Die Farben des Bösen - Anja Berger - E-Book

Die Farben des Bösen E-Book

Anja Berger

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Beschreibung

Ein überraschender Thriller aus der Schweiz um Leidenschaft und dunkle Geheimnisse! Ein unauffälliger Mann beginnt, Singlefrauen die Zuneigung vorzuspielen, nach der sie sich sehnen. Er lädt sie mit einem anonymen Brief zu einem Blinddate ein, entführt sie, foltert, verstümmelt und tötet sie. Die Polizei lockt er anfangs mit Körperteilen, die er an den unmöglichsten Orten deponiert, dann mit den Leichen der Frauen. Der Mörder gleicht seine Opfer optisch einander an, bis sie alle blond und blauäugig sind – und damit einer einzigen zum Verwechseln ähnlich sehen: Eva… Blogger zu »Die Farben des Bösen«: »Für alle Thriller-Liebhaber ist dieses Buch ein Muss.«

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Seitenzahl: 502

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Anja Berger

Die Farben des Bösen

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein überraschender Thriller aus der Schweiz um Leidenschaft und dunkle Geheimnisse!

Inhaltsübersicht

PrologSchwarzWeißSchwarzWeißSchwarzWeißSchwarzWeißGrauWeißSchwarzGrauSchwarzGrauWeißGrauSchwarzGrauWeißSchwarzWeißSchwarzGrauWeißSchwarzWeißSchwarzGrauWeißGrauSchwarzWeißSchwarzWeißSchwarzWeißGrauWeißSchwarzWeißSchwarzWeißGrauWeißSchwarzGrauWeißGrauSchwarzGrauWeißWeißSchwarzGrauWeißSchwarzGrauWeißSchwarzGrauWeißGrauWeiß/SchwarzGrauSchwarzWeißGrauWeißWeißGrauWeiß/SchwarzSchwarzEpilog
[home]

Prolog

»Melissa? Brauchst du Hilfe?« Er horchte in Richtung Tür.

Keine Antwort. Auch sonst war aus der Küche kein Geräusch mehr zu hören. Das Ploppen der zerplatzenden Maiskörner in der heißen Pfanne war seit geraumer Zeit verstummt. Die Schüsseln klapperten nicht mehr.

Sollte er sich jetzt wirklich aus diesen weichen Sofakissen aufraffen und nachsehen? War das notwendig? Schläfrig schaute er auf den flimmernden Fernseher. Der Bildschirm zeigte zwei Personen. Eine Frau mit weit geöffnetem Mund und übertrieben ängstlichem Blick. Sie war hübsch. Blond, blauäugig und bald tot. Denn über ihr stand ein schwarz gekleideter Mann. Er hielt ein Messer in der Hand und war wild entschlossen, auf die Frau einzustechen. Damit musste er aber noch warten, bis das Popcorn fertig und die Zigarettenpause vorbei war.

Sorry Bob – oder wie hieß dieser Mörder noch gleich?

Er wusste es nicht mehr. Genau genommen wusste er ziemlich wenig über den Film. Er war zu sehr mit etwas anderem beschäftigt gewesen.

Wie lange konnte man sich an Berührungen und Blicken einer bestimmten Person erfreuen, bevor man platzte und ihr schließlich trotz aller Ängste seine Gefühle beichtete?

Nun, er würde es herausfinden. Aber bis dahin genoss er einfach das heiße Kribbeln unter der Haut, das allein schon die Gegenwart dieses einen Menschen verursachte.

Herrgott, wenn das jemand wüsste …

Apropos jemand. Inzwischen fehlten auch die Raucher verdächtig lange. Wo waren sie alle?

Seufzend erhob er sich und wankte zum Fenster des zweistöckigen Holzhauses. Unterwegs schnappte er sich die halb leere Flasche Bier vom Beistelltisch. Er setzte sie an und sah nach draußen. Tolle Aussicht. Selbst bei Nacht. Er öffnete das Fenster und ließ die kühle Luft herein. Es roch nach Schnee. Rundherum ragten dunkle Tannenspitzen in den Nachthimmel.

Das Haus lag an einem Hügel, etwa zwei Kilometer außerhalb des Dorfes. Das hatte Vorteile.

Zum Beispiel konnte man nächtliche Partys feiern, so lange man wollte. Niemanden störte der Lärm. Abgesehen davon, gab es in der unmittelbaren Umgebung nur Ferienhäuser. Da keine Saison war, standen fast alle Wohnungen leer. Er konnte das nicht verstehen. War es denn nicht das Coolste, einfach spontan seine Sachen zu packen und am Wochenende in sein Ferienhäuschen abzurauschen? Er fand schon. Deshalb klaute er seinem Onkel auch regelmäßig den Schlüssel zu dieser Wohnung. Der merkte es sowieso nicht.

Er schnupperte. Zigarettenrauch.

Eva und Sam waren also noch am Paffen. Gut.

Er schnappte ein paar Fetzen ihrer Unterhaltung auf. Es ging um Chris und Tanja.

Was war noch mal der Grund gewesen, weshalb die beiden nicht hatten mitkommen können? Er dachte kurz nach. Ah ja, das Reitturnier von Tanja und der Geburtstag von Chris‘ Großmutter. Aber eigentlich war ihm das völlig egal, denn der wichtigste Mensch war ja da.

Seufzend wandte er sich vom Fenster ab. Melissa war noch immer nicht zurück. Was tat sie so lange in der Küche?

Er ging zum Eingang des Fernsehraumes. Der Duft von geschmolzener Butter und frischem Popcorn waberte angenehm um seine Nase.

Ein Element wollte aber nicht in diese leckere Duftnote passen.

Irgendetwas roch seltsam. Nach Angebranntem? Nein. Es war kein beißender Gestank.

Was war das?

Er ging auf den Treppenabsatz zu, stieg die Hälfte der Stufen hinunter.

Der Geruch wurde stärker.

Er stutzte, hielt sich am Geländer fest, drehte sich zum Kücheneingang.

Auf einmal ging alles ganz schnell.

Er sah Melissa vor dem Backofen.

Sie drehte an einem Knopf.

Griff nach einem Streichholzbriefchen.

Die Haustür zu seiner Linken öffnete sich.

Im Augenwinkel sah er die beiden anderen eintreten.

Melissa drehte sich zu ihm um.

Sie sah ihn an. Eine verstörende Ruhe ging von ihr aus.

Sie brach ein Streichholz aus dem Briefchen.

Ihre Augen flehten ihn an, ihr zu verzeihen.

Da begriff er.

Gas.

Aber es war zu spät.

Das Streichholz entflammte.

Und auf einmal verschwand alles in einem riesigen Feuerball.

[home]

Schwarz

Ein Bild durchzuckte ihn wie ein Blitz. Ein Krankenbett. Schreie, die in seinen Ohren nachhallten. Seine Schreie?

Wilde Emotionen pflügten unkontrolliert durch sein Inneres. Schweiß. Panik.

Er schlug die Augen auf. Eine ganze Weile rührte er sich nicht. Er starrte in die Dunkelheit und konzentrierte sich auf seinen rasenden Puls.

Man hatte ihm gesagt, die Details würden irgendwann zur Unkenntlichkeit verblassen.

Aber dem war nicht so.

Seit vielen Jahren verfolgte ihn dieser Traum nun schon. In jeder Einzelheit.

Inzwischen war er dankbar dafür.

Denn so wurde er jede Nacht aufs Neue darin bekräftigt, dass sein blutiges Handeln richtig war.

[home]

Weiß

»Noch einen!« Bevor Eva in die Zitrone biss, rief sie dem Barkeeper ihre Bestellung entgegen. Dann knallte sie das Shotglas auf den Tisch und steckte sich den sauren Schnitz zwischen ihre Zähne. Der Saft ließ sie eine seltsame Fratze schneiden, die dem Glöckner von Notre-Dame alle Ehre gemacht hätte. Ehe sie die Fruchtschale in ihr leeres Gläschen gesteckt hatte, stand der neue Tequila schon bereit. Mit einem amüsierten Lächeln nahm der Barkeeper Evas Kreditkarte entgegen und verschwand wieder.

»Ach neeeeee! Nicht noch einen! Sag mal, willst du mich abfüllen?« Übertrieben genervt gesellte sich Tanja neben Eva an die Bar.

»Das hat man eben davon, wenn man aufs Klo geht«, entgegnete Eva. »Deinen Barhocker habe ich übrigens der Dame neben dir ausgeliehen.«

Tanja nickte, tippte der Frau im blauen Top auf die Schulter, zeigte auf Eva, dann auf den Hocker. Gehorsam rutschte die brünette Unbekannte vom Stuhl, und Tanja setzte sich.

»Eigentlich ist ja nichts an Schnaps auszusetzen, aber muss es immer dieser fürchterliche Tequila sein? Kann es nicht mal etwas Leckeres sein, wie Wodka Feige?«

»Tut mir leid, der ist aus.« Eva leckte ihren Handrücken ab, streute Salz darauf und hob das Glas.

Tanja verdrehte die Augen, tat es Eva aber schließlich gleich.

»Na dann, zum Wohl.« Eva leckte das Salz ab, stürzte den Tequila in einem Zug in den Rachen, biss in ihre Zitrone und machte das passende Gesicht.

Tanja sah nicht besser aus, wie sie bei einem Blick in die Spiegel hinter den Getränkeflaschen der Bar feststellen musste. »Und wie sollen wir Männer aufreißen, wenn wir so aussehen?«

Eva folgte Tanjas Blick. Sie lächelte Tanjas Spiegelbild an und legte so anstelle von Zähnen einen gelben Streifen frei.

