der Regel über die Zukunft der fragenden Klienten. Damit kommt sie als ‘historisches Phänomen’ in Betracht, dessen Grössenordnung schon Bouché-Leclercq mit erlauchten Namen illustrieren konnte: diese Astrologie habe „des millions d’hommes“ interessiert, und habe Einfluss gehabt auf Leute wie „Auguste“, „Tibère“, „Charles-Quint“, „Catherine de Médicis“, „Wallenstein“ und „Richelieu“.53 Bei Tamsyn Barton kommt als Pendant moderner Prominenz noch Ronald Reagan dazu.54

Für die Geschichte und zumal die Kulturgeschichte der Antike, insbesondere der hellenistisch-römischen Antike, ist die Gegenständlichkeit dieser Astrologie in einer Praxis menschlicher Handlungen gegeben, die genügend direkte und indirekte Spuren hinterlassen hat, um dadurch ein „Forschungsgegenstand“ zu sein.55 Der letztere wird etwa bei Roger Beck in seiner „Brief History of Ancient Astrology“ lapidar präzisiert: „I have centered my account on the system itself, how horoscopes were constructed and interpreted.“56 Bei Beck steht diese Angabe nach der Feststellung einer vergleichbaren ‘Ungeschichtlichkeit’ der Astrologie als „pseudo-science“, die sich im Vergleich mit der Astronomie und ihrem „progressive mathematical refinement“ eben kaum verändert habe und daher keine story im wissenschaftsgeschichtlichen Sinn hergebe;57 sie blieb ihren Grund-Methoden mit ungeheurer Zähigkeit treu – noch heute verwenden ja Astrologen methodische Grundsätze, die auf dem verschollenen gräko-ägyptischen Text des Nechepso/Petosiris fussen, welcher seinerseits teils erheblich älteres babylonisches ‘Material’ an Methoden enthielt.

Die Ereignisgeschichte der Astrologie wird in fachhistorischen Erzählungen vorab durch ihre sozio-politische Sichtbarkeit in der römischen Kaiserzeit seit Augustus zum Gegenstand,58 doch hat man auch hier die fundamentale Spezifik dieser Horoskopier-Technik nicht substantiell zu ergründen versucht: Astrologen (und damit Astrologie) stehen als meist etwas ambivalente Figuren neben den Kaisern, wie zuerst der berühmte Thrasyllus, der schon bei Tacitus legendenhafte Züge aufweist.59 Sie werden Teil der Legitimierung von Macht und somit öffentlich sichtbar, aber damit ist erst eine politische Funktionalität dieser Astrologie erschlossen,60 die zwar für die babylonischen Voraussetzungen der späteren Horoskop-Astrologie eine mitdefinierende Rolle gespielt hat,61 die aber für die Nativitäten-Astrologie selber nicht auslösend gewesen sein kann. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis darauf, dass diese einen ‘amtlichen Grund’ für ihr Entstehen gehabt hätte. Ein ‘Anstoss von oben’, d. h. von der monarchischen Spitze der Gesellschaft (sei es im achämenidisch-seleukidischen Mesopotamien oder im ptolemäischen Ägypten), ist bisher nicht belegbar.

Was von Anfang an im Vordergrund stand bei der Charakterisierung dieser Astrologie war ihr ‘religiöser Horizont’, der sie in den grösseren Zusammenhang einer umfassender erforschten und anthropologisch vielfach beschriebenen menschlichen Praxis von „Divination“ stellen musste. Von deren Erforschung her kam auch Bouché-Leclercq zur Astrologie, wobei ihm der Spezialfall der letzteren („unique dans l’histoire de la pensée humaine“) in einer „étrange association de raisonnements à forme scientifique et de foi masquée“ bestanden hat.62 – Das wurde dann zum Projekt einer Geschichte jenes „seltsamsten Mischgebildes, das Religion und Wissenschaft je hervorgebracht haben.“63

Nun ist die Frage nach einem religiösen Gehalt oder Bezug dieser Astrologie etwas kompliziert, denn sie überschneidet sich thematisch mit derselben Frage in Bezug auf einen Bereich, den ich mit dem allgemeineren Begriff einer, meist gelehrten, antiken „Kosmosfrömmigkeit“64 bezeichnen möchte.65 Dazu kommt, dass es ‘Gemeinschaften’ wie die Hermetiker gab, die als religiös einstuft und verschiedentlich mit dem Ursprung der hier untersuchten Horoskop-Astrologie in Zusammenhang gebracht wurden;66 wobei es keineswegs sicher ist, in wie weit der Schritt zu dieser Horoskopform, wenn er wirklich im ptolemäischen Ägypten erfolgte,67 mit hermetischen Bedürfnissen oder Anschauungen zu tun hatte. Dazu ist schon die Chronologie der hermetischen Literatur und der ‘Bewegung’, die sie hervorbrachte, zu wenig geklärt, und es ist offenbar nicht zu belegen, dass Astrologie zum harten Kern hermetischer Lehre gehören musste.68 – Das heisst natürlich nicht, dass die ‘religiöse Dimension’ der Astrologie und vor allem des mentalen und sozialen Umfelds, in dem sie entstand, ausser Betracht zu lassen ist. Und dies auch deswegen nicht, weil Franz Boll zu Recht immer wieder darauf hinweisen konnte, dass Astrologie oder eine ihr entsprechende Auffassung von Status und Wirkmacht der Gestirne und des Himmels seit ihrem ‘Aufstieg’ in der römischen Kaiserzeit recht markante Spuren, auch in religiösen Bereichen, hinterlassen hätte.69

Es scheint aber, wenn ich den astrologischen ‘Primärquellen’ und nicht der gelehrten Himmelsfrömmigkeit als Voraussetzung der gesellschaftlichen Karriere der Astrologie in der römischen Kaiserzeit folgen will, dass Religiosität mindestens im herkömmlichen Sinn keine ernsthafte Rolle in den antiken astrologischen Texten spielt. Jedenfalls dann nicht, wenn wir ausgesprochen deterministischen Fatalismus nicht mit Frömmigkeit gleichsetzen wollen – was, im Zusammenhang mit der Anschauungswelt der Stoa, durchaus möglich wäre. Doch spricht vieles dafür, dass die alles besiegende ratio, die Manilius besingt,70 zwar die erweiterte Berechenbarkeit eines naturgesetzlich geordneten Kosmos anspricht – und doch dabei vorab die Kunst des Astrologen und die Macht seiner vermessenen Kalküle meint, und nicht die Übermacht der Götter, die sich hier im Gegenteil einer umfassenden ‘Lesbarkeit’ der Welt einzufügen hatten. Und für die Planeten – bei Platon noch die „neuen Götter“,71 die vermutlich Philipp der Opuntier als die „schönsten Standbilder der Götter“ bezeichnet hatte72 – gilt hier gewiss auch, was Cicero spöttisch zu den Himmelsgöttern der Stoiker anmerkt: dass ihnen, ewig durch physikalische Gesetze zum Kreisen gezwungen, ein eher schwindelerregendes Dasein beschieden sei73. Waren sie wirklich viel weniger profan als ihre modernen Pendants in Sachen physikalisch-genetischer Determination – etwa die Gene und sonstige Agentien unserer „Biologie“?

Da man vermuten darf (seit Franz Cumont),74 dass für die Neubildung der Nativitäten-Astrologie ein (bilingues) ägyptisches Priestermilieu der späteren Ptolemäerzeit von entscheidender Bedeutung war,75 ist auch hier die Frage nach einer ‘religiösen Dimension’ naheliegend. Doch kann man in den zuständigen Priestern auch einfach die ‘indigene’ intellektuelle Elite in Ägypten sehen. Sie kommt besonders deswegen in Betracht, weil das entscheidende Strukturelement der astrologischen „Häuser“ (der loci), mit dem die schon im Nechepso/Petosiris-Text (im Folgenden als NP-Text bezeichnet) offenbar ziemlich vollständig vorhandene Systematik der Horoskopdeutung dann steht und fällt, mit guten Gründen aus ägyptischen Prämissen hergeleitet werden kann.76 Aber auch das wiese nur auf ein (bikulturell-koloniales) Milieu und einen sozialen Ort hin, der für die Erfindung dieser neuen Technik astraler Prognostik wohl historisch bedingend war. Es erklärte aber das Eigenartige dieser Methodik noch nicht, sie liesse sich aus dem, traditionell mit der royalen ‘Liturgie’ verbundenen, Aufgabenhorizont ägyptischer Tempel nicht einfach herleiten, auch wenn man berücksichtigt, dass Divination im Verbund mit Himmelskunde (mit Rezeption mesopotamischer Parameter) schon vor den Griechen zum Bildungshorizont ägyptischer Priester gehörte.77

Nun ist ja die Auffassung, dass eine Art göttlicher Vorsehung das Kontingente und Singuläre des Ereignishorizonts, in welchem sich unser aller Leben abspielt, in einen umgreifenden Zusammenhang stellt, der ‘von oben her’ sinnvoll oder konsequent erscheinen kann, allen antiken Kulturen rund um das Mittelmeer gemeinsam gewesen. Das ist eine Klammer, die Ägypten, Mesopotamien, Griechenland, Judäo-Palästina und Rom samt ihren als vergleichsweise unzivilisiert betrachteten Nachbarn verbinden konnte und nachweislich verbunden hat. So ist etwa babylonische Himmelskunde und Eingeweideschau offenbar ein ‘Exportschlager’ für alle umliegenden Kulturen gewesen, inklusive Griechenland und Rom, und dies lange bevor wieder die Astrologie dasselbe Terrain (bis nach Indien)78 erobert hat. Und wenn man möchte, kann man auch das Christentum als eine Lehre göttlicher Providenz verstehen, die da noch alle Haare zu zählen vermag, die einer auf dem Kopfe trägt. – Dieses religiöse ‘Phänomen’ ist selber ein „thomaston“, eine „erstaunliche“ Merkwürdigkeit im herodoteischen Sinne, und damit ein eminenter Gegenstand von „Historie“; und es hat wahrhaft kulturübergreifende und –verbindende79 Dimensionen. – Doch in diesem grösseren Horizont einer „Ordnung des Singulären“80, deren Erkundung, Behauptung oder auch Verkündung meist die Wissenschaft von Priestern gewesen ist, verliert sich die Frage nach dem Spezifischen der Nativitäten-Astrologie. – Um „Divination“, um die Bestimmbarkeit des ‘Bestimmten’, um Fatalität und die Welt als Botschaft der Götter geht es natürlich auch, wenn man die Frage nach Astrologie stellt. Aber sie lässt sich aus einem entsprechenden menschlichen Bedürfnis nach ‘Lesbarkeit’, nach transtemporaler Struktur angesichts der zeiträumlich divergierenden Kontingenz81 der Welt allein nicht verstehen. Denn das Angebot an, öfter rituell verankertem, Umgang mit dem überlegenen ‘Götterwissen’,82 das solche Anordnung sinnstiftend erschloss, war vergleichsweise gewaltig, auch zu der Zeit, in der das ‘Formular’ des Horoskops erfunden wurde. Und es wurde ‘priesterlich’ professionell und in der Regel ‘staatlich’ protegiert, finanziert und kontrolliert verwaltet.

Was nun die neue Astrologie, die zu einem der ‘nachhaltigsten’ Theoriegebilde aller Zeiten83 wurde, besonders charakterisieren könnte, und was damit auch ein Motiv für ihr hier postuliertes Auftauchen etwa im 2. Jhdt. v. Chr. in einem hellenistischen Kolonialreich hätte sein können, lässt sich wohl am besten von den elaborierten astrologischen Quellen her erforschen. Dazu muss man diese Quellen spezifisch befragen – es ist sehr wahrscheinlich, dass auch meiner Lektüre viele mögliche Antworten und Hinweise entgangen sind, weil ich gerade nach ihnen nicht suchte und ihre Relevanz übersah. – Was die oben aufgeworfene Frage nach der ‘Frömmigkeit’ dieser Astrologie betrifft, gibt es immerhin einige gewichtige Belege dafür, dass diese Astrologie sich selber als Instrument der religiösen ‘Desillusionierung’ sehen und dass sie auch so verstanden werden konnte. – So sei der Kaiser Tiberius laut Sueton gegen Götter und Religion gleichgültig gewesen, da er von Astrologie geradezu abhängig gewesen sei und einzig an das (errechenbare) fatum geglaubt habe.84 Hier wird die Astrologie zum ‘Instrument’ eines religiösen Agnostizismus: Ersetzt sie nicht geradezu traditionelle „Religion“? – Jedenfalls betont der Astrologe Vettius Valens, dass die üblichen Opfer zum Beginn von Unternehmungen (das war „Religion“) nutzlos seien, wenn die Konstellationen zum Zeitpunkt des Beginns schlechte wären (V 2,24).85 – Es scheint, dass der Ausschliesslichkeitsanspruch dieser Astrologie, als eine Art Deutungsoberhoheit, einen durchaus ‘naturwissenschaftlichen’ Anstrich hatte. Und dieser ist auch gut bezeugt: gerade Vettius Valens betont öfter, dass er der physis, also dem Plausiblen schlechthin, folgen will: er will, im Stile des Thukydides, anstelle verworrener Buntheit das „Klare“ darlegen (III 1,1),86 alles strikt nach „natürlichen“ Ursachen erforschen (VI 4,7), wobei er auch in den wissenschaftsgeschichtlich epochalen ‘Originalton’ des Thukydides verfallen kann, der ja seine mühsam erworbene Forschung abgrenzte gegen das „Sagenhafte“ (to mythodes), ebenso wie des Thukydides ‘Held’ Perikles sich gegen das „Wortgeklingel“ episch überhöhter Grösse stellte, um die reale und authentisch erlebte Grösse seiner Gegenwart zu schildern.87„Dies habe ich nicht wie ein Dichter verfasst, nicht also wie manche, die entweder mit künstlich gesetzten Worten eine verführerische Vorlesung veranstalten oder auch die Hörer durch den Wohlklang des Versmasses betören, dabei aber märchenhaft erdichtetes, dunkles Zeug vortragen. Ich dagegen achtete nicht auf schöne Reden, sondern mühte und quälte mich gewaltig, nahm die Dinge wirklich in Augenschein, überprüfte sie und schrieb sie dann erst nieder. Die Erfahrung ist nämlich mehr wert als blosses Hören“ (Vettius Valens VI 9,7f.; Übers. Schönberger/Knobloch).

Dass sich Valens als Empiriker sah,88 lässt sich belegen, und man sollte den Anspruch ernst nehmen, denn er war offensichtlich ein Praktiker der Astrologie, anders als etwa sein Zeitgenosse Ptolemaios, bei dem schon das völlige Fehlen von Beispiel-Horoskopen belegt, dass er an Astrologie ein, allerdings beträchtlich ausgreifendes, rein theoretisches Interesse hatte.89 – Dagegen bemüht sich Valens immer wieder, seine eindringlich vorgetragenen Kausalverbindungen am ‘lebendigen Beispiel’ zu veranschaulichen und zu beweisen. Wobei es meist den Praktiker verrät, dass er sein eigenes Horoskop benutzt, weil ihm ja so der durch den Astrologen am besten ‘observierbare’ Lebenslauf zur Veranschaulichung dienen kann.90