Spieglein, Spieglein - Anja Berger - E-Book

Spieglein, Spieglein E-Book

Anja Berger

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Beschreibung

Eine Melodie, die nur sie hört. Leichenteile, die nur sie sieht – der neue atemberaubende Psychothriller zwischen Realität und Wahnsinn von Anja Berger. Nach einem von ihr verursachten Autounfall sieht Elena Leichenteile, die außer ihr niemand sehen kann. Als sich herausstellt, dass die Frauen, deren Leichen Elena zu sehen glaubt, tatsächlich vermisst werden, gerät sie ins Visier der Polizei – denn sie hat mindestens eine der Toten als Letzte lebend gesehen. Elenas einzige Hilfe ist Leon, ein unehrenhaft entlassener Polizist, der allerdings seine eigenen Ziele verfolgt. Die verworrenen Umstände des Falles stellen Leon vor ein Rätsel, welches nur er lösen kann. Es scheint, als sei Elena nicht Täter, sondern selbst Opfer. Denn: Bei dem Autounfall gab es einen weiteren Verunglückten, von dem niemand etwas weiß … Für alle Leser und Leserinnen von S. K. Tremayne, Val McDermid und Sebastian Fitzek. »Spieglein, Spieglein« von Anja Berger ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nerverzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unsere Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Anja Berger

Spieglein, Spieglein

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine Melodie, die nur sie hört, Leichenteile, die nur sie sieht – der neue atemberaubende Psychothriller zwischen Realität und Wahnsinn.

Nach einem von ihr verursachten Autounfall sieht Elena Leichenteile, die außer ihr niemand sehen kann. Als sich herausstellt, dass die Frauen, deren Leichen Elena zu sehen glaubt, tatsächlich vermisst werden, gerät sie ins Visier der Polizei – denn sie hat mindestens eine der Toten als Letzte lebend gesehen. Elenas einzige Hilfe ist Leon, ein unehrenhaft entlassener Polizist, der allerdings seine eigenen Ziele verfolgt. Die verworrenen Umstände des Falles stellen Leon vor ein Rätsel, welches nur er lösen kann. Es scheint, als sei Elena nicht Täter, sondern selbst Opfer. Denn: Bei dem Autounfall gab es einen weiteren Verunglückten, von dem niemand etwas weiß …