»Ja, an dir ist ein Komiker verloren gegangen. Eindeutig.«

Eva spuckte die Überreste der Zitrone aus. »Was fehlt, ist nicht irgendein Mann. Was fehlt, ist Sex.«

»Gut gebrüllt Löwe, aber dazu brauchen wir nun einmal einen Mann. Nur mit Dildos und Händen ist es irgendwann nicht mehr so prickelnd.«

»Pfui! So genau will ich nicht wissen, was du in deinen vier Wänden treibst!«

»Wer spricht denn von meinen vier Wänden?« Tanja wackelte vielsagend mit ihren Augenbrauen.

Mit einem Ruck hob der Barkeeper den Kopf. Er bedachte Tanja mit einem zaghaften Lächeln und verschüttete dabei den Alkohol, der eigentlich in das Cocktailglas vor ihm gehörte.

Eva musste schmunzeln. »Hör bloß auf, unser Serviceboy ist schon ganz wuschig, und die Bilder in meinem Kopf werde ich nie wieder los!«

»Wuschig, hm?« Tanja musterte den Barkeeper, während sie eine ihrer schulterlangen, schwarzen Haarsträhnen um den Finger wickelte. »Von der Bettkante stoßen würde ich ihn nicht«, lautete ihr Resümee nach einer eingehenden Begutachtung.

Ein Glas fiel klirrend zu Boden. Als der Mann hinter der Theke sich danach bückte, kam Eva zu dem Schluss, dass er noch nicht lange in diesem Business arbeitete. Sonst würde er bei einer solchen Anmache kaum nervös werden wie ein jungfräulicher Schuljunge.

»Dann sorg dafür, dass er es überhaupt bis zu deiner Bettkante schafft. Unterwegs könnte er uns aber noch zwei Bier basteln.« Eva rutschte von ihrem Hocker.

»Sicher. Welches darf’s denn heute sein? Ein dunkles, ein blondes oder ein braunes?«

»Schwarz. Ich hab noch nichts gegessen.«

Tanja musterte die Zapfhähne des Offenausschanks und entdeckte das passende Logo zu Evas Wunsch.

[home]

Schwarz

Eine einzelne Öllampe hing an der Decke und gab flackernd ihr spärliches Licht ab. Die Schatten tanzten an den grauen Betonwänden. Es war feucht, roch modrig. An manchen Stellen drang Wasser ein. In dünnen Rinnsalen lief es über die Wand, wo sich ein dunkler, schlammiger Film bildete.

Aber die Frau auf dem kalten Metalltisch konnte das nicht sehen. Er hatte ihr die Augen mit einem weißen Tuch verbunden. Ganz anders als der Raum roch es frisch. Eine Mischung aus Waschmittel und Männerparfüm stieg ihm bei jeder ihrer Bewegungen in die Nase.

Und sie bewegte ihren Kopf oft.

Hektisch drehte sie ihn hin und her. Wimmerte. Heulte auf.

Angetan beobachtete er ihre leidenschaftlichen Versuche, sich gegen seine Attacken zu wehren. Sich seiner Macht zu entziehen.

Sie wollte treten. Um sich schlagen. Schreien. Er sah es deutlich. An den Muskeln, die unter ihrer weichen Haut zuckten, sich anspannten und wieder lösten.

Aber sie konnte nichts dergleichen tun.

Sie war ausgeliefert. Der Mund geknebelt. Hände und Füße an den Tischbeinen festgebunden.

Sie zerrte an den Fesseln. Doch mit jedem Ruck schnitten sie nur noch tiefer in ihre sowieso schon aufgescheuerten Gelenke.

Sie konnte vor Anstrengung kaum mehr atmen. Der Stoff glitt in ihre Mundhöhle wie eine tödliche Schlange. Er hörte zufrieden, wie sie würgte.

Erneut senkte er das Messer in ihre Brust. Der scharfe Schmerz kam sofort. Ihr Körper reagierte ohne ihre Einwilligung. Gepresst schrie sie in ihr Tuch. Riss unter der Augenbinde die Augen auf. Bäumte sich auf, soweit es die Fesseln zuließen. Ihr Atem ging stoßweise.

Schweißgebadet sackte sie zurück auf den Tisch.

 

Sie konnte ihn hören. Er lachte. Leise, aber er lachte. Als würde er in sich hinein lachen.

Sie wollte heulen. Und nie wieder damit aufhören. Aber dann würde sie an ihren Schluchzern ersticken. Eine neue Welle auswegloser Verzweiflung überrollte sie.

Neuer Schmerz durchzuckte ihren Körper.

Ein weiterer Schnitt. Noch einen würde sie nicht überstehen. Da war sie sich sicher.

Genauso wie er.

Sie wartete. Lauschte angestrengt.

Aber es erfolgte kein neuer Schnitt.

Ein leises, schlurfendes Geräusch, kurz darauf ein kaum hörbares Schleifen, dann nichts mehr.

Sie lenkte ihre Konzentration auf ihre unmittelbare Umgebung. Sie horchte. Schnupperte. Bis auf ein gespenstisches, regelmäßiges Quietschen war es still im Raum. Es roch nach Petroleum. Schatten tanzten vor ihren Augen. Eine Öllampe? Das Licht drang immer wieder durch den weißen Stoff ihrer Augenbinde und durch ihre Augenlider. Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Ein nervenzerreißendes Spiel.

Dazu dieses quälende Pochen und Brennen der offenen Wunden auf ihrer Brust.

War er wirklich weg?

Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich bei diesem Gedanken unendlich erleichtert.

Bis der Schmerz in ihr Bewusstsein zurückkehrte.

Langsam bewegte sie ihren Kopf in die Richtung, in die er nach ihrer Meinung gegangen war.

Die frische Geruchsmischung stieg ihr wieder in die Nase.

Ihr brach der kalte Schweiß aus.

Langsam pendelte die Lampe aus. Das Licht vor ihren Augen hörte auf zu flackern. Das leise Quietschen verstummte und damit auch ihr Gefühl der Erleichterung.

Dumpfe Stille füllte den Raum.

Sie wusste nicht, was schlimmer war. Diese erdrückende Stille oder sein beängstigendes Lachen.

Er war ihre einzige Gesellschaft. Sie wollte fast, er käme zurück.

Konnte er nicht wieder der liebevolle Mann sein, der ihr diesen scheuen, zärtlichen Brief geschrieben hatte? Die Zeilen, unter die er nicht einmal gewagt hatte, seinen Namen zu setzen?

Damals hatte sie geglaubt, er wäre nur schüchtern. Heute wusste sie es besser.

Ein Scharren drang an ihr Ohr.

Sie horchte auf.

Kam er zurück?

Dem Scharren folgte ein Rascheln. Ein Fiepen.

Nein. Das war nicht er.

Das war eine Ratte.

Er war doch nicht ihre einzige Gesellschaft.

[home]

Weiß

Eva stieß sich von der Theke ab, brachte sich möglichst würdevoll auf ihren neuen Pumps in Position. Brust raus, Bauch rein und losgestöckelt.

Aber sie kam nicht weit. Kaum hatte sie einen Schritt getan, da versperrte ihr ein Wesen des anderen Geschlechts den Weg; ob Mann oder Junge, konnte sie nicht sagen. War dieser Schnösel überhaupt alt genug für diesen Club?

»Hei. Du siehst aus, als würdest du tanzen wollen.«

Sah sie das? War das sein Ernst? Und genau das fragte sie ihn auch.

»Ernsthaft? Ich denke, ich mache eher den Eindruck, aufs Klo zu wollen.«

Auf das süffisante Lächeln der halben Portion reagierend, fügte sie hinzu: »Allein.«

»Na, wer wird denn gleich so unfreundlich sein.«

Weil sie allein aufs Klo wollte? Das konnte ja heiter werden. Eva unterzog ihren neuen Gesprächspartner einer kurzen Musterung. Ja, durchaus attraktiv. Dunkles, modern gestyltes Haar, markant geschnittenes Gesicht, kantiges Kinn, braune Mandelaugen, unter dem weißen T-Shirt gut gebaut. Die Jeans ließ zu wünschen übrig, aber wer war denn schon perfekt? Er achtete auf sich. Sehr lobenswert. Alles in allem ziemlich anziehend.

Wenn man 16 Jahre alt war.

Abgesehen davon, war er einen Kopf kleiner als Eva, hatte noch kaum Bartwuchs, und seine Brust war bestimmt glatt rasiert, wenn überhaupt schon etwas flaumte.

»Kleiner, ein Vorschlag: Such dir etwas von deinem Kaliber, okay?«

»Du bist genau mein Kaliber.«

»Ach herrje. Und womit habe ich dieses Prädikat verdient?«

Er sah sie nur verständnislos an.

Das wurde ja immer besser. Der Intellekt passte sich dem Alter an. War ja nicht anders zu erwarten. »Junge, ich bin mindestens zehn Jahre älter als du, also eigentlich müsstest du mich sogar siezen. Es gibt hier genügend Mädels in deinem Alter, also schnapp dir eine von denen und lass mich aufs Klo gehen. Okay?«

»Süße, du bist heiß und frech, das gefällt mir.«

Neben Eva prustete jemand los. Sie warf Tanja, die sich ihr versabbertes Bier vom Kinn wischte, einen vernichtenden Blick zu.

