Die Evangelikalen - Jürgen Mette - E-Book

Die Evangelikalen E-Book

Jürgen Mette

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Beschreibung

Die Krise der evangelikalen Bewegung ist eine hausgemachte. Dabei geht es vor allem um die eigenen Richtungsstreitigkeiten. Das große Ganze tritt in den Hintergrund, es herrscht Individualismus und Separatismus. Doch die Sehnsucht nach Einheit und Multiplikation wächst. Jürgen Mette weiß, wovon er spricht - kennt die Szene und ihre Facetten sehr genau. Er schreibt dieses Buch für solche, die sich ihrer spirituellen Herkunft und Prägung schämen, und für solche, die sich für die treusten und einzig wahren Freunde Gottes halten. Er schreibt für alle, die sich über Evangelikale wundern, sie bewundern oder sich von ihnen entfremdet haben. Und er zeigt einen Weg der Versöhnung auf. Mit Gastbeiträgen von Gisa Bauer, Wolfgang Bühne, Heinrich Derksen, Thorsten Dietz, Michael Diener, Tobias Faix, Ulrich Fischer, Andreas Heiser, Helmut Wöllenstein und Johannes Zimmermann.

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Über den Autor

Jürgen Mette ist Theologe und war bis 2013 geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien. Er stand 22 Jahre dem Stiftungsrat der Studien- und Lebensgemeinschaft Tabor vor. Viele Jahre hatte er einen Lehrauftrag an der Evangelischen Hochschule Tabor inne. Er engagiert sich in diversen christlichen Führungsgremien, wie zum Beispiel im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz.

Auch als Buchautor hat er sich einen Namen gemacht. Seine Autobiografie „Alles außer Mikado“ avancierte zum SPIEGEL-Bestseller. Der darauffolgende Kriminalroman „Gnadenzeit“ sowie sein Roman „Espenlaub“ beleuchten das Problem geistlicher Fehlentwicklungen in konservativen religiösen Gruppierungen. Jürgen Mette ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Söhnen.

Etwas zu kritisieren, was man nicht mag, bedarf keiner besonderen Anstrengung. Sich aber kritisch mit denen zu beschäftigen, die man liebt und schätzt,das bedarf mancher Mühe und Geduld.Ein Balanceakt kritischer Dankbarkeit.Meinen Kritikern gewidmet.

Ohne sie wäre ich der Alte geblieben.

Di_ _vang_likal_nsind w_d_r die _inzig wahr_n Christ_n,noch sind si_ _in B_ispi_lfür artig_ Umgangsform_ng_g_nüb_r and_rs Geprägt_n.Ab_r si_ sind b_g_ist_rtvon d_r _inzigartigk_itd_r Kirch_ J_su Christi.

Ergo:

Das Reich Gottes ist noch verborgen wie eine Schrift ohne Vokale. Gleichzeitig ist es schon längst erkennbar angebrochen. Eine Kirche ohne Evangelikale wäre wie eine Sprache ohne Vokale. Evangelikale sorgen „eeh“ für die „aahs“, „uuhs“ und „oohs“ des Christentums.

Intro des Verfassers

„Gehörst du nicht auch zu diesen Evangelikalen?“ So fragte mich ein Bekannter in den Tagen der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahl mit spöttischem Unterton, gerade so als sei ich religiös infektiös. Der mächtigste Mann der Welt war durch die Unterstützung der konservativen Evangelikalen an die Macht gekommen.

Die Onlineausgabe der ZEIT hatte berichtet: Es ist eine merkwürdige Verbindung, die sich da gebildet hat. Auf der einen Seite stehen rund 60 Millionen gläubige Christen, die ein frommes Leben führen und über Jahrzehnte den Anspruch erhoben haben, dass nur Männer von tadellosem Charakter als Präsidenten infrage kommen. Auf der anderen Seite steht Donald Trump, ein Mann mit fünf Kindern von drei Frauen, der ungerührt über seinen Ehebruch sprach und von mindestens 19 Frauen des sexuellen Übergriffs beschuldigt wird. Wie passt das zusammen?1

Mit einem genervten „Zu diesen (!) Evangelikalen gehöre ich nicht, das hat mit evangelikal nichts mehr zu tun“ versuchte ich dieser Verlegenheit zu entkommen.

„Und außerdem gibt es viele seriöse Christen in den USA, die Trump ablehnen, aber auch solche, die ihm zustimmen, ohne

gleich fundamentalistisch zu sein.“ Mein Gesinnungstester schien vorläufig besänftigt.

Aber im Hintergrund dieser beiläufigen Episode lief in meiner Fantasie die biblische Geschichte der Verleugnung des Petrus wie ein Film in mir ab. „Bist du nicht auch einer von diesen Jesus-Leuten?“ So wurde Simon Petrus, einer der treusten Freunde des Rabbi Jeshua, von einer fremden Frau am Lagerfeuer gefragt. Und Petrus, der Eifrigste von allen, log sich um Kopf und Kragen und behauptete, ihn nicht zu kennen. Das Ganze gleich drei Mal.

Mitten in meine intensive Schreiberei an diesem Buch fiel der Tod von Billy Graham (21.02.2018), dem Helden meiner Jugendzeit und bedeutendsten Prediger und Evangelisten des 20. Jahrhunderts. Wenige Tage später titelte die Washington Post (!):

„Protestantism was born in Germany, but it was Billy Graham who brought evangelicalism there.“2

Kompliment, Washington Post! So gut hat es noch keiner auf den Punkt gebracht. Der Protestantismus3 wurde in Deutschland geboren4, aber der überzeugende, bekennende und missionarisch-diakonische „Drive“ ist seit den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als „US-Import“ in die beiden Mutterländer der Reformation getragen worden. In evangelistischer Hinsicht vertreten durch Billy Graham und in theologischer Hinsicht durch John Stott5, England. Diese Verwandtschaft kann sich sehen lassen. Der Beitrag der Evangelikalen im Konzert der Denominationen ist großartig, das Label, das Firmenschild jedoch scheint verbraucht.

So titelte das führende evangelikale US-Magazin Christianity Today am 31. März 2018: „To be or not to be an Evangelical“: Do Christians need a term or label to identify ourselves?6

Ein Freund hatte Brian Stiller, dem Autor dieses Artikels, geschrieben: „Ich nenne mich nicht mehr evangelikal.“

„Ich habe den Verdacht, dass es ihm etwas peinlich ist, dass er sich entschieden hat, den Begriff zu vermeiden, der weltweit von Hunderten von Millionen Christen benutzt wird. (…) Evangelikal ist jetzt ein Schlagwort, das von politischen Experten verunstaltet wird, von Protestierenden von links und rechts durchtränkt und von selbst ernannten Sprechern entehrt wird, die unangemessenes Verhalten und Sprache als notwendigen Preis für politische Macht entschuldigen.7

Dieses Buch beschäftigt sich nicht mit den US-Evangelikalen. Aber wenn irgendwo in der Welt fromme Menschen die vermeintlich unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Jesu Christi prophezeien oder die Tochter Billy Grahams in Endzeitsorge eine Sonnenfinsternis als Zeichen des Gerichts Gottes deutet8, dann schäme ich mich fremd. Aber ich bringe es nicht fertig, mich generell von diesem Frömmigkeitstyp zu distanzieren. Ich bin tatsächlich ein Evangelikaler, ein wertkonservativer engagierter Christ. Wenn das bereits evangelikal ist, dann bin ich gern evangelikal. Alle weiteren Spezifikationen wie konservativ, fundamentalistisch, rechts, links oder traditionell brauche ich nicht, weil ich mich in diesen Klischees nicht wiederfinde.

Ich schreibe dieses Buch für solche, die sich ihrer spirituellen Herkunft und Prägung schämen, und für solche, die sich aufgrund ihrer Herkunft und Prägung für die treusten und einzig wahren Freunde Gottes halten. So eine Art Leibgarde des Allmächtigen, die treu zu ihm hält, ihn vor der Kritik der Aufklärung schützt, ihn im Diskurs mit dem Atheismus argumentativ raushaut und sein heiliges Buch gegen den Angriff der sogenannten „modernen“ Theologie in Schutz nimmt. Und ich schreibe für alle, die sich über Evangelikale wundern, sie bewundern oder sich von ihnen entfremdet haben.

Der Apostel Paulus beschreibt die Kirche als Leib, darum verwende ich Bilder aus der Welt der Medizin. Wir sind reif für Leibesübungen zur Gesundung des „Leibes Christi“ und zur Heilung der hartleibigen Beziehungen untereinander. Die Kirche Jesu heilt im Vollzug ihres Auftrags. Sie liebt, bekennt und dient sich gesund. Oder sie verlautbart und bleibt harmlos. Welche überzeugende Kraft könnten wir entwickeln, wenn wir uns um Gottes und der Welt Willen einig wären. Ich kann jedenfalls wieder glauben, dass wir unsere beste Zeit noch vor uns haben.

Jürgen Mette, Marburg, im Herbst 2018

1 ZEIT-Online 07.02.2018.

2 Washington Post, 04.03.2018, übersetzt: „Der Protestantismus wurde in Deutschland geboren, aber es war Billy Graham, der den Evangelikalismus dorthin gebracht hat.“

3 Mit dem (ursprünglich politischen) Begriff Protestanten werden im engeren Sinne die Angehörigen der christlichen Konfessionen bezeichnet, die, ausgehend von Deutschland und der Schweiz, vor allem in Mittel- und Nordeuropa durch die Reformation des 16. Jahrhunderts entstanden sind und sich seitdem in verschiedene Gruppen weltweit weiterentwickelt haben. (Wikipedia)

4 „und in der Schweiz“, aber das scheint in der amerikanischen Wahrnehmung keinen Unterschied zu machen.

5 John Robert Walmsley Stott, CBE (1921–2011), Theologe und Pfarrer der Church of England. Verfasser der Lausanner Verpflichtung zur Weltevangelisation (1974). Lt. Time Magazine 2005 einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt. Helmut Burkhardt, Arbeitsgemeinschaft für evangelikale Theologie: „John Stott hatte im Anschluss an Lausanne Theologen aus verschiedenen europäischen Ländern zu einer Beratung nach Chesieres/Villars zusammengerufen, um zu überlegen, was man für eine Veränderung der theologischen Situation in Europa tun könne.“ Jahrbuch AfeT 2 (1988), S. 104.

6 Das heißt: „Brauchen Christen einen neuen Begriff, um sich selbst zu erklären?“

7Christianity Today online vom 31.03.2018.

8Anne Graham Lotz, 11.08.2017, idea Spektrum.

Inhalt

Intro des Verfassers

1. Editorial

Thematisches Vorwort von Johannes Zimmermann

Persönliches Vorwort von Helmut Wöllenstein

Der Autor muss verrückt sein

Wer bin ich?

2. Die Evangelikalen

Was ist eigentlich evangelikal?

Warum ich trotzdem (gern) ein Evangelikaler bin

3. Diagnose

Eine „orthopädische“ Diagnose

Eine „kardiologische“ Diagnose

Ein Sehtest aus Johannes 17

4. Risiken und Nebenwirkungen

Verbalcontainer mit Spaltpotenzial

Alles „biblisch“ oder was?

Bibelkritik

„Ausleben“ – von der Spaltkraft eines schwachen Verbs

5. Theologie ist (auch) Biografie

Kindlich glauben

Pubertär glauben

Vom Streichelzoo auf die freie Wildbahn

Das Klischee vom ungläubigen Pfarrer

Geschüttelt und gerührt

Erfahrungen mit einem leibhaftigen Atheisten

Mein Bibelverständnis

Von der Treue zu einem heiligen Buch

Fazit meiner Bibel-Biografie

6. Konsequenzen

Von der ängstlichen Engführung zur Freiheit vonForschung und Lehre

Wenn das Schriftverständnis nicht mehr von Angst dominiert wird

Die Motive des Barock-Pietismus verraten

Kein Grund sich zu verstecken

Mehr vom Zorn Gottes reden?

Der Islam fordert uns heraus

7. Blockaden verstehen und überwinden

Vom Segen der Pluralität

Vermeidbare Blockaden: Kreationismus versus Evolutionstheorie

8. Interviews mit Weggefährten und Gastkommentare

Warum wir trotz theologischer Differenzen

zusammenhalten

Ein Gespräch mit dem Verleger Wolfgang Bühne

Der Streit um die BibelEin Gastkommentar von Thorsten Dietz

„Und hätten der Liebe nicht …“ (zu 1. Korinther 13)Ein Gastkommentar von Michael Diener

Was wir der Aufklärung verdankenEin Gespräch mit Ulrich Fischer

Warum Evangelikale der Theologie misstrauenEin Gespräch mit Andreas Heiser

Warum die Kirche eine sich ständig transformierende Kirche sein muss

Ein Gespräch mit Tobias Faix

Das verborgene Potenzial russlanddeutscher GemeindenEin Gastbeitrag von Heinrich Derksen

Pluralismus, Protest und PotenzialEin Gastkommentar von Gisa Bauer

9. Einsichten und Aussichten

Warum sich die Mühe um Einheit lohnt

Die existenziellen Themen unserer Zeit vom Evangelium her deuten

Warum die Kirche vielleicht ihre beste Zeit noch vor sich hat

Vom Geheimnis der zweiten Meile

Fast ein wenig unanständig (Markus 14,3-9; die Frau, die Jesus salbt)

Zu weit gegangen (Elisabeth von Thüringen)

Leben heißt sich ändern (John Henry Newman)

Qualitätsmerkmal Freiheit

Warum Menschen nicht zum Glauben kommen

10. Fazit: Es war einen Versuch wert!

Einheit leben

Respekt für das Fremde

Den Schmerz zulassen

Wir bleiben Lernende

Ich danke

1. Editorial

Thematisches Vorwort von Johannes Zimmermann

Es geht – einmal mehr – um die Evangelikalen. Jürgen Mette begibt sich damit auf umstrittenes Terrain, insbesondere deshalb, weil er über die Bewegung schreibt, der er sich selbst zugehörig sieht.

In den Landeskirchen und der akademischen Theologie dient „evangelikal“ häufig zur Abgrenzung. Innerhalb der evangelikalen Bewegung dagegen ist die Bezeichnung ein Identitäts- und Zugehörigkeitsmarker. „Evangelikal“ ist für die einen ein Schimpfwort, für andere ein Qualitätsmerkmal.

Angesichts dieser Polarisierung will Jürgen Mette Brückenbauer sein. Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen evangelikalen Strömungen, von denen es wahrlich nicht wenige gibt. Brückenbauer aber auch zwischen den Evangelikalen und der übrigen (insbesondere evangelischen) Christenheit.

Der Begriff „evangelikal“ ist im deutschen Sprachraum noch relativ jung und erst seit den 1970er-Jahren gebräuchlich9, inzwischen aber Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ebenso wie populärer Darstellungen.

Gisa Bauer10, auch mit einem Gastbeitrag in diesem Buch vertreten, hat 2012 ein Mammutwerk vorgelegt und interpretiert

das Gegenüber von evangelikaler Bewegung und evangelischer Kirche als „Grundsatzkonflikt“11. Eine religionswissenschaftliche Orientierung kennzeichnet das 2017 erschienene „Handbuch Evangelikalismus“12.

Hansjörg Hemminger und Michael Herbst hingegen versuchen, die Stärken und Schwächen der evangelikalen Bewegung differenziert, nicht unkritisch und zugleich wertschätzend darzustellen13.

Jürgen Mette geht einen Schritt weiter. Er schreibt nicht von außen, nicht als mehr oder weniger wohlwollender Beobachter, sondern „von innen“, als einer, der jahrelang an verantwortlichen Stellen in der evangelikalen Bewegung mitgearbeitet hat. Daher verbindet er auch viel Leidenschaft mit dem Thema: Die nüchterne Prosa wissenschaftlicher Erörterungen ist nicht sein Stil.

Treffsicher kann Jürgen Mette die evangelikale „Szene“ in ihren unterschiedlichen Facetten darstellen: mit Wortwitz und Sprachspielen, liebevoll humorvoll bis ironisch, aber auch kritisch hinterfragend.

Jürgen Mette hat im „alten Tabor“ unterrichtet, als manches dort noch anders war. Vieles hat sich verändert und auch Jürgen Mette ist nicht derselbe geblieben. Das macht es für mich als einen seiner Nachfolger reizvoll, sein Buch mit einem Vorwort zu begleiten.

Sein Anliegen, als Brückenbauer auf der gemeinsamen Grundlage unterschiedliche Prägungen miteinander zu verbinden, hat mich sofort überzeugt – besonders angesprochen hat mich die Vision vom Miteinander der unterschiedlichen Strömungen der evangelikalen Bewegung14.

Dann gibt es allerdings auch Stellen, da ist Jürgen Mette ganz und gar nicht Brückenbauer, da stellt er pointiert seine Position dar. Häufig hat das biografische Hintergründe. Jürgen Mette wendet sich gegen Positionen, die er im Rückblick als Engführungen sieht. Das klingt dann so: „Wir lebten ja in einem frommen und zum Teil weltabgewandten Mikrokosmos.“ – „Ich war selbst jahrelang auf diesem Trip eines idealisierten und harmonisierten Gemeindeverständnisses“ – „… biografisches Protokoll eines transformierten Schriftverständnisses“.

Seine persönlichen Erfahrungen sind eine wichtige Hilfe, diese „Transformationen“ nachzuvollziehen – auch an den Stellen, an denen der Leser Jürgen Mette nicht folgen kann oder will. Vor allem zeigen diese Erfahrungen exemplarisch, dass Theologie nicht im luftleeren Raum getrieben wird, sondern sich in konkreten Situationen bewährt. Dazu gehört auch die Bereitschaft, nicht stur an überkommenen Positionen festzuhalten, sondern sie zu überdenken und weiterzuentwickeln. Schließlich gehört – frei nach Konrad Adenauer15 –, das Recht klüger zu werden zu den grundlegenden Menschenrechten. Jürgen Mette scheut sich nicht davon Gebrauch zu machen.

Er weiß an diesen Stellen, was er nicht (mehr) vertreten will, die neue Position ist noch stark von der Abgrenzung bestimmt. Gefahren sieht Jürgen Mette hier nicht durch zu viel Weite, sondern durch zu viel Enge. An diesen Stellen ist es wichtig, den Kontext der Argumentation im Blick zu behalten. In anderen Kontexten, etwa solchen, die durch eine bis zur Konturenlosigkeit und Beliebigkeit reichende Weite gekennzeichnet sind, können manche dieser „Lockerungen“ kontraproduktiv wirken.

Im Vordergrund steht jedoch die mit dem Begriff „evangelikal“ markierte Kontinuität. „Evangelikal“ steht dabei nicht nur für die Zugehörigkeit zu einer Bewegung, sondern verweist auf einen tief in der Bibel verwurzelten Glauben, zu dem das Leben in christlicher Gemeinschaft untrennbar gehört. Dass „Gemeinschaft“ nicht nur die eigene Gruppe umfasst, sondern die Zugehörigkeit zur größeren Gemeinschaft der Christenheit einschließt, ist eine wichtige Frucht der Erfahrungen von Jürgen Mette. Für dieses Anliegen wirbt er in seinem Buch – und dabei wünsche ich ihm gutes Gelingen.

Prof. Dr. Johannes Zimmermann Professor für Praktische Theologie an der Evangelischen Hochschule TABOR (Marburg/Lahn)

Persönliches Vorwort von Helmut Wöllenstein

Ich kenne Jürgen Mette seit fast fünfzig Jahren. Wir sind damals eine Superclique von Freunden in dem legendären EC-Jugendbund Martinhagen bei Kassel gewesen. Dann gründen wir die Musikgruppe „euangelion“. Jürgen ist Dirigent, Frontmann und Solosänger mit einer bewundernswerten Bühnenpräsenz: einer, der nach vorne geht, die Initiative ergreift und das Mikro und dann auch noch etwas zu sagen hat. Jürgen kennt überall Leute und lernt schnell neue kennen. Er ist sehr kontaktfreudig, vergisst keine Namen, keine Geschichten, weiß immer, bei wem was zu holen ist und wen man wie einbinden kann: ein genialer Netzwerker. Wenn er vorne steht oder wir richtig ins Debattieren kommen, damals auch schon über heiße Themen, bezieht er Position. Er kann andere verstehen, auch die weit rechts und die weit links, ohne einverstanden zu sein. Wir erleben einen Aufbruch. Es ist einfach Musik drin in der evangelikalen Szene der Siebziger.

Etliche fangen an, Theologie zu studieren. Wir muten uns gegenseitig etwas zu. Was uns zusammenhält, ist die Freundschaft, ist die Freude an der Sache Jesu. Jürgen kommt, wie ich, aus einer frommen Familie. Aber das ist ein fröhlicher Pietismus, kein Angstpietismus. Nicht verkniffen, verdruckst und moralinsauer, sondern weltzugewandt, offen für Neues. Bibel lesen, diskutieren, singen, feiern, auftreten. Wir kommen aus Freikirchen, der SELK, der Landeskirche, aus landeskirchlichen Gemeinschaften, der katholischen Kirche – der Fokus ist Jesus. Ich habe selten danach eine so unbeschwerte Ökumene erlebt.

Dann gehen wir für Jahrzehnte verschiedene Wege, dienstlich und familiär, theologisch vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt. Als wir uns vor 15 Jahren in Marburg wiedertreffen, wird schnell deutlich: Irgendwie ist Jürgen ganz der Alte geblieben. Mit dieser großen menschlichen Weite und ebenso im geistlichen Kern. Das ist die Beziehung zu Christus, die Leidenschaft für die Bibel, verknüpft mit einer reformatorischen Hermeneutik, die den Verstand nicht an der Kirchentür abgibt und von der Heiligen Schrift das für wesentlich hält, „was Christum treibet“. Eine Beziehung aus Respekt und Nähe. Exklusiv, aber gerade darin weit anschlussfähig.

Seine theologische Grundausbildung hat er noch im „alten Tabor“ in Marburg erhalten, deshalb weiß er, wovon er spricht, wenn es um den Wandel der theologischen Ausbildung in evangelikalen Einrichtungen geht. Er hat ihn selbst erlebt, als Lernender und als Lehrender. Aber er blickt weit über den Tellerrand, kennt auch die US-amerikanische Szene, denn dort hat er studiert und bis heute gute Kontakte „über den Teich“. Als Jugend- und Gemeindepastor konnte er sein evangelistisches Charisma entwickeln. Eine Rolle, die ihm auf den Leib geschnitten ist. Und dann diese sehr spezielle Herausforderung: die Leitung der „Marburger Blättermission“. Die war wie so vieles „bei Kirchens“ in die Jahre gekommen. Unter seiner Regie wird das Medienwerk eine Stiftung, ist nach wenigen Jahren kaum wiederzuerkennen. Äußerlich in einem für Marburg futuristisch anmutenden Glaspavillon, aber noch mehr im modernsten Energiekonzept, das ohne fossile Brennstoffe auskommt.

Da kommen für Jürgen alle seine Gaben zusammen: Leitung, Organisation, die Lust, etwas unternehmerisch hoch innovativ voranzubringen, Kontakte zu knüpfen, neue Reichweiten zu erschließen – ohne sich zu verabschieden vom missionarischen Auftrag und Selbstverständnis. Und mit der Möglichkeit, seine größte Gabe einzubringen, die Sprache: das Schreiben, Reden, Texten – was davon kann er eigentlich besser?

Dann kommt Parkinson. Eine echte „Prüfung“! Doch wenn jemand diese Prüfung bestehen kann, hat Jürgen Mette sie bestanden. Genau diese Krankheit ist für ihn die denkbar größte Anfechtung. Weil sie eigentlich Menschen scheu macht, verunsichert, Netzwerke aufreißt, weil sie Menschen dazu bringt, sich zu schämen. Doch bei ihm läuft es anders. Er kämpft, aber nicht nur medizinisch. Er schreibt, predigt, liest und talkt. Es gibt Sachen, die werden einem nur geglaubt, wenn man sie selbst erlebt hat. Wer als Verletzter schreibt, was Heil bedeutet, schreibt anders. Ein Verwundeter redet anders über Wunder. „Alles außer Mikado“ wird ein Bestseller. Und Jürgen Mette hat ein neues Genre für sich entdeckt: das Buch. „Signieren statt resignieren“ – ein unglaublich schönes Motto!

Und nun erscheint wie eine reife Frucht seiner Arbeit ein theologischer Gesamtentwurf. Nicht systematisch abstrakt, sondern situativ. Aus dem Dialog in den Dialog, aus dem Streit in den Streit. Eine lebendige, vibrierende Schrift. Themen in einem weiten Horizont. Aus der evangelikalen Bewegung in ihrer Vielfalt und aus den Kirchen. Frömmigkeit, Praxis und Theologie werden durchreflektiert. Viel Klartext. Kurze treffende Argumente. Bilder und Szenen, die man nicht mehr vergisst (Horst, der Straßenmissionar, der auch in meinem Elternhaus Station machte, hat einen himmlischen Oskar verdient!). Da gibt es feinen Humor, aber auch scharfe Satire. Man kann sich beim Blättern durchaus einen blutigen Finger holen an den karikierenden Zuspitzungen und muss doch sagen: Stimmt! Die Texte provozieren, atmen aber auch Freiheit. Mal weiß Jürgen Mette, dass man in die Knie gehen muss, um sich auf Augenhöhe zu begegnen. Er kennt die Lager, die Neigung der Evangelikalen, sich von wissenschaftlichen, kulturellen oder politischen Diskursen fernzuhalten, um dann medial oder evangelistisch im eigenen Milieu umso lauter aufzutreten. Ebenso den Habitus der sich vornehm und klug gebärdenden Großkirchen, die nach außen liberalistisch weichspülen, was sie eigentlich theologisch erkannt haben und für wichtig halten.

Ein streitbares, anregendes Buch, zu dem ich dem Autor in alter Verbundenheit gratuliere. Will es doch vor allem eins: zusammenbringen und überzeugen von der Sache Jesu. Jürgen Mette ist ein Brückenbauer. Das kostet Kraft und ist nicht immer eine dankbare Rolle. Man kann zwischen die Fronten geraten, von beiden Seiten missverstanden und im Stich gelassen werden. Man macht sich angreifbar. Doch wer das Buch genau liest, sieht, was das Anliegen ist, aus dem gerade die strittigen Themen wie Homosexualität oder Bibelverständnis in diesem Kontext entfaltet werden: Es geht ihm leidenschaftlich darum zusammenzuhalten, was auseinanderzufliegen droht. Vielfalt ist ja nicht nur bereichernd, sie kann auch zersplittern und schwächen.

Seit Jahren betreibt Jürgen Mette diese Mission, an der Basis, in persönlichen Gesprächen, aber auch bis in die Spitzengremien hinein: die „Pia-Desideria-Gespräche“ in der Kurhessischen Landeskirche oder im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz – wie auch mal eben im freundschaftlichen Chat mit EKD-Vertretern, die außerhalb des evangelikalen Schrebergartens säen und ernten. Ich bin sicher, wenn wir einmal vor Gottes Angesicht stehen, werden wir uns wundern, wie wir uns noch nie gewundert haben. Und allein dafür sollte es sich für uns lohnen, zusammen auf dem Weg.

Propst Helmut Wöllenstein ist Stellvertreter des Bischofs der Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck für den Sprengel Waldeck-Marburg.

Der Autor muss verrückt sein

„Warum tust du dir das an?“ So fragten mich einige meiner Kollegen, als ich sie für dieses Buchprojekt ins Vertrauen zog. Einer meiner engsten Berater sagte etwa so: „Für ,Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson‘ wurdest du geliebt und gelobt, aber mit diesem Buch wirst du in bestimmten Kreisen Anstoß provozieren!“ Richtig, ich möchte etwas anstoßen, eine lebhafte und lernbereite Streitkultur – und das in völlig friedlicher Absicht.

Inzwischen ist so viel passiert, dass das Thema noch mehr an Brisanz gewonnen hat. Ich bin nun freischaffender Senior mit Ruhestandsbezügen und fühle mich frei zu schreiben, was mir wichtig geworden ist16.

Dieses Buch ist ein Versuch der Verständigung zwischen

Protestanten und Katholiken,

Lutheranern und Baptisten,

Hochkirchlern und Pietisten,

Modernen und Romantikern,

Träumern und Pessimisten,

Pragmatikern und Idealisten,

Skeptikern und Enthusiasten,

Ökumenikern und Separatisten,

Charismatikern und Rationalisten,

Chancenspähern und Endzeitpropheten.

Oder um es mit dem neumodischen Begriffspaar auf den Punkt zu bringen, ein Versuch, die Exklusion zu überwinden und eine fröhlich werbende Inklusion der Jesus-Leute zu wecken.

Warum sollte sich eine immer mehr auseinanderstrebende und geistig obdachlose Gesellschaft für Jesus und die nach ihm benannte globale Körperschaft interessieren, wenn immer wieder einige ihrer Vertreter voneinander abrücken, statt um Gottes Willen eins zu sein und ihren Auftrag gemeinsam zu erfüllen?

Der Autor muss verrückt sein. Wie soll das gehen? Die Leute sagen, dass sei doch vergebliche Liebesmühe, denn erstens sei das Problem so alt wie die Kirche selbst und zweitens hätten das schon ganz andere versucht. Diese treuherzig stille und zuweilen kämpferisch laute und bunte Truppe lasse sich nicht zusammenhalten, so wurde mir warnend von der Idee dieses Buchs abgeraten.

Richtig, ich bin verrückt. Ich habe meinen Standort nur ein wenig ver-rückt, und schon sehe ich Chancen, wo bisher nur Blockaden waren. Ich erlebe zudem am eigenen Leibe die muskuläre Auffälligkeit einer neurodegenerativen Erkrankung, die Fehlsteuerung meiner Fortbewegung, die allmähliche Versteifung der Gelenke, das Zittern und Wanken des Leibes. Ich erlebe den Schaden einer sich selbst lähmenden Christenheit in doppelter Hinsicht „leiblich“. So lasse ich das Gebeinhaus einer amputierten und sich selbst extrahierenden Kirche hinter mir und werbe für Verständnis und Verständigung. Die Gemeinde Jesu könnte ein Geburtshaus sein, ein Ort vitaler Lebensfreude, ein Refugium der Gnade und Barmherzigkeit. Denn getrennt und zergliedert verleugnen wir das Werk der Versöhnung und damit das Haupt der Kirche, Jesus Christus.

Wer bin ich?

Der „ver-rückte“ Autor …

. . . ist ein friedliebender Christ, der nicht über den Zustand der Kirche lamentiert, sondern zuversichtlich zur Gesundung des Leibes namens Kirche beitragen möchte.

. . . hat seine kirchlichen Wurzeln in der SELK17 und seine geistlichen Wurzeln im EC18 und der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung.

. . . ist Mitglied der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Und das schon immer mit einer sympathisierenden Nähe zu den evangelikalen Freikirchen.

. . . denkt nicht daran, sich von der charismatischen Bewegung zu distanzieren, obwohl er mit enthusiastischer Frömmigkeit schon immer fremdelt.

. . . pflegt um Gottes willen Freundschaften mit Leuten, mit denen er eins in Christus ist, aber theologisch nicht zusammenkommt.

. . . streitet gern fair mit seinen Kritikern. Nie vor der Bühne, hin und wieder „on stage“, auf der Bühne, aber am liebsten „backstage“ hinter der Bühne.

Also kurzum: ein lutherisch getaufter, freikirchlich „konfirmierter“19, freiheitsliebender, charismatisch-konservativer Protestpietist. Alles klar? Ein Mainstream-Evangelikaler. Meine Leserinnen und Leser wollen doch wissen, woran sie sind.

Dieses Buch bietet keine wissenschaftliche Abhandlung. Wer daran interessiert ist, wird von Gisa Bauer20 und Hansjörg Hemminger21 besser bedient.22 Ich erforsche die Evangelikalen nicht aus der objektiven Distanz, ich erlebe sie subjektiv, weil ich ein Teil von ihnen bin. Darum der Untertitel: Eine biografisch-theologische Innenansicht. Ich doziere nicht, ich erzähle dankbar aus 50 Jahren Leben und Dienst im evangelikalen Milieu und frage kritisch nach.

Ach, bei der Gelegenheit noch etwas: Wer keinen Sinn für meinen selbstkritischen Humor hat, wird sich möglicherweise über mein Geschreib ärgern. Das wäre gesundheitsgefährdend.

Ich serviere diese Lesekost mit einem entspannten und hintergründigen Augenzwinkern. Das erleichtert die Verdauung unpässlicher Passagen. Also, jetzt ist es noch Zeit, dieses Buch dem besten Feind unterzujubeln, es im Netz zu verhökern oder es auf dem nächsten Flohmarkt feilzubieten.

Diese Lektüre eignet sich übrigens auch zur Steigerung des Blutdrucks. Zu Risiken und Nebenwirkungen frage man den Gründer der Kirche. Rezeptfrei! Weil ich keine Patentrezepte ausstelle. Ich will verstehen, prüfen und werben, ob am Ende die Schnittmenge um Jesus Christus nicht doch größer ist als das, was uns peripher trennt.

„Eure Liebe sei ohne Hintergedanken. Nennt das Böse beim Namen und werft euch dem Guten in die Arme. Liebt einander von Herzen wie Geschwister und übertrefft euch gegenseitig darin, einander Achtung zu erweisen.“23

9 Fritz Laubach, Aufbruch der Evangelikalen, Wuppertal 1972.

10 Siehe ihren Beitrag in diesem Band.

11 Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945–1989), Göttingen 2012.

12 Frederik Elwert u. a. (Hg.), Handbuch Evangelikalismus, Bielefeld 2017.

13 Hansjörg Hemminger, evangelikal. Von Gotteskindern und Rechthabern, Gießen 2016; Michael Herbst, „My God is mighty to save“. Was meinen wir eigentlich, wenn wir „evangelikal“ sagen? DtPfBl 117 (2017), 432–435. 523–527.

14 So vor allem der Abschnitt „Warum die Kirche ihre beste Zeit noch vor sich hat“, Kap. 6.4.

15http://www.zeit.de/2008/51/Stimmts-Adenauerzitat (Zugriff: 28.03.2018).

16 Oder auf evangelikal-deutsch: „Was Gott mir aufs Herz gelegt hat.“ Klingt doch gleich überzeugender.

17 Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche.

18 „Entschieden für Christus“.

19 Dort bekannt unter „Entlassung aus dem biblischen Unterricht“.

20 Siehe Fußnote 11.

21 Siehe Fußnote 13.

22 Leider nicht mehr im Handel, aber sehr lesenswert: Stephan Holthaus, Die Evangelikalen, Johannis, Lahr 2007.

23 Paulus von Tarsus (56 n. Chr.) in einem Brief an die junge Christengemeinde in Rom(12,9-10).

2. Die Evangelikalen

Die Evangelikalen sind politisch eher Mitte-rechts, aber auch Mitte-links, progressiv und konservativ, aktiv und besinnlich, träge und eifrig, charismatisch und emotional unmusikalisch, landeskirchlich und freikirchlich, modern und nostalgisch. „Den“ Evangelikalen gibt es nicht. Evangelikal ist eine Sammlung von „Jesus-first“-Gesinnten in den unterschiedlichen Kirchen und Freikirchen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Evangelikalen einmal als „intensiv evangelisch“ bezeichnet. Wenn man so will, sind Evangelikale ambitionierte Qualitätschristen, die ihren Glauben ernst nehmen. Am liebsten habe ich sie ja, wenn sie querbeet durch alle Milieus miteinander singen. Da sind sie am besten genießbar. Singen und Musizieren zur Ehre Gottes ist Balsam für Entzündungen im Leib der Kirche. Die Oma meiner Frau sagte immer: „Kinder, singt viel, wenn ihr zusammenkommt, dann wird nicht so viel dummes Zeug geredet!“ Eine kluge Frau. Auch evangelikal! „Generation Lobpreis“ nennen Tobias Faix und Tobias Künkler die Evangelikalen in ihrer neuesten empirischen Studie über die Hochreligiösen.24

Was ist eigentlich evangelikal?

Im internationalen Kontext bedeutet „evangelikal“ evangelisch, lutherisch, protestantisch. Im deutschsprachigen Raum versteht man unter „evangelikal“ eine protestantische Erneuerungsbewegung, die aus dem englischen Methodismus, dem deutschen Pietismus und der Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist.

„Evangelisch“ wurde im 18. Jahrhundert parallel zu „pietistisch“ und „erwecklich“ für einen ganzheitlich bekennenden Glauben aus dem Evangelium gebraucht, auch im Gegenüber zum dogmatisch kognitiv empfundenen Glauben der Orthodoxie.

Nach der Vereinigung der Reformierten und Lutheraner in der preußischen Union wurde „evangelisch“ im 19. Jahrhundert verbindender Ausdruck der auf die Reformation gegründeten Kirchen und diente zur Unterscheidung von eher konfessionalistischen Kirchen.

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheinen Evangelikale missionarisch, diakonisch, freigiebig, fleißig und manchmal auch ein wenig überheblich gegenüber anderen Frömmigkeitsprägungen. Wenn es nicht gerade um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, sind sie die „Stillen im Lande“: bibeltreu, bekenntnistreu, gebetstreu, wertetreu, diensttreu, spendentreu. Einfach nur treu. „Engagierte Protestanten im Aufbruch“, so charakterisierte der baptistische Evangelikalismus-Experte Stephan Holthaus25 die Evangelikalen. Das war vor zehn Jahren. Heute bringt es der baptistische Theologe und TV- und Hörfunkjournalist Andreas Malessa auf den Punkt:

„Wenn man die Presse verfolgt und auch die eigene evangelikale Presse, dann kommt man leider auf die Faustformel: Evangelikal – das bedeutet ‚Gott schuf die Welt in sechs Tagen‘, ‚Frauen gehören nicht auf die Kanzel‘ und ‚Kinder nicht in die Kita‘ und ‚Schwule nicht in die Kirche‘ und ‚Muslime nicht zu Deutschland‘. Das ist so ein holzschnittartiges Programm geworden, das aber nicht der evangelikalen Gemeindewirklichkeit entspricht.“26

Selbstbewusst fühlen sich die in der „Deutschen Evangelischen Allianz“27 verbündeten Lutheraner, Pietisten, Baptisten, Methodisten, FeGler, Charismatiker und Pfingstler als diejenigen, die Gott und seinem Wort noch die Treue halten!

Die 1966 in der Dortmunder Westfalenhalle gegründete Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ hat den anglo-amerikanischen Terminus „evangelical“ übernommen, proklamiert und als Markenzeichen des konservativen Protestantismus eingeführt.

Der Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974 mit Billy Graham und John Stott schärfte das theologische Profil der Evangelikalen: ein am Evangelium orientierter gelebter Glaube in der theologischen Tradition der Reformation und der Erweckungsbewegung. Von dieser Zeit an etablierte sich langsam und stetig der Begriff „evangelikal“.

In den Siebzigerjahren begann im Westen eine rasante Entwicklung evangelikaler Werke und Verbände, Arbeitskreise und Netzwerke, die nach der Wende auch auf den Osten des Landes überging. Das Allianzhaus in Bad Blankenburg wurde mit seiner legendären Allianzkonferenz wieder zum gesamtdeutschen Zentrum der Evangelikalen.

Und so zeigen sich die Evangelikalen:

missionarisch/evangelistisch offensivpolitisch eher defensiv – bis auf Lebensrechtsfragentheologisch konservativapologetisch motiviertpublizistisch progressivund immer als verlässliche Freunde Israels

Die World Evangelical Alliance mit Sitz in New York vertritt nach eigenen Angaben 600 Millionen Christen in 129 Ländern. Andere Quellen sprechen von 330 Millionen28. 250 Millionen gehören zu evangelikalen Kirchen, die Mehrheit davon in der Dritten Welt und dort mit starkem Wachstum.29

Mehr als 40 Prozent der US-Amerikaner bezeichnen sich Gallup-Umfragen zufolge selbst als evangelikal.

In Deutschland verstehen sich eine knappe Million Protestanten als evangelikal, also 1,2 % der Bevölkerung, teils freikirchlich, teils landeskirchlich. Es bestehen 1.100 Ortsgruppen der Evangelischen Allianz, in der sich die evangelischen Gemeinden und Einrichtungen treffen, gemeinsam beten (z. B. in der Allianzgebetswoche) und gemeinsam arbeiten (z. B. bei evangelistischen Initiativen).

Evangelikale verstehen sich vielerorts als geistliches Ferment der Landeskirchen und zeigen eine hohe Motivation zur Mitarbeit. Die Aufgabe der äußeren Mission wird weltweit zum größten Teil von evangelikalen deutschen Missionswerken mit knapp 3.000 Mitarbeitenden wahrgenommen. Bei evangelistischen Aktivitäten sind evangelikal geprägte Protestanten die Schrittmacher. Und das mit beachtlicher finanzieller Solidarität und Opferbereitschaft.

Die evangelikale Szene zeichnet sich durch eine beachtliche Medienpräsenz aus, besonders durch den Nachrichtendienst idea, den Christlichen Medienverbund KEP, ERF-Medien30 und ein beeindruckendes Verlagswesen, wie z. B. die Stiftung Christliche Medien31.

Die evangelikalen Hochburgen formieren sich regional in den einstigen Erweckungsgebieten des 19. Jahrhunderts. Landeskirchliche Gemeinschaften und freie Gemeinden bildeten sich dort, wo die örtlichen Kirchengemeinden die Folgen der Erweckung nicht integrieren konnten oder nicht wollten. Regionale Schwerpunkte bildeten sich z. B. in Württemberg und Sachsen – da besonders im Erzgebirge und Vogtland, in Mittelfranken und im Bergischen und Oberbergischen Land, Siegerland, Westerwald, Dillkreis, Mittelhessen und Ostwestfalen.

Im Rhein-Ruhr-Bereich waren es die Teerstegen-Konferenz, in Württemberg die Hofacker-Konferenz und in Baden die Henhöfer-Konferenz. Die beiden letzten firmieren heute als „Christustage“, die zur Basis der evangelikalen Bewegung geworden sind.

„Sie sammeln sich um Bibel und Gebet und betonen die Notwendigkeit einer bewussten Glaubensentscheidung. Leben im Glauben bedeutet für sie gemeinsames missionarisches Zeugnis und soziales Engagement. Kritischen Anfragen an den christlichen Glauben und das kirchliche Bekenntnis stehen sie offen gegenüber, sind aber nicht bereit, beim Fragen stehen zu bleiben, sondern wollen zu konstruktiven Antworten kommen. Sowohl der ERF als auch idea und KEP wären ohne den Pionier evangelikaler Publizistik, Horst Marquardt, nicht denkbar. Sie halten an der Vertrauenswürdigkeit der Bibel und am Bekenntnis fest.“32

Die Deutsche Evangelische Allianz bekennt sich als ein Netzwerk von Christen zu folgenden Überzeugungen:

„Wir glauben an den dreieinen Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er hat die Welt erschaffen, er liebt sie und erhält sie. Darin zeigt er seine Souveränität und Gnade.Der Mensch besitzt als Ebenbild Gottes eine unverwechselbare Würde. Er ist als Mann und Frau geschaffen. Er ist durch Sünde und Schuld von Gott getrennt.