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In den zurückliegenden Jahren hat in den führenden demokratischen Gesellschaften der Staat in einem Ausmass Macht über seine Bürgerschaften ausgeübt, das man sonst nur in totalitären Gesellschaften kennt. Er tat dies, indem er sich zu einer lebensrettenden "Wissenschaft" bekannte und wurde medial durch Experten sekundiert, die ihn zugleich mit der Autorität des unzweifelhaft "Rationalen" berieten. Dieses Buch möchte das "neufaschistische" Gebaren der sich aktuell besonders "westlich" gerierenden Demokratien auf eine proto-totalitäre Wurzel aller Wissenschaften als Komplizen politisch organisierter Herrschaft über Welt und Leben in der griechischen Antike zurückführen. Der Nachweis der antiken Herkunft moderner Weltverneinung lässt die Vermengung ideologischer Plausibilitäten - von Menschenzucht bis zum "neuen Normal" - mit industriellem Fortschritt und umfassend staatlich organisierter Wissenschaft als internes oder "strukturelles" Problem der Demokratien sichtbar werden. Damit als ein Problem, das durch Reformen und Massnahmen nur oberflächlich tangiert werden kann. Erst über die Einsicht in das totalitäre Fundament einer Welt und Leben reduzierenden Rationalität lässt sich fundiert die Frage nach Alternativen stellen: nach einem Entkommen aus dem Gefängnis einer normiert wesenlosen Gegen-Welt.
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Alfred Schmid
Die Unwesentlichkeit der Welt. Über den neuen Faschismus und seine antiken Wurzeln. Und wie man ihm entkommen könnte.
Inhalt:
1. Vorwort
2. Der neue Faschismus
3. Das Licht der Wissenschaft und das Herz der Finsternis
Die Natürlichkeit der Natur und der Zwang zum Rationalen Die Moderne als Erscheinungsobsession und Kult der Oberflächen
Der Aufstand gegen die Moderne und die Erniedrigung des Erscheinenden
Astrologie als antike Theorie der Anti-Moderne
Der erneute Aufstand der zweiten Moderne und die Wiederermächtigung des Subjekts zum rassisch normativen Selbstgott
Wissenschaft als proto-totalitäre Monokultur ohne Alternative
Die Poetisierung der Welt: Die Romantik als Alternative
Das Verschwindenlassen antiker Präzedenz, die Theologie des Sozialen und der Orientierungsverlust des Politischen
4. Die Wälder von Sherwood
Die Grosse Unruhe Astrologie als Paradigma einer Alternative (Individualität und Subjektivität)
Das Horoskop als eine Theorie des einmalig Wesentlichen und die Mauersegler
5. Epilog
Nachtrag zur Göttlichkeit der Welt
Bibliographie zitierter Literatur
Dieses Buch wurde im Wesentlichen in dem halben Jahr zwischen Herbst 22 und Frühling 23 geschrieben und später noch mit aktuelleren Ergänzungen oder Zusätzen versehen. Teilweise habe ich auf ein unpubliziertes Pamphlet vom Sommer 2020 zurückgegriffen, in welchem ich mir damals einen Reim auf den so plötzlich sich auftürmenden „Medizinalstaat“ zu machen versuchte. Zurückgegriffen habe ich auch auf meine altertumswissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre, vorab zu den antiken Voraussetzungen der Moderne, in deren Krisenhorizont wir uns alle befinden.
Die Form des Buches ist der gewissen Unförmigkeit seines Inhalts geschuldet, der dem Titel gerecht werden will: Ich denke, dass das Übel der Gegenwart Wurzeln hat, die in die Antike zurückreichen, das gilt spezifisch für unser exzessives, oberflächensüchtiges, weltvergessenes und weltverneinendes Modernsein, welches in den letzten Jahren so offensichtlich seine „postmodernen“ Bedenklichkeiten abgeworfen und sein („soft“)-totalitäres Gesicht gezeigt hat. Ich denke, das ist sein wahres Gesicht, oder es ist zumindest das Gesicht, das nicht altern will und sich den Gesetzen und Strukturen des Lebendigen – seiner „biologischen“ Abbaubarkeit – verweigert, was nur durch uferlos technokratischen Ausbau der Festung seiner gegenweltlichen Autonomie und damit durch eine umfassende Ausbreitung des „Virtuellen“ – als Ersatz für das Wirkliche – möglich ist.
Man kann das in seiner weltumgreifenden Heftigkeit nur verstehen, wenn man sich klar macht, wie tief die entsprechende Weltverneinung in unserer Vorgeschichte verankert ist, sofern diese eine Geschichte der Entfesselung menschlicher Autonomie aber dann auch des Einspruchs gegen diese Autonomie gewesen ist. Eines Einspruchs, welcher diese Autonomie mindestens in kollektiv-subjektiver Hinsicht viele Jahrhunderte lang massiv zu unterdrücken vermochte, bis sie sich dann noch einmal befreite, diesmal massiver und mit jener dogmatischen Entschlossenheit, die sie sich in dem Kampf gegen die Dogmen ihrer Beschränkung hatte aneignen müssen. – Unser Modernsein hatte ein älteres, ein griechisches Modernsein vor sich, von dem es lernte, die Welt zu einer Oberfläche der Verfügbarkeit zu reduzieren, auf welcher Reduktion der Siegeszug „westlicher“ Technologie und Rationalisierung beruht. Die ‘Unfertigkeit’ dieser antiken Ur-Moderne (die zumal ihre technologischen Möglichkeiten nie ausschöpfte) hat mit ihrer relativen Kurzlebigkeit zu tun: Sie wurde durch eine umfassende ‘anti-moderne’ Bewegung bald schrittweise absorbiert, durch neue und „metaphysische“ Frömmigkeiten, durch die Herabstufung des menschlich Subjektiven, das kurz zuvor in Athen zum Mass aller Dinge erklärt worden war, durch ‘Rückkehr’1 zu Monarchie und frommer Untertänigkeit, wie sie dann eine weithin gültige Form im politisch organisierten Christentum erhalten hat. Mit dessen schrittweiser Demontage – die noch nicht einmal völlig abgeschlossen ist, denn es gibt Institutionen, die auch als Kadaver noch anziehend bleiben – beginnt die erneute, ausgebaute Moderne, in der wir noch leben, als die Welt der konkurrenzlosen Herrschaft dessen, was der Romantiker Eichendorff den „subjektiven Selbstgott“ genannt hat. Ein Selbstgott ist das allerdings, den man nur kollektiv verstehen kann, da er nur kollektiv autonom und mächtig ist; und die Form seiner Mächtigkeit ist der Staat, und seine Religion ist „die Wissenschaft“.
Um zu verstehen, was ich als erlebten „Neufaschismus“ beschreibe, habe ich weit zurückgreifen müssen, etwa so, wie man ein vorliegendes Trauma in eine frühe Kindheitsphase zurückverfolgen muss. Das macht die Lektüre dieses Buchs gewiss nicht einfach, da ich die Geschichte der letzten zweieinhalbtausend Jahre hier nicht einfach, schnell und kurz, neu erzählen kann – ich habe mich auf Ergebnisse meiner zurückliegenden wissenschaftlichen Forschung als Althistoriker stützen können, die ich zum Teil auch schon publiziert und vorgetragen habe. Dabei ist einiges zusammengekommen, wie z. B. die Entdeckung, dass man „Subjektivität“ und „Individualität“ auseinanderhalten müsse – dies ergab sich aus meiner Forschung zur Entstehung der antiken Horoskop-Astrologie, wozu mir immerhin eine vierjährige deutsche Forschungsstelle in Halle dankenswerter Weise genehmigt worden ist. Oder das zentrale Konzept der „Natur“ und des „Natürlichen“ als griechischer ‘Erfindung’ und sein Bezug zu einer Verabsolutierung des Erscheinenden, einer notorischen „Oberflächlichkeit“, die schon Nietzsche aufgefallen ist: Ich bin auf deren folgenschwere Eigenart in meinen Studien zur frühen griechischen Historie in Basel gestossen. Und das ist nicht alles: Obschon der Horizont dieses Buches bis in die Vorgeschichte der Antike zurückreicht, muss er sich auf die erfahrbare Gegenwart beziehen, für die ich selber nicht bloss „Historiker“, sondern selbst Zeuge und sogar ‘Gegenstand’ als involvierter „Zeitgenosse“ sein muss. Denn für die Gegenwart gibt es noch keine Geschichte; diese kann erst wirklich erzählt werden, wenn sie an ihr Ende gekommen und Episode – oder Epos, oder „Periode“, oder „Ereignis“ als „Geschehen“, seit Herodot gerne als „Katastrophe“ – geworden ist. Also etwa dann, wie man früher gern sagte, wenn sich der „Pulverdampf verzogen“ haben wird. Und das ist in unserem Krisengeschehen, das ich für epochal halte, noch lange nicht der Fall. – Ich gehöre also nicht bloss zu den Ethnologen, sondern mehr noch zu den Eingeborenen, und als solcher muss ich dann wohl von Soziologen erforscht werden – etwa als aktueller „Massnahmenkritiker“ – die keine echte Ahnung davon haben können, was ich denke, fürchte und erhoffe.
Es finden sich hier somit auch persönliche Erinnerungen, und sie dienen vorab der Vergegenwärtigung eines erst im Nachhinein mir epochal vorkommenden Aufbruchs, eines versuchten Exodus aus einer geisterhaft gewordenen Moderne, der sich als fundamentale ‘atmosphärische’ Unruhe bemerkbar machte, als ich noch sehr jung war. Das kann man sich heute offensichtlich kaum mehr vorstellen. Ja, die Geschichte dessen, was damals Viele und Vieles umtrieb, ist auch noch gar nicht geschrieben, denn was schon damals unverständlich war, wird es noch mehr, wenn man sieht, dass das alles in die Herrschaft der „Computer“ mündete, als der raffiniertesten Mittel der Unterwerfung von Individualität unter das „Allgemeine“, welche jemals ersonnen worden sind. Ohne dies, also den Computer und sein „Internet“, wäre das, was ich als aktuellen „Neufaschismus“ offiziell mundtoter Bürgerschaften mit ihren Eliten wahrgenommen habe, gar nicht möglich geworden.