»Sag mal, Kleiner, was genau hast du nicht verstanden? Ich steh nicht auf junges Gemüse und ich steh nicht auf dich. Also zieh Leine. Ist das jetzt angekommen?«

Er lächelte unbeirrt weiter. »Du lügst. Ich habe meine Erfahrung mit alten Frauen. Zuerst zieren sie sich, haben moralische Bedenken, dann werden sie doch weich, weil sie sich innerlich einen jugendlichen Geliebten wünschen. Schlussendlich endet das Ganze in ekstatischen Schreien. Außerdem sehen sich die Ladys gerne als Lehrerinnen. Sie wollen mit ihrer Erfahrung Jüngeren Lust bereiten. So läuft das nun mal. Dagegen kommst auch du nicht an.«

Eva öffnete ungläubig den Mund. Dieser arrogante, wichtigtuerische Winzling! »Okay Kleiner, ich gebe dir einen kleinen Tipp mit auf den Weg. Nenn eine Frau nie alt. Schon gar nicht, wenn sie gerade mal 32 ist. Es gibt sicherlich Frauen, die nach deinem Schema ticken. Such dir eine von denen.« Eva sah sich kurz im Raum um und entdeckte ein bekanntes, aber normalerweise ungern gesehenes Gesicht. Nicht so heute. »Eine Kleinkindererzieherin ist genau das Richtige für dich. Siehst du die Brünette dort drüben? Versuch‘s bei der. Sie ist 40 und kennt sich aus damit, vorlauten Bengeln etwas beizubringen.«

Eva wagte es nicht, zu hoffen, dass ihr Plan Früchte tragen könnte, aber der Zwerg sah sich um. Seine Augen verschlangen regelrecht die Frau, auf die Eva deutete.

Ja, schön wär’s, wenn er sie vernaschen und nie wieder ausspucken würde. Doch das war ein anderes Thema.

»Sorry, Süße. Es war echt nett, dich kennenzulernen, aber ich muss jetzt leider los. Du wirst darüber hinwegkommen.« Er tätschelte tröstend Evas Hand und zog ab. Eva beobachtete, wie er sich tänzelnd zwischen den Leuten hindurchschlängelte und sich langsam zu seinem nächsten Opfer vorarbeitete. Er schlich sich von hinten an, reckte den Hals, legte den Mund an ihr Ohr und flüsterte ihr offenbar etwas zu. Dabei musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, wie Eva belustigt feststellte. Die Brünette drehte sich abrupt um und sah überrascht in das Gesicht des wesentlich Jüngeren. Die Musterung von einer knappen Sekunde reichte aus, und die Überraschung machte einem anzüglichen Lächeln Platz.

Ziel erreicht.

Die Vorstellung, wie dieser Flirt weitergehen könnte, ließ Eva angeekelt den Kopf schütteln. Dann atmete sie erleichtert aus, kehrte dem Raum den Rücken, konzentrierte sich noch einmal kurz auf Tanja und das volle, besitzerlose Bierglas auf der Theke. In tiefen Zügen trank Eva das Glas leer, klopfte ihrer Freundin, die sich nur mit Mühe das Lachen verkniff, auf den Oberarm, deutete auf das Glas und wandte sich wieder um mit dem Ziel, ihren ursprünglichen Plan erneut in Angriff zu nehmen. Sie hob entschlossen den Kopf und erstarrte. Über die Köpfe anderer Discobesucher hinweg und zwischen ihnen hindurch sah sie ihn. Ihre Blicke trafen sich. Für den Augenblick eines Wimpernschlags schien keiner von beiden fähig wegzusehen. Eva schluckte schwer.

Wie irrational.

Aber egal, was ihr Gehirn dachte, ihr Puls machte etwas anderes. Blind suchte sie nach Tanjas Knie. Sie fand es und tippte vorsichtig dagegen.

Evas Blickkontakt lächelte kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf sein Bierglas.

War er etwa verlegen? Oder gelangweilt?

Tanja, die intensiv mit dem Barkeeper beschäftigt war, schlug Evas Hand ungeduldig weg. Als das Klopfen dann aber drängender wurde, drehte sie sich um.

»Du bist immer noch hier?«

Eva ignorierte die Frage. »Guck mal unauffällig geradeaus. Siehst du den Kerl mit den braunen Haaren und den ebenso braunen Augen? Der, der gerade sein Bierglas an diese toll geformten Lippen oberhalb dieses faszinierend kantigen Kinns hebt?«

Mit einem schiefen Lächeln versuchte Tanja, Evas Hinweis zu folgen. Und tatsächlich, sie entdeckte den Mann. »Au, verflixt. Warum hast du dieses Sahneschnittchen zuerst entdeckt?«

»Er hat mich entdeckt. Halt dich nur an deinen Barkeeper, ich bin gleich zurück.«

»Oder auch nicht«, murmelte Tanja zufrieden grinsend.

Eva nahm ihren gesamten Mut zusammen und steuerte direkt auf den Mann mit den sanften braunen Augen zu, der praktischerweise vor dem Eingang zur Damentoilette stand. Als Eva sich ihm näherte, hob er den Kopf und sah sie an. Erneut erwiderte Eva den Blick. Sie trat an ihn heran, öffnete leicht den Mund.

Dann schloss sie ihn wieder, lächelte scheu, strich sich eine helle Haarsträhne hinters Ohr und drückte sich entschuldigend an ihm vorbei.

Eva huschte in die Damentoilette und lehnte sich gegen die Wand.

Der Mut hatte sie verlassen. Auf den letzten Metern. Typisch. Dabei konnte er kaum deutlichere Signale senden. Sie schlug mehrmals leicht mit dem Hinterkopf an die Wand und verfluchte sich selbst. Tanja hatte sie bestimmt beobachtet und klatschte sich jetzt mit der Hand gegen die Stirn, wie es typisch für sie war, wenn sie an etwas verzweifelte. Das dazugehörende Aufstöhnen konnte Eva beinahe hören.

So ein Mist. Aber es war noch nichts verloren. Einfach aufs Klo gehen, dann raus und es erneut versuchen. Er wird bestimmt noch da sein.

Nur, was sollte sie sagen? Einfach Hallo?

Nein.

Doch.

Nein.

Warum eigentlich nicht?

Gut.

Hinter der verschlossenen Tür der WC-Kabine betätigte jemand die Spülung. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und eine stark nach Alkohol riechende, übernächtigt aussehende Frau mit blauer Perücke schlurfte wackelig an Eva vorbei. Eva schlüpfte in die frei gewordene Kabine, erledigte, was zu erledigen war, atmete tief durch, setzte ein süffisantes Lächeln auf, von dem sie hoffte, es möge sexy wirken, und beeilte sich, zurück in den lauten, von wild umherhuschenden Lichtern erleuchteten Raum zu kommen.

Sie sah sich um. Aber dort, wo der Unbekannte vorhin gestanden hatte, war niemand mehr.

Verflucht.

Angestrengt hielt sie nach ihm Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. Obwohl ... an der Bar, unweit von Tanja entfernt ... Das war er doch, oder?

Ein Mann und eine Frau versperrten Eva die Sicht. Sie wünschte sich sehnlichst, die beiden würden verschwinden. Und sie schienen ihren Wunsch zu hören, denn sie traten zur Seite und gaben den Blick auf einen gut gebauten Herrn frei, der mit charmantem Lächeln auf den Barkeeper einredete.

Eva konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sie suchte Tanjas Blick und fand ihn. Tanja nickte ihr aufmunternd zu. Sie hatte ihn also auch entdeckt. Eva reckte das Kinn und marschierte zielsicher los. Kaum fünf Schritte schaffte sie.

[home]

Schwarz

Die Ratten huschten den Schatten entlang. Sie kamen näher. Neugierig schnuppernd, hielten sie die kleinen Schnauzen in die Luft. Die Barthaare zitterten. Flink eilten sie weiter. Blieben vor der schwarzroten Lache stehen, die sich auf dem Boden gesammelt hatte. Schnupperten wieder.

In einer Lache aus ihrem Blut, Urin und Schweiß lag sie da. Die hässlichen Wunden schlossen sich bereits, aber es sickerte noch immer frisches Blut heraus.

Es rann aus ihrer Brust über den Metalltisch, folgte der Neigung der Tischplatte, vermengte sich mit demjenigen aus ihren aufgescheuerten Handgelenken. Langsam bewegte es sich auf die Kante zu.

Und tropfte darüber.

 

Erschöpfung machte sich breit.

Wie spät war es? Tag oder Nacht? Wie lange lag sie schon hier? Es fühlte sich an wie Wochen. Doch in Wirklichkeit waren es wahrscheinlich nur wenige Stunden.

Wie lange würde er sie festhalten?

Ließ er sie überhaupt jemals wieder frei?

Diese Frage versetzte sie nicht mehr in Panik. Dafür hatte sie keine Energie mehr.

Ihre Gedanken kreisten weiter, verloren aber zunehmend an Kontur, bis sie schließlich ganz verschwanden. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, umfing sie eine tiefe Ohnmacht.

[home]

Weiß

Eva hatte ihr Ziel fest im Blick, als plötzlich jemand unversehens von der Tanzfläche stolperte und sie anrempelte. Überrascht drehte er sich um. Sein Gesicht glühte, seine Augen glänzten, und ein strahlendes Lachen lag noch auf seinen Lippen, als er eine Entschuldigung stammelte. »Himmel! Wo kommst du denn plötzlich her? Hast du dir was getan? Ich hoffe nicht! Es tut mir leid, ich habe kurz mal das Gleichgewicht verloren, war wohl etwas abgelenkt. Ich bin auf dem Weg zur Bar, flüssigen Nachschub besorgen, du weißt schon. Willst du auch was? Ich gebe dir einen aus, als Entschuldigung!« Er schaute Eva derart vergnügt an, und sein Angebot klang so wenig nach Anmache, dass Eva sich einfach von seiner Heiterkeit anstecken lassen musste. Aber annehmen wollte sie es dennoch nicht. Sie hielt vorsichtig nach ihrem potenziellen Date an der Bar Ausschau. Er stand noch immer dort. Und er hatte das Zwischenspiel mitbekommen. Interessiert beobachtete er die Szene, sehr zu Evas Freude.

