Die Erzählungen - Heimito Doderer - E-Book

Die Erzählungen E-Book

Heimito Doderer

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Beschreibung

In seinen Erzählungen erweist sich Heimito von Doderer, der Autor der großen Romane „Die Strudlhofstiege“ und „Die Dämonen“, auch als Meister der kleinen Form. Der vorliegende Band vereinigt Doderers gesamte Kurzprosa. Diese Kabinettstücke der Erzählkunst zeigen Doderer als subtilen Psychologen, der mit viel Sinn für das Groteske, Absurde und Abgründige Momentaufnahmen menschlicher Unzulänglichkeiten präsentiert. In vielen der Texte erscheint Doderer als Virtuose des schwarzen Humors. Die großen Themen dieses Autors, etwa die Rolle von Zufall und Fatum und die „Menschwerdung auf dem Umweg“, werden auch in den Erzählungen aufgegriffen. Sie illustrieren die bittere Erkenntnis, dass „wir nie das eigentlich von uns Gemeinte bewirken“.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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HEIMITO VON DODERER

Die Erzählungen

Herausgegeben von Wendelin Schmidt-Dengler

VERLAG C. H. BECK

Zum Buch

In seinen Erzählungen erweist sich Heimito von Doderer, der Autor der großen Romane „Die Strudlhofstiege“ und „Die Dämonen“ auch als Meister der kleinen Form. Der vorliegende Band vereinigt Doderers gesamte Kurzprosa. Diese Kabinettstücke der Erzählkunst zeigen Doderer als subtilen Psychologen, der mit viel Sinn für das Groteske, Absurde und Abgründige Momentaufnahmen menschlicher Unzulänglichkeiten präsentiert. In vielen der Texte erscheint Doderer als Virtuose des schwarzen Humors. Die großen Themen dieses Autors, etwa die Rolle von Zufall und Fatum und die „Menschwerdung auf dem Umweg“, werden auch in den Erzählungen aufgegriffen. Sie illustrieren die bittere Erkenntnis, daß „wir nie das eigentlich von uns Gemeinte bewirken“.

Über den Autor

Heimito von Doderer (1896–1966) gilt seit der Veröffentlichung seiner beiden großen Wiener Romane Die Strudlhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956) als einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

«Doderer ist ein ganz erstaunlicher Schriftsteller. Sehr berühmt und doch immer noch zu entdecken.»

Daniel Kehlmann

«Rätselhaft, daß wir es uns leisten, über diesen großen Autor hinwegzugehen.»

Walter Kempowski

INHALT

I: Divertimenti und Variationen

DIVERTIMENTO NO I – Der Gräfin Lotte Paumgarten-Hohenschwangau gewidmet

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO II – Mote gewidmet

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO III – Gusti Hasterlik gewidmet

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO IV – In memoriam Helga von Doderer

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO V – Herrn Walter Stoerk gewidmet

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO VI – Frau Ilse Leembruggen gewidmet

1.

2.

3.

4.

DIVERTIMENTO NO VII: DIE POSAUNEN VON JERICHO

Erster Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Zweiter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Dritter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Vierter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

SIEBEN VARIATIONEN ÜBER EIN THEMA VON JOHANN PETER HEBEL (1760–1826)

Thema

Variation I

Variation II

Variation III

Variation IV

Variation V

Variation VI

Variation VII und Coda

II: Kurz- und Kürzestgeschichten

HEIMKEHR IN DIE JUGEND

DER GOLF VON NEAPEL

IM IRRGARTEN

EIN SICHERER INSTINKT

FELDBEGRÄBNIS EINER LIEBE

DIE DOGGE WANDA

PUNTSCHI KOMMT AUF DEN HUND – Erlebnisse eines Pintschers

EINE TÄTOWIERTE

KOMPLIZE WIDER WILLEN

BEGEGNUNG IM MORGENGRAUEN

LÉON PUJOT

AIMÉE

DIE AMPUTATION

EIN HOCKEYMATCH

DER VERLORENE NAME

EIN SCHNEEGEWITTER

DER BRAND

DIE GASSE DES MITLEIDS

BISCHOF – TOLLGEWORDEN

WECHSELNDE BELEUCHTUNG

SIE VERKAUFT SICH

EINE PERSON VON PORZELLAN

DIE LERCHE

ACHT WUTANFÄLLE

Ehrfurcht vor dem Alter

Die Mitteilung

Die Teller

Die Einschüchterung

Tot vor Wut oder Der Garaus

Ein Explosionsunglück oder Die Folgen der Raumfahrt

Aus einem alten Briefe – Hilde Spiel gewidmet

Finstere Stunde

NEUN KÜRZESTGESCHICHTEN

Das Frühstück

Unser Zeitalter

Die Liebe

Charaktere

»Hurrah! Die Alte kriegt kein Kind!«

Das Verhängnis

Vorsicht auf Reisen!

Die nackte Wahrheit

Quassi’s Haus

DAS WOHL DER FAMILIE

DER PEINIGL

UNTERGANG EINER HAUSMEISTERFAMILIE ZU WIEN IM JAHRE 1857

DER OGER

EIN SOMMERMORGEN

SONATINE

I

II

III

TRETHOFEN

DAS VERGRABENE PFUND

DIE SCHWARZKUNST

UMZUG IN’S VILLENVIERTEL

BETT UND BART

DER BUCHHÄNDLER – Dr. Gottfried Berger gewidmet

TANZ IM ›CAFÉ KRATZKI‹ ODER DIE FÜLLE DER HALBSTARKEN

ERZÄHLUNG

III: Erzählungen

DIE PEINIGUNG DER LEDERBEUTELCHEN

EIN ANDERER KRATKI-BASCHIK

ZWEI LÜGEN ODER EINE ANTIKISCHE TRAGÖDIE AUF DEM DORFE

1.: Der Fremde

2.: Der Vater

3.: Ein Weg im Dunklen

4.: Die Stunde des Zorns

5.: Gerichtstag

DAS LETZTE ABENTEUER – Ein ›Ritter-Roman‹

1.

2.

3.

4.

TOD EINER DAME IM SOMMER

UNTER SCHWARZEN STERNEN

IV: Meine Neunzehn Lebensläufe

NACHWORT DES HERAUSGEBERS

ANMERKUNGEN

I

Divertimenti und Variationen

DIVERTIMENTO NO I

Der Gräfin Lotte Paumgarten-Hohenschwangau gewidmet

1.

Man erinnert den ersten Dezember 1921 in Wien als einen Tag, an dem der Morgen für die mühselige Menschenmasse heraufgekommen war wie allemal, der Vormittag noch in Gleisen ablief; gegen Abend aber brachen Wut und Verzweiflung durch dünngewetzte, dem Druck nicht mehr gewachsene Umhegungen der Ordnung und des gewohnten Zwanges. Die Straßen schwollen an wie donnernde Ströme und die empfindlichsten Teile unbewegter Häuserfronten wurden eingedrückt und zerstört: durch die in schweren Stücken stürzenden Trümmer der großen Scheiben von erleuchteten vornehmen Läden, Kaffeehäusern und Restaurants raste die Menge ins Innere der Räume mit zerstörender Hand, mit jubelnd befreitem Fußtritt in Schaukästen und Gläserborde.

Adrian, ein junger Herr von zweiundzwanzig Jahren, ahnte nichts von alledem voraus, was doch manche zu jener Zeit immerhin als bedenkliche Möglichkeit ansahen. Er indessen hatte wenig Aufmerksamkeit für Bewegungen im Grundwasser der Stadt, er sagte, daß ihn»die Politik«nicht interessiere. Diesen Ausdruck gebrauchte Adrian herabsetzend, wodurch seine Gleichgültigkeit zum Range eines Vorzuges sich erheben wollte. Adrian war mehr mit sich selbst beschäftigt und hielt stets persönliche Angelegenheiten in Schwebe, die ihn völlig einnahmen. Seine Eltern hatten ihn aus Böhmen nach Wien geschickt um zu studieren, denn bei den damaligen Währungsverhältnissen konnte er hier seinen Lebensnotwendigkeiten besser Genüge tun als dies mit den gleichen Mitteln etwa in Prag möglich gewesen wäre.

An jenem ersten Dezember, den wir oben streiften, war Adrian früh auf, sein Kopf wurde zwei Stunden vor Tag unruhig auf den Kissen. Er hatte sich am vorhergehenden Abend um acht Uhr schon niedergelegt, aus Mißlaune und Ödigkeit. Um einschlafen zu können hatte Adrian eine ganze Flasche dicken schwarzen Bieres mühsam hinuntergebracht. Das ungewohnte Getränk war von erwünschter Wirkung gewesen, nach kurzem, dumpfem Übergang mit verworrenen Gedankenresten in den tiefen Schlaf schwemmend.

Er haspelte nun die Griffe des Waschens und Ankleidens ab, damit gleichsam noch den Schlaf verlängernd, der ihn so zeitlich entlassen hatte, aber wenig gestärkt und ausgeglättet. Seit vielen Monaten schien ihm sein Leben gleichsam zerknittert und geriet ihm unter den Händen immer mehr in Unordnung. Das Studium schritt zwar gleichmäßig fort mit jedem Tagespensum. Aber gerade dies wieder stach ihn. Denn hier war garnichts zu spüren von Vorbereitung und Weg zu einer außergewöhnlichen Leistung, welche Vorstellung bei seiner Jugend sehr natürlich den Kern der Zukunft ausmachte. Ihm hätte passender geschienen auch einmal tagelang in Ruhe zu faulenzen, um dann eine der Fragen seines Faches wirklich mit Zug und Schwung anzugreifen. Indessen dazu fehlte der Mut, er war zu träge zu solchem fruchtbaren Müßiggang mit folgendem Sprung nach vorwärts. Immer wieder werkelte er gleichhin weiter, ohne jemals wärmere und schärfere Fühlung mit der Sache zu bekommen.