Für die Frage, wie man dem allem entkommen könnte, wie es ja der Titel hier verheisst, ist dieser Rückblick – weit zurück bis zu griechischer Metaphysik und hellenistischer Esoterik, sowie näher zurück zur europäischen Romantik – unumgänglich: die Astrologie mit ihrer erstaunlichen ‘westlichen Karriere’ dient dabei als eine Art roter Faden. Sie ist in ihrer Struktur ein Paradigma dafür, wie sich „moderne“ Rationalität mit alternativer Tradition aus kolonial unterworfener Kultur verbünden konnte, um das Problem oder das „Phänomen“ der Individualität zu objektivieren, für welches eine sonst so siegreich verallgemeinernde Rationalität offenbar keine Begriffe finden konnte. Denn Individualität scheint nie modernisierbar zu sein, wird damit zum antimodernen Residuum oder Reservat und wird das auch immer bleiben. Deshalb spielt Astrologie als ein Modell – wie ein realisiertes „Glasperlenspiel“ – für einen alternativen mentalen Horizont hier eine Rolle, die sie übrigens in den 70er Jahren kurzzeitig schon einmal öffentlicher gespielt hat, auch wenn davon landläufig nicht mehr übriggeblieben ist, als die populäre Möglichkeit zusätzlicher Begrifflichkeiten oder ‘Symbolisierungen’ für das, was jemand ‘eigentlich wäre’ (etwa „ein Fisch“). Und ich kann bezeugen, dass das damals – etwa Ende der 70er-Jahre – auch ganz dezidiert gegen den herrschenden Terror der faschistoid technokratischen Entfremdung oder Wesens-Ferne zum Paradigma erhoben wurde. Es war damals Alternative, wie die Indianer, Inder, Chinesen, Asiaten und Afrikaner – die gaben den Rhythmus oder den „Beat“ – bei denen man Weisheit suchte. Und da mir scheint, dass wir mittlerweile wieder am selben Punkt stehen – nur hoffnungsloser, ängstlicher, desillusionierter und allerdings auch subjektiv, d. h. kollektiv ruhiggestellter, als ob dazwischen nichts wirklich etwas zu bedeuten gehabt hätte, – habe ich die Astrologie als beschreibbares Modell eines theoretisch möglichen Auswegs aus einer wesenlos rationalen Moderne benutzt.
So müssen in diesem Buch ganz verschiedene intellektuelle Milieus zusammenfinden – auch bezüglich der Astrologie war ich Ethnologe und Eingeborener – das klingt schizoid und entspricht in etwa meinem Lebenslauf. Die Form war ursprünglich als fortlaufender Essay in kurzen Gedankenabschnitten gedacht; sie ist durch das Volumen an Inhalten und Ausblicken arg strapaziert worden. Und wer will schon, aus aktuellem Anlass, von griechischen Antiquitäten, von der Geschichte des Natur-Konzepts, von der Metaphysik, hellenistischer und ägyptischer Kosmologie und ausführlicher von antiker Astrologie hören oder lesen? Und das noch garniert mit persönlichen frühen Rauscherlebnissen, Betrachtungen zu Mauerseglern und zur Göttlichkeit von Himmelskörpern, ja der Welt selber – und sogar mit der Kunde von einer revolutionären Wetterprognostik?
Das vorliegende Buch ist zweifellos heterogenen Inhalts, aber ich hatte nicht die Zeit, daraus mehrere Bücher zu machen, die dann in die entsprechenden Ressorts bzw. Fachschubladen zu versorgen gewesen wären, wobei gerade in der Wissenschaft aktuell sowieso nur noch gelesen wird, was man lesen muss, um gerade jetzt Karriere zu machen. Der Leserschaft wird somit die Arbeit, darin ein Ganzes wahrzunehmen, nicht einfach abgenommen. Doch diese Ganze besteht, wenn auch aus ziemlich Diversem.
An welche Leserschaft richtet es sich aber – bloss für mich selber hätte ich es nicht geschrieben? Ich denke, an Jene, die im Sinne des Aristoteles „Menschen“ sind und zu sein vermögen. Denn Aristoteles, kein Pedant, sondern ein grosszügiger Geist, bei dem man Auswege ins Weite der Welt und die unablässig rezitative Meditation ihrer Wesentlichkeit findet, schreibt im ersten Satz seiner „Metaphysik“ – einem Buch, das auch uns locker überleben wird – von „allen Menschen“, dass ihre „Natur“ sie getrieben sein lasse zu verstehen (oder: zu wissen): pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei, was einst Hermann Bonitz so übersetzt hat: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“
Da ich mit 40 Jahren griechisch lernte und Altertum, Mittelalter und Philosophie zu studieren unternahm, weil ich verstehen wollte, in welche Zusammenhänge ich zusammen mit meiner Generation geraten war, hat mich dieser Satz ergriffen. Wer ihn akzeptiert, wird auch eher geneigt sein, sich durch das Labyrinth an Worten zu schlagen, die dieses Buch füllen. Gewiss hat es Wiederholungen, Längen, komplizierte Sätze und Druckfehler, und es mag mir nicht immer gelungen sein, den Zusammenhang, der mir vor Augen stand, genügend deutlich oder sinnhaft werden zu lassen. Deswegen muss ich die Leserschaft, die so kühn und liebenswürdig ist, sich auf diese Lektüre einzulassen, schon zum Voraus um Nachsicht bitten. Doch habe ich Erkenntnis stets als Ziel eines Weges aufgefasst – ich glaube sogar, dass echte Erkenntnisse auch physisch greifbare Erfahrungen zur Voraussetzung haben, wie konkrete Reisen, „Katastrophen“, Glück und Unglück, Scheitern, Begegnungen oder Erlebnisse, und damit auch immer: Gefahr. – Gibt es nicht sogar Einsichten, für die man „durch die Hölle“ gegangen sein muss? Oder durch Feenwälder; oder mindestens: durch ferne Länder und Städte, durch Wüsten und Wälder, metaphorisch, traumhaft und ‘real’? Kurz: Denken ist Teil eines Abenteuers des Unterwegsseins (also: eines Lebens), wenn man zu Einsichten gelangt. Doch auf den Weg machen muss man sich selbst. – Dies bitte ich zu bedenken, wenn dieses Buch Euch Lesenden zu wenig entgegenkommt; an Eleganz fehlt es ihm sowieso, und das bedaure ich aufrichtig. Wie gerne hätte ich leichtfüssig parlierend die Blumen meiner Denk- und Lesefrüchte um mich geworfen! Aber was ich erzähle, ist mir nicht fraglos und schon gar nicht zweifellos entgegengekommen – und wenn doch, habe ich es sowieso meist übersehen –, und ich habe immer noch Mühe, es zu verstehen. Vielleicht ist mir nicht mehr gelungen, als Ansichten und Durchblicke auf eine Landschaft zu werfen, die irgendwie auf ein Ganzes verweisen müssen. Und besser habe ich es leider nicht vermocht.
Konkret dient das Inhaltsverzeichnis als Orientierung oder Führung durch den ansonsten wenig abgegrenzten Text, der nach numerierten Gedankeneinheiten fortschreitet. Im Prinzip will das Buch nach aller Möglichkeit einhalten, was Titel und Untertitel ankündigen oder versprechen.
1 Der Begriff ist insofern problematisch, als sich in Griechenland, anders als in Rom, eine echte monarchische Vorzeit nach dem Verschwinden der Mykener nicht nachweisen lässt. Richtige Könige gibt es nicht einnmal bei Homer.
„Überall träumen die Regierenden von China.“
Anonym, Das konspirationistische Manifest, Berlin 2022, S. 20.
„Es genügt, das menschliche Subjekt zu isolieren, alle seine Gewohnheiten zu unterbinden, es mit Schrecken zu erfüllen, um es jeden Kontakt zu sich selbst verlieren zu lassen, um es zu depersonalisieren und es nach Belieben formbar zu machen.“
Ebd. S.26
1.
Mit jedem Menschen beginnt und endet eine Epoche, nämlich die einmalige Zeitspanne zwischen Geburt und Tod. Alles was in dieser Zeit geschieht, sofern es sich für, mit, durch oder über einen ereignet, das wird als zugehörig zum eigenen Leben erachtet. Als wäre dieses Leben ein Ensemble, ein Zusammenhang oder Konglomerat, das von innen wie ein Kontinuum durch Erinnerungen und Aussichten zusammengehalten wird. Die stetige Verschiedenheit aller Lebensmomente bildet doch immer nur Teile eines Ganzen der Identität, als einer Gewissheit, dass alles Erlebte, Getane, Erlittene oder gar Verfehlte unseres Lebens uns irgendwie meint, angeht mit einer Bestimmtheit, die uns so fraglos für sich vereinnahmt, wie eben die Geburt, die wir nicht wählen und nicht abgeben können, auch nicht durch den Tod, den wir zwar wählen können,2 aber eben auch nur als Tod, und zwar als unseren, den wir in seiner Tödlichkeit niemandem zu überlassen vermögen.
Oder könnten wir’s doch, den Tod abgeben, indem wir etwa andere töteten? – Diese Verfügbarkeit des Todes durch den vorsätzlichen Mörder kommt in den stolzen Versen des John Donne vor („Death, be not proud, though some have called thee
Mighty and dreadful, for thou art not so“), denn:
“Thou art slave to fate, chance, kings, and desperate men,
And dost with poison, war, and sickness dwell”
Wie kann der Tod, den man mit nun moderner Waffentechnik fast nach Belieben herbeiführen und vervielfachen kann, der sich also so leicht instrumentalisieren lässt, so achtunggebietend sein? – Nun ja, Donne sah in ihm den kurzen Schlaf, dem ewiges Erwachen folgt (man lese es nach), doch für die meisten von uns bleibt er das unnahbar Unbekannte. Wir sind nie gestorben und müssen doch bestimmt sterben. Wir sind zu diesem unbekannten Tod verurteilt, und wer weiss denn wirklich, warum – und wer weiss schon, warum er lebt – und könnte man nicht auch nicht leben?