»Ist schon gut. Nichts passiert. Dein Angebot ist sehr nett, aber ich bin nicht allein hier.«

»Oh! Verstehe! Schade!«

Eva zuckte bedauernd mit den Schultern und wollte ihren Weg fortsetzen, als sich eine weitere Stimme einmischte.

»Daniel! Wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst nicht rückwärts, sondern vorwärts gehen! Du fährst dein Auto schließlich auch nicht rückwärts durch die Gegend, oder? Alles in Ordnung?« Während er sprach, schlug er seinem Freund kräftig auf die Schulter; dann wandte er sich Eva zu.

Sie konnte nicht antworten, sondern starrte den Neuankömmling einfach nur an. Mit zusammengebissenen Zähnen.

Jetzt sah er ihr direkt ins Gesicht. Und sein Lächeln wich einem Ausdruck der Überraschung. Dennoch fand er die Sprache als Erster wieder. »Oh, hallo.«

Etwas Besseres fiel ihm anscheinend nicht ein.

Daniel schien von der unbehaglichen Stimmung, die auf einmal herrschte, nichts zu bemerken. »Sam, darf ich vorstellen, das ist ehm ...« Beide Hände zur Präsentation erhoben, schaute Daniel Eva erwartungsvoll an.

»Eva«, gab sie artig zur Antwort, ohne die Augen von Sam zu nehmen.

»Richtig. Eva. Hübscher Name. Ich hol uns mal was gegen die trockenen Kehlen.«

»Tu das«, antworte Sam, ohne seinen Freund eines Blickes zu würdigen.

Evas Hoch war vorbei. »Hallo, Samuel.«

»Eva. Schön, dich zu sehen.«

Evas Stimmung kam bei ungefähr 40 Grad unter null an, und sie gab sich keine Mühe, das zu verheimlichen. »Weiß mein Bruder, dass du zurück bist?«

Sam verstand. »Ich habe ihn gestern angerufen. Du siehst gut aus. Wie geht es dir?« Die Frage war aufrichtig gemeint, aber Evas Emotionen fuhren Achterbahn. Eine normale Antwort ließ sich nicht bewerkstelligen.

Eva nickte. »Gut. Na, dann. Tanja wartet auf mich. Ich werd dann mal gehn.« Mit dem Daumen deutete sie vage hinter sich. Sie hielt ihre kleine Handtasche mit der anderen Hand wie einen Rettungsanker umklammert. »Außerdem wartet da noch jemand an der Bar, also ...«

Sam steckte die Hände in die Hosentaschen. Ein zartes Lächeln umspielte seine Lippen und ließ ein vertrautes Gefühl in Eva aufsteigen. Mit aller Macht versuchte sie, es zu bekämpfen.

»Etwa der junge Schnösel, den du sehr gekonnt abserviert hast?«

Woher ...? »Nein. Wie du richtig erkannt hast, habe ich ihn abserviert und einer Kleinkindererzieherin übergeben. Dabei fällt mir ein ...« Eva suchte die Menschenmenge ab. Und tatsächlich. In einer dunkleren Ecke am anderen Ende des Raumes entdeckte sie ihren vormaligen Verehrer in einer innigen Umarmung mit der Erzieherin. Sie knutschten wild, und seine Hände fummelten an allem herum, was sie finden konnten.

Eva verzog angeekelt das Gesicht. Für einen Augenblick vergaß sie, dass sie auf ihr jetziges Gegenüber schlecht zu sprechen war. »Ist ja grauenhaft. Wenn ich mir vorstelle, dass er das mit mir machen wollte, wird mir richtig übel.«

Sam lächelte sie an. »Die Gefahr bist du los. Der Kleine hat aber auch überhaupt nichts gerafft. Dabei warst du eigentlich doppelt gemein. Du hast ihm eine Kleinkindererzieherin als Lehrerin aufgebrummt. Für normal Denkende ist das eine ziemliche Beleidigung.«

Eva dachte kurz darüber nach. »Stimmt. Dabei war das nicht mal Absicht. Woher weißt du überhaupt so genau über unser Gespräch Bescheid?«

»Ich habe dich gesehen und wollte dich begrüßen, da wurdest du von ihm in die Unterhaltung verwickelt. Also dachte ich, ich verschiebe mein Hallo auf später. Also: Hallo.«

Sie schnaubte. Ihren Lippen entschlüpfte ein Lächeln, obwohl sie das nicht wollte. Noch viel weniger wollte sie sich allerdings in seiner Nähe wohlfühlen. Dennoch tat sie auch das. Sie versuchte, weiter wütend zu sein. Doch sie spürte nur diesen gemeinen Stich. Die alte Wunde, die auf einmal wieder zu pulsieren begann. Dasselbe Gefühl wie damals. Vor fünfzehn Jahren. Eva wusste, dass er sie nur aus dem Konzept bringen konnte, weil er ihr heute wieder zum ersten Mal seit damals gegenüberstand. Unerwartet hatte sie in fünfzehn Sekunden eine Zeitreise von fünfzehn Jahren unternommen, das warf sie vorübergehend aus der Bahn. Das war alles. »Du hast gelauscht?«

»Sicher. Dein Gespräch war zu amüsant, als das ich hätte weghören können. Außerdem wollte ich bereit sein, falls der Junge sich gegen deinen Willen nicht hätte abschütteln lassen und dir weiter auf die Pelle gerückt wäre.«

»Soso. Der Ritter im weißen Hemd.«

»Na ja, die goldene Rüstung wäre etwas umständlich, findest du nicht?«

Eva schmunzelte. Hatte er sich denn überhaupt nicht verändert? Bevor sie sich weiter in solch ungesunden Gedanken verlor, kappte sie das Gespräch. Mit einem vorsichtigen Blick zu Tanja, die nach wie vor an ihrem Barkeeper herumscharrte, räusperte sie sich. »Okay, also dann. Ich werd mal gehen, bevor Tanja mit ihrer Flirtattacke den ganzen Betrieb lahmlegt.«

»Gewisse Dinge ändern sich wohl nie, was?«

Wie recht er doch hatte. Aber das behielt Eva lieber für sich. Stattdessen verzog sie einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Also dann, wir sehn uns vielleicht mal«, nahm sie den Faden wieder auf, kehrte Sam den Rücken und ging davon. Aber nicht ohne ihre Bewegungen möglichst weiblich und sexy wirken zu lassen.

Wie irrational. Wahrscheinlich sah er ihr überhaupt nicht nach. Warum sollte er auch?

Weil er nicht anders konnte.

Daniel, der längst von der Bar zurück war, aber rücksichtsvoll im Hintergrund gewartet hatte, gesellte sich neben seinen Freund. Unverhohlen begutachtete er gemeinsam mit Sam Evas Rückansicht. »Gut gebaut. Könnte obenrum ein wenig mehr sein. Das wilde, lange Haar mag ich. Hinten zerzaust, vorne hübsch hinter die Ohren gestrichen. Eine interessante Mischung aus gutem Mädchen und bösem Mädchen. Hübscher Hintern, nette Beine. Ziemlich lang. Ein schnuckeliger kleiner Speckring, der sich da an der Hüfte abzeichnet. Der da über der Hose, siehst du ihn? So was ist einfach sexy, solange er nicht zu groß ist. Und dieser hier hat die perfekte Größe. Ideale Lovehandels für einen wilden Ritt. Oh, Himmel, da wächst mir doch glatt was in der Hose, wenn ich daran denke. Sie auf mir ...«

»Halt die Klappe.«

Daniel bedachte den um gut zehn Zentimeter größeren Sam mit einem unschuldigen Hundeblick. »Ich mein ja nur. Außerdem hat sie einen scharfen Style. Das schlichte schwarze Top kommt gut mit den hellblonden Strähnchen in ihren dunkelblonden Haaren. Der Friseur wusste, was er tat.«

»Da ist nichts gefärbt. Die waren schon immer so«, murmelte Sam mehr zu sich selbst.

Daniel überging den Einwand und fuhr mit seinem Bericht fort. »Sie steht auf Rockmusik, würd ich sagen.«

Sam hob überrascht eine Augenbraue. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja, Kleidung, Schminke, Schmuck, Frauentyp. Wie sie geht. Einer Frau sieht man den Musikstil an. Mit ein wenig Übung natürlich.«

»Ist das so?«

»Liege ich mit meiner Einschätzung etwa falsch?«

Skeptisch kniff Sam die Augen zusammen. »Worauf willst du hinaus?«

»Du kennst sie. Wer ist sie? Oder besser: Wer war sie?«

Sam leistete keinen Widerstand. Wieso sollte er auch? »Sie ist die Schwester meines besten Freundes aus der Jugendzeit. Wir sind quasi zusammen aufgewachsen, bis ich wegging. Das ist das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass wir uns wiedersehen.«

»Und was noch?«

»Nichts. Das ist alles.«

»Das soll alles sein? Komm schon, Mann, fünfzehn Jahre, und die Begrüßung fällt derart unterkühlt aus. Da steckt doch mehr dahinter.«

Sam setzte sein »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«-Gesicht auf.

»Schon gut, ich hab‘s kapiert. Ich halt die Klappe. Vorerst.«

»Ist auch besser so. Übrigens, mehr als feuchte Träume wirst du von ihr niemals bekommen.«

»Oho, da spricht jemand aus Erfahrung!«

Sam grinste verstohlen. »Und ja, sie stand auf Rock. Und wie. Am liebsten mochte sie die Jungs, die in ihren jungen Jahren eine ähnliche Frisur hatten wie sie heute.«

Daniel rieb sich über seine frisch geschnittene Kurzhaarfrisur. »Ernsthaft? Oh, Schande. Kein Wunder, dass ich nicht bei ihr punkten kann.«

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Schwarz

Ein scharfes Stechen holte sie zurück. Sie versuchte, sich zu bewegen, den Schmerz abzuschütteln. Aber sie konnte sich kaum rühren. Sie wurde panisch. Bekam keine Luft. Sie wusste nicht, wo sie war. Dann wieder dieser Schmerz. Diesmal an ihrem Arm.

Ein Biss. Noch einer. Und noch einer. Am Bein. Am Zeh.

Sie waren überall.

Da kehrte die Erinnerung zurück.

Der anonyme Brief in ihrem Briefkasten. Der unbekannte Mann. Der Schlag auf ihren Hinterkopf. Der kalte Tisch. Die Fesseln. Das Messer. Das Kichern. Die Ratten.

Die Ratten!

Hysterisch schreckte sie auf. Erstickte Schreie drangen aus ihrer Kehle.

Im nächsten Augenblick fühlte sie einen Lufthauch.

Die Ratten hörten zu beißen auf.

Stattdessen spürte sie einen sanften Druck an ihrer linken Hand. Dann wurde der Druck stärker. Er wandelte sich in Schmerz. Schier unerträglichen Schmerz.

»Aufhören!«, wollte sie rufen, aber sie konnte nicht.

Ein Knacken erfüllte den Raum. Sie schrie. Heraus kam aber nur ein ersticktes Kreischen. Die Mundfessel saß zu fest.

Es war noch nicht vorbei. Sie fühlte, wie etwas in ihre Haut glitt, als wäre sie nur weiche Butter.

Er setzte das Messer präzise oberhalb der Mittelhandknochen an. Er genoss ihren Schmerz. Er verinnerlichte ihn, sog ihn in sich auf. Langsam drückte er die frisch geschärfte Klinge weiter in ihr Fleisch. Dann zog er sie wieder heraus und wechselte das Messer. Diesmal nahm er sich eines mit scharfen Zacken.

Langsam und genüsslich begann er, es vor und zurück zu bewegen. Die Sehnen und Nerven zu durchtrennen. Dann den Knochen. So lange, bis schließlich der ganze Finger abgesägt war.

Hinter ihren Augenlidern explodierten Sterne.

Bilder blitzten auf, vermischten sich mit den unerträglichen Schmerzen.

Wie sie den unbeschrifteten Briefumschlag zwischen ihrer Zeitung entdeckt hatte. Wie sie ihn öffnete. Wie sie an den Zeilen zweifelte.

Und seiner Einladung schließlich doch folgte.

Dann zeigte ihr Körper Erbarmen. Der Schmerz ließ nach. Sie gab sich der Bewusstlosigkeit hin.

Unendlich erleichtert.

Mit einem Lächeln auf den Lippen.

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Weiß

Eva kehrte an die Bar zurück. Ihr eigentliches Vorhaben hatte sie vollkommen vergessen. »Tanja. Tanja! Jetzt lass den guten Mann mal wieder arbeiten, ja?«

Widerwillig gab Tanja ihrem Flirtpartner zu verstehen, dass sie sich kurz jemand anderem widmen musste. »Du kannst einem ja jede Tour vermasseln. Was ist? Wo ist dein Toilettenflirt?«

Mit einem Blick zum Barkeeper, der Tanja, sogar während er Bier zapfte, nicht aus den Augen ließ, antwortete Eva: »Ich denke nicht, dass du dich um den Barkeeper sorgen musst. Der kommt wieder, und er geht mit dir, wohin du willst. Also schenk mir eine Minute, dann lass ich euch beide weitermachen.«

»Na gut, schieß los.«

»Guck mal unauffällig zu der zweiten Theke dort drüben. Was siehst du?«

»Einen Pfosten.«

Eva verdrehte die Augen. »Neben dem Pfosten.«

Tanja brauchte einen Moment. Suchend blickte sie sich um. Dann entdeckte sie ihn. Ungläubig kniff sie die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Moment überrascht aufzureißen. »Nein!« Verblüfft richtete sie sich auf ihrem Barhocker auf. »Ist das der, von dem ich glaube, dass er es ist?«

Eva nickte.

»Er ist zurück?«

Eva nickte erneut.

»Und er sieht gut aus. Verdammt gut.«

Eva nickte wieder. Ganz automatisch. Bis sie merkte, was sie tat. Beschämt hielt sie inne und riskierte einen vorsichtigen Blick zu Tanja.

Tanja sah sie mit einem Lächeln an, das eindeutig sagte: »Erwischt.«

»Idiotin.«

»Sie sind reichlich ungehobelt, meine Liebe. Aber er ist wirklich süß. So groß, und das blonde Haar so gekonnt zerzaust. Ist es dunkler als früher? Oha, und was ist das für ein Lächeln? Ziemlich einnehmend. Fehlt nur noch der Dreitagebart, dann wäre er der perfekte Pirat, nur eben blond. Sah er schon immer so aus? Falls ja, frag ich mich, warum nicht ich ihm damals nachgelaufen bin, sondern du.«

»Du redest von ihm, als wäre er ein Filmstar.«

»Oh, nein, so perfekt ist er nicht. Das linke Auge ist kleiner als das rechte, die Nase ist etwas zu breit, und die unteren Eckzähne sind leicht windschief. Außerdem macht es ganz den Anschein, als hätte er etwas zugenommen.«

Eva war beeindruckt von Tanjas detaillierter Beschreibung, ließ sich aber nichts anmerken. »Auch er wird nicht jünger. Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, er war schon immer ganz nett anzuschauen. Damals trug er das Haar ganz kurz. Und du bist meinem Bruder nachgelatscht. Darum hast du ihn nicht bemerkt, was mir ganz gelegen kam.«

Tanja tauchte kurz in Erinnerungen ab. »Stimmt. Dein Bruder. Den habe ich mindestens so lange nicht mehr gesehen wie Sam.«

»Er war auch mindestens genauso lange weg.«

»Richtig.« Verträumt ließ Tanja ihren Blick über die Tanzfläche schweifen. Erinnerung und Gegenwart begannen, sich auf seltsame Weise zu vermischen. Es war so lange her, dass einer ihrer größten Teenagerträume wahr geworden war, dass es schon beinahe unrealistisch wirkte. Chris hatte sie während eines Schullagers zum Tanzen aufgefordert. Sie war gerade mal 13 gewesen und er bereits 15. Sie wusste noch genau, wie sie beinahe vom Stuhl gefallen wäre, als ihr Klassenlehrer ihnen mitgeteilt hatte, das Schullager würde ausnahmsweise zusammen mit der Klasse von Herrn Wenger stattfinden. Also mit einer Schulklasse, die zwei Jahre über ihrer eigenen war. Das allein brachte die Mädels schon zum Seufzen. Dazu kam aber noch, dass die Jungs in dieser Klasse als die mit Abstand süßesten des ganzen Schulhauses angesehen wurden. Und einer davon war eben Chris gewesen, der Bruder ihrer besten Freundin. Tanja wusste noch genau, wie wenig begeistert Eva davon gewesen war, mit ihrem Bruder in ein Klassenlager zu fahren. Immerhin war Sam dadurch auch dabei, das hatte es erträglicher gemacht, dessen war sich Tanja heute noch sicher, auch wenn Eva das nie offen zugegeben hatte.

Tanja schmunzelte. Eine süße Erinnerung. Wie hatte ihr Herz doch gerast. Mit einem tiefen Seufzer kehrte sie in die Gegenwart zurück. Langsam leerte sich der Raum, während Bonnie Tyler Meat Loaf mit Inbrunst zu verstehen gab, dass ihn zu lieben ein harter Job sei. Wahrscheinlich der Wunsch eines Gastes. Tanja sah auf ihre Uhr. »Schon vier? Wie ist das denn passiert?« Sie stupste Eva mit dem Finger an. »Du, dein Sam hat mir irgendwie die Lust auf meinen Barkeeper verdorben. Dein Toilettenflirt ist auch wie vom Erdboden verschluckt. Oder von einer anderen Frau. Selbst dein Jüngling ist weg. Lass uns ‘ne Fliege machen, ja?«

»Klingt gut.« Die beiden Frauen schlenderten zur Garderobe, holten ihre Jacken und traten ins Freie. Der Tag graute bereits. »Sicher, dass es erst vier Uhr ist?«

Tanja schüttelte den Kopf. »Nee, meine Uhr ist vor zwei Stunden stehen geblieben. Das sagt zumindest mein Handy.«

Sechs Uhr? Eva kicherte. »Warum war Sam eigentlich schuld an deiner plötzlichen Lustlosigkeit?«

»Erinnerungen.«

»Oh. Tödlich so was.«

»Ganz genau.«

Müde, aber zufrieden in eine Wolke aus Erinnerungen und Tequila gehüllt, winkten die beiden Frauen nach einem Taxi und stiegen ein.

Die Disco ließen sie hinter sich, während die Vögel mit fröhlichem Gesang den Samstag einläuteten.

Der Taxifahrer hielt zuerst vor Tanjas Wohnung. Sie drückte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange und schälte sich aus dem Auto, bevor der Fahrer in aller Ruhe wieder anfuhr und vor dem wohlverdienten Feierabend seinen letzten Fahrgast absetzte.

Das Taxi bog um eine Ecke in Evas Straße ein.

Die Scheinwerfer huschten über den kleinen Vorgarten. Für einen kurzen Moment war der Briefkasten hell erleuchtet.

Exakt in diesem Augenblick rückte etwas aus dem Licht in den Schatten. Einem verschreckten Tier gleich, aber es war kein Tier.

Mit einem leisen Klack klappte der Briefschlitz des Briefkastens zu. Doch das Brummen des Automotors überlagerte das Geräusch.

Träge richtete sich Eva in ihrem Sitz neben dem Fahrer auf.

Da quietschte draußen das mannshohe, eiserne Gartentor.

Wie von Geisterhand öffnete es sich und schloss sich im nächsten Augenblick wieder.

Eva beugte sich nach ihrer Handtasche im Fußraum des Toyotas. Sie war ihr während der Fahrt von den Knien gerutscht.

In dem Moment, als sie den Kopf senkte, huschte ein Schatten am Seitenfenster vorbei.

Eva bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Sie ging direkt ins Haus, ohne auch nur das Geringste bemerkt zu haben.

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Grau

»Gleich noch einmal.« Staatsanwalt Franz Weber stand von seinem Stuhl auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Seine Gesichtszüge waren hart, unnachgiebig und von vielen Berufsjahren gezeichnet. Dass er, seit die Meldung eingegangen war, bereits zwei schlaflose Nächte hinter sich und eine ungesunde Menge Kaffee intus hatte, sah man ihm hingegen nicht an. Streng blickte er seinem Gegenüber in die Augen.

Die Beute unter dem wachsamen Auge des Jägers.

»Wie oft soll ich das denn noch erzählen?« Der Verzweiflung nahe, starrte der andere Mann zurück.

»Bis ich Sie nicht mehr dazu auffordere«, donnerte die tiefe Stimme des Staatsanwalts durch den kleinen Raum.

Eingeschüchtert wich Rolf zurück und versank noch ein wenig tiefer in seiner unbequemen Sitzgelegenheit.

Wie kam es, dass er hier gelandet war?

Dabei hatte der Tag doch so vielversprechend begonnen. Bereits um vier Uhr morgens hatte der Wecker Rolf Frisch aus den Federn geklingelt. Anfänglich grummelnd, aber mit jedem Meter Bewegung besser gelaunt, hatte er sich auf seinen Ausflug vorbereitet. Ein paar Brote, Landjäger, ein Mars und zwei Flaschen Wasser in den Rucksack, dazu noch Karabiner und ein Kletterseil, schließlich weiß man ja nie. Dann steckte er noch die Sonnenbrille ein, zog sich die Funktionsjacke über und verließ die Wohnung in Richtung Bahnhof. Die Zugfahrt dauerte eine gute Stunde, bis er am Fuß des Rigi ankam. Dort begann er arglos mit seiner Wanderung. Es dauerte eine Weile, bis seine Muskeln warm wurden und er einen angenehmen Rhythmus fand. Der Aufstieg gestaltete sich anfänglich als unschwer, wurde dann aber zunehmend anspruchsvoller. Zumindest für einen ungeübten Wanderer, wie er einer war.

Er dachte nichts Böses, als er den steilen Anstieg über eine begrünte Fläche bis zum nächsten Waldrand bewältigte. Er konzentrierte sich nur auf seine Schritte.

Ein Fuß vor den anderen.

Atmen. Immer schön gleichmäßig atmen.

Leichter gesagt als getan. Aus der Puste kam er am Waldrand an. Erschöpft stützte er sich am nächstbesten Baum ab. Eine Hand am Stamm, die andere auf seinem Knie. Das Bein auf einen Baumstrunk abgesetzt, den Oberkörper nach vorne gebeugt, den feuchten Erdboden vor Augen.

»Meine Güte. Das nächste Mal nehme ich die Bahn auf den Berg«, hatte er vor sich hin gemurmelt.

Ja. Das nächste Mal würde er die Bahn nehmen. Wandern war sowieso eine dämliche Beschäftigung. Hätte er sich nicht in den Kopf gesetzt, seine Leidenschaft für diesen beliebten Zeitvertreib zu entdecken, nachdem seine Freundin ihn mal wieder verlassen hatte, säße er jetzt nicht hier in der Staatsanwaltschaft. Also eigentlich war sie schuld. Eine gute Lösung. Sie trug sowieso an allem die Schuld. Doch das änderte nichts an seiner misslichen Lage.

Da zischte eine Faust durch die Luft. Mit einem lauten Krachen schlug sie auf der Tischplatte auf.

Rolf schreckte hoch, wobei sein Stuhl auf die hinteren zwei Beine zurückkippte.

»Hören Sie auf mit der Träumerei und rücken Sie endlich mit der Sprache raus! Sofort!« Das Gesicht des Staatsanwalts war mittlerweile tiefrot angelaufen. Die Halsschlagader pulsierte besorgniserregend unter der dünnen Haut. Die Verhöre lagen nicht mehr in Webers Zuständigkeit, seit er den Posten als Staatsanwalt angenommen hatte. Dennoch konnte er gewisse Gewohnheiten einfach nicht ablegen, obwohl er wusste, dass er seiner Gesundheit keinen Gefallen tat.

»Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt. Was soll ich denn noch erzählen? Soll ich etwas erfinden, damit Sie zufrieden sind? Dann sagen Sie mir, was Sie hören wollen!«

Falscher Ansatz. Die Augen des Staatsanwalts quollen aus den Höhlen. Doch entgegen Rolfs Erwartung blieb der Wutanfall aus. Stattdessen presste der Mann seine Zähne zusammen, bis die Kiefermuskeln hervortraten. Rolf wollte nicht schuld sein, wenn diesem Weber der Kopf explodierte, also kehrte er in Gedanken noch einmal an den Ort allen Übels zurück.

***

Sein Puls beruhigte sich allmählich. Sein Atem flachte langsam ab. Rolf wog innerlich ab, ob er die ungeplante Rast während seiner Rigi-Besteigung bereits beenden konnte, als es im Geäst seines Pausenbaums raschelte. Neugierig richtete Rolf seinen Blick nach oben. Beeindruckt hielt er den Atem an. Eine außerordentlich große tiefschwarze Krähe hatte sich auf dem Ast niedergelassen. Der Schwung, mit dem der Vogel gelandet war, und sein Gewicht ließen den Ast gefährlich schwanken. Die Krähe jedoch gab sich unbeeindruckt. Erhaben thronte sie auf dem dünnen Zweig. Es wirkte, als richte sie ihren Blick nachdenklich in die Ferne.

Rolf hatte in seinem Leben schon einige Krähen gesehen, und eigentlich mochte er diese Vögel nicht besonders. Ihre pechschwarzen Augen, das glänzende Gefieder und das raue Krächzen hatten etwas Unheimliches. Boten des Unheils, das waren sie für ihn. Doch dieses Exemplar wirkte geradezu majestätisch. Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da breitete das Tier seine Schwingen aus und hob mit zwei kräftigen Flügelschlägen ab. Der Ast geriet erneut heftig in Bewegung. Aber Rolf hatte nur Augen für den Vogel. Fasziniert sah er ihm nach.

Da plumpste ihm etwas auf den Kopf. Im ersten Moment dachte er an einen Tannenzapfen, bis er realisierte, dass er unter einem Laubbaum stand.

Suchend blickte er um sich.

Laub. Erde. Holz. Steine. Ein wenig Grünzeug. Sonst nichts.

Moment. Zwischen dem Laub lag etwas. Länglich. Beigefarben.

Ein Pilz? Im Sommer?

Nein. Falsche Jahreszeit.

Rolf beugte sich zu dem seltsamen Gegenstand hinunter. Auf halbem Weg stockte er.

Das konnte nicht sein. Seine Augen spielten ihm einen Streich. Offenbar war der Aufstieg doch anstrengender gewesen, als er gedacht hatte. Oder wie sonst sollte er sich diese Halluzinationen erklären?

Er blinzelte einmal kräftig und besah sich das beigefarbene Ding genauer.

Scheiße. Keine Illusion.

Der Würgereflex setzte sofort ein. Rolf drehte sich ab und erbrach sich neben dem Baumstamm. Notdürftig wischte er sich den Mund ab, spülte ihn aus und zog dann sein Mobiltelefon aus der Tasche.

Er wählte die 112.

»Ja? Hallo? Rolf Frisch mein Name. Mir ist da etwas auf den Kopf gefallen.«

»Nein, nein, mir ist etwas übel, aber sonst geht es mir gut. Das Problem ist nicht, dass mir etwas auf den Kopf gefallen ist, sondern was.«

Die Stimme am anderen Ende wollte wissen, was es war.

Die Stunde der Wahrheit.

Er zögerte. Es war einfach zu unglaublich. Selbst in seinen Ohren, obwohl er es mit eigenen Augen vor sich sah.

»Es ist ...«, er stockte.

»Da liegt ...« Rolf sammelte all seinen Mut. Und was, wenn er sich doch geirrt hatte?

Er drehte sich um. Nein. Kein Irrtum.

Da lag er. Mit freigelegten Sehnen. Schmutzig. Aber sonst irgendwie säuberlich gepflegt. Feingliedrig.

Sofort stand ihm der Schweiß wieder auf der Stirn. Er schmeckte die Magensäure in seinem Mund. Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht schluckte er sie hinunter.

Und beantwortete die Frage.

***

Rolf schüttelte sich, als würden so diese ekelhaften Erinnerungen von ihm abfallen, was natürlich nicht geschah. Weber war während Rolfs gesamter Erzählung im Raum auf und ab gegangen, den Kopf konzentriert gesenkt, als hörte er die Geschichte zum ersten Mal. Webers Augen waren zwar wieder dort, wo sie hingehörten, aber sein Gesicht hatte immer noch eine ungesund rote Farbe. Gesagt hatte er jedoch keinen Ton mehr.

Gespannt beobachtete Rolf sein Gegenüber, als ein Klopfen ihn aus seiner Betrachtung riss. Der Staatsanwalt gab einen knurrenden Laut von sich, rammte seinen Stuhl grob gegen den Tisch und ging zur Tür. Er öffnete sie und fauchte ein ungehaltenes »Was?!«.

Rolf schielte zum Eingang. Er konnte aber nur eine knochige Hand, die eine graue Akte hielt, und eine polierte Schuhspitze erkennen.

Was ging hier eigentlich vor sich? Gut, was geschehen war, war ungewöhnlich, zugegeben – okay, mehr als ungewöhnlich. Rolf musste sich eingestehen, dass sein Mageninhalt seiner Mundhöhle immer noch bedrohlich nahe kam, wenn er daran zurückdachte.

Wie er so unter dem Baum gestanden hatte. Arglos. Von der Krähe beeindruckt, außer Atem, aber dennoch irgendwie begeistert von seiner Idee. Und wie es ihn dann erwischt hatte. Einfach so. Aus heiterem Himmel. Er war ihm einfach auf den Kopf gefallen, dieser einzelne menschliche Finger.

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Weiß

Eva warf die Briefkastenschlüssel auf den Tisch neben der Tür und begann im Gehen, die Post durchzublättern.

»Rechnung, Rechnung, Rechnung, Kontoauszug, Rechnung, Zeitung, Werbung, Zeitschrift. Tolle Ausbeute.« Frustriert warf sie den Stapel auf den runden Küchentisch.

Eva kehrte der Post den Rücken und trat in ihre Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, kramte eine Milchtüte hervor, drehte sich zur Kaffeemaschine und knipste sie an. Während sie wartete, bis sich die Maschine aufgewärmt hatte, fiel ihr Blick auf den verchromten Wasserkocher daneben und zwangsweise auf ihr verzerrtes Spiegelbild.

Herrje.

Die Haare standen ihr wild vom Kopf ab, unter den Augen lagen dunkle Schatten, ihre Haut wirkte fahl. Und ihre Laune war nicht besser als ihr Aussehen, wie sie zerknirscht feststellen musste. Eine Nacht dem Tequila zu frönen, dafür bekam sie jetzt prompt die für alle sichtbare Quittung. Das war früher anders gewesen. Damals gab es rauschende Feste en masse, und am nächsten Morgen war sie dennoch taufrisch.

Tja, das Alter forderte seinen Tribut, ob sie wollte oder nicht. Die Kaffeemaschine gab ein zischendes Geräusch von sich. Das Zeichen, sich aus der kritischen Selbstbetrachtung zu lösen. Seufzend richtete Eva sich auf, zog klimpernd eine Tasse aus dem Schrank und stellte den zu hohen Rand schräg in die Maschine. Gelangweilt drückte sie den Knopf. Während die Maschine das Wasser durch die Leitungen zu pumpen begann und sich wohliger Kaffeeduft in der Küche ausbreitete, dachte Eva über ihre nächsten Schritte nach.

Sie hatte Urlaub. Der kam eigentlich genau richtig. Kein Wunder, sie war es gewesen, die beschlossen hatte, dass es an der Zeit für eine Büropause war. Nur, was sollte sie mit der Freizeit anfangen? Sie hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Wollte sie wegfahren? Müsste sie eigentlich. Nur, wohin? Und mit wem? Allein? Nein. Das lag ihr nicht. Obwohl, woher wollte sie das wissen? Schließlich hatte sie es noch nie versucht. Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, klingelte das Telefon. Sie verdrehte genervt die Augen, beugte sich aber trotzdem über die Theke und schnappte sich den Hörer.

Eine bekannte Nummer leuchtete auf dem Display auf.

»Hey Tanja. Na, wie geht es dir? Gut geschlafen?« Eva holte sich die Kaffeetasse aus der Maschine, füllte sie randvoll mit Milch und setzte sich an den Küchentisch. Sie lauschte Tanjas mürrischen Äußerungen über Kater, die nicht auf vier Beinen spazierten, sondern sich auf schmerzhafte Weise ihren Körper vornahmen, und trank einen Schluck. Während Tanja weiter Belanglosigkeiten von sich gab, hellte sich Evas Laune zunehmend auf. Sie strich mit dem Finger über den Rand ihrer Zeitung, ließ den Blick über die auf dem Tisch verteilte Post schweifen und begann, die Briefumschläge zu einem sauberen Stapel zusammenzuschieben.

Sie griff nach dem weißen Umschlag, während Tanja sich in Erinnerungen an den Vorabend wälzte. Bereitwillig ließ Eva sich mitreißen. Bei der Anekdote mit dem Barkeeper, der aufgrund von Tanjas Kommentar über sexuelle Befriedigung das Glas fallen ließ, brachen beide in schallendes Gelächter aus.

Eva drehte den Umschlag in den Fingern, klopfte mit der Ecke auf den Tisch. Sie war gedanklich weit weg. Zurück in der Disco. Den Barkeeper lebhaft vor Augen. Bis er aus ihrer Vorstellung verdrängt wurde. An seine Stelle trat ein anderer Mann. Groß, blond, treue blaue Augen, ein selbstbewusstes und doch beinahe scheues Lächeln.

Sam.

Verdammt.

Eva blinzelte, riss sich aus ihren Tagträumen zurück an ihren Küchentisch.

Sie stutzte. Erstaunt sah sie auf ihre Hand, als würde sie sie zum ersten Mal sehen.

Der Brief war doch vorhin noch nicht da gewesen. Woher kam er?

Sie hörte nicht mehr, was Tanja sagte. Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, klemmte sie den Hörer zwischen Kopf und Schulter. Dann nahm sie den weißen Umschlag in beide Hände und drehte ihn. Von vorne nach hinten und von hinten nach vorne. Kein Absender. Keine Anschrift. Zugeklebt. Die Kanten der Lasche waren v-förmig, aber nicht gerade geschnitten. Sie waren gewellt.

Sie ahnte nichts Böses, als sie den kleinen Finger oben unter den Falz schob. Die Kante zerfetzte, während sie den Brief aufriss.

Sie schob Zeigefinger und Daumen in das geöffnete Kuvert und zog die einzelne weiße Karte heraus.

Der Text war handgeschrieben. Fein säuberlich abgefasst, in einer schönen, elegant geschwungenen Handschrift.

Tanja schien nichts davon zu merken, dass ihre Freundin sie völlig ausgeblendet hatte.

Skeptisch begann Eva zu lesen.

 

»Liebe Unbekannte,

dieser Brief muss Sie sehr erstaunen, und wahrscheinlich löst er einige zwiespältige Gefühle aus. Doch habe ich leider keine andere Möglichkeit gesehen, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Sicher, es gibt Tausende Arten, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, aber für die konventionellen Methoden fehlte mir schlicht der Mut. Sei es, wie es will, wir sind uns schon begegnet, unsere Blicke ebenfalls. Ob Sie mich wahrgenommen haben, weiß ich nicht. Aber ich Sie. Und seither kann ich Sie nicht mehr aus meinen Gedanken vertreiben. Das ist sehr direkt formuliert, dessen bin ich mir bewusst, aber trage ich diese oder ähnliche Worte nicht endlich in irgendeiner Form an Sie heran, werde ich es nie tun. Und ich bin mir sicher, das würde ich bereuen. Ebenfalls würde ich es bereuen, wenn ich Sie nicht bitten würde, mit mir mittagessen zu gehen. Sicher, es ist viel verlangt, sich auf eine Einladung mit einem Fremden und für Sie wahrscheinlich Gesichtslosen einzulassen. Dennoch, gehen Sie mit mir aus. Ich werde am nächsten Donnerstag, um 11.30 Uhr, beim Zschokke-Brunnen am Kunstmuseum auf Sie warten. Herzliche Grüße LG«

 

»... du mir überhaupt noch zu?«

»Was?« Eva ließ die Karte sinken. Ihr Unterbewusstsein stellte sich die Frage, wie dieser Mensch darauf kam, dass sie an einem Donnerstag um 11.30 Uhr Zeit hatte? Menschen mit Bürozeiten arbeiteten dann meist noch. Wusste er vielleicht, dass sie am Donnerstag jeweils früher zum Mittagessen ging? Oder wusste er gar, dass sie Urlaub hatte? Aber Eva hörte nicht auf die Warnsignale. Sie kehrte gedanklich lieber zu Tanja zurück.

»Anscheinend nicht«, meinte diese schließlich.

»Tanja?«

»Ja?«

»Hast du unserem gut aussehenden Unbekannten von gestern Abend meine Adresse gegeben?«

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Schwarz

Sie weinte nun nicht mehr. Schade eigentlich. Ihre Stimme war einfach wundervoll gewesen. So hoch, anfangs glockenklar, bis sie sich heiser geschrien hatte. Rau war sie geworden. Richtig sexy. Dann hatte sie sie ganz verloren. Nur noch ein Fiepen verließ ihre Kehle. Wie bei einer Labormaus. Er hasste Mäuse. Ratten waren in Ordnung. Sie waren klug und lernfähig. Mäuse waren hässlich und unnütz. Grässlich und nervtötend.

Ein Wimmern holte ihn aus seinen Gedanken.

Immer noch nicht erstickt?

Ziemlich zäh. Dabei dachte er bereits bei ihrem zweiten Asthmaanfall, sie würde ihn nicht überstehen. Aber sie lebte. Auch nach dem dritten. Der vierte vermochte sie ebenso wenig zu töten.

Dann musste er es eben selbst in die Hand nehmen.

Oder sich weiter gedulden. Ihr weiter beim Krepieren zusehen.

Das hatte auch seinen Reiz.

Er legte die Kettensäge beiseite und betrachtete sein neuestes Opfer.

Sie roch nach Panik, Hilflosigkeit und Verzweiflung, nach Schweiß, Urin und Erbrochenem.

Er hatte ihr das Gesicht abgewischt, nachdem sie sich übergeben hatte. Vorsichtig. Fürsorglich.

Die Mahlzeit war ihr wohl nicht bekommen. Dabei hatte er extra darauf geachtet, nicht allzu fauliges Wasser zu nehmen.

Einem Impuls folgend, strich er ihr übers Gesicht.

Sie zuckte zusammen und rang sofort wieder japsend nach Luft.

Er wurde wütend. Eine zärtliche Berührung. Alles, was sie sich gewünscht hatte. Das hatte sie zumindest gesagt, als sie telefonierend durch das Lebensmittelgeschäft gelaufen war. Frei von der Leber weg hatte sie ihrem Gesprächspartner von ihren Wünschen an einen potenziellen Lebensgefährten erzählt, während alle zuhören konnten. So auch er. Sie hatte irgendwie unerfüllt ausgesehen, als sie aus ihrem Auto gestiegen war. Er war ihr gefolgt. Dass sie ihn gleich so offen mit Informationen fütterte, war ein Glücksfall gewesen. Er hatte sich nur einen halben Meter hinter ihr halten müssen, um alles zu erfahren, was er wissen musste.

Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt.

Romantisch sollte er sein.

Einfühlsam.

Zuvorkommend. Aber nicht zu verweichlicht.

Nähe wollte sie spüren. Zuneigung. Eine sanfte Berührung. Eine zärtliche Geste. War das denn zu viel verlangt? Das hatte sie gefragt, und er hatte in Gedanken geantwortet.

Nein, war es nicht. Er konnte und würde ihr genau das geben.

Noch am gleichen Abend legte er ihr den Brief in den Briefkasten. Und sie tauchte zum vorgeschlagenen Zeitpunkt beim Löwenkäfig im Zoo auf. Sie spazierten durch den Tierpark. Sie hing an seinen Lippen. Sie war verwundert und fasziniert gewesen, wie er ihr aus dem Herzen sprechen konnte. Fast so, als würden sie sich schon ewig kennen.

Als wären sie seelenverwandt.

Er schenkte ihr die gewünschte Zärtlichkeit. Sie gab sich ihm vertrauensvoll hin.

Das war noch keine zwölf Stunden her.

Und jetzt? Jetzt zuckte sie zurück. Dabei war er noch derselbe, mit dem sie sich eingelassen hatte.

Sie wollte Berührung, sie hatte sie bekommen. Im hinteren Teil des gestohlenen VW-Busses.

Gut, ihr während des Geschlechtsaktes ein mit Chloroform getränktes Tuch auf Mund und Nase zu drücken war vielleicht nicht das Romantischste, was er an diesem Tag getan hatte, aber niemand war perfekt.

Als sie begriff, was geschah, als sich ihre Augen weiteten, sich ihr Körper unter seinem zu winden begann, sie sich panisch gegen ihn zur Wehr setzte, überkam ihn die Woge der Lust, die es ihm ermöglichte, den Akt zu beenden. Sie verlor das Bewusstsein, während er sich in sie ergoss.

Natürlich trug er ein Kondom. Spuren zu hinterlassen war das Letzte, was er wollte. Zumindest vorerst.

Vorsichtig zog er sich zurück. Er setzte sich ans Steuer und fuhr den VW-Bus noch tiefer in den einsam gelegenen Wald hinein, an dessen Eingang er mit ihr gefahren war, um ein romantisches Mitternachtspicknick abzuhalten.

So hatte er es zumindest vorgeschlagen. Ihre Augen hatten sich vor lauter zärtlicher Gefühle verklärt und mit Tränen gefüllt. Schließlich hatte sie ihn geküsst.

Er konnte also nichts dafür.

Ein keuchendes Japsen erinnerte ihn an das Hier und Jetzt.

Pfeifend rang sie nach Luft.

Er konnte dieses Geräusch nicht mehr ertragen. Genug war genug.

Mehrfach zog er an dem Seil, bis die Kettensäge laut ratternd ansprang.

Mit Genugtuung beobachtete er, wie sein Opfer beim Geräusch der Säge zusammenfuhr.

Dass sie noch bleicher werden könnte, hätte er nicht gedacht.

Er hob die Säge und ließ sie zwei Mal aufheulen. Dann setzte er sie an.

Ihr heiserer Schrei kam nicht gegen das Dröhnen der Maschine an.

Hungrig fraß sich die Kette in ihren Hals.

Rote Spritzer überzogen die Wände des Busses.

Das Blut klebte an seinen Händen. In seinem Gesicht. An seiner Kleidung.

Unbeeindruckt nahm er den abgetrennten Körperteil. Verpackte ihn in eine Plastiktasche. Er stieg aus dem Bus, holte den zuvor verstauten Kanister aus der Fahrerkabine und übergoss alles mit Benzin. Er ließ das Streichholz über die Packung sausen.

Zischend entzündete sich der Kopf des Holzes.

Der Geruch nach Schwefel vermischte sich mit dem des Blutes.

Er ließ das Streichholz fallen.

Der Bus fing Feuer. Es fraß in wilder Gier alles, was sich darin befand.

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Grau

»Mami, Mami! Darf ich jetzt ins Wasser? Bitteeeeee!« Das kleine Mädchen mit dem hellen, viel zu langen Pony hüpfte aufdringlich vor seiner Mutter herum, dass die Haare nur so wippten.

»Nein Leandra, du wartest. Zuerst werden wir uns hier einrichten, dann werde ich dir die Schwimmflügel anziehen, und erst dann gehen wir auch nur in die Nähe des Wassers. Zusammen. Verstanden? Und hör endlich auf, vor meiner Nase rumzuhüpfen! Das ist ja schlimmer als Wellengang durch ein Bullauge!«

Verständnislos betrachtete die Kleine ihre Mutter. Ein was durch ein was? Leandra dachte so angestrengt darüber nach, dass sie das Hüpfen vollkommen vergaß.

 

Na geht doch. Zufrieden setzte Mona die riesige blaue IKEA-Tasche ab und begann, den Inhalt Stück für Stück auszupacken. Die großen Badetücher lagen zuunterst. Natürlich. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

Nichts. Das war ja gerade das Problem.

Seufzend wühlte Mona weiter, bis sie mit ihrem Kopf nahezu in der Tasche steckte.

Es war nur der Bruchteil einer Sekunde. Ein Wimpernschlag. Länger hatte sie nicht weggesehen.

Doch es reichte aus. Mona hob den Kopf. Stolz präsentierte sie die Badetücher.

Und ließ sie entsetzt fallen.

Denn da war niemand, dem sie ihren Fund hätte zeigen können.

Der Schreck, der sie zunächst gefangen hielt, ging in Panik über.

Hektisch sah sie um sich. »Leandra?« Sie versuchte, ihrer Stimme nichts anmerken zu lassen. Aber ihre Bewegungen verrieten sie. Sie schoss in die Höhe, eilte zum Badeteich.

Der Steg war keine vier Meter entfernt

Innerlich redete sie auf sich selbst ein.

Alles war in Ordnung. Ihre Tochter spielte irgendwo. Wahrscheinlich am Wasser.

Monas Blick jagte über das in der Sonne schimmernde Nass.

Die Wasseroberfläche lag ruhig da.

Das war doch gut. Oder?

Herrgott, warum musste ihr Mann immer dann arbeiten, wenn sie ihn am meisten brauchte?

Sie zwang sich zur Ruhe. Atmen. Ein und dann wieder aus.

Aber es half nicht. Fahrig strich sie sich durchs Haar.

»Leandra!«, schrie sie aus vollem Hals.

Sie wartete angespannt.

Keine Antwort.

Ihre Kehle schnürte sich zu. Die Augen füllten sich mit Tränen. Ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

Rund um den Teich stand Schilf. Dicht und hoch. Dazwischen war das Wasser schlammig. Für einen Erwachsenen war es schon mühsam, durch solches Gelände zu waten.

Wie musste es denn erst für ein kleines Mädchen sein?

Gehetzt eilte Mona auf das Schilf zu. Achtlos trat sie in den Schlamm. Sofort stand sie knietief in einer dunklen, matschigen Suppe. Sie kämpfte sich durch die dicht beieinanderstehenden Rohre und Sträucher. Trotz des kühlen Untergrundes rann ihr bald der Schweiß über die Stirn. Das Haar klebte feucht an ihrem Gesicht. Die Sonne brannte auf ihren Kopf. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, während sie sich durch das unwegsame Gelände kämpfte. Die Lungen brannten, aber sie rief weiter. Immer und immer wieder brüllte sie den Namen ihrer Tochter.