Dann – wenn er etwa lasterhaft wäre, toll und über die Grenzen des Gewöhnlichen hinausschlagend! Aber nicht der Wein, nicht die Frau, nicht das Spiel hatten jemals scharf eingegriffen in seine Tage, spaltend und damit zu verändernder Bewegung drängend. Solche»Unordnung«im Sinne des Lebens hätte er heute willkommen geheißen. Indessen, es langte bei ihm nur zu kleinen, sich fortschleppenden Verkettungen: Mädchen, deren Freundschaft die Maske für den Wunsch nach eigenem Haushalt war; Frauen, die grundsätzlich dumme Bücher im Täschchen trugen und die grundsätzlich das Theater aufsuchten, wenn es dort fadenscheinigen Unsinn gab; Kameraden, deren langweilige Freuden er halb verdrossen, halb mitgenommen teilte. So zerrannen ihm die freien Abende in langer Kette. Und zu alledem kam noch die Geldnot, veranlaßt durch Ausgaben die nichts einbrachten. Weder Bewegung noch neues Erleben, nicht einmal Lust gewöhnlichster Art.

Er starrte in die Lampe und schob dann den Vorhang zurück. Grauer Flügel frühen Morgenlichtes lüpfte sich über dem Heer von Dächern. Dies Bild vom hochgelegenen Fenster brachte ein anderes herauf: vor Tagen, in der Oper – selten vernünftig gebrauchter Abend! – war sein Blick von der Galerie bei währendem Vorspiel in Rund und Tiefe gesprungen; und gerade da, in einem sehr ausgeprägten Zeitteilchen, hatte er so gefühlt, als trenne ihn eine nur dünne Scheidewand zuinnerst entzwei, die eigentliche Kammer seines Lebens, das er zu führen hätte, verhüllend: während er selbst im Geläuft der Tage und in Beschränktheit und Druck verblieb.

Indessen, diese Vorstellungen (wie vorüberschwimmender und versinkender Farbfleck im inneren Auge) belebten ihn nicht, waren nicht Antrieb, wiesen nicht Richtung, schimmerten nur trübe und schon verblassend durch die breiige Masse dieses Morgens, mit dem faden Biergeschmack noch im Munde und in klarer Erkenntnis der Tatsache, daß heute oder morgen zwar ein Monatswechsel eingehen würde, dieser indessen schon mit soviel Dringlichkeiten überlastet war, daß der restliche Betrag kaum noch den notwendigen Unterhalt für acht Tage darstellte. Adrian fühlte zugleich, daß auch dies ins Belanglose rücken würde, wenn es ihm zum Beispiel jetzt gelänge, die oben gestreifte zarte Vision zu verdichten, zu heben, zu greifen. Aber er sank zurück; wurde auch abgelenkt durch den schlurfenden Schritt seiner Quartierfrau und den sehr lebhaften Kaffeegedanken, welcher sich daraufhin sogleich meldete.

Er beschloß nach dem Frühstück mit Trotz heute nicht zu arbeiten, die Bücher liegen zu lassen, von den Kursen wegzubleiben. Indessen,»fruchtbarer Müßiggang«erwuchs ihm daraus nicht. Zunächst kam einmal die Rechnung vom Schuster. Und dann, nach einer Weile Herumstöberns im Zimmer, vertrieben ihn Besen und Wischtuch. Er bummelte durch die innere Stadt, besuchte eine Ausstellung und langweilte sich. Mittags finden wir ihn zeitlich beim Essen in einem Restaurant, schon ziemlich aufgerieben und zappelig. Hier trat ihm ein begegnender Kamerad unwissentlich nahe, der davon sprach, nun eine größere ersparte Geldsumme für das und jenes verwenden zu wollen, es war vorzüglich von alten Büchern die Rede. Adrian trennte sich bald von diesem Glücklichen und versaß danach einige Zeit im Kaffeehaus. Allmählich geriet er in verbohrte Gereiztheit. Ein allzu Eiliger rannte ihn an, als er wieder auf die Straße trat …»Diese Leute hab’ ich schon gern, die sich und ihre Affairen für allein wichtig halten! Da soll gleich jeder beiseite springen!«Es bereitete immerhin Genuß, dieses Vor-Sich-Hin-Schimpfen. Er fand einen Ablagerungsplatz für seinen teigigen Inhalt und erhöhte sich selbst zugleich, indem er diesen in eine Reihe von abfälligen Urteilen ausprägte:»Dumme Weiber! Jede prätendiert womöglich, daß jeder sie bewundern soll, sich womöglich dreimal umwenden! Diese Menschen machen sich doch alle gegenseitig etwas vor! Wie wichtig der Trottel dort dreinschaut …«Ihm wurde ein wenig heiß vom ständigen Gehen.

Die Straßen rasselten und wogten im dünnen Winterlicht, recht freudlos. Riesige Firmenschilder blökten ihre Namen hoch von Häusern herab. Adrian bemerkte garnicht den Zug in eine Richtung, den hier alles annahm, die Verkehrsmasse gleichsam flüchtend geschlossen, auch die Fußgänger, die entgegen kamen, im Strom vereinheitlicht, vom Zentrum der Stadt wegstrebend. Wo doch sonst jeder Einzelne vom wimmelnden Hundert auf der Straße seine eigene und verschiedene Richtung zu haben scheint. Das ständige Ausweichen-Müssen quälte Adrian, er fühlte sich da- und dorthin gestoßen und dadurch irgendwie beleidigt:»Ah! welches dumme, sinnlose Leben! Welche läppische Vitalität, die hier entwickelt wurde! Wozu? – ein Elend ist’s, ein Elend«– und damit meinte er sich selbst, wie er sich jetzt fühlte.

Nun brach geradezu Wut aus ihm. Er war jetzt von ziemlicher Leere und Stille umgeben, rannte aber in dieser Seitengasse verbissen drauf los, allerlei murmelnd …»in die Luft sprengen, den ganzen Dreck!«… Nun blieb er stehen. Sein Blick stach sich an hundert Kinkerlitzchen, die hier hinter einem Riesenwunder von Glasscheibe aufgebaut waren. Er starrte die Scheibe an wie einen Feind, aller bösen Wünsche voll und dabei ein dumpfes Brausen in den Ohren, welches er garnicht beachtete, er fühlte es wie aus dem eigenen Leibe kommend.

Rasche Bewegung schlug dunkel vor sein Auge. Drei, vier, zehn Menschen. Dann gab es einen scharfen Schlag: und mit ehren- und herzverschüchterndem Knall, Geprassel und Geklirr sank die wässrig-fließende Riesenfläche von Glas in sich zusammen, überraschend stofflich geworden, höchst grob aber in den schweren, dicken Scherben, die bis vor seine Füße tanzten.

Geheul und Getrappel füllten die Straße bis an die Dachkanten, eine Sturmflut von Menschen fegte herein. Wie die Schläge der Artillerie in den Lärm des Gefechtes, so fielen hier die knallenden und klirrenden Explosionen der eingedroschenen Scheiben von allen Ecken und Enden her in den Krawall. Pfiffe stiegen wie Nattern. Adrian wurde fortgerissen, erhielt leichthin drei Ohrfeigen und einen Tritt in’s Gesäß, und so taumelte er wie in einem bösen Traum durch diese Hölle, die da aus ihm selbst ausgebrochen war …? Es war wie eine Fortsetzung seiner selbst gewesen: ein Band aus seinem Innern, ja, hier innen festgemacht, das am anderen Ende dort außen mit hunderten von Fäusten raste. Ja, Adrian hatte irgendwelche sehr verworrene bildhafte Vorstellungen, während er nun, gottlob unbeachtet, weiterwankte. Langsam floß der rote Saft aus seiner Nase, besudelte Überrock und Hemd, aber Adrian ließ seine Arme hängen.

Er war gänzlich entkräftet und verschüchtert, gliedertot, fast ohnmächtig. Er sah aus nächster Nähe, wie ein Polizeibeamter mit gezogenem Säbel einem Menschen nachsprang, der durch die eingeschlagene Scheibe in ein Schaufenster gedrungen war. Hier hockte er nun und wollte eben einen großen Sack vollstopfen, hier hockte dieses raffende Wesen, umrahmt von den zackigstachlicht hervorstehenden Resten des Glases im Viereck, als die Klinge ihm über den Schädel fuhr.

Der Platz öffnete sich nun, hier war es ruhiger, nur Flüchtende hetzten vorbei. Über ihrer Hast stiegen die nach oben gewandten Massen des Domes in die sinkende Dunkelheit. Die tiefe Einbucht hinter einem der vortretenden Pfeiler barg Adrian gut. Er hätte zwar jetzt schon ohne Gefahr weitergehen können, durch die engen alten Gassen hinter der Kirche. Indessen dieser Ruhepunkt war ihm unentbehrlich. Er saß am Boden nieder in seiner Erschöpfung, als hätte er das immer so getan.