Aber wenn man auch nicht leben könnte, dann wäre „man“ doch wieder etwas. Gäbe es dieses bestimmte „man“ auch als blosse Möglichkeit, etwas zu sein? Vielleicht als Embryo, das ungeboren in sich die ganze mögliche Fülle eines Lebens enthält? Doch auch als diese Möglichkeit wäre das Embryo nur, was es wäre, als die Möglichkeit zu einer bestimmten Lebensspanne zwischen Geburt und Tod.
Kurz: es gibt etwas Durchgehendes in der Diversität der Ereignisse, also in der chronischen Eventualität unseres Lebens. Und niemand übernimmt es für uns, wie unseren Schmerz, unsere Angst und unser Versagen, auch unser Glück, so wie niemand die Landschaften, die Gesichter, Stimmen, Töne und Gerüche unserer ersten Erinnerungen kennen kann: als den ersten greifbaren Kontakt von uns zur Welt oder von der Welt zu uns, von der umgeben wir ja nur die Lebenden sind. Was immer wir sind, als der lebenslang durchgehaltene Horizont unseres Erlebens, den wir als unverlierbare Identität mit „Eigennamen“ bezeichnen – wer sollte sonst unseren Geburtstag feiern – das sind wir ja nur in der Welt, als weltlicher Teil dieser Welt, und doch im bestimmten Gegenüber zu ihr. Das Ich, das unserer Identität als Etwas und Jemand zugrundeliegt, ist offenbar, was in ein Gegenüber der Welt gesetzt ist. Und womöglich rührt die offenbar zuverlässige Bestimmtheit unseres So-Seins, das ja selbst immer kommt und verschwindet wie das Wasser unter der Brücke, von der unaufhebbaren Wirklichkeit dieser Welt her, der wir angehören mit allem was wir sind; und von der zuverlässig irreversiblen Tatsache, als „Voraussetzung“, dass wir Geborene in diese Welt sind.
2.
Was denn eigentlich „Identität“ ausmache, das ist eine Frage, zu der es ausführliche wissenschaftliche Debatten, Definitionen, Kontroversen etc. gibt. Das Thema scheint im Übrigen sehr in Mode zu sein. Ich bin darauf gestossen noch in meiner Tätigkeit als Wissenschaftler, doch den Wissenschaftsbereich habe ich, nach 20 Jahren bestallter „Lehre und Forschung“, mittlerweile wieder verlassen. Ich bekenne mich zum Essay und zur dezidierten Skepsis gegenüber der charakterlosen, scheinüberlegenen, karrieregeil-machtlüsternen und auf banale Weise käuflichen Heerschar von Konformistinnen und Konformisten (um das korrekt auszudrücken) die sich heute „Wissenschaftler“ nennt. – Gewiss gibt es viele, die den Wissenschaftsbetrieb und seine inneren Mechanismen viel besser kennen als ich, der ich stets die Position eines Hinzugekommenen behielt. Aber die Art und Weise, wie man in den letzten Jahren „Wissenschaft“ dazu benutzen konnte, um die Aufhebung von Verfassungsrechten und Bürgerfreiheiten zu rechtfertigen und gar zu begründen, weist ohne weiteres auf ein fundamentales Übel in der Wissenschaft selbst hin.
Wissenschaft ist öffentlich und schamlos autoritär zu einer Stütze für ausserordentliche Staatsmacht geworden; sie lässt sich medial als Instanz inszenieren, die fraglose Gefolgschaft verlangt und erhält. Für das korrekte Verhalten der Gefolgschaft sorgt der Staat, genauer vielleicht: die Medien, die sich von Lautsprechern der Staatsmacht immer weniger unterscheiden lassen. Die Medien als eifernde Polizei des Staates. – Aber die „Wissenschaft“ (was sich gerade dafür hält) scheint auch schon in religiösen Dimensionen zu schweben. Wer „gegen die Wissenschaft“, d. h. gegen ein aktuelles Glaubens-Dogma, argumentiert, wird gerade schnell zum Staats- oder Demokratiefeind erklärt. Und von da aus noch schneller zum Nazi; als ob ausgerechnet „die Wissenschaft“ – die sich doch noch zum Komplizen jedweder Gemeinheit angedient hat – zum Leuchtturm des Kampfes gegen „den Faschismus“ dienen könnte.
Ich erinnere mich, meinem studentischen Publikum eines Einführungskurses in historische Methodik einmal die rhetorische Frage gestellt zu haben: Was denn wohl als die mächtigste, einflussreichste, tödlichste und zugleich weltweit unangefochtenste Instanz des Aberglaubens anzusehen sei. Nicht den Islamismus, nein, auch nicht das Christentum erdreistete ich mich den verlegen Grinsenden zur Antwort zu nennen, sondern „Die Wissenschaft“. Kein Aberglaube ist nämlich bisher in vergleichbarem Ausmass zerstörerisch gewesen. – Ich wollte damit übrigens gegenüber dem studentischen Publikum betonen, dass ein Historiker an gar nichts einfach glauben dürfe – da schon Herodot herausgefunden habe, dass alle lügen können –, und schon gar nicht an „die Wissenschaft“.
3.
Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend, der auch ausgebildeter Physiker war, hat den Hang der Wissenschaft zu dem, was er kritisch „Mythen“ nannte, stets betont. Gerade in der modernen, methodisch so selbstbewusst „empirischen“ und evidenzbasierten Natur-Wissenschaft sah er mittelalterliche Dogmatik am Werk; ja, er zögerte nicht, moderne Konsens-Maximen mit dem Hexenglauben zu vergleichen, denn auch dessen durch den intellektuellen Klerus rational systematisierte „Beobachtungsergebnisse sprachen für den Mythos, denn sie wurden in seiner Sprache formuliert, und es gab weit und breit keine andere Formulierung. Es schien, als sei die Wahrheit endlich gefunden. Und doch liegt es auf der Hand, dass jede Verbindung zur Welt verlorengegangen war und dass die erzielte Stabilität, der Anschein absoluter Wahrheit, der sich im Denken wie in der Wahrnehmung äusserte, nichts anders war, als das Ergebnis eines absoluten Konformismus.“.3 – Wenn eine erfolgreiche Methode sich einmal etabliert hat, wird sie regelmässig zum alleinseligmachenden Dogma, denn nun verlassen sich die Heerscharen der Gläubigen und Adepten auf sie – und nicht zuletzt wird sie im organisierten Betrieb zur Bedingung von Anstellung, Sicherheit, Ruhm und Zugehörigkeit. – Zum alten und neuen Hexenglauben meinte Feyerabend weiter: „Denn wie kann man wohl eine Theorie prüfen oder ihre Grundsätze verbessern, die so gebaut ist, dass sich jedes denkbare Ereignis mit ihr beschreiben und jede denkbare Schwierigkeit mit ihrer Hilfe erklären lässt? Die einzige Möglichkeit der Prüfung einer solchen Theorie wäre der Vergleich mit einer anderen, ebenso umfassenden Theorie – doch dieser Weg ist ja von Anfang an ausgeschlossen worden. Der Mythos hat daher keine objektive Bedeutung; er lebt allein durch die Bemühungen der Gemeinde der Gläubigen und ihrer Führer fort, seien diese Führer nun Priester oder Nobelpreisträger. Dieses Ergebnis halte ich für das entscheidende Argument gegen jede Methode, die die Einheitlichkeit fördert, ganz gleich, ob diese Methode ‘empirisch’ ist oder nicht. Jede solche Methode ist im Grund eine Methode der Täuschung. Sie erzwingt einen blinden Konformismus und redet von der Wahrheit; sie lässt intellektuelle Fähigkeiten und die Einbildungskraft verkommen und redet von tiefer Einsicht; sie zerstört die kostbarste Gabe der Jugend – ihre kolossale Phantasie – und redet von Bildung.“
4.
Feyerabend war in den 80er und 90er Jahren zuletzt Professor in Berkeley und an der ETH Zürich. Er war sicherlich nicht der Durchschnitts-Gelehrte (bekannt ist vielleicht sein ätzender Spott über ein Manifest von führenden Wissenschaftlern, welche die Astrologie verbieten wollten)4, aber er wurde trotz oder wegen origineller Ansichten und Lehrmethoden berufen. Es ist aber schlicht nicht denkbar, dass einer seinesgleichen heute noch akademischer Lehrer sein könnte oder auch nur wollte. – Was ist also in den letzten 40 Jahren passiert? – Ist die Wissenschaft seither endgültig zum dogmatischen Aberglauben mutiert, und wir alle wären, als Gemeinschaft der Gläubigen, sozusagen der mystische Körper dieses Aberglaubens als die ecclesia eines die schnöde Welt besiegenden, veredelnden oder die Welt gar errettenden Geistes?