Inhaltsübersicht

Prolog17. Oktober18. Oktober19. Oktober, morgens19. Oktober, nachmittags20. Oktober, kurz nach Mittag20. Oktober, nachmittags20. Oktober, abends20. Oktober, 21.00 Uhr21. Oktober, 02.50 Uhr21. Oktober, 03.00 Uhr21. Oktober, 09.00 Uhr21. Oktober, 10.00 Uhr21./22. Oktober22. Oktober, 08.30 Uhr22./23. Oktober23. Oktober, 03.00 Uhr23. Oktober, 07.00 Uhr23. Oktober, früher Nachmittag23. Oktober, Nachmittag23. Oktober, später Nachmittag23. Oktober, 23.00 Uhr23. Oktober, 23.3024. Oktober, 01.00 Uhr24. Oktober, 01.30 Uhr24. Oktober, 03.00 Uhr24. Oktober, Morgendämmerung24. Oktober, Vormittag24. Oktober, früher Nachmittag25. Oktober, vormittags25. Oktober, nachmittags26. Oktober, später Nachmittag26. Oktober, 21.00 Uhr27. Oktober, 03.00 Uhr27. Oktober, 09.00 Uhr27. Oktober, abends27. Oktober, kurz vor Mitternacht28. Oktober, 01.30 Uhr28. Oktober, 02.00 Uhr28. Oktober, 03.00 Uhr28. Oktober, 04.20 Uhr28. Oktober, 07.00 Uhr28. Oktober, 07.30 Uhr28. Oktober, 10.00 Uhr28. Oktober, 10.30 Uhr28. Oktober, mittags28. Oktober, 15.00 Uhr29. Oktober, 09.30 Uhr29. Oktober, 10.00 Uhr29. Oktober, 10.30 UhrGleichzeitig an einem geheimen Ort29. Oktober, nachmittags29. Oktober, 17.15 Uhr29. Oktober, 17.30 Uhr29. Oktober, 17.45 Uhr29. Oktober, 21.00 Uhr30. Oktober, 01.00 Uhr30. Oktober, 10.30 Uhr30. Oktober, 11.30 Uhr30. Oktober, 13.00 Uhr30. Oktober, 14.00 Uhr30. Oktober, um 16.30 UhrGleichzeitig in Erlach30. Oktober, 17.15 Uhr30. Oktober, 18.00 Uhr30. Oktober, 18.30 UhrGleichzeitig an einem anderen Ort30. Oktober, 19.30 Uhr30. Oktober, 19.35 Uhr30. Oktober, 20.00 Uhr30. Oktober, 20.10 Uhr30. Oktober, 21.00 Uhr30. Oktober, 21.40 Uhr30. Oktober, 22.00 Uhr30. Oktober, 22.05 Uhr30. Oktober, 23.00 UhrZur gleichen Zeit an einem anderen Ort30. Oktober, 23.05 Uhr30. Oktober, 23.30 Uhr30. Oktober, 23.35 Uhr31. Oktober, 00.30 Uhr31. Oktober, 02.00 Uhr31. Oktober, 02.10 Uhr31. Oktober, 03.00 Uhr31. Oktober, 03.15 Uhr31. Oktober, 03.45 Uhr31. Oktober, 04.30 Uhr31. Oktober, 09.00 Uhr31. Oktober, 09.05 Uhr31. Oktober, 11.00 Uhr31. Oktober, 11.15 Uhr31. Oktober, 11.20 Uhr31. Oktober, 11.30 Uhr31. Oktober, 11.50 Uhr31. Oktober, 12.10 Uhr31. Oktober, 12.15 Uhr31. Oktober, 12.30 Uhr31. Oktober, 12.45 Uhr31. Oktober, 13.30 Uhr1. November, 03.00 Uhr1. November, 03.10 Uhr1. November, 06.00 Uhr1. November, 06.30 Uhr1. November, 07.00 Uhr1. November, 07.45 Uhr1. November, 08.15 Uhr1. November, 08.30 Uhr1. November, 08.40 Uhr1. November, 14.00 Uhr1. November, 14.15 Uhr1. November, 14.30 Uhr1. November, 15.00 Uhr1. November, 15.20 Uhr1. November, 15.25 Uhr1. November, 15.30 UhrGleichzeitig in Erlach1. November, 16.10 Uhr1. November, 16.40 Uhr1. November, 17.30 Uhr1. November, 17.50 UhrGleichzeitig in Erlach1. November, 18.05 UhrGleichzeitig in Erlach1. November, 18.40 Uhr1. November, 18.55 Uhr1. November, 19.15 UhrGleichzeitig in Basel1. November, 20.15 Uhr1. November, 20.40 Uhr1. November, 20.50 Uhr1. November, 22.00 UhrGleichzeitig in Biel1. November, 22.20 Uhr1. November, 23.00 UhrGleichzeitig in Pratteln1. November, 23.50 Uhr2. November, 00.05 Uhr2. November, 00.20 Uhr2. November, 00.40 Uhr2. November, 01.00 Uhr2. November, 02.30 Uhr
[home]

Prolog

Der Abend war ein Erfolg gewesen. Ihre anfängliche Besorgnis, dass es eines dieser üblichen langweiligen Geschäftstreffen werden könnte, hatte sich bald zerstreut. Sie hatte sich gut amüsiert, es waren interessante Leute auf der Party gewesen. Darunter auch ihr Kollege Adam, der drei Büros neben ihrem arbeitete. Ein gutaussehender, amüsanter, charmanter Kerl – und Single. Wie sie selbst auch. Sie hatte schon lange ein Auge auf ihn geworfen. Eine Beziehung wollte sie jedoch nicht. Das war unter Kollegen zu kompliziert. Eine Bettgeschichte hatte zwar auch ihre Tücken, aber irgendetwas musste sie mit ihm anstellen. War er Manns genug, würde ein One-Night-Stand zu keinen unnötigen Schwierigkeiten führen.