Sein Kopf trat wieder etwas in Klarheit nach einer Weile. Eben erkannte er den Gedanken, daß man ihn selbst wegen Anstiftung der Gewalttätigkeiten verhaften würde, als hellichten Unsinn. Das Brausen der Massen klang ferner; einzelne Rufe drangen noch gegen den Platz vor, der vom klappenden Laut rascher Schritte wiederhallte. Unter allem aber blieb in Adrian die Vorstellung eines Bandes liegen, das Band fühlte er jetzt weniger straff gespannt, es stieg aus der Leibeshöhle und trat beim Munde aus … Er hörte schon die ganze Zeit hindurch, die er hier sitzend verbrachte, ein leises Wimmern in nächster Nähe, aber auch das hatte er bisnun wie zu ihm selbst gehörig empfunden. Nun meldete sich Anteilnahme, ja er fühlte die Verpflichtung, nachzusehen. Nebenan dort, hinter dem alten Grabmal, zuckte etwas auf und ab …? Ein Haarschopf, und zwar zu einem weiblichen Kopf gehörend. Dies veranlaßte ihn gleich, sich aufzuraffen und die eigene Stellung etwas zu befestigen, bevor er helfend eingriff.»Ja, was ist mit Ihnen, was ist Ihnen geschehen, sagen Sie doch! Verletzt!?«Er half ihr jetzt auf, sie war seitwärts auf den Knieen gelegen.»Beruhigen Sie sich nur, es geschieht Ihnen ja nichts mehr. Nun bringe ich Sie nachhause, ja, nur ruhig.«»Nein, nein«, flüsterte sie jetzt und Adrian erkannte, daß es eine nicht mehr ganz junge blonde Frau war (oder schien sie nur älter durch Blässe und etwas verzerrtes Gesicht?),»nein, nein, mir ist weiter nichts geschehen, nur ein paar Glassplitter, da –«Sie wandte die rechte Seite des Gesichtes herüber, da gab es ziemlich viel Blut.»Soll ich vielleicht – die Ambulanz …?«sagte er verwirrt.»Oh nein, nein, oh nein – nur nachhause – um Gotteswillen, Sie sind ja ganz blutig, ja, ja, auch Sie, auch Sie lieber Herr, und die armen Menschen denen alles zerschlagen worden ist, oh, oh, und der große Neid … und dabei so an allem Schuld sein, wie ich, Jesus Maria, ich bin ja an allem schuldig, das ist offenbar … ah! (jetzt schrie sie) die Angst! die Angst!«»Was denn, was denn?!«sagte er sehr laut, fast barsch, der kräftige Klang eigener Stimme war Rettung. Dies hier, da unten am Riesenschatten des Domes, das wurde zu viel – ein ganz ähnliches Gefühl wie im Traume, wenn man stürzt und die maßlose Beschleunigung und das Versinken nicht mehr ertragen kann.»Jetzt werde ich sie nachhause bringen, ja!«Er lauschte.»Es wird ja schon fast ruhig. So. Nun kommen Sie aber. Wo sind Sie denn daheim?«Sie sagte ganz schüchtern ihre Adresse, wie ein Schuljunge, den der Schutzmann aufschreibt. Sie gingen ein Stück Weges, tauchten in die engen Gassen; dann fand sich zum Glück ein hierher verschlagenes Mietautomobil. Man mußte vorsichtig und auf Umwegen fahren.

Äußerlich umgrenzbarer Rahmen ihres Lebens, aus welchem (ein wenig herausgefallen) sie neben ihm am Riesenschatten des Domes notlandend angeweht worden war, läßt sich kurz geben wie folgt: sie hieß Rufina Seifert und saß ihre Existenz ab in jener Berufskategorie, für welche man in Wien den Ausdruck»Sitzkassierin«hat. Wesen dieser Art werden im Kaffeehause durch einen kleinen Aufbau mit Spiegeln gegenüber der Türe hervorgehoben und von den Gästen in Respekts-Abstand gerückt; weitere Gliedmaßen einer Sitzkassierin sind zwei Messing- oder Nickelpagoden zu beiden Seiten ihres Kopfes; auf diesen Pagoden stehen die kleinen Metall-Näpfchen mit den Zuckerportionen, ferner wohlangeordnete Schnapsgläser. Eine Sitzkassierin erhebt sich von Zeit zu Zeit, aber nur halb und dabei nach rückwärts gewandt: so nimmt sie Liqueurflaschen aus dem Wandschränkchen. Die erforderlichen Mitteilungen erstatten die Kellner. Sie selbst steht den Wünschen der Gäste noch unpersönlicher und kritikloser gegenüber als jene. Sie unterbricht ihre Rechnungen und reiht ruhigen Blickes Gläschen auf, mit bemessenem Schnaps gefüllt. Sie lebt in einer fettfreien und darum etwas sterilen Atmosphäre von Zucker, Kaffee, Cointreau, Kümmel, Glas, Messing, Nickel, Marmor.

Das Kaffeehaus, in welchem Rufina solchermaßen eingerahmt amtierte, hatte drei Fronten mit großen Scheiben, die sämtlich an jenem Ausbruchs-Tage in Brüche und Scherben gingen. Und zwar an allen drei Fronten fast gleichzeitig. Rufina hatte Gewalttätiges kommen gefühlt, beim ersten Zeichen der Unruhe draußen, und Angst war wie quellendes Grundwasser hochgestiegen in ihr Bewußtsein, als noch kaum einer von den anwesenden Gästen die Zeitung oder den Billardstock weglegte, um in durchaus alltägliche Form gefaßt auf die Straße hinauszublicken, was denn eigentlich los sei? Dieses Gebaren der bekannten Herren, des Herrn Doktor, des Herrn Planinger und des Herrn Prokuristen Joelschig, konnte aber nur ein schwächliches Häutchen der Beruhigung spannen über die tiefere Erregung in ihr, welche wellenweis wuchs. Scham befiel sie bis zum Zittern: nun sollte all’ ihr geheimstes Denken vielleicht durch die Wirklichkeit aufgedeckt werden vor diesen Herren, welche sie doch alle kannten, stets höflich begrüßten – so gehörte es sich ja auch, zu nahe treten durfte ihr gewiß niemand. Aber diese festigenden Vorhaltungen blieben in Schwäche wie ein Spinnennetz vor einer Rohrmündung, aus der jeden Augenblick ein armdicker Strahl vorschießen kann … Sie füllte Gläschen, gab Zucker aus, sie bemerkte, daß Herr Max, der Oberkellner, jetzt nicht das üblich zuwartende Gesicht trug, während er vor ihrem erhöhten Sitz stand. Er drehte sich in immer kleineren Pausen um, sah hinaus, streifte dann ihre Beschäftigung wieder mit dem Blick, sah gleich wieder hinaus …

Da malte sie nun mit ganz besonders schönen Ziffern die Eintragung, wie um noch alles damit zu versöhnen, sie gab ihre ganze Aufmerksamkeit hin, zog den Kopf zwischen die Schultern – indessen, nun hob sich ein Geheul wie Brandung, bald darauf schwere und dunkle Bewegung draußen mit wildem Lärm, der alle Ohren vollwarf. Dutzende von Sesseln wurden plötzlich gerückt, Rufina sah auf und gerade in diesem Augenblick brachen die hohen Scheiben links und rechts als Katarakte von Splittern und Scherben in den Raum. Und dahinter die Menschenmasse. Rufina sah noch den oder jenen über Sessel und Tische springen, einen anderen in abwehrenden, verzerrten Bewegungen, die nichts mehr zu tun hatten mit der gewohnten Umrißerscheinung dieses Gastes.

Sie kroch unter ihr Pult. Sie hielt die Röcke krampfhaft zusammen, preßte den linken Arm vor den Busen. Jeden Augenblick erwartete sie herausgezogen zu werden und – – Ein prasselndes Getümmel erfüllte den Raum, mit dumpfen Schlägen fielen die Marmortischchen. Jetzt war das dicht um sie her, man plünderte offenbar die Kasse mit den Vorräten aus; niemand beachtete sie, man bemerkte sie wohl garnicht, der Raum unter dem Pult war tief genug, sie zu verbergen. Und nun wurde es plötzlich stiller. Rufina wartete. Aber plötzlich brach sie dieses Warten tief erschrocken ab, fuhr aus ihrem Versteck hervor und rannte mitten durch das Lokal (aus dem schon die Menge abgeflutet war, nur mehr Einzelne stöberten herum) auf die Straße und weiter, bis dahin, wo wir sie eben gefunden haben. Bei dieser Flucht war es, daß ein Splitterregen sie traf und verletzte.

In folgenden hellen Wintertagen verlegten sich Adrians Wege in der Stadt so rasch, daß er dies erst recht gewahrte, als die fremden Straßen, der ungewohnte Stadtteil – bisher leere Flecke ohne Beziehung in seinem inneren Bild von Wien –, ihre frischen Kanten bereits wieder zu verflachen begannen und schon gänzlich anders aussahen wie damals, als er zum ersten Male hierhergekommen war, mit der Verwundeten im Wagen, an jenem Abend des ersten Dezember. Anderes starb dafür ab: unter immer mehr deckender Schicht neuen Eingenommenseins verloren frühere Gassen und Räume – wie verlassenes Bachbett – das Zeichen alltäglichen Gleises in ihm, sanken wiederum zurück in die Stadtmasse.