Was wir seit Beginn des Jahres 20 gesehen haben, macht genau diesen Eindruck, und immerhin hat etwa Michael Levitt, Biophysiker in Stanford und Nobelpreisträger 2013 (was immer das heute bedeuten möge) die ganze Corona-Massnahmen-Begründungs-Wissenschaft als ein mittelalterliches Glaubenssystem bezeichnet. Mit seiner Kritik an den weltweiten Massnahmen fand er ein sehr mässiges Gehör, und etwa im Sommer 2020 an einer virtuellen Nobelpreisträgertagung in Lindau wurde ihm folgendermassen entgegnet: „‘Menschen mögen nun mal keine Menschen um sich herum sterben sehen. Es macht sie aus sehr seltsamen Gründen traurig’, hielt Professor Peter Doherty, Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin im Jahr 1996, sarkastisch dagegen. Die Aufgabe von Wissenschaftlern wie ihm sei nun mal, dafür zu sorgen, dass so wenige Menschen wie möglich sterben würden.“5 – Man muss schon seine Nerven behalten, um zu verstehen, dass hier der Mediziner auf Levitts Argumente schlicht nicht einging und somit die Fragwürdigkeit, die dieser hervorhob, ignorierte. Denn dass die Medizin Menschen unter Umständen am Sterben hindern wolle, hat Levitt ja kaum bestritten; dass Menschen keine Menschen „um sich herum“ sterben sehen wollen, ist im Übrigen so allgemein auch eine haltlose Behauptung – im Krieg, und Kriege sind überaus häufig, wünschen sich viele Menschen gerade dieses Sterben vieler Menschen um sich herum, natürlich auf der anderen Seite. So sollen im Moment, indem ich dies schreibe, möglichst viele Russen sterben, und der Raketen, die diese Feinde unserer neu heroisierten „Westlichkeit“ vernichten sollen – jedes Kind rezitiert schon andächtig die Namen entsprechender „Waffensysteme“ – können offensichtlich gar nicht genug sein.6
Es ist klar, dass in obigem Beispiel mit zwei Nobelpreisträgern durch den Vertreter des offiziell gewordenen Standpunkts eine Debatte mit dem Hinweis auf akute Not umgangen wurde. Und die Debatte hätte zum Gegenstand nicht die völlig allgemeine und rhetorische Frage nach der edlen Aufgabe von Wissenschaftlern gehabt, sondern sehr konkret die Frage, ob die schon im Februar 2020 durch mediales Trommelfeuer verbreitete wissenschaftliche Hypothese von der Art und Gefährlichkeit einer Erkrankung und die politisch noch wichtigere Frage nach dem politischen Umgang mit einer ansteckenden Viruserkrankung, d. h. nach der Geeignetheit von „Massnahmen“, eine plausible Grundlage hatte. Denn zweifellos war die weltweit hastig implementierte „Lockdown“-Massnahme anfangs 2020 im direkten Widerspruch zu dem, was bis dahin für „wissenschaftlich“ empfehlenswert gehalten wurde. Es war daher naheliegend, nach wissenschaftlichen Massstäben war es geboten, Einwände gegen die Angemessenheit des Vorgehens nicht bloss zu prüfen, sondern explizit nach solchen möglichen Einwänden zu suchen.
5.
Erwiesenermassen waren aber Einwände gegen das panisch implementierte Corona-Regime nicht nur unerwünscht, sie wurden sogar explizit von „wissenschaftlicher“ Seite moralisch verunglimpft und die „Reaktionen auf jegliche Kritik am bestehenden Narrativ wurden sofort niveaulos und übergriffig.“7 Die moralische Stossrichtung wird schon im obigen Zitat des Mediziners Doherty diskret angedeutet (‘Dir sind halt Tote völlig egal, Du bist grausam und verantwortungslos’), ihre plumpere und gebräuchliche Version lautete, falls ein Wissenschaftler Zweifel an der sofort ‘staatsidentisch’ gewordenen Hypothese äusserte, dass der ‘Offizialwissenschaftler’ sich wundere, dass der besagte Kritiker „noch ruhig schlafen“ könne – wo doch soeben die Menschen in Scharen „wegstürben“8 bzw. unfehlbar ohne „drastische Massnahmen“9 bald wegsterben würden. – Hier traten also staatswichtig gewordene ‘Offizialwissenschaftler’ als alternativlose Lebensretter auf; sekundiert wurden sie durch die Politiker, deren Massnahmen sie energisch verteidigten, und durch die Medizinal-Industrie, wo etwa der Chef der Firma Lonza in der Schweiz (im „Blick“ vom 25. 5. 20) verlauten liess: „Wir arbeiten intensiv daran, in der Lage zu sein, so schnell wie möglich einen Impfstoff zu produzieren und Millionen von Leben zu retten.“ Millionen von geretteten Menschen sind viele, man möchte sagen, superheilandsmässig viele. Auch die in Deutschland direktübertragene Ankündigung von Bill Gates, unbedingt 7 Milliarden Menschen, also die ganze Welt, impfen zu wollen, weist auf ein eschatologisches Selbstbewusstsein hin.
Die Wirksamkeit der Massnahmen war nie unumstritten. Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld, der als Mitglied der deutschen Leopoldina, welche als wissenschaftliches Gremium die deutsche Regierung beriet, gegen die Unwissenschaftlichkeit dieses Gremiums öffentlich protestiert hatte, hat dazu eine schlüssige Methode der Evaluation, die jedem Gymnasiasten einleuchten kann: Man nehme die überall zitierten online-Daten der Johns Hopkins University mit der Spalte der offiziell an Corona Verstorbenen eines Landes pro Million Einwohnern. Niemand vermag nun anhand dieser Zahlen zu erraten, ob ein Land schwerwiegende, leichte, vorübergehende oder gar keine Massnahmen ergriffen hat. Eine Korrelation von Zahlen der Corona-Toten zu Massnahmen lässt sich nicht herstellen. Berühmt, aber auch nur unter Kritikern, ist etwa der Vergleich der US-Bundesstaaten Süd- und Nord-Dakota, die auch grössenmässig und klimatisch sehr ähnlich sind, bloss dass der eine Staat strenge und der andere keine Massnahmen verfügte. Die Werte – also Verstorbene, Hospitalisationen etc. – unterscheiden sich nicht signifikant.
Sehr üblich wurde das argumentum e silentio, wonach nur die Lockdown-Massnahmen unserer beherzten Regierungen ein viel massenhafteres Sterben an diesem Virus verhindert hätten. Dafür, nämlich für die Wirksamkeit solcher Massnahmen (und übrigens heute auch: der Impfung), gibt es bis heute und gab es vor allem zu Beginn des Jahres 20 jedoch keine einwandfreie wissenschaftliche Basis. Das belegten zu Beginn der „Pandemie“ Studien, wie sie schon am 20. März 2020 auf der Website „Evidenzbasierte Medizin“ besprochen wurden, und selbst der für die Schweizer Behörden damals verbindliche „Pandemiebericht“ von 2018.10 Die Auswertung „neuester Studien“ dazu in einem ausführlichen Thesenpapier der Universität Bremen kam noch im Mai 2020 zum Schluss: „Die Auswirkungen des Lockdown auf den Verlauf der Epidemie sind schwer abzuschätzen, sichere Hinweise auf eine Wirkung der verschiedenen Ausprägungen existieren bislang nicht.“11
6.
Schon bald, wenn wir den allgemeinen Taumel im medialen Trommelfeuer einmal entschuldigen wollten, hätte man an der Verbindlichkeit der meinungsbildenden Prognosen – und um Prognosen ging es vor allem, nur sie haben die Implementierung von Lockdowns begründet – starke Zweifel haben müssen. Für Schweden, das Land, das u. a. niemals eine Maskenpflicht kannte12, hat der einflussreichste Lockdown-Befürworter, Neil Ferguson alias „Professor Lockdown“, bis im Juni 2020 100‘000 Tote gleichsam als Strafe prognostiziert – es sind aber bloss 5000 geworden, mit einem Durchschnittsalter von 8713 Jahren.
Bekannt wurde der deutsche Kanzlerberater Drosten, über den in einer deutschen Talkshow ebenfalls noch im Frühjahr 20 von einer Landesministerin gesagt werden konnte: „Wir haben den besten Virologen der Welt.“ – Der „GröVaZ“ also; und seine Prognosen waren einflussreich. Dazu hiess es etwa im „Handelsblatt“ am 19. 3 (zu einem NDR-Podcast am Vortag): „Die Modellrechnungen des Instituts für die USA und Großbritannien kommen zu dem Schluss, dass selbst bei einer ‘optimalen Eindämmungsstrategie’ auf dem Höhepunkt der Epidemie etwa achtmal so viele Intensivbetten mit Beatmung benötigt würden, wie aktuell in den USA und Großbritannien vorhanden sind. Und ‘selbst wenn alle Patienten behandelt werden könnten, würden nach unseren Prognosen immer noch etwa 250’000 Todesfälle in Großbritannien und 1,1 bis 1,2 Millionen in den USA auftreten.’“ – Bekannt ist wohl Drostens sehr suggestiver Ausspruch: „Die Aussichten sind wirklich zum Verzweifeln.“ Er meinte zu den düsteren Zahlen des englischen Lockdown-Predigers Ferguson (auch er ein Scharlatan reinsten Wassers)14: „Aber ich denke, wir müssen jetzt diesen Denkprozess unter Experten in der Wissenschaft starten, auch ungewöhnliche Optionen zu denken, wenn wir an diese Modellierungszahlen glauben. Und ich glaube schon an diese Zahlen.“ Drosten forderte damals folgerichtig auch die Deregulierung der Impfstoffproduktion (so solle der Staat für Produktionsmängel haften) sowie die Beendigung wissenschaftlicher Debatten – wiederholt warnt er in den Medien vor Wissenschaftlern, die seiner Meinung nach inkompetente, d. h. von der seinigen abweichende, Meinungen vertreten. – Ich erinnere mich auch an seine düsteren Prognosen für Afrika (für 2020): „‘Da werden wir Bilder sehen in der Zeit zwischen Juni und August, die wir nur aus Kinofilmen kennen. Da wird es Szenen geben, die wir uns so heute nicht vorstellen können. Und ich bin mir nicht sicher, was das dann bei uns auslöst’, sagte Drosten“ (nach ntv vom 8. 4. 20). – Dazu muss man sich vorstellen, dass etwa das bevölkerungsreiche Nigeria mit 216 Millionen Einwohnern jetzt (im Oktober 2022) offiziell 3155 Corona-Tote zählt (Deutschland 150‘000 Tote mit weniger als der Hälfte Einwohnern, Oesterreich hat fast 22‘000 und damit übrigens eindeutig mehr Tote als das etwas grössere Schweden). Dabei ist zu ergänzen, dass laut der Gesundheitsstatistik-Seite „worldlifeexpectancy.com“, die als Quellen WHO, Unesco, lokale Gesundheitsämter und den CIA angibt – sie ist jedenfalls vor der Corona-Welle entstanden und gibt weltweite Zahlen offenbar einer Erhebung aus dem Jahr 2018, die sich auf das Jahr 2017 beziehen dürften – z. B. damals (2017/8) 290'000 Grippetote („influenza and pneumonia“) in Nigeria angegeben werden, und für Indien, das insgesamt bis heute etwa 530‘000 Corona-Tote zählt, werden für das Erhebungsjahr 421'000 Tuberkulose-Tote, 409'000 an Durchfallerkrankungen und 215'000 durch Selbstmord Gestorbene angegeben – immerhin 302'000 sollen in Indien im Jahr 2017 an „Untergewicht bei Geburt“ gestorben sein und 616'000 Menschen an „Grippe und Lungenentzündung“. – Und ich kann mich gut an die zeitweiligen Panik-Berichte des NZZ-Korrespondenten in New Dehli im Mai 2021 erinnern: die Welt schien unterzugehen – ein weiteres, immer wieder angekündigtes Debakel für alle verantwortungslosen „Corona-Verharmloser“ schien endlich, und mit der Wucht einer Grosskatastrophe bei den zweifellos kritischen hygienischen Verhältnissen des überaus dichtbevölkerten Landes, sich realisieren zu müssen15. Anthony Fauci, einer der weltweiten Chefstrategen der Pandemiebekämpfung und ein Wissenschaftskarrierist ersten Ranges16 riet den Indern ohne angefragt zu sein eindringlich zu – in Indien niemals realisierbaren – strikten Lockdown-Massnahmen.
7.
Das Thema eines weltweiten Übergriffs auf das freie Leben und seine Öffentlichkeit durch ebenjene Institutionen, welche dieses Leben und seine Freiheit hätten schützen sollen, im Namen der Seuchenbekämpfung, vermag ich hier nicht im grösseren Ausmass abzuhandeln. Das Gross-Ereignis einer Entmündigung der Bürgerschaft durch den Staat, und insbesondere die Rolle von Wissenschaft, Medien und Industrie dabei, ist historisch noch gar nicht verarbeitet worden; das ist, wo die Protagonisten des Übergriffs noch überall ihre Positionen halten konnten, auch gar nicht möglich. Es gibt dazu aber schon Bücher, die den Skandal angemessen und zum Teil brillant beschrieben haben;17 sie werden ausschliesslich in Kritikerkreisen gelesen und öffentlich ignoriert oder auf Praktikantenniveau diffamiert.
Zum Verdrängungsmodus ist dabei das auffällige Verwenden des Begriffs „Verschwörungstheoretiker“ zu beachten; es dient offensichtlich dem Vermeiden jeglicher Debatte, indem jeder Einwand gegen die „herrschende Meinung“ (= das Dogma einer „wissenschaftlichen“ Einschätzung der Lage) als schlecht oder absichtlich falsch informierte Äusserung verwirrter Menschen disqualifiziert wird. Es wird ausdrücklich davon abgeraten (so den Schülern durch die „wissenschaftlich kompetente“ Lehrerschaft), auf eventuelle Argumente auch nur zu hören. Denn sie kommen von Kreisen, die eine globale Verschwörung wittern, so wie einst die Nazis und Antisemiten, denen sie daher auch geistig nahestehen müssen; sie sollen dem Staat selber feindlich gegenüberstehen – an Demonstrationen gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten werden daher regelmässig in unseren Tagesschauen „Rechtsradikale“ gesichtet. Der Kampf für staatliche Repression wird so zum Kampf gegen einen staatsfeindlichen Faschismus stilisiert. – Es liegt nahe, hier einen mündlichen Ausspruch von Ignazio Silone zu zitieren, der von Luc Bondy überliefert wurde und zum geflügelten Wort avancierte: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Nein, er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.“
Dazu ist erst einmal auf Eric Voegelins bündige Methode zu verweisen, nach der man eine Ideologie sicher erkennen kann: man erkenne sie am Leitsymptom des Frageverbots.18 Einen Ideologen darf man nie fragen, ob nicht sein theoretisches Gebäude auf Unsinn, oder einfach auf unhaltbaren oder die Realität verkennenden Prämissen beruhe. Die Frage kann auch indirekt verboten sein, wo die Ideologie zur Plattform sozialer Akzeptanz geworden ist – dort wird das Vermeiden gewisser Fragen sozusagen zur Eintrittskarte. – Ideologisch beherrschte oder deformierte Gesellschaften werden die Frageverbote in die Erziehung einbauen, Universitäten richten ihre Methoden flexibel nach ihnen aus, Schulen impfen sie den Kindern ein, die Medien verbreiten durch Lob, Tadel und diskret indiskretes Verschweigen die Angst vor dem Tabubruch, der immer ein Bruch des Frageverbots ist. Und nun durfte man ja etwa von Anfang an nicht die Corona-Krankheit mit einer Grippe vergleichen, man durfte nicht an den staatlichen Massnahmen19 oder an den unwahrscheinlichen angeblichen Mortalitätsraten zweifeln. Wer es doch tat, war unmöglich, war „Verharmloser“, war ein Feind der Wissenschaft und des Staates, ein Sektenanhänger, und äusserst beliebt wurde unter linientreuen Journalisten der gehässige Ausdruck „Schwurbeln“ für jede Form der Äusserung von Einwänden gegen die unumstössliche Staats- und Gesellschaftsdoktrin. – Das unschlagbare ‘Corona-Argument’ war dann einfach: „Wer uns widerspricht, verbreitet die Krankheit.“
8.
Im Falle des oben erwähnten Christian Drosten sahen wir einen führenden Doktrinär auch selber das Verbot bekräftigen, wenn er wiederholt davor warnte, Leuten zu glauben, welche andere Ansichten als die seinen bzw. ihm genehmen verbreiten – laut Blick vom 13. 5. 2020 übte er scharfe Kritik an Ärzten und Wissenschaftlern, die „irgend einen Quatsch in die Welt setzen.“ Er forderte „härteres Vorgehen“ gegen abweichende Meinungen („Corona-Falschinformation“) – diese „Verschwörungstheorien“ seien „sehr gefährlich und unverantwortlich“. Das Kontrollieren der Meinungen zu dieser Erkrankung setzte schon ein, als im Februar 2020 die WHO vor einer „Infodemie“ warnte, denn, wie es auf der website des Schweizer Fernsehens am 18. 2. hiess „Falsche Informationen bei Epidemien mit ansteckenden Krankheiten können die Ausbrüche schlimmer machen“ und „Es kann Leben retten, die Verbreitung von falschen Informationen und schädlichen Ratschlägen auf sozialen Medien zu unterbinden“. „Die WHO geht direkt auf Social-Media-Unternehmen zu. Tedros nannte unter anderem Facebook, Google, Pinterest, Twitter, YouTube. Wer «Coronavirus» googelt, bekommt als Top-Ergebnisse Informationen der WHO. Wer bei Pinterest nach «Coronavirus» sucht, bekommt als erstes die Schaubilder der WHO, die mit Mythen und Märchen aufräumen.“ – Und zum Schluss: „Wir rufen alle Regierungen, Unternehmen und Medienorganisationen auf, die Menschen in angemessenem Umfang zu alarmieren, aber ohne die Flammen der Hysterie anzufachen.“ (Die damals aktuellen Regeln für youtube-Videos haben verboten: „Videos die behaupten, dass Social-Distancing und Selbstisolation ineffektiv seien, um die Virusausbreitung zu reduzieren.“)
Dem Schweizer Infektiologen Pietro Vernazza, der sich für eine „gezielte Durchseuchung“ aussprach und durchaus als Fachmann gelten darf, wurde via Twitter von einem „Tamedia“-Journalisten vorgehalten, dass er „Stuss“ erzähle, was dem Journalisten das öffentliche Lob des abtretenden Vorsitzenden der „Task-Force“ (Matthias Egger) des Bundes20 einbrachte (am 20. 7. 20 – siehe medinside.ch/de/post/chefarzt-vernazza-erzaehlt-stuss). Am 26. 7. 20 lasen wir dazu im Blick, dass die aktuelle Task-Force gegen solche Ansichten vorgehen wolle: schon „die Aussage, dass man Covid-19 mit einer Grippe vergleichen könne, sei falsch“; und weiter heisst es dazu: „Die Taskforce will verhindern, dass Vernazzas Idee an Popularität gewinnt. Laut der ‘SonntagsZeitung’ hat sie eben erst beschlossen, einen sogenannten ‘Policy Brief’ zum Thema Durchseuchung zu verfassen. Die vom Bund eingesetzte Taskforce hat schon diverse solcher Faktenblätter publiziert, an denen sich Behörden und Politik orientieren.“ – Und hier ist zu beachten, dass gar nichts dafür spricht, dass die Task-Force Leute mehr wissenschaftliche Autorität besassen als der besagte Vernazza.
Auf der deutschen website „Correctiv“, die zu den vielen Organen staatsdoktrinärer Propaganda gehört, konnte man am 18. Juni 2020 lesen: „‘Um die Herrschaft über diesen Planeten konkurrieren nur wir und die Viren’, schreibt der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Joshua Lederberg, ‘sie suchen nach Nahrung und wir sind ihr Stück Fleisch.’ In den letzten vier Monaten haben wir erlebt, dass sich wieder ein Virus aus dem Tierreich auf den Weg gemacht hat, um uns zu dezimieren.“ – Zur Bekämpfung des Übels hilft nur die wahre Wissenschaft: „Wir oder sie, letztlich wird uns nur ein Impfstoff schützen, und bis wir den haben, helfen uns fünf Dinge: Wir müssen uns voneinander fern halten, wir müssen uns maskieren, wir müssen möglichst viele von uns testen, wir müssen die Infizierten isolieren und am Leben halten. Das Wichtigste: Solange wir den Impfstoff nicht haben, ist Wissen der wirksamste Impfstoff gegen das Virus.“21
Und auch der Uno-Generalsekretär Guterres wurde am 15. 4. 2020 pathetisch: „Lügen füllen den Äther“ (er meinte „Verschwörungstheorien“ und „Fehlinformation“) und die Welt müsse zusammenstehen: „Unser Impfstoff ist Vertrauen“ und zwar erstens: „in die Wissenschaft“ (er nennt Journalisten als Faktenchecker!) und zweitens: in „Institutionen“. „Gemeinsam – für gesunden Menschenverstand und für die Fakten – können wir COVID-19 besiegen – und eine gesündere, gerechtere und widerstandsfähigere Welt aufbauen.“
9.
Zum Wissenschaftsverständnis, das spätestens seit 2020 öffentlich verbindlich geworden ist, gehört also ein Debattenstil, der das ‘andere Argument’ als „unwissenschaftlich“ oder den Vertreter einer alternativen Einschätzung der Sachlage als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet.22 Und zu diesem Ausdruck muss man gerade auch gegen einen offenbar bewusst diesbezüglich irreführenden Wikipedia-Artikel zum Thema festhalten, dass er – anders als der schon ältere Ausdruck „Verschwö-rungstheorie“ – wohl erstmals in einem internen CIA-Dokument vom 4. 1. 1967 gebraucht worden ist, in dem vor abweichenden Meinungen zum Kennedy-Mord gewarnt wurde. Die Passage lautet dort: „The aim of this dispatch is to provide material for countering and discrediting the claims of the conspiracy theorists so as to inhibit the circulation of such claims in other countries.” Es heisst dort auch: “parts of conspiracy talk appear tobe deliberatedly generated by communist propagandists”.
Dass dieser geheimdienstliche Denunziationsstil in die Debatte um angemessene Wissenschaft eindringen konnte, ist schon bemerkenswert. Im Frühjahr 20 geschah das ganz öffentlich, etwa als Wissenschaftsjournalismus, wo die abweichende Meinung eines bekannten Lungenarztes in einem Artikel der NZZ vom 21. 3. mit dem Titel “Wolfgang Wodarg verkennt Fakten“ unter anderem mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“ disqualifiziert wurde. Erwähnt wurde auch explizit das „wirre Haar“ des Besprochenen, während dessen selbstredend ebenfalls „wirre“ Argumente mit dem Hinweis weggewischt wurden, dass sie der neuerdings herrschenden Doktrin nicht entsprächen.
Zu den Verschwörungstheoretikern hätte damit auch mein einstiger Lateinlehrer, der ein kultivierter Mann war, gehören müssen, weil er uns damals im Gymnasium auf die seltsamen Auslassungen im sogenannten „Warren Report“ hinwies, auf den sich auch das CIA-Dokument bezog. Denn an ihm, als der offiziellen Version zum Kennedy-Mord, hatte es eben Kritik gegeben. Doch damals, vor etwa 50 Jahren, war der besorgt-alarmierte Geheimdienst-Stil noch keineswegs bis in unsere Klassenzimmer vorgedrungen.
Was ist denn in den letzten 50 Jahren geschehen, dass wir überall Staatsfeinde wittern, wo jemand Kritik an einer behördlichen Massnahme übt? Und dass wir Gefahr wittern sollen, dafür sorgen warnende Instanzen von mehr oder weniger greifbarer Öffentlichkeit. Es sei gefährlich oder dann moralisch zersetzend, z. B. am Impfprogramm oder an der Alternativlosigkeit der Nato-Militärdoktrin (welche im Moment dringend die Demokratie gegen östliche Tyrannei retten und verteidigen soll) zu mäkeln. Wer es tut, kann grosse Schwierigkeiten kriegen; unsere Gesellschaften sind im Alarm- oder Ausnahmezustand, sie befinden sich im Kampf gegen ein feindliches, sie bedrohendes Prinzip – wie etwa das Böse, die Feindlichkeit in multipler Hinsicht, das Klima als Katastrophe, der Kollaps zentraler Systeme, oder einfach ein Virus.
10.
Geheimdienste samt ihrer informellen Denunziations-Komplizenschaft sind Organe der gesellschaftlichen Angst vor dem Verlust an Sicherheit. Gesellschaften sind immer potentiell paranoid, sofern sie Zusammenschlüsse aus der Angst sind, der Angst von Subjekten um sich selber. So sah es schon Protagoras (überliefert bei Platon im Dialog „Protagoras“): Die Menschen waren schwächer als die wilden Tiere und hatten ein elendes Leben, da sie sich auch selber dezimierten, bis ihnen der Gott die Fähigkeit zur politischen Organisation schenkte (die politike techne). Im organisierten Kollektiv aber wurden die Menschen als schwächliche Mängelwesen zur Weltmacht Nummer eins, die sich nicht bloss der tierischen Konkurrenz entledigte – indem sie sie unterwarf – sondern sogar der Welt gegenüber autonom wurde. Sie stellte ihre eigene Welt als eine politische, soziale oder kulturelle Gegenwelt des menschlichen Selbstbezugs auf – ein kollektiver Narzissmus, falls es das gibt –, deren technokratisches Potential schon vor 50 Jahren die ganze Welt hätte mehrfach vernichten können (nämlich mit dem Waffen-Arsenal der 70er Jahre).
Angst ist also per se gesellschaftlich keine Anomalie, doch wenn sich durch öffentliche Panik im Rahmen eines Seuchen-Geschehens, das in vergleichbarer Grösse vor etwas mehr als 50 Jahren von Bevölkerungen, deren Erwachsene noch den zweiten Weltkrieg erlebt hatten, praktisch ignoriert wurde,23 sogar die institutionelle Wissenschaft flächendeckend zur Aufgabe ihrer Prinzipien bewegen liess, muss die allgemeine Verunsicherung ungewöhnliche Dimensionen angenommen haben.
Kann man von wachsender Verunsicherung ausgehen, und von einer Zunahme von Ängsten in den letzten 40 Jahren? – Das wird etwa von dem klinischen Psychologen Mattias Desmet behauptet,24 und er bringt das auch mit einer zunehmenden „Regulierungsmanie“ in Zusammenhang, die als untauglicher Versuch zu gelten hat, Unsicherheit durch Massnahmen zu bekämpfen. Desmet zitiert Schlagzeilen aus der Presse der letzten Jahre vor Corona, nach denen es unverantwortlich ist, Teenager auf dem Moped zur Schule fahren zu lassen, und gefährlich, in Flüssen und Teichen zu baden (wegen Bakterien), Hände zu schütteln (wegen Viren) und was dergleichen mehr ist.25 Wer lange genug gelebt hat, konnte die Zunahme der Vorsichtigkeit selber bemerken: wo heute jedes Kind auf dem Dreirad einen Helm trägt, war das in meiner Kindheit undenkbar. Der Weg zur Schule, ja schon zum Kindergarten, war eine wichtige Abenteuer-Zone, wobei ich ein städtisches Randgebiet bewohnte mit wohl vergleichsweise weniger Auto-Verkehr; man lernte Hunde und verbotene Gärten kennen und man konnte sich Ohrfeigen oder Freundlichkeiten von Erwachsenen einhandeln; meist war man allein unterwegs und wusste nicht genau, wen man auf den Wegen antraf. Ohrfeigen gab es überhaupt überall, zuhause und auch in der Schule eigentlich bis zu dem Alter, in dem die Lehrer unsere langsam erwachsenen Kräfte scheuten. – In meiner Erinnerung gibt es zwar Züchtigungen, deren Gemeinheit und Brutalität ich noch heute nachfühlen kann. Aber im Ganzen – das war meine Erfahrung, es gibt viel traumatischere Dimensionen – waren die Ohrfeigen (es gab Lehrer, die mit aller Wucht ausholten) nicht wirklich das Schlimme oder Bedrückende in meiner Kindheit. Denn man war mit ihnen im üblichen Rahmen nie allein, und jedenfalls unter uns Buben konnte eine erhaltene Ohrfeige durchaus als ehrenhaft gelten, wie eine Kriegsversehrung unter Erwachsenen. In dieser Hinsicht – aber das muss nicht überall die Regel gewesen sein – gab es etwas wie stillschweigende Solidarität: wir hatten ja alle dieselben Widersacher, zu denen als Züchtiger auch die meisten Eltern gehörten.
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Ich wundere mich auch, wenn ich – es war vor etwa 25 Jahren – an den Aufenthaltsraum meines Fachseminars an der Universität mit teils gefüllten Aschenbechern denke. Rauchschwaden waren nicht selten, und schon im Gymnasium zündet sich in der Erinnerung einer unserer strengsten Lehrer gegen Ende der Unterrichtsstunde regelmässig eine Zigarette an. – Das liesse sich lange fortsetzen, es wirkt nur erstaunlich im Vergleich zu dem, was heute ausnahmslos und teilweise sanktionierbar anders geworden ist. – Unsereiner, der doch eine vergleichsweise ziemlich behütete Kindheit hatte, hat im Vergleich zu aktuellen Gepflogenheiten offenbar ein fast schon anarchisch wirkendes Kinderdasein geführt. Im Zoo hat man uns etwa zu zehnt oben auf den Elefantenrücken gesetzt (ich hatte immer Angst, beim beträchtlichen Schaukeln herunterzufallen, was ich nie zugegeben hätte), und am Schönsten war es – ich sehe noch das abenteuerliche Licht einer Allee voller Herbstblätter vor mir – wenn die Schule um 10 Uhr morgens aus war und man den Heimweg bis zum Mittagessen verlängern durfte. Und noch als junger Mann lebte ich in einem Dorf in der südlichen Schweiz, in dem die Hunde frei herumgelaufen sind. Als wir, „die Jungen“ (wir waren alle schon zwischen 20 und 30), eines Abends ein etwas abgelegeneres Restaurant aufsuchten, weil wir das Glas Wein im Dorf zu teuer fanden, da folgte uns in meiner Erinnerung beim Einzug lärmend ein ganzes Rudel Hunde.
Doch das sind nur die gerade auftauchenden Impressionen. Dass heute wesentlich geregelter, und ängstlicher, gelebt wird als vor 40 Jahren belegen sie zuverlässig jedenfalls für mich. Und dabei erinnere ich mich, dass ich damals, im Jahre 80, nachdem ich 5 Monate allein durch Indien gereist war, die fast greifbar wirkende Angst in den Menschen auf der Zugfahrt vom Flughafen Zürich nach Basel als schwer zu ertragen empfand. Ich hatte diese vorsichtige, fast paranoid wirkende und misstrauische Verschlossenheit offenbar fünf Monate lang unter Indern in einer fast mittelalterlichen Welt nicht mehr gekannt.
12.
Unsicherheit macht Menschen zweifelsohne bedürftig nach Sicherheit, nach Herdenschutz und fragloser Führung, und nur die abenteuerlichen Herzen – und das sind wenige – nehmen sie als solche, als Bedingung des abenteuerlichen Lebens in Kauf. Und nun ist endemische Unsicherheit sicherlich geeignet, Menschen in kollektive Formierungen und Identitäten hineinzutreiben. Man sucht Schutz in der Herde, in der Masse und in Rollen von kollektiver Akzeptanz, denn man kann im Rausch kollektiver Grösse – das ist auch der Rausch der Macht – die eigene Verunsicherung ausblenden, vergessen, sich über sie erheben in eine über sich selbst erhabene Selbstlosigkeit hinein.26 Das hat Mattias Desmet auf den Spuren von Hannah Arendt und Gustave Le Bon als „mass formation“ soeben brillant beschrieben: so entsteht der totalitäre Staat.
Wenn gesellschaftlich sich ausbreitende Unsicherheit schon hinter dem Ausbau der staatlichen Regulierungen, also in einem neurotisch wirkenden Anordungsbedarf steckt, dann ist es nicht die gerne in den Offizial-Medien durch entsprechende „Experten“ beschworene Hinwendung zu „Esoterik“ und ‘Anti-Wissenschaft’, die als Symptom der Störung eingeschätzt werden muss, sondern gerade das Gegenteil: eine Sucht nach Eindeutigkeit, nach „Fakten“, die man den Ungläubigen um die Ohren schlagen darf, nach dem autoritativ-autoritären „letzten Wort.“27 Das wäre die Illusion des abschliessenden, Massnahmen befugenden Urteils über eine „Sachlage“, welche meist selber schon eine willkürliche Konstruktion sein muss; es ist die imaginäre Eindeutigkeit in einer Welt der Ambiguität, der Unklarheit subjektiver Bedürfnisse, Ängste, Meinungen und Mutmassungen, die sich in der priesterlichen Figur des „unabhängigen Experten“ – den es nicht gibt, und den es mindestens in dieser Welt auch gar nicht geben könnte – über den Dschungel der angstvollen Verwirrung als paternitäre Lichtgestalt erhebt.
Die „Experten“ sind jetzt die Gurus einer weltweiten Sekte der „Wissenschafts“-Hörigen: ihnen ist eine Imago, die sie „Wissenschaft“ nennen, zum Inbegriff aller Orientierung, zum Ersatz von Selbständigkeit, Glauben, Urteilsfähigkeit, ja zum Ersatz einer Welt geworden, zu der sie jegliche Bindung verloren zu haben scheinen. – Was „die Wissenschaft“ als die „Kirche“ moderner Staatlichkeit ab ora leonis verlauten lässt, kann als realexistent gelten; abweichende Ansichten sind gefährlich, weil nur die offiziös diplomierte Wissenschaft vor dem gefährlichen Abgrund des Irrealen schützt, aus dem alles Üble für die Gesellschaft aufsteigen kann: Krankheiten, Rückständigkeit, Grausamkeit, Extremismus und all das Abwegige, das sich als Dunkelheit überall dort behauptet, wo unser aufklärendes „Wissen“ nicht hineinleuchtet. Damit werden sie auch symptomatisch für eine neurotische Abwehr in der „phobischen“ Beschäftigumg mit „Bakterien, Mikroben, Bazillen, Staubmilben, Pilzen und Viren“, wie es Thomas Maul formuliert: „Dass in der Vorstellungswelt des individual- und sexualpathologischen Paranoikers die grösste Bedrohung des eigenen Körpers von den in ihn eindringenden kleinsten und unsichtbarsten Organismen ausgeht, hatte seine kollektiv-politische Entsprechung in der Wahnvorstellung vom gesunden organischen Volkskörper, der von der Physis oder den Ideen gesellschaftlicher Minderheiten infiziert, zersetzt, befallen, verunreinigt werden könnte.“28
13.
Der Typ des autoritären Experten, der mit warnend erhobenem Zeigefinger strenge Massnahmen oder einfach „mehr Waffen“ fordert, ist auf den Bildschirmen, die die Öffentlichkeit bedeuten sollen, endemisch geworden. Er tritt dabei als dringend benötigte, und dazu unschuldig machtferne29 Stütze der farblos verbrauchten Figur des „Politikers“ auf, dem er die ersehnte Aura des fraglos Gültigen, die Autorität des erwiesen Evidenten und der allein die gefährliche Wirklichkeit der Dinge erschliessenden Wahrheit verschafft. – Für die letzten zwei Jahre waren etwa Anthony Fauci und sein deutsches Nachbild Christian Drosten eine Art von Prototypen:30 sie waren Virologen, und sie werden mittlerweile gerade durch Politologen, pensonierte Generäle und „Osteuropaspezialisten“ ersetzt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihren Thesen nur Verdächtige, also etwa Staatsverweigerer, Esoteriker, Impfgegner, Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker oder im Moment auch russische Trolle ernsthaft widersprechen können.
Ist denn nun Wissenschaft zur autoritären Instanz geworden, welche alles in Fraglosigkeit, in Maximen des kollektiven Handelns (welche mit den Worten des amtierenden deutschen RKI-Chefs ja „niemals hinterfragt“ werden dürfen) verwandeln kann? Das wäre Wissenschaft als Magie, und es ist sicherlich nicht das, was bis anhin für wissenschaftlichen Stil gehalten und in den üblichen Promotionseiden beschworen wurde.
Das hier vorliegende aktuelle Problem lässt sich leicht veranschaulichen: Im Moment gilt die Maskenpflicht als Pflicht bei Strafe, eine Gesichtsmaske zu tragen, als wirksames Mittel bei der Bekämpfung der „Pandemie“. Und nun ist die die Wirksamkeit und der Sinn dieser staatlichen Massnahme schon vor ihrer weltweiten staatlichen Implementierung entschieden und ernsthaft angezweifelt worden. Trotzdem werden auch in der Schweiz noch Prozesse geführt gegen Leute, die in den letzten Jahren etwa unmaskiert an Versammlungen teilgenommen haben (welche oft selber verboten waren), und eine Psychiaterin unseres Landes, die Schulkindern Maskenatteste ausgestellt hat, wurde vom Rektor einer Schule denunziert, worauf Polizisten in „Vollmontur“ ihren Computer zu beschlagnahmen für gut hielten. Denn man könnte gewiss auch hier ganzen Netzwerken von „Verweigerern“, also Masken-, Impf- oder generell Massnahmenverweigerern und anderen Verschwörungstheoretikern auf die Spur kommen, was zu einer staatlichen Aufgabe geworden sein muss. Verfolgt wird in jedem Fall die Schuld, Masken nicht vorbehaltlos zu akzeptieren. Und die Gerichte setzten sich – aufgrund von angeblicher „Wissenschaft“ – über das Urteil zuständiger Fachleute hinweg, weil sich stets genügend prominente Scharlatane finden, die das staatlich Dekretierte unter befugt wirkender Verwendung des Wortes „Studien“ zur alternativlosen Wissenschaft umdekorieren.
14.
Dass diese Masken im aussermedizinischen Bereich etwas bewirken, kann kaum bewiesen werden. Dass sie im besten Fall nichts bewirken, kann dagegen ziemlich evident gemacht werden. Denn all die unzähligen „Studien“, die deren Wirksamkeit angeblich beweisen und eifrig von staatlichen Stellen und in der zugewandten Presse erwähnt oder zitiert werden, haben nicht einmal den Bruchteil der Evidenz, die sich ergibt, wenn man z.B. einfach die Johns Hopkins Zahlen zu Corona unter der Länder-Rubrik „deaths per million“ unter Schweden (ohne Maskenpflicht) und Oesterreich (mit vergleichsweise strikter Maskenpflicht) vergleicht: Oesterreich hat hier im Moment 2292 Tote pro Million Einwohner, Schweden 1992. Da der Lebensstandard der Länder vergleichbar ist, kann eines mit Sicherheit gefolgert werden: Masken können keinen Einfluss auf die Corona-Sterblichkeit eines Landes haben. Und hier liegt keine manipulierte Versuchsanordnung vor, sondern ein freier Feldversuch mit vielen Millionen Menschen.31 – Wer angesichts solcher Evidenz die Effektivität der zivilen Maskenpflicht immer noch behaupten will und auf „Studien“ verweist, deren Resultat in den allermeisten Fällen von Anfang an feststand, der müsste redlicherweise den erworbenen akademischen Titel zurückgeben. – Prägnant hat es für Deutschland Thomas Maul formuliert, der übrigens mit seinem brillant geschriebenen Buch schon eine Ahnung davon geben kann, wie dereinst eine historische Darstellung dieser ganzen Ungeheuerlichkeiten aussehen könnte: „Mitte April 2020 veröffentlichte Professor Homburg mit Verweis auf RKI-Graphiken und -Zahlen in der Welt den Nachweis, dass die ersten Massnahmen erst einsetzten, als alles längst vorbei war und dennoch nichts Schlimmes geschehen ist. – Trotzdem wurde Ende April die Maskenpflicht eingeführt, um das Gefühl der Gefahr wirklich, präsent und allgegenwärtig zu machen. Unter der Maske wurden alle vormals geteilten Gewalten eins. Von da an hatte der Wahnsinn Methode, folgte eine Groteske ungebremst auf die andere.“32
Dass diese Masken überhaupt keinen medizinischen, sondern einen symbolischen oder gar rituellen Sinn haben, ist schon öfter behauptet worden, unter anderem auch vom deutschen Staatsvirologen Christian Drosten. Die Maske würde vor allem den Jungen Respekt vor der Krankheit einflössen.33 Und eben behauptet eine amerikanisch-chinesische Studie, dass Maskentragen einen moralischen Effekt habe und vor abweichendem Verhalten schütze (was natürlich der Volks-Gesundheit besonders dienlich sein soll): „Across 10 studies using mixed methods and different measures of deviant behavior, we provide evidence that masks are a moral symbol in China that reduces wearers’ deviant behavior by heightening their moral awareness.“ heisst es in der Zusammenfassung.34 Ich glaube, es war der Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz, der irgendwo das Mundverhüllen tiefenpsychologisch gedeutet hat – nichts kann so aufdringlich werden wie das Verdrängte – als das Abzeichen von „Unmündigkeit“, und das hiesse ja auch, dass landesweit Lehrer mit schulischer Maskenpflicht Kinder zwei Jahre lang explizit zur Unmündigkeit erzogen haben.
Für den klinischen Psychologen Desmet gehört das kollektive Maskentragen zu einer Ritualität als Teil der „Massenformation“, in welcher u. a. einer diffusen Angst und Unsicherheit ein konkretes Objekt verschafft werden könne, und gemeinschaftsstiftende Rituale sind nicht auf praktischen Nutzen angewiesen (man denke an eine Prozession), deswegen, so Desmet, würde die Absurdität der „corona measures“ nicht auf grösseren Widerstand stossen: „In a sense, the more absurd and demanding the measures are, the better they will fulfill the function of a ritual and the more enthusiastically a certain part of the population will go along with it. Think, for example, of the fact that some people wear a mask when driving, even if they are the only person in the car.”35
Die neuere Studie von 2023, die bisher als die gründlichste gilt und die völlige Wirkungslosigkeit allgemeinen Maskentragens explizit nahelegt,36 hat es immmerhin in die New York Times geschafft (am 21. Feb. 23) und kürzlich auf CNN den ehemaligen Corona-Papst Fauci zu der widersinnigen und entsprechend harsch kommentierten37 Aussage gezwungen, Masken würden zwar allgemein nichts aber doch individuell etwas nützen.38
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Wenn die Maske ein zentrales Parteiabzeichen im Rahmen einer aktuellen Orgie des Selbstvergessens im Rausch totalitärer Zugehörigkeit geworden ist, dann bleibt es immer noch höchst merkwürdig, dass dieser ganze selbstzerstörerische Rausch, den ich als neufaschistischen Aktivismus bezeichnen möchte, im Namen einer autoritären „Wissenschaftlichkeit“ auftreten kann, wobei staatlich approbierte Wissenschaftler als fanatische Prediger des notwendigen Lebensverzichts und Publizisten als Prediger unbedingten Gehorsams agieren. – Für den Psychologen Desmet und auch für den Psychiater Maaz sind das schwerwiegend sozialpathologische Phänomene – die Maaz konsequent als narzisstische Störung deutet.39 Damit sind auch die Wissenschaftler vorab als Mitläufer oder Ergriffene eines pathologischen Geschehens tätig; sie sind von denselben Ängsten getrieben und vom selben Rausch erfasst wie die Masse, deren Teil sie sind: Auch der Ideologe des Totalitarismus muss nicht an das glauben, was er anderen als Propaganda erzählt, aber er wird fanatisch an das ideologische Ziel glauben müssen, das auch noch jede Lüge, jede Desinformation und jedes „framing“ rechtfertigen kann.
Und nun ist es vielleicht selbstverständlich, dass Stimmen wie die eben genannten zwar in kritischen Kreisen gehört, gelesen und besprochen werden, dass sie aber im hypnotisch verengten Raum der ‘formierten Masse’ schlicht nicht vorkommen. Wer z. B. Mattias Desmet googelt, findet bezeichnenderweise den Hinweis darauf, dass er sich von einem „rechtspopulistischen“ oder „verschwörungstheoretischen“ Sender interviewen liess, und sonst nichts – weiter muss man über ihn offenbar gar nichts wissen. (Im Februar 23 findet man dann allerdings den Hinweis, dass es Desmet von seiner Universität in Gent verboten wurde, sein hier mehrfach zitiertes Buch im Unterricht zu benutzen). Wenn man wissen will, wie Robert Kennedy’s materialreiche Abrechnung mit Anthony Fauci – eines der Bücher die man gelesen haben sollte – aufgenommen wurde, stösst man auf Rezensionen von journalistischen Praktikanten, die etwa erwähnen, dass der Autor Impfkritiker sei, verschwörungstheoretische Ansichten verbreite und von der übrigen Kennedy-Familie geschnitten werde. (“Der ist eine schillernde Figur“, wusste ein mir bekannter Wissenschaftler zu sagen, der vermutlich bei Wikipedia nachgeschaut hatte). Was in den Büchern dieser Leute steht, bedarf dann überhaupt keiner Erwähnung mehr. Und dabei ist es grundsätzlich nicht bloss der autoritäre Stil, die Aura infantilen Gehorsams und der rechtschaffen maskentragenden Angst vor „deviantem Verhalten“, was besonders auffällig ist, sondern das, was man als den Ersatz von Argumentation durch Zuschreibung von Identitäten bezeichnen kann. Es zählen nur identifizierende Zugehörigkeiten wie „Impfgegner“, „Corona-Leugner“ bzw. -Skeptiker, „gehört zur Querdenker-Szene“, „Verharmloser“ etc. Und es werden laufend neue Bezeichnungen in Umlauf gebracht (wie „Verschwörungsideologen“ oder „Flacherdler“). Es versteht sich von selbst, dass der Hinweis auf ein „Nahestehen“ etwa einer „rechten Szene“ als identifizierendes Attribut sehr beliebt ist.
16.
Wenn das „Coronaleugnen“ und was immer damit assoziiert werden kann, eine Identität bezeichnet, die jede Frage nach einem Gehalt des solchermassen Bezeichneten erübrigt, dann muss man annehmen, dass auch die denunzierende Instanz wesentlich eine neue Identität für sich postulieren wird. Wer so urteilt, debattiert dann gerade nicht, sondern spielt eine Rolle, deren Identität jedenfalls aus dem Negierten der abwertenden Zuschreibungen zu erhellen sein muss: also Menschen, die an die Kugelform der Erde glauben, Corona ernst nehmen, Impfen befürworten, gerade statt in die Quere denken, nicht unnötig skeptisch sind, was Massnahmen der Regierung angeht, nicht an Verschwörungs-Theorien glauben, sondern „an die Wissenschaft“ udgl. – hier sind zweifellos die Vernünftigen gemeint, die ihre Opponenten folgerichtig als Unvernünftige bezeichnen.
Es war ja von Anfang an überaus auffällig, dass eine öffentliche wissenschaftliche Debatte über die keinesfalls zweifelsfreien Massnahmen unterbleiben musste: sie wäre zu gefährlich gewesen und hätte die überlebenswichtige Akzeptanz der zum ersten Mal (und das heisst: experimentell) angewandten Eindämmungsmethoden geschmälert. Was dann aber wirklich verwundert, ist die offenbar verbreitete Ansicht, die Zustimmung zu diesen Massnahmen sei wissenschaftlicher Konsens – also etwa das, was man als communis opinio bezeichnet, womit Thesen und Einsichten gemeint sind, gegen welche die Einwände längst widerlegt oder schlicht irrelevant geworden sind. Dieser Konsens (auch er kann auf Irrtum beruhen) setzt eine umfassende und freie Debatte voraus und er wird im besten Fall nach Jahren erreicht; wo aber die Debatte von Anfang an diffamiert wurde (etwa als „Fehlinformation“ gegenüber eindeutigen „Sachverhalten“, d. h. den „richtigen“ Informationen),40 kann ein solcher Konsens sich gar nicht gebildet haben und er ist folglich ein Phantom-Argument.
Was wirklich gegen die umfassende und weltweit ruinöse Corona-Politik im Namen der wissenschaftlich aktualisierten Vernunft spricht, das erfährt die Öffentlichkeit nirgends, wenn sie sich nicht zufriedengibt mit Nachrichten darüber, was etwa die „Q-Anon“-Sekte glaube (eine verschwörungstheoretische Verschwörung, die auch hinter dem Sturm auf das Capitol stehen und die Welt von Reptilien beherrscht sehen soll, und die unsere Demokratien gefährde).
Am 15.10. 2022 findet sich in der NZZ die Überschrift (den Artikel konnte ich hinter der „Bezahlschranke“ nicht lesen) „Einst gegen Masken, jetzt gegen Panzer: Deutschlands eigenartiges neues Protestmilieu.“ Als ob es in einer Debatte rein soziologisch um die Beschreibung von „Milieus“ ginge – also z. B. gar nicht darum, was nun Kant, Nietzsche oder Agamben geschrieben haben, und was man daraus folgern könnte, sondern bloss: was sind das für Leute, die Kant lesen? Was hätte eine Beschreibung von Marxisten („Kantisten“ gab es nie, doch immerhin Kantianer) für einen Sinn für ein Publikum, das Marxens Thesen gar nicht kennen soll (weil das Verschwörungstheorien über einen „globalistischen“ Kapitalismus sind)? – Doch höchstens den, das ideologische Frage- bzw. Leseverbot und den Mangel an öffentlichem Argumentieren zu kaschieren.
17.
Gestern am 16. 10. 22 berichtete die Berliner Zeitung über die Erkenntnisse von Soziologen – ich kenne ihre Universität zu gut, um besonderen Respekt vor ihnen zu haben – die die „Querdenkerszene“ von Beginn weg verfolgt und erforscht haben wollen. Und sie publizieren nun „ihre umfassende Analyse einer neuen, gefährlichen Weltanschauung“. Zwar, so heisst es im Interview, haben sie hier die immer wieder beschworenen „Rechten“ nicht im supponierten Ausmass gefunden, doch immerhin gelte von den mehrheitlich „links“ sozialisierten: „Mittlerweile tragen sie jedoch ein so absolutes Freiheitsverständnis vor, dass wir einen Drift ins Autoritäre beobachten können. Wir sehen aber keine Identifikation mit einem starken Führer wie beim klassischen Autoritären. Es gibt auch keinen Hang zu konventionellen Werten. Was wir aber gefunden haben, ist autoritäre Aggression gegenüber Personen und Institutionen, die angeblich ihre individuellen Freiheitsrechte missachten.“