Die Autobahn vor ihr lag dunkel und einsam da. Die Fahrt verlief monoton, aber das kam ihr gerade recht. So konnte sie sich ein wenig in Gedanken verlieren. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Die beiden Mitfahrer schliefen. Die Köpfe waren nach hinten gekippt, und ihre Münder standen offen. Sie machten nicht gerade die beste Figur, aber sie hatten auch einiges intus, weshalb der Verlust ihrer Selbstkontrolle entschuldbar war. Obwohl, er hatte einiges getankt, sie hatte nur an ihrem Wasser genippt. Beide arbeiteten in einer anderen Abteilung. Sie kannte sie nicht direkt. Man tauschte ein paar höfliche Floskeln aus, wenn man sich im Flur oder in der Pause begegnete, tiefer reichten die Gespräche allerdings nicht. Dass sie nun hier mit im Auto saßen und friedlich vor sich hin schnarchten, hatte sich durch Zufall ergeben.

Sie schmunzelte, als sie auf einmal eine Hand auf ihrem Knie spürte. Ein heißes Kribbeln ließ ihren Magen tanzen.

»Worüber grinst du?«, fragte Adam ganz beiläufig, als hätte er seine Hand nicht soeben auf ihr Knie gelegt. Sie drehte leicht den Kopf. Er sah sie aus seinen unheimlich warmen, braunen Augen an. In seinem Blick lag definitiv mehr als nur freundliches Interesse. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn sie genau darüber nachdachte. Es war ja schon eine seltsame Fügung, dass Adam sich von ihr nach Hause fahren ließ. Schließlich hatte er sein Auto am Veranstaltungsort stehen lassen, obwohl er kaum etwas getrunken hatte.

Sie fühlte durch ihre dünnen Strümpfe, wie er seinen Daumen leicht bewegte.

Na endlich, dachte sie. Das war die Annäherung, das Signal. Sie würde die anderen beiden noch schnell zu Hause abliefern, dann konnte sie sich intensiv und in aller Ruhe mit ihrem Büronachbarn beschäftigen.

Seine Hand rutschte etwas weiter nach oben. Im Büro würde das definitiv als sexuelle Belästigung gewertet! Wenn sie gegen diese Berührung protestieren wollte, müsste sie das jetzt tun. Allerdings wurde ihr an eindeutigen Stellen warm, was sie zweifeln ließ, ob sie es überhaupt noch bis zu irgendjemandem nach Hause schaffen würde. Am liebsten wäre sie sofort über ihn hergefallen. Also wehrte sie sich nicht gegen seinen Annäherungsversuch, fuhr schweigend weiter, dabei stoisch durch die Windschutzscheibe starrend, und gab ihm damit grünes Licht, mit seinen Plänen fortzufahren.

Sie gab ihm sogar noch etwas mehr als nur fehlenden Protest. Sie forderte ihn auf, weiterzumachen, indem sie leicht ihre Beine spreizte. Ihr Bleistiftrock spannte sich über ihren Schenkeln. Sie fühlte richtiggehend, wie sein Blick zu dem schwarzen Stoff wanderte und er schwer schluckte. Er wusste, was dort im Schatten lag und wartete. Auf ihn. Auf seine Berührung. Auf seine Männlichkeit. Sie schielte zu ihm, ließ ihren Blick unauffällig über seine Brust wandern zu seinem Hosenbund, wo sie eine verheißungsvolle Wölbung entdeckte.

Zögerlich schob er den Stoff ihres Rockes etwas zurück. Seine Finger kitzelten über die Innenseite ihres Oberschenkels, arbeiteten sich vorwärts. Sie hob ihren Hintern leicht an, damit er den Stoff weiter zurückschieben konnte.