Rufina, bald wieder arbeitsfähig, wenn auch mit leicht verbundenem Kopf, saß am alten Platze in sonderbar veränderter Umgebung. Man hatte die riesigen Fensteröffnungen, welche ohne Glas fast den Raum der Gasse gleich gemacht hätten, nun gänzlich mit Brettern verschlagen. Das elektrische Licht brannte daher auch Tags über, und so entstand eine dunkle und warme Abgeschlossenheit gegen die Stadt, deren Rasseln im Winterlicht ja gleichsam härter gefühlt wird als in Wärme und Sonne. Von einigen Stammgästen wurde der Zustand als im Grunde recht behaglich bezeichnet, und auch Rufina empfand Erleichterung und dachte so etwas wie»gut sind die dicken Bretter, da ist der Neid ausgeschlossen, denn man kann ja nicht durchsehen.«Im übrigen hing mit dieser Vorstellung von den Brettern auch ein Schritt zusammen, den sie in den nächsten Tagen unternahm. Josefine Pauly, eine Berufsgenossin Rufinas in einem nahegelegenen großen Café, war eben in letzter Zeit vor jenem Ausbruch ihrer Entlassung gewärtig gewesen. Infolge des schlechteren Geschäftsganges hatte sich nämlich ihr Chef entschlossen nur mehr eine Kassierin zu behalten und deren notwendige Ablösung durch seine Frau besorgen zu lassen: von letzterer war dieser Gedanke ausgegangen, und vielleicht war da noch anderes im Spiele? Josefine versicherte jedenfalls ihrer Freundin Rufina, sich keiner Schuld bewußt zu sein. Jenes Café nun war durch seine etwas abseitige Lage und durch glücklichen Zufall vor Schaden bewahrt geblieben, vielleicht auch in der Tat nur durch die Geistesgegenwart des Marqueurs, der mit eben vorhandener Leimfarbe beim Herannahen der Menge von innen rasch einige Sprünge in jede Scheibe gepinselt hatte, so täuschend, daß die Demonstranten hier sozusagen ihre Arbeit schon für getan hielten. Mit alledem also hing es zusammen, daß Rufina an den Chef ihrer Freundin einen Brief richtete, in welchem folgende Sätze vorkamen:»Weil Ihnen also durch die menschliche Entwertung, welche der Neid herbeiführte, keinerlei Schaden gemacht worden ist, werter Herr, so möchte ich Sie für meine liebe Freundin Josefine Pauly, welche ein sehr reiner Mensch ist und brav, inständigst gebeten haben, daß Sie nämlich selber Josefine Pauly nicht möchten kündigen, was doch mitten im Winter besonders hart wäre, werter Herr. Da Sie ja doch dem Schaden entgangen sind und mehr noch, denn wir müssen hier auch über den Tag das Elektrische brennen haben, wodurch hintennach noch täglich das Geld verschlungen wird. Möchte darum inständigst gebeten haben.«Der Chef dachte:»Unsinn, Scheiben versichert, war übrigens gut auch trotz der großen Erhöhung der Polizzen noch weiter zu bezahlen. Na, mit dem Licht hat sie übrigens Recht.«Er entließ gleichwohl Josefine Pauly. Dies hatte zur Folge, daß die Seifert noch viel mehr unter Druck geriet, und dabei war es unwesentlich, daß sie nun einen Teil ihres monatlichen Geldes der Pauly überließ. Dadurch konnte nichts gut gemacht werden (wie ihr schien), und das dunkle Gewebe aus ihren häufigen, dem Unglück voraus gegangenen Gedanken, dem schrecklichen Neid, der eigenen»menschlichen Entwertung«, und dem damit zusammenhängenden merkwürdigen Hocken und Warten unter dem Pult, verknüpfte sich immer schwerer und schuldvoller.

Adrian und Rufina trafen sich fast täglich. Er wartete auf sie, wenn sie dienstfrei wurde, und wenn Rufina bis zum Nachtschluß des Kaffeehauses bleiben mußte, holte er sie ab und brachte sie an ihr Haustor. Nur zweimal war Adrian oben in dem Zimmer gewesen, welches die Alleinstehende bewohnte: an jenem Abend des ersten Dezember einige hastige und beschäftigte Minuten, er hatte dann gleich den Arzt geholt, und bei seiner Rückkehr schon die durch ihn alarmierte Hausbesorgerin sowie die Quartiergeberin der Seifert um diese bemüht gefunden; so hatte sich Adrian damals als Überflüssiger davongemacht. Indessen am nächsten Tage war er doch wiedergekommen, um sich zu erkundigen.

Merkwürdig genug und fast romanhaft berührte ihn der Zufall, der einen wohlhabenden Onkel gerade in jenen Tagen mit ihm auf dem verwüsteten»Graben«zusammenstoßen ließ. Dem Provinzialen, einem geradezu berufsmäßigen Schulterklopfer voll Bonhommie, war der Neffe als Gesellschafter und Führer willkommen, bei großstädtischer Unterhaltlichkeit, welche durch den Zwischenfall wenig getrübt schien; und die gute Stimmung des Beleibten brachte es überdies noch dahin, daß Adrian selbst jener peinlichen Bitte überhoben ward, zu welcher er sich im ersten Augenblick sofort entschlossen hatte, als er des anderen über den Gehsteig ansichtig geworden war – der Onkel überreichte selbsttätig mit launiger Bemerkung ein schwerwiegendes Geldgeschenk, welches in Adrians diesbezüglicher Lage völligen Umsturz schuf. Zu alledem sank in der Folgezeit sein Bedarf auf ein nie erreichtes Mindestmaß: er verließ frühere Kreise oder zumindest deren lärmenden Teil, und damit gerade verschloß sich ein Leck seiner Börse. Es kam so nach bewegtem Übergang eine gesammeltere Zeit.

2.

Sie sagte über sich selbst niemals irgend etwas aus. Was er wußte, hatten die Umstände der Begegnung ihm verraten. Oft, wenn sie neben ihm durch die Straßen ging, griff er mit dem Blick rasch seitwärts, über Antlitz, Schultern, Hände, gehende Füße; und diese gehenden Füße rührten ihn auf eigentümliche Art, er hatte dergleichen früher niemals empfunden. Dann, nach solchem rasch streifenden Versuch sie genauer ins Auge zu fassen, legte sich sein Blick an ihr wiederum vorbei in die vielbewegte Stadtmasse hinein, vor deren Grund er ja die neue Freundin sah, meist in den Straßen, oder in einer Anlage, durch deren kahle Bäume die Lichter traten, stillstehend oder sich fern und nah verschiebend. Hier war es einmal, daß er auf jenen Tag zurückkam, der sie zusammengeführt hatte; und in der Art seiner Jahre, denen es ja eigen ist, alles in raschbereite Formen zu gießen und diese mitunter auch anderswoher zu beziehen, ließ er sich (oder eben das, was an fremden Resten in ihm hing) breit aus in der Richtung: öffentliche Sicherheit, soziale Fragen. Er sagte:»Freilich müssen die Führer hintennach zugeben, daß sie über die Massen sozusagen die Gewalt verloren haben, wodurch ganz gegen ihre Absicht diese politische Demonstration in eine allgemeine Plünderung ausgeartet ist. Aber wenn es mit der ›Parteidisziplin‹ nicht weit her ist, wie sich zeigte, dann sollen sie eben ihre Leute nicht auf die Straße führen! Überhaupt, dieses Auf-die-Straße-Gehen reißt bei allen Gruppen immer mehr ein – sinnlos und albern! Aber den Lärm hätte ich nicht mögen hören, wenn die Sicherheitsbehörde etwa von vornherein diesen ganzen Umzug verhindert hätte, was gewiß das Klügste gewesen wäre! Jetzt natürlich ist es Wasser auf die Mühlen der Gegner. Merkwürdig genug übrigens, woher die Leute auf einmal Rucksäcke genommen haben. Na! was da alles zugrunde gegangen ist!«(Und so weiter, gleiche Tonart, er fühlte sich recht wohl und vernünftig dabei.) Rufina sagte nichts, sie hatte ja garkeine Meinung in dieser Weise wie er, sie …

Ohne seine Worte überhaupt im einzelnen zu beachten, zu verstehen, duckte sie doch gerne unter diese ruhig-beredende Tonart, wandte sich doch gerne aus sich selbst heraus und zu ihm, wie ein Gefangener aus seinem Kerker blickt. Aber schon stieg die Angst undämmbar wie quellendes Grundwasser in ihr hoch.

Adrian blickte von ungefähr zu ihr herab und das Redeband riß ihm von den Lippen: dieses blasse, etwas dickliche Blondinen-Gesicht schaute ihn da von unten an, wie aus einem tiefen Schacht herauf und aus einer Not, die er nicht kannte. Er sagte nichts mehr; indessen begann jetzt sie leise zu sprechen, etwas farblos (in solcher Art wie jemand, der eine fremde Sprache spricht, die er nicht völlig beherrscht):»Weißt’ halt Adrian das werd’ ich schon nimmer los ich seh’ schon – so oft ich über die Kärntnerstraße gegangen bin war es so mit den Bettlern wie kann ein Mensch das begreifen daß man solche arme Krüppel noch bitten laßt und auf der Straße liegen und steigt noch über sie weg daß er grad’ noch den feinen Parfum riecht und is’ grad’ a so ein Mensch mit Augen wie du und ich auch aber ganz gottverlassen wie in der Sahara und ich hab’ es so oft gedacht daß einmal was geschehen wird wie ein Gericht und wär schon recht so das hab’ ich oft gedacht und immer wieder vielleicht mir gewünscht daß die armen Leut in der Stadt da einmal sollten aufstehen. Aber doch bin ich eine schlechte Person denn warum hab’ ich es gewünscht? Weil ich eine neidige Person bin und … ich bin unter die Kass’ gekrochen wie das los ’gangen ist aber dort hab’ ich … doch alles um meinetwillen! Und woher kommt’s denn!? Von dera menschlichen Entwertung, Jesus Maria, so ist eins am andern schuldig!«

Diese letzten Worte brach sie stöhnend und weinend aus sich heraus, mit schwerer Betonung, während doch früher ihre Rede so hingeflossen war wie ein trauriges Rieseln, ohne jene leichten Senkungen selbst an jenen Stellen wo man etwa, schreibend, Beistrich und Strichpunkt setzen würde: in Adrian indessen widerhallte das bis in dunkelste Gänge; die Beschämung war das Erste gewesen, aber sie sank rasch zusammen vor dem sich nähernden Licht, so wie Schatten erst riesengroß sich aufheben und schwanken und dann wieder vor den Füßen zusammenkriechen, wenn jemand mit einer Laterne auf uns zukommt.

Im währenden Beisammenleben der beiden gingen so Wochen und Monate hin, sie gingen für Adrian schön hin und er fühlte sie wie ein Steigen in eine freie Wölbung hinein, so daß ihm, mit jetziger Bewegung verglichen, das frühere Dasein wie in verstaubter Rumpelkammer verbracht erschien, so als ob er dort immer wieder irgendwelche nebensächliche, lebensraubende, verbrauchte Dinge zwecklos hin und wider geräumt hätte. Aus Neuem erfloß Neues: er arbeitete mit Schwung, fast mit Feuer. Das Leben wuchs aus hundert bisher versickernden Kanälen zum Strom, der trug und nährte.

Schon sandte der Jahreswechsel geheimen und stillen Wandel mitten in den Lärm der Stadt. In einer abseitigen Gasse etwa lag einen ganzen langen Nachmittag hindurch Sonnenschein über allen Kanten. Oder auch, mitten im Donner und Rasseln der wimmelnden Steinschluchten: da oben leuchtete ein Giebelstück vor zartblauem Himmel und dann floh solches Licht über Platzbreiten und tief in Straßenfernen hinein und spaltete sie auf vor den in Steingrau befangenen Augen. Wie bald hatte sich das Frühjahr vollendet! Das Grün schlug aus Gassenschluchten und Höfen auf wie Flammen und die Gärten trugen es schon in Fülle, aber noch glasig und durchsichtig, ohne den dunklen Kern der Reife, es schien noch ganz dem zerfahrenen Himmel verwandt und dem wässerigen Rot, das nun gegen Abend schief in die Fenster schien und in den häufigen Regenlachen lag.

Den vielen (seit dem ersten Dezember) mit Brettern verschlagenen großen Fensteröffnungen in der Inneren Stadt war das Glas wieder nachgewachsen, gleichsam unter diesen Brettern wie unter einem Verband. Der fiel auch an den meisten Stellen, kühn blitzte neue Pracht, spiegelte Menschen, Wagen, weiterhin das schwer und verzerrt hereinfallende Straßenbild. Rufina Seifert saß in Taglicht und Helle und sie nahm daraus noch einige Hoffnung ihrer Wirrnis zu entgehen, sich daraus zu ergießen, wie ein weißer schäumender Wasserfall aus der finsteren. Felsenschlucht vorbricht in helle freie Landschaft; sie begann sich erst gegen Dunkelwerden zu fürchten, wenn, nach heftigem Erglühen hochgelegener Fensterreihen, der lauter rauschende und mahlende Straßenabend den scharfen Schein seiner Bogenmonde auf dem Pflaster platzen ließ.

Es kam eine Nacht, die sie bei Adrian in seinem Zimmer verbrachte, es kam so von selbst, es geschah, ob sie es gleich nicht wünschte oder heftig weigerte, ihr lag wenig hinter alledem und er hatte sie so oft gebeten. Da hatte er sie nun in den Kissen und ihr verschrecktes Antlitz unter ihm war seitwärts gewandt mit geöffneten Augen die nichts zu sehen schienen; und inmitten aller Stürme, die ihm den Leib über das Rückgrat dehnten als sollte dieses springen wie ein zu stark gespannter Bogen – unter alledem lag sie wie hinausgewandt aus diesem Bett und irgendetwas Entferntes mit Trauer suchend und mit wenig Hoffnung.

Dieses Zimmer hoch über Dächern, kleine Zelle, jetzt Wärme bergend und Schlaf … Gegen Morgen fühlte Adrian ihre Bewegung neben sich und aus seinem ersten Dämmern und Wiederfinden quoll ihm schwer die Süßigkeit dieses Lebens; indessen hatte sich Rufina schon erhoben, sie öffnete das Fenster. Er sprang fröhlich aus dem Bett und zu ihr. Vor irgendwelchem hohen Punkt ließ im Frühlicht eine Amsel ihre Fanfaren steigen, während ein unsichtbarer aber mächtiger Vogelchor mit kühler Gleichmäßigkeit triolenweise drunterpfiff. Adrian umarmte die Geliebte, die (wie manche blonde Frauen nach solcher Nacht) jetzt am Morgen sehr frisch aussah. Er sprang danach mit einer Wasserkanne in die Küche, aus dem Bedürfnis sich nun völlig wach und klar zu machen, dieser reizenden Stunde wegen. Der Strahl trommelte dumpf auf den Boden des Gefäßes, in welchem das Wasser rauschend stieg.

Da erschien Rufina in der offenen Türe. Sie erhob die Hände wie in dringender Bitte und Abwehr und preßte dann die Handflächen gegen die Schläfen und Ohren. Er schloß den Hahn um zu hören, da er glaubte, sie wolle ihm etwas sagen. So standen sie beide durch Augenblicke regungslos, er, die eine Hand am Wasserhahn und mit der anderen die Kanne haltend, das Gesicht mit dem Ausdruck erstaunter Frage zu ihr nach rückwärts gewandt; sie aber, erstarrt in ihrer Stellung verharrend. Endlich kam er auf sie zu, zog sie ins Zimmer zurück.»Was ist dir, Liebling?«sagte er. Sie wankte. Ihr bleiches Gesicht war verfallen, die weit offenen Augen führten wie Tunnels tief hinein. Die blonden Haare standen etwas spröde, gleichsam gesträubt von ihrem Haupte ab. Sie schwieg. Die Vögel lärmten draußen. Das Zimmer war noch nicht völlig taghell. Adrian warf einen scheuen Seitenblick durchs Fenster auf die schmutziggraue Stadtmasse hinaus, die stumpf in den Tag rückte. Eine Beklemmung von tief- und weither strich ganz herznahe an ihm vorbei, nur einen Augenblick lang. Jetzt plötzlich, lächelten sie beide, es war wohl auch nichts anderes zu tun … er umfing sie, geleitete sie zum Bett.»Was ist mit meinem lieben Leben?«fragte er zärtlich. Sie sagte:»So merkwürdig … weißt’ ich vertrag’ nämlich grad das nicht wenn eine Wasserleitung so stark rauscht Gott das macht mir so Angst weißt da hab’ ich halt a Abneigung ich glaub’ alleweil es schießt dann auf einmal der Strahl gleich armdick heraus und füllt das ganze Haus an … und dann weißt’ … ich hab’ auch amai a Spinnweb vor’m Rohr gefunden, da hat mir graust …«»Was denn, was denn, Kindl, du träumst ja noch!?«»Ja vielleicht hat’s mir nur träumt denn wie kanns denn das geb’n a Spinnweb vor der Wasserleitung … ja das wird mir sicher träumt hab’n, sicher hat mir alles träumt!«

Er küßte sie, streichelte sie; nun, während der Vogelchor draußen so mächtig lärmte als wären es nicht mehr zahllose Geschöpfe mit winziger befiederter Brust, sondern ein einziges Orgelwerk mit hohen Pfeifen, während dieses Aufrückens des natürlichen Tages, tauschten sie über die unerbittlich trennenden Körperwände hinüber dennoch, was eben eins dem andern an Zärtlichkeit geben konnte.

Sie sagte über sich selbst niemals etwas aus; und sie griff auch Dinge und Vorgänge gar niemals resolut urteilend an und hatte ihre Aufmerksamkeit bei allem anderswohin gerichtet, Adrian hätte nicht angeben können, worauf eigentlich. Merkwürdig genug, er ertappte sich einmal bei dem Gedanken, daß Rufina vielleicht schwachsinnig oder dumm sei; so sehr war auch er an die Gedankenlosigkeit der intelligenten Menschen gewöhnt, welche ja, wie bekannt, zum Weiterschnurren des endlosen Paternosterwerkes unumgänglich notwendig ist. Dennoch, der Haken hielt nicht, wenngleich Adrian noch an ihm hing, vielmehr strebte er der Geliebten geradezu nach und sagte ihr das auch mit ehrlicher Begeisterung, wofür die aber nicht einmal den Schimmer eines Verstehens aufbringen konnte.

Adrian also ließ eine Reihe von sicheren Handgriffen los, die er alltäglich getätigt und über deren Herkunft er sich nie ausgeforscht hatte, oder eigentlich, er versuchte, sie loszulassen. Auch unter heroischem Verzicht auf eine beträchtliche Menge geistiger Güter, die ihn stets gut gekleidet hatten und zu allerlei dienlich gewesen waren.

Die Jahreszeit führte schon aus der Stadt, deren Rand jetzt völlig der frei wegwogenden Landschaft untertan wurde. In sie hinaus, in die grüne Masse die sich wogenweis breit ins Auge wälzt, fallen entfremdet und fassungsunfähig die feiertäglichen Blicke der Menschen. – Rufina und Adrian sitzen in einem Wirtsgarten. Gegenüber auf dem Platz das alte graue Kirchlein und daneben ein dunkelfarbenes Haus mit liebenswürdig schiefem Gesicht: zwischen beiden mündet das enge Gäßchen heraus, dem sich schon später Schein entzieht, er liegt noch beim Glockengebimmel auf buckligen Steinen. Plötzlich – als sichtbar gewordenes helles Läuten aus vielen Tönen und wie herbeigerufen durch dieses – sprudelt aus dem Gäßchen ein Kinderschwall in weißen Kleidchen, viele Kleinmädchenbeine eilen im rosa Licht, das eben schon vom Pflaster abrückt, über den Platz: als wäre dort zwischen Kirche und Haus plötzlich eine Quelle entsprungen, als spülte sie nun mit reiner Flut da heraus.

Irgendein Schulausflug, oder Arbeiterkinder, oder sonst kleine Menschheit die (noch) nicht im Paternoster fungiert. Sie singen. Das ist sehr schön, gänzlich einfach, wie etwa Himmelblau ist, und weiter nichts: hört man es, heißt man es zuinnerst gut.

Adrian redet dann irgendetwas.»Ja, man kümmert sich jetzt überhaupt mehr um die Kinder, ich meine in der Öffentlichkeit. Es gibt doch schon eine ganze Reihe von Korporationen, zum Beispiel …«

Sie sieht über den Platz, der sich nun wieder leert, da rechts hüpfen noch zwei, drei kleine Wesen, sie halten sich an den Händchen, weg sind sie. Letzter Abendschein hat auch den Platz verlassen. Die Wärme liegt schwer zwischen den Bäumen, deren Laub durch die Lichter im Garten schärfer grün erscheint. Rufina sagt jetzt langsam:»So merkwürdig – weißt’, wie die Kinder da herauskommen sind hab’ ich immer an so einen schönen Wasserfall im Gebirg’ denken müssen das kommt auch so rein und hell aus die dunklen Felsen, sowas hab ich sicher amai g’sehn wenn ich nur wüßt wo aber das muß ganz dahint’ g’wesn sein so ganz dahinten irgendwo ich mein’ halt es ist schon sehr lang her …«

Rufina sah beiseite; der Schein eines Gaslichtes meißelte ihre Züge fahl aus und das brachte in Adrian plötzlich lebhaft ihr Bild herauf, wie er sie da am Riesenschatten des Domes gefunden hatte. Jetzt erst bemerkte er auch, daß sie gänzlich verstört vor sich hin starrte.»Aber!? was hast du denn?!«»Mir ist so unheimlich«, sagte sie leise und klagend,»so unheimlich.«Da liefen ihr die Tränen über beide Wangen. Er küßte ihre Hände, immer wieder.»Erzähl’ mir was!«sagte sie, schon heiterer. Und Adrian begann ihr irgendeinen Schwank aus seinem kurzen Leben zu erzählen, irgendeine Geschichte, die er anderwärts schon oft zum besten gegeben hatte, für die eine bestimmte Form des Erzählens schon in ihm bereit lag, vielleicht nicht mehr ganz und gar der Wahrheit entsprechend, aber lustig, erheiternd, sozusagen fertig gefaßt und erzählbar.

Mitteninne aber schwieg er. Und sah im Geiste den Schauplatz der Handlung (den Garten einer Villa im Herbst) und jetzt auf einmal schien ihm das viel wichtiger, woran er mit seiner ausgefahrenen Erzählung sozusagen vorbeilief: das war gleichsam frisch geblieben, wie gehäutet … Da verwirrten sich seine Gedanken ein wenig.

Und plötzlich gab es einen leichten Schreck in ihm.

Rufina sagte:»Geh’ erzähl’ doch weiter, das war so nett, jetzt bin ich wieder ganz lustig!«

Mit der Zeit die nach dahinten verbraust, in großen Stücken und Schwüngen des Lebens hingeworfen oder in zahllosen dunklen Splittern – mit der vergehenden Zeit legte sich so überraschend schnell der Sommer dunkler und schwerer in das mädchenhafte Frühjahr. Und wenn dieses schon die Stadtmasse, die grau im Winter verschlossen rasselte, gegen die Landschaft zu aufschloß, so drängt sich jetzt das reife und satte Wogen mit Duft bis in die engste Gasse. Dort draußen stauben schon die Straßen weiß und ein einzelnes Fenster eines Gehöftes sammelt etwa – plötzlich entbrennend! – alle Weißglut in seine Scheibe, die querüber Maisfelder und Äcker durch die Ebene blitzt, bis zu dem ersten Hügelschwung hinüber und bis an die beginnenden Berge, die schon höher und verschleiert ansetzen.

Und die Stadt sinkt in den Sommer wie in ein auflösendes Bad. Hochauf werfen sich die Nächte: Steinmassen, nach oben in die Helle des Mondes gewandt, streben ihnen nach, wachsend, steigend, entfliehend jener engen Pressung, die im grauen Winter ihre Natur war. Ein wilder Aufstand pflanzlich-dufthauchenden Lebens ist allenthalben zwischen ihnen ausgebrochen, drängt und wogt in den Gärten um bunte Lichter und Musik, läuft durch die breiten Straßen mit ineinanderschattenden Bäumen, die unter ihrem dichten Laub eine Mondnacht in Schwarz verwandeln und sie außerhalb wie gleißenden Panzer hervortreten lassen. Und die meisten Nächte sind so hell und dünn, sie umschließen die Menschen nicht dicht genug zum Schlaf, diese werden wie Häuser, deren Fenster nach allen Seiten offenstehen und so sind nächtlicherweile Gassen und Gärten belebt.

3.

Rufina fürchtete den leeren Abend, der ihr heute bevorstand (Adrian war aus irgendwelchem Anlaß abgehalten, Verwandte hatten ihn aufgesucht?), Rufina fühlte Angst ohne darüber sich zu verwundern, sich zu befragen.

Alles verließ sie heute; die Gasse in der sie wohnte zog ihre Häuser verschlossen in sich zurück; auf der Treppe kein Mensch, das Haus still, alles Leben hinausgewandt in dünne helle Sommernacht, wohl irgendwo in Fröhlichkeit zusammengeströmt. Auf dem Gang fiel Tropfen nach Tropfen aus der Wasserleitung, in der Stille jedesmal hell und metallisch durchs Treppenhaus hörbar.

Auch von Rufinas Quartierleuten war niemand zugegen; sie empfand plötzlich tiefe Schwäche, sie fühlte etwa, daß es nun am besten wäre einfach auszulöschen, unterzutauchen, zu sterben, nicht hier in diese Stille noch ein überflüssiges Loch zu reißen: ganz und gar sinnlos.

In diesem Augenblick, als sie eben das Licht in ihrem Zimmer einschalten wollte, in dieser winzigen Zeitspanne zwischen dem Griff an den Taster und dem Wegspringen des Lichtes von der Glühbirne in alle Ecken – gerade da erschien ihr das enscheidende Zeichen der Vernichtung, gerade da riß sich jenes Tor auf, an dem sie bisnun und in letzter Zeit immer angstvoller vorbeigeschlichen war.

In jeder von den vier Ecken des Raumes hatte Rufina einen Pferdeschädel erblickt: gebleichter Knochen, aus dem Dunkel bleckend. Die vier Schädel in gleichzeitigem langsamen Nicken:»Ja, da sind wir wieder.«

Sie brach in der Mitte des nun erleuchteten Zimmers vor dem Tisch zusammen.»Adrian!«winselte sie; er vielleicht hätte ihr jetzt helfen können. Noch einmal in Verzweiflung aufbäumend erinnerte sie mit Gewalt seine vernünftige, beruhigende Sprechweise, jetzt glaubte sie fast, die Stimme zu hören. Aber es entschwand ihr wie ein schwacher Rauch. Und da fand sich Rufina im alten Elend wieder, völlig in dessen Kreis gefangen. Wahrhaftig, sie kommt auch garnicht auf den Gedanken, hinauszugehen aus diesem Zimmer, gleichgültig wohin, in ein Kinotheater, in ein Café mit Musik. Ihr sind diese vier Wände jetzt wie zusammengewachsen mit dem eigenen Schädeldach und nur ganz da innen ist noch eine kleine Höhlung in der dicken harten Masse und darin sitzt sie und darin gibt es überhaupt keinen anderen Gedanken mehr als das, was diese vier Pferdeschädel bedeuten: die Erinnerung an das Jahr 1919, die Erinnerung an jene Zeit, die sie auf der psychiatrischen Klinik verbracht hatte. Die Erinnerung – so nennen wir es. Aber für den gegenwärtigen Zustand der Rufina Seifert ist das eine falsche Bezeichnung. Gänzlich zerriß ihr die Wand zwischen jetzt und einst, so daß sie dieses Stück ihrer Vergangenheit nicht mehr beim Namen nennen konnte, etwa ab:»Im Jahre 1919 wurde ich als Geisteskranke auf die Klinik gebracht; ich litt unter folgenden Wahnvorstellungen: bei Nacht einen Pferdekopf zu haben; lebendig begraben zu werden; außerdem hielt ich meine Schwester für einen schwarzen Hund.«Nein, sie hatte keine Armeslänge mehr Abstand von alledem und daher auch keinen Namen dafür; sie selbst war der Pferdekopf, sie selbst war dieses Begrabenwerden.

Da wurde es nun wieder ein wenig heller um sie. Da war der Tisch, von dessen Platte sie nun den Kopf emporhob, da war ein Farbdruck an der Wand. Der harte Griff ums Hirn ließ nach; oder schien ihr das nur so, wie einem Leidenden eben, der selig für Augenblicke aufatmet im Glauben, der Schmerz hätte nachgelassen; indessen hat er sich nur an diesen Schmerz gewöhnt, ragt nicht mehr mit irgendwelchen gesunden Teilen aus ihm heraus, so daß an der Grenze ein Gegensatz brennt.

Immerhin, sie sank in eine Pause wie in ein Tal. Darin war Wehmut, und mit solcher Wehmut bedachte sie vieles, versunken in Gedankengänge, welche der Zeit nach garnicht lange dauerten, dennoch aber sie völlig enttrugen. Bilder kamen in langen Ketten, schwervoll von Bedeutung, und alle diese Bilderketten liefen in ihr – wie sie da so saß – zusammen, vor ihrem Munde etwa vereinigten sie sich zum gegenwärtigen Augenblick und dies vereinigte Band stieg hinab in ihre Leibeshöhle und mußte weiterführen. Was noch vor Minuten ihr Hirn umklammert gehalten hatte, trat fast völlig zurück. Ja, merkwürdig genug, Trauerfahnen waren es gewesen, woran sie so oft hatte denken müssen damals, und das war wohl geblieben in ihr. Nur hatte sie vergessen, daß es Fahnen waren, den Namen»Fahnen«hatte sie vergessen, sie hatte dann nur das Dunkel gefühlt und die Sehnsucht sich daraus zu ergießen, wie ein weißer schäumender Wasserfall aus der Felsenschlucht vorbricht in helle, läutende, freie Landschaft, oder wie blauer Himmel zwischen den schwerhängenden dunklen Stoffen sichtbar wird. – Da war die Schwester, die als kleines Mädchen oft zur Strafe für Unarten hatte am Boden essen müssen, neben dem Tisch wo sie selbst, Rufina, mit den Eltern zu sitzen pflegte. Ja, sie selbst war immer brav gewesen und späterhin voll Ermahnungen für ihre Schwester, des leichtsinnigen Lebens wegen, des Herumstreifens wegen, gewiß, sie selbst war immer klug gewesen …

Plötzlich war da Josefine Pauly und sagte:»Gönnst mir’s nicht, Neidhammel du, weil du a spinnete Urschel bist, möchst eh auch ganz gern a Mannsbild, aber traun tust dich nicht! Möchst gar heilig g’sprochen werden, was?!«

»Ja, Josefin’, hab ich dir’s nicht eh so oft g’sagt, i glaub’s dir ja, daß du nix g’habt hast mit dein’ Chef …«

Die wollen alle etwas. Jeder hält hinter dem Rücken große, dunkle Gegenstände, plötzlich werden die dann vorgezeigt und es kommt zu Tag. Besonders die langen Jahre die voll menschlicher Entwertung gewesen waren, fast allabendlich, später als sie allein lebte fast allabendlich; das war es. Und deswegen war sie dann mit dem Toni Jaspinger gegangen, das Unglück! Was mit ihm wohl heut’ ist, plötzlich wars damals aus gewesen, sie hatte ihn nicht mehr sehen mögen; und hatte ihr denn das geholfen? Und dann, wie fein angefangen! So fein wie Spinnweb über der Wasserleitung. Was?! Die Bettler aufhetzen, daß die Scheiben brechen und dann warten und hocken unter der Kass’ – aber diesmal:»Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen!«Wegen ihrer menschlichen Entwertung, damit sie ihren Adrian kriegt, läßt sie den großen Neid los, läßt sie alles zugrundegehen. Das mit den Brettern, die wieder zudecken, das ist einfach ein Schwindel, sonst nichts, der Neid kommt überall durch, überall kommt er heraus und die Pauly hat ganz recht und wenn etwas geschieht wie ein Gericht, dann gibt’s auch keine Gnad’ mehr, Jesus Maria, dann reißt es alles mit, füllt das Haus an!

In die völlige Stille hinein hört sie plötzlich das metallische Klingen der fallenden Tropfen draußen stärker und stärker werden, Schlag auf Schlag. Bald wird ihr Schädel platt gehämmert sein, sie wird es nicht ertragen, schon der nächste Tropfen der fällt, zerstampft dieses Haus. Sausen wächst im Ohr. Sie springt mit einem Tuch in der Hand im Zimmer umher, wischt sorgfältig die vier Ecken aus, falls irgendeine Spur geblieben sein sollte. Aber schon rast durch ihr Hirn ein Donner, als ginge ein Strom von Felsblöcken hindurch.

Jetzt nicht, nur jetzt nicht, sie kann es dann vielleicht noch verbergen. Da hallen Schritte, sie hallen heran, wie damals in dem weißen, stillen Haus auf den langen Korridoren. Sie wird jetzt zu allem ja sagen und im Dunkelwerden ist vielleicht bei dem großen Schatten des Domes Rettung. Sie wird die Frau da draußen bitten, ihre Kanne ein bißchen später anzufüllen, ein bißchen später nur, sonst läuft das Haus voll, auch durch das quellende Grundwasser.

Dumpf trommelt der Strahl auf dem Boden des Gefäßes, in welchem das Wasser rauschend steigt; dieser Strahl hätte nicht nur eine Spinnwebe weggeschwemmt, er war stark genug eine Eisenplatte zu zerschlagen. Rufina dreht sich in der Mitte des Zimmers wie ein Kreisel. Die vier Pferdeschädel knallen mit den Kinnladen. Eisige Ruhe herrscht sonst über dem leblos erstarrten Gebirge. Von Schwindel erfaßt, vermag sie die fletschenden Gebisse nicht mehr zu vermeiden, sie stürzt in einen der Schlünde und fährt durch den meergrünen Hals des Ungetümes in sausendem Fall hinab; da beginnt nun jenes lange Laufen durch röhrenenge Gänge, das eigene Gebrüll stumm hinter den knirschenden Zähnen verhalten, wenngleich es den Kopf zu zersprengen droht.

4.

In dem Maße, wie der Planet seine runden Breiten, Land an Land, Meer an Meer, dem Morgen entgegen und in die Sonnenflut hineinwälzt, in dem Maße erwachen Streifen um Streifen die Menschenmengen, welche Abgewandtheit in Nacht und Schlaf gedeckt hielt. Und während diese da etwa noch verworrene Pfade des Traumes wandeln, streicht dort bereits der Morgenwind mit gewaltigen Händen durch die Baumkronen und tausend Meilen weiter in der Landschaft ist der Tag schon herauf, alle stehen ihm zugewendet, sein Vollzug beginnt und schwillt.

Rufina erwachte und fand sich angekleidet in einer Ecke des Zimmers am Boden liegend. Sie verwunderte sich garnicht darüber, sie dachte überhaupt nichts; sie schlüpfte aus den Kleidern, wusch sich und zog sich dann frisch an. Um acht Uhr begann ihr Dienst, es war noch zeitlich genug, sie ging langsam. Ein funkelnder Sommertag erhöhte glanzvoll die Stadt. Rufina wanderte gänzlich aus sich selbst ausgehoben, sie ging sozusagen ein paar Schritte neben sich selbst her. Ich begegnete ihr eben damals an einer Straßenecke, wo sich unsere Wege dann und wann kreuzten. Ihre Augen hatten nichts Zweckmäßiges mehr an sich und nicht eine Spur jenes Blickstoßes, den jeder sonst in Bewegung und Handlung befindliche Mensch zeigt. Sie erkannte nichts mehr, das Haus nicht als Haus, den Baum nicht als Baum, den Himmel nicht als Himmel, ihr hatte sich die Umwelt aus allen haltenden Klammern der Benennung und Übersicht gelöst, ein tiefer und sich erweiternder Spalt trennte die Versunkene am anderen Ufer davon ab. – Der Vormittag brachte wenig Gäste, wie gewöhnlich; Rufina schrieb dafür andere Dinge in das Rechenbuch, etwa:»Ich Rufina Seifert bekenne daß ich durch menschliche Entwertung schuldig bin an allem was den Leuten geschehen ist indem diese dem großen Neid hat geholfen. Ich schwöre daß ich von Josefine nie nicht Übles gedacht gehabt habe und habe ihr gern geholfen und ich schwöre daß ich ihr alles glaube auf das Wort. Das ist wahr. ††† Ich schwöre alles bei Herrn Jesus Christus was hier steht aufgeschrieben. Bitte auch inständigst alle Menschen daß sie mir glauben sollen und verzeihen.«

Noch anderes dieser Art trug sie ein.

Adrian hatte jenen Abend, an welchem Rufina allein geblieben war, in einem Kreise verbracht, in den er auch früher durch eigenes Versäumnis selten genug gekommen war; und dies Letztere bedauerte er nun heftig. Eine angenehme Umgebung, wirkliche Vornehmheit und Vermeidung obligater Langweile; gute Musik hatte es gegeben, und Menschen, die frei, bewegt und tätig im Leben standen, jeder auf seine Art: Künstler und Schriftsteller, auch einige von den leitenden Politikern jener Zeit. Zudem die Frauen: eigentümliche Wirkung welche ausging von der Vereinigung scheinbar ungehemmter geistiger Beweglichkeit und Umschau und dem Eingefügtsein in natürlichsitzende Form!

Er hatte am Ende Sofja Mitrofanow heimbegleitet; und da er sie schon lange kannte und besser als die anderen, da sie ihn zudem noch ein wenig bemutterte, so drängte sich, seinen Jahren gemäß, bald Innerstes über den Mund. Dabei geriet aber Adrian in einen qualvollen Zustand; denn er konnte durchaus nicht recht nennen und sagen was ihn eigentlich bewegte; zugleich lag ihm sehr viel daran ein richtiges Bild von Rufina zu geben, ebenso von seiner starken»inneren Erneuerung«und der großen Bedeutung, welche dies alles für ihn hatte. Er fühlte, daß Sofja nicht recht mitging bei alledem, vielleicht war sie der Meinung, er erzähle ihr hier von»irgend einem Liebesverhältnis«, was doch durchaus nicht zutraf! Dieses Erlebnis war ja von so eigener Art, durchaus nicht in einem Atem zu nennen mit …

In solcher Weise die Ohren vom Rauschen eigenen Lebens voll konnte er freilich nicht im Bilde über Sofja Mitrofanow sein, welche sich für seine»innere Erneuerung«nicht allzu sehr interessierte, zumindest war ihr gerade dies an Adrian keineswegs das wichtigste; Sofja machte also in Wahrheit garkeine Anstrengung, um zu verstehen, was er eigentlich meine; ihre Zwischenfrage hätte Adrian hinlänglich darüber belehren können, daß sie sich auf ganz anderen Geleisen bewegte:

»Sage mir einmal, Adrian, welchem Stand gehört eigentlich deine Freundin an – ich meine: hat sie einen Beruf, und was für einen, ist sie eine gebildete Person oder nicht?«

Er fiel aus dem Schwung und sagte, daß seine Freundin Kaffeehauskassierin sei. Hierauf begann Sofja allerlei zu reden, was irgendwelche sozusagen mütterliche Warnungen und Mahnungen zur Vorsicht enthielt. Er kenne die Frauen nicht, und diese Art von Frauen gewiß schon garnicht; und man hätte in solchen Schichten vielfach ganz andere und viel gröbere und frivolere Anschauungen als er vielleicht glaube.

Da waren sie am Tor des Hauses angelangt, in welchem Sofja wohnte. Der Mond ließ alles rundum in Silberkaskaden steigen. Da stand sie, Sofja Mitrofanow, viel kleiner wie Adrian, schwarzäugig, klug und wohlriechend. Er küßte ihre Hand: das Tor klappte. Er trieb nun allein durch die in Silber schwimmenden Gassen, mißverstanden, geärgert und dabei unter allem recht zwiespältig angebohrt.

Joelschig und Planinger standen an der Kaffeehauskasse und erkundigten sich neckisch aber voll Bonhommie nach Rufinas Befinden: sie sähe schon allzu blaß aus, sagten sie, Landluft wäre das Richtige; aber sie scheine ja gegenwärtig andere Interessen zu haben, welche sie festhielten? Eben als Adrian kam, trat der Doktor hinzu, der sagte aber nichts und musterte die Kassierin plötzlich überrascht. Rufina verstand vielleicht garnicht recht, wovon gesprochen wurde. Sie lächelte. Der Prokurist Joelschig tätschelte sie auf die Hand. Rufina hatte den Blick irgendwo draußen im Strom der Straße liegen. – Adrian kam nun in letzter Zeit öfter hier herein ins Kaffeehaus, Rufina hatte es ursprünglich nicht so haben wollen, indessen es ergab sich dann so, ja er selbst hatte sogar darauf bestanden. Warum eigentlich? Gerade das fragte sich Adrian jetzt beim Eintreten, als er die drei dort bei Rufina stehen sah. – Sie wurde abgelöst und ging danach gleich mit Adrian weg. Die Straßen, stark bewegt im noch einmal anschwellenden Stadtabend, waren fast verdeckt und ohne Weitblicke durch den flutenden Prunk letzter Sonne, deren Gold über alle Dachkanten träufte und lange Reihen von Fenstern in flüssiger Glut stehen ließ; die gesammelte Wärme des Tages hauchte aus den Steinmassen. Adrian, in sich selbst zurückgewandt, trieb Widerstand vor gegen Rufina, sie gingen auch nicht Arm in Arm. Er erzählte vom gestrigen Abend, etwas heftig, nicht leichthin berichtend.»Diese ganze Umgebung hat mir natürlich sehr wohl getan, ich war ja früher sehr oft dort, fast jede Woche. Aber jetzt, seitdem eben … Einmal wieder mit wirklich gebildeten Leuten reden, deren Anschauungen eben auch dementsprechend sind in jeder Beziehung! Es gibt überhaupt nichts Schöneres als eine hochgebildete Frau, das ist sozusagen die schönste Blüte unserer Kultur.«»No das ist aber wirklich gescheit, wenn du dich dort gut unterhalten hast, solltest öfter hingehen, Adrian, nicht nur so alle heiligen Zeiten einmal.«»Na ja – also ›unterhalten‹ ist vielleicht doch nicht ganz der richtige Ausdruck, wenigstens wenn man etwa dasselbe darunter verstehst wie du – an deiner Kaffeehauskasse da mit deinen diversen Verehrern.«Sie sah plötzlich wie erwachend und erschrocken zu ihm auf, ihre Augen wurden dunkel und führten wie Tunnels tief in den Kopf hinein. Er verhärtete seinen Blick an ihr vorbei. Gerade da kam um eine Ecke Josefine Pauly mit dem Setzer Toni Jaspinger und einem anderen jungen Burschen, welcher höchst flott gekleidet war; alle drei lachten laut, die letzte Sonnenglut griff von rückwärts um ihre Gestalten, deren Umrisse förmlich flammten, das leichte Kleid der Pauly war so sehr durchleuchtet, daß die Beine bis zu den Hüften hinauf durchschienen. Rufina erkannte möglicherweise weder den Jaspinger noch die Pauly, sie starrte voll tiefer Qual und mit Entsetzen vor sich hin … was hatte Adrian gemeint? Ihr Denken, das jetzt für Minuten ziemlich hervorgetreten war, zerfloß indessen schon. Josefine nickte grüßend mit einem gewissen Trotz. Rufina hatte nicht mehr Zeit für den Gruß zu danken.»Was sind das für Leute?«fragte Adrian. In diesem Augenblick aber kam Josefine wieder um die Ecke zurück, war mit drei heftigen Schritten bei Rufina, pflanzte sich vor ihr auf und legte los:»Wann’st vielleicht glaubst daß i dir a Rechenschaft schuldig bin über dös, was ich tu oder laß’ wegen die paar Netsch, dö dreckaten, was du mir geben hast, da täuscht di aber mei Liabe! Brauchst gar keine G’sichter schneidn und es Grüßen brauchst a net verlerna … kriagst all’s auf’n Kreuzer zruck, i nehm nix g’schenkt und es andere geht di an Schmarrn an!«Gerade da trat auch Jaspinger wieder hinter der Ecke hervor, offenbar um zu schauen, wo die Josefine geblieben sei; er hatte Rufina garnicht erkannt: diese folgte jetzt unwillkürlich dem Blick der Pauly und bekam ihn so vor Augen.»Ich kumm schon!«rief Josefine dem Toni Jaspinger zu, wandte sich noch einmal zu Rufina, sagte:»Jetzten hast es g’hört!«und verschwand mit dem Drucker um die Ecke.»Feine Bekanntschaften hast du da!«sagte Adrian laut und scharf. Rufina stand ohne jede Bewegung, wenngleich jetzt ein rasendes Eilen in ihr anhob. Aber, da plötzlich, da ergriff es sie – und sie rannte. Sie flog (wie aus einem Geschütz mit gewaltiger Ladung abgeschossen) über die Straße, geradewegs auf eine sausende Trambahn zu, mit einem Sprung war sie auf der Plattform (gleichsam als wollte sie dieses Hindernis nehmen), ihre Bewegungen schienen Adrian, der völlig erstarrt stand, höchst fremdartig und garnicht aus ihrer sonstigen Erscheinung erfließend, unheimlich behende, katzenhaft. Der Straßenbahnzug verschwand hinter dem nächsten Häuserblock. Rufina, die auf der überfüllten Plattform zunächst von niemandem weiter beachtet wurde, bog sich mitten im Schwung der Fahrt hinaus und sprang nach einer kurzen Fahrt von nur ein paar Häuserlängen in einer Weise vom Wagen, daß einige der Fahrgäste laut aufschrieen. Sie indessen fiel nicht, stolperte kaum, rannte, flog, eilte wie maschingetrieben dahin. Für sie gab es nicht Straßen, nicht Plätze, nicht Häuser: nur jenes lange Laufen durch röhrenenge Gänge, das eigene Gebrüll stumm hinter den knirschenden Zähnen verhalten, wenngleich es den Kopf zu zersprengen droht.

Adrian verbrachte die folgenden zwei Tage in zersplitternder Unruhe. Fast alle zwei Stunden erschien er in dem Café, wo Rufina bedienstet gewesen war, oft auch bei ihrer Zimmervermieterin: noch wußte man nichts von ihrem Verbleib. – Immer wieder stieg jener Straßenauftritt in ihm hoch: abstoßend, fremd, zugleich schuldvoll für ihn selbst. Kleinste Einzelheiten erinnerte er. Und jetzt nach alledem schwankte er heiß und leidend zurück zu dem Bilde Rufinas, das er in sich trug, und zurück in jene Bahn seiner»inneren Erneuerung«, wie er’s nannte.

Dann einmal kam ihm der Doktor eilig durch das ganze Café entgegen und er hörte:»Psychiatrische Klinik«, erfuhr die Adresse und ließ sich weiter garnichts sagen, (etwa daß jetzt, gegen Abend, gewiß keine Besuchs-Stunden seien und Ähnliches) er stürzte davon, sprang in ein Mietautomobil. Schwere Schwüle bei gedecktem Himmel lüftete sich kaum in der raschen Fahrt. Adrian kam endlich durch ein großes Tor ins Spitalsviertel, hastete auf Gartenwegen zwischen glatten Gebäuden, deren Flure Kühle hauchten, fragte, kam weiter und weiter. Da endlich, erhöht und mit leeren Fensterreihen über die Stadt weg ins Weite gerichtet, das Gebäude, welches er suchte, eine Tafel wies den Weg.