Sie war bereit. Und wie. Sie spreizte die Beine noch etwas mehr, vergaß dabei fast, das Gaspedal weiter hinunterzudrücken.

Nur eine einzige Berührung an der richtigen Stelle ihrer warmen Mitte – und sie würde explodieren. Und es sollte heute nicht bei dem einen Mal bleiben. Sobald der Wagen stillstand, zahlte sie ihm alles doppelt und dreifach heim. Die Straße vor ihr verschwamm, während er sich weiter vorarbeitete. Sie musste sich konzentrieren, nicht die Augen genüsslich zu schließen. Scharf sog sie die Luft ein, als seine Hand das Ziel beinahe erreicht hatte. Er schob ihr Spitzenhöschen flink beiseite und fand, was er suchte. Gierig presste sie ihm ihr Becken entgegen. Sie krallte ihre Finger fest um das Lenkrad. Dann kam die Explosion.

Aber nicht die, die sie erhofft hatte.

Der Wagen krachte in die Leitplanke, wurde auf die andere Straßenseite geschleudert. Schreie hallten in ihren Ohren wider. Glas zerbarst, während der Ford Focus unkontrolliert die Böschung emporschoss und vom Boden abhob. Wie ein Stein knallte das tonnenschwere Fahrzeug wieder auf die Fahrbahn. Blech kreischte, als sich die Karosserie zu einem undefinierbaren Klumpen verbog. Ein Körper schlug gegen die Windschutzscheibe, die aus ihrem Rahmen gedrückt wurde. Schließlich blieb das Auto auf dem Dach liegen.

Sie bekam das alles irgendwie mit. Sie hörte auch die Knochen knacken. Sie spürte, wie der Airbag sie erwischte. Sie fühlte, wie die Hand, die ihr heißes Glück versprochen hatte, weggedrückt wurde und hängen blieb. Wie sie dann auf einmal erschlaffte und der Arm, jetzt unnatürlich verdreht, zwischen ihrem Körper und irgendetwas anderem klemmte. Wahrscheinlich das Armaturenbrett.

Sie konnte sich kaum bewegen. Ächzend versuchte sie, den Kopf zu drehen. Ihre Beine waren eingeklemmt. Sie stöhnte auf und schluchzte laut. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, aber sie war kaum in der Lage, die nötige Luft zu holen. Ihre Brust tat höllisch weh, und ihre Stimme versagte ihr den Dienst.

Sie entdeckte die Splitter, die vom Rückspiegel übrig waren, neben sich. Sie streckte ihren rechten Arm, das einzige Körperteil, das nicht eingeklemmt war. Scharf schoss der Schmerz durch ihre Rippen. Sie heulte auf, gönnte sich ein paar Sekunden Pause und versuchte es dann erneut. Sie bekam die spiegelnde Scherbe nicht zu fassen. Nur ein Zentimeter fehlte ihr. Sie biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen den ohnmächtigen Schmerz an und streckte die Finger. Sie berührte die Scherbe mit den Fingerspitzen, grapschte nach ihr und konnte sie endlich zu sich heranziehen. Sie bekam sie zu fassen und hob sie auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Beifahrersitz leer war. Ein unkontrollierter Schluchzer schüttelte ihren gequälten Körper.

Wann hatte sich dieser Idiot abgeschnallt? Hatte er überhaupt den Gurt angelegt? Sie wusste es nicht.

Sie richtete die Scherbe aus und warf einen Blick zurück. Kaltes Grauen erfasste sie. Die beiden Körper auf der Rückbank hingen in den Sicherheitsgurten. Überall war Blut. Der Kopf des Beifahrers hinter ihr war teilweise abgetrennt. Der Körper der Beifahrerin hing schlaff nach vorne. Die langen, dunklen Haare schimmerten feucht im Licht der Straßenbeleuchtung. Diese Frau, von der sie im Grunde nichts wusste, wirkte fast, als würde sie noch immer schlafen. Wäre da nicht dieser große unförmige Gegenstand, der sie durchbohrt hatte. Dunkel und blutverschmiert ragte er aus ihrem Bauch. Was war das? Und woher war es gekommen? Durch die Öffnung, die die fehlende Frontscheibe hinterlassen hatte? Durch den Kofferraum? Egal, wie es in ihren Wagen gekommen war, es hatte den zierlichen Frauenkörper geradezu aufgespießt.

Sie konnte sich aber beim besten Willen nicht erklären, worum es sich bei dem Gegenstand handelte. War es der Wagenheber? Nein. Es sah irgendwie aus wie eines dieser Schilder, die auf der Autobahn anzeigten, bei welchem Kilometer man sich befand.

Während sie weiter darüber brütete, um sich nicht mit ihrer eigenen Situation beschäftigen zu müssen, drehte sich ihr unversehens der Magen um.

Mein Gott, es war eines dieser Schilder!

Ohne dass sie es hätte kontrollieren können, übergab sie sich in die Überreste ihres Autos, auf den Airbag, der schlaff aus dem Lenkrad hing.

Gleich darauf verlor Elena das Bewusstsein.

[home]

17. Oktober

»Warum bist du hergekommen? Du solltest nicht hier sein. Schon gar nicht bei diesem Wetter!« Unerbittlich strömte der Regen. Zwischen dem schwarzen Himmel und dem dunklen Meer konnte man kaum mehr einen Unterschied ausmachen. Grelle Blitze schossen am Horizont aus den Wolken. Donner krachte bedrohlich, aber sie ließ sich nicht beirren. Triefnass stand sie vor ihm. Ihr kurzes Sommerkleid klebte an ihrem Körper, die feuchte Kälte kroch in ihre Knochen. »Das klingt ja beinahe, als sorgtest du dich um mein Wohlbefinden.«

»Nein. Ich will einfach nicht dafür verantwortlich sein, wenn du dir den Tod holst.«

»Lügner«, entgegnete sie und grinste ihn herausfordernd an.

Er betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Was machst du hier?«, fragte er noch einmal. Leiser diesmal und mit größerem Nachdruck.

Es war so viel mehr als nur eine Frage. Dahinter stand die Aufforderung zu einem Statement. Er hatte ihr klar und deutlich vermittelt, was er von ihr wollte. Er hatte sich entschieden und sich dann zurückgezogen. Um sie nicht zu bedrängen. Um ihr den Freiraum zu lassen, sich darüber klar zu werden, wen und was sie wollte. Der Zufall war es gewesen, der das Boot dazu gezwungen hatte, im Hafen ihrer alten Heimat anzulegen, die Passagiere zu einem unfreiwilligen Zwischenhalt genötigt hatte, bis das Schiff für die Weiterfahrt flottgemacht war.

Zufall? Ihre Großmutter würde sich im Grabe umdrehen. Schicksal, Kindchen. Schicksal, hörte Ella die gütige Stimme ihrer verstorbenen Granny mit dem Wind flüstern. Das Schicksal kann sich anschleichen und unbemerkt an dir vorüberziehen, aber manchmal benutzt es auch den Holzhammer. Wenn du dann nicht zu Boden gehst, dich dem Willen nicht beugst, gegen den du sowieso nichts ausrichten kannst, bist du entweder blöd oder gerne unglücklich. Das waren Großmutters weise Worte gewesen. Die Worte, die hartnäckig in Ellas Ohren hallten, als sie ihren Fuß auf die polierten Planken des Schiffsdecks setzte. Ella hatte die Augen geschlossen und das erste Mal seit langer, langer Zeit auf ihre innere Stimme gehört. Ohne dass sie es bemerkt hätte, rannen ihr auf einmal Tränen über die Wangen. Ihr Magen war ein einziger Knoten, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Welcher Gedanke löste das aus?, hatte sie sich gefragt und nur eine einzige Antwort gefunden. Sie rannte von Bord. Obwohl sie wusste, dass ein heftiges Gewitter aufziehen würde, schnappte sie sich den Wagen eines Bekannten und fuhr hinaus aus der Stadt. Jetzt stand sie hier. Klatschnass sah sie ihrer Zukunft in die Augen. Sie musste nur noch zugreifen. Ein wohliger Schauer rieselte ihr durch Mark und Bein und ließ sie erzittern.

»Du frierst.« Ohne weiter nachzudenken, überwand er die Distanz. Er machte die letzten zwei Schritte, die sie voneinander trennten. Er hob die Hände, ließ sie dann aber wieder sinken. Er stand so nahe vor ihr, dass sie seine warme Haut spüren, seinen süßlich herben Geruch einatmen konnte. Sie wollte zerspringen. Aber sich ihm einfach an den Hals werfen wollte sie auch nicht. Er ebenso wenig.

»Das Schiff wird nach dem Gewitter ablegen.« Sie spürte, wie er nach ihren Worten innerlich den verbliebenen Abstand zwischen ihnen wieder ausbaute.

»Das kannst du noch schaffen.«

»Ja, aber ich will nicht. Es sei denn, ich werde weggeschickt.«

»Von wem?«

»Von dir.«

Seine Stimme wurde rau. »Ich habe dich nie weggeschickt. Du bist freiwillig gegangen.«

»Und unfreiwillig zurückgekehrt.«

»Wenn das eine solche Qual für dich war, dann geh.« In seinen blauen Augen schimmerte Schmerz.

»Meine Rückkehr war vielleicht nicht geplant. Diese Begegnung mit der Vergangenheit hat mir aber die Augen geöffnet. Ich brauchte einen Moment länger als du, um das zu begreifen. Ich will nicht mehr weg. Das hier ist mein Zuhause. Du bist mein Zuhause.«

Er blieb misstrauisch. Verständlich, dachte Ella. Nach allem, was gewesen war, liebte er sie noch immer, aber das hieß noch lange nicht, dass er ihr auch vertraute. Doch genau darum wollte sie ihn jetzt bitten.

»Natürlich. Und dann hast du wieder Bock, zu verschwinden, und ich bleib erneut zurück. Darauf hab ich keine Lust, Ella.«

»Was kann ich sagen, um dich davon zu überzeugen, dass ich es ernst meine?«

»Nichts«, stellte er nüchtern fest. Er schüttelte leicht den Kopf und drehte sich weg. Mit in die Hosentaschen gesteckten Händen ging er den Strand entlang im Regen davon.

Sie blieb zurück. Heiße Tränen vermengten sich mit dem kalten Regenwasser auf ihrer Wange. Ich liebe dich!, rief sie ihm innerlich nach. Hatte sie ihm das eigentlich jemals gesagt? Sie wühlte in ihren Erinnerungen, aber sie konnte keine passende finden. War das möglich? Hatte sie ihm niemals gesagt, was sie für ihn empfand? Irritiert über sich selbst, schlüpfte sie aus ihren hochhackigen Sandalen, warf sie achtlos zu Boden und rannte ihm hinterher. Auf dem Sand vorwärtszukommen war nicht ganz einfach, aber sie holte ihn schließlich ein. Einige Schritte hinter ihm blieb sie stehen und rief ihm zu: »Ich liebe dich. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen kann, um dich zu überzeugen, aber diese drei Worte müssen einfach genügen: Ich liebe dich!«

Sie starrte seinen Rücken an, musterte seinen Hinterkopf. Suchte irgendeine Reaktion. Aber da war keine.

Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. »Ich bleib hier nicht ewig stehen!«, rief sie ihm nach. Ein letzter, verzweifelter Versuch, ihn zum Umkehren zu bewegen.

Ein paar weitere, quälende Schritte lang reagierte er nicht. Doch dann blieb er stehen.

Ihr Herz machte einen Satz.

Erst neigte er den Kopf. Dann drehte er sich langsam um, strich sich das tropfende Haar aus der Stirn.

Dann setzte er sich in Bewegung. Zielstrebig marschierte er direkt auf sie zu.

Sie war sich nicht sicher, was sie von seinem Gesichtsausdruck halten sollte. Von seiner verbissenen Entschlossenheit, mit der er rasch auf sie zukam. Sein ganzes Auftreten duldete keine Widerrede. Ella wollte schon beinahe zurückweichen, als er sie am Nacken packte, zu sich heranzog und seine warmen, weichen Lippen auf die ihrigen senkte. Ihr Körper bebte. Aber dann hörte er auf, sie zu küssen. Er zog sich nicht zurück. Sein Mund berührte sie noch immer hauchzart. Er öffnete die Augen und sah in ihre. Obwohl sie in seinem Blick versank, spürte sie, wie er lächelte, ehe er sagte:

»Deine paar Minuten im Regen, die du auf mich wartest, gegen meine Jahre, die ich auf dich gewartet hab.«

 

ENDE

 

Natürlich. Anfangs störrisch, dann finden sie immer die richtigen Worte, und perfekt ist das Glück. Elena schlug das Buch zu und warf es auf den Fußboden. Langsam schmerzte ihr der Arm, vom Abstützen. Sie drehte sich in dem ausladenden Boxspringbett auf den Rücken und ließ ihren Kopf in das weiche Kissen sinken. Der warme Schein ihrer Nachttischlampe zauberte einen kreisrunden Fleck an die Decke, der sich nach außen hin verdunkelte. Sie fixierte den Kreis, legte einen Arm über ihre Stirn und seufzte.

»Das ist doch scheiße«, murmelte sie. So etwas geschieht nicht. Das ist ja auch der Grund, weshalb sich hoffnungslose Romantiker in Filme und Bücher flüchten. Diese Welten kann man sich aussuchen. Man kann wählen, ob man ein Happy End möchte oder eben nicht. Allerdings dauern diese Buchleben meist nur wenige Tage. Dann sind die Figuren ihrem Schicksal begegnet, das Buch wird zugeklappt, und die reale Welt hält wieder Einzug. Entweder man setzt sich damit auseinander oder man sucht sich das nächste Buch, fiebert mit neuen Akteuren mit.

Bis man wieder die letzte Seite aufschlägt.

Eigentlich gibt es nur eine Story, bei der man nicht auf dieses Problem mit der letzten Seite stößt – und wenn doch, dann ist es kein Problem, sondern einfach das Ende, ohne Möglichkeit auf einen Neuanfang. Das ist die Geschichte, die allgemein unter dem Namen »Leben« bekannt ist. Der Segen dort ist aber auch der Haken: Sie endet nicht, bis sie endet. Man hat keinen Einfluss und man kann nicht vorblättern; den Schluss zuerst lesen geht auch nicht. Man weiß nicht, ob man einfach von einem Auto überfahren wird, ob man zu großem Reichtum kommt, der Armut verfällt, seine Träume erreicht, glücklich wird.

»Das ist doch scheiße«, knurrte Elena noch einmal. Sie wälzte sich auf die Seite und suchte sich einen neuen Punkt, den sie fixieren konnte. Diesmal traf es den Teddybären auf dem Schaukelstuhl in der Ecke. Dieser Bär war das einzige Zugeständnis an das Kind in ihr. Sie galt mit ihren vierunddreißig Jahren als erwachsen und eigenständig, aber irgendwo schlummerte noch immer das kleine Mädchen mit dem leichten Rotstich in dem kastanienbraunen Pony und der riesigen Brille, die ihr andauernd von der Nase rutschte. Das Mädchen mit Wünschen und Träumen, die sie alle, seit sie denken konnte, ihrem Bären anvertraute. Einiges hatte der Gute schlucken müssen. Elena spürte, wie ihr ein leises Lächeln entschlüpfte.

Süße Erinnerung.

Sie beruhigte sich allmählich und schloss schließlich die Augen.

[home]

18. Oktober

Dunkel und gespenstisch liegt der Wald da. Das silberne Licht des Vollmonds bricht immer wieder durch das Blätterdach der hohen Bäume. Hie und da raschelt es im Geäst oder im Unterholz. Es ist, als befände man sich in einer anderen Welt. Als Eindringling. Der harte Strahl der Taschenlampe und das matte Glimmen der E-Zigarette passen nicht zu der natürlich friedvollen Umgebung. Jedes Geräusch, das man verursacht, scheint zu laut. Der eigene Atem, die Kleidungsstücke, die durch die Bewegung aneinanderreiben, die Schuhe auf dem feuchten Waldboden. Aber noch viel unangenehmer ist es, sich schlaflos im Bett hin und her zu wälzen, Löcher in die Dunkelheit des Zimmers zu starren, sich danach zu sehnen, dass die Gedanken endlich schweigen, und sie doch nicht still zu kriegen. Also gibt es nur die Flucht an den Ort, an dem trotz oder gerade wegen der Ruhe die Gedanken verstummen. Die Nacht ist kühl. Jeder Atemzug zaubert ein kleines Wölkchen in die Luft. Ich nehme einen Zug von meiner künstlichen Zigarette, beobachte den weißen Dampf, wie er sich in der Luft rasch verflüchtigt. Eine richtige Zigarette wäre mir lieber, aber ich habe mir geschworen, dieses stinkende Zeug nicht mehr anzurühren.

Die Bäume haben nach und nach all ihre Blätter verloren. Der Hebst, der eben erst Einzug gehalten hat, wird vom Winter vertrieben. Doch das macht nichts. Oktober ist ein schöner Monat. Die Natur bereitet sich langsam auf den Winterschlaf vor, die Lebensgeister werden auf ein Minimum heruntergefahren.

Ich nähere mich dem kleinen Weiher, der sich neben einer Lichtung an den Waldrand schmiegt. Geknickte Schilfrohre ragen aus dem Wasser. Ein Lufthauch bringt Bewegung in die Oberfläche.

War es ein Lufthauch? Oder war es etwas anderes? Mir war, als huschte ein Schatten in den Schutz der Bäume. Wahrscheinlich nur die Einbildung meiner überspannten Nerven. Während ich weiter auf den Teich zugehe, schlage ich die Kapuze meiner Jacke hoch. Die Kälte kriecht mir nach und nach in die Knochen, und langsam stellt sich eine angenehme Müdigkeit ein. Ein klares Zeichen dafür, dass es Zeit war, umzukehren. Ich dreh mich schon ab, bereit, den Weg zurückzugehen.

Da dringt eine leise Melodie an mein Ohr.

Zuerst halte ich es für ein Hirngespinst. Ich schüttle den Kopf und will weitergehen. Aber jetzt, da ich sie aufgeschnappt habe, begleitet mich die Melodie bei jedem meiner Schritte. Ich bleibe stehen, schiebe die Kapuze zurück, recke mein Ohr in die Luft und lausche.

Sanft wie ein laues Lüftchen wabert die Musik durch den dunklen Wald.

Die Melodie kommt mir bekannt vor. Aber ich kann sie nicht zuordnen.

Das ist weiter auch nicht wichtig. Viel drängender ist die Frage, woher diese Musik auf einmal stammt. Es ist mitten in der Nacht in einem menschenleeren Wald. Das habe ich bisher zumindest angenommen. Aber ganz so allein, wie ich dachte, bin ich wohl doch nicht.

Wer ist da noch?

Ich lausche angestrengt, aus welcher Richtung die Musik kommt, und folge ihr, obwohl mein Unterbewusstsein Alarm schlägt.

Die Melodie führt mich zum Weiher. Im Schutz eines breiten Baumstamms verharre ich noch einen Moment und spähe in die Dunkelheit.

Das Bild hat sich verändert. Im ersten Augenblick kann ich jedoch nicht erkennen, was anders ist. Ich suche die Umgebung ab, aber niemand scheint hier zu sein.

Dann trifft mein Blick auf die Wasseroberfläche. Schnell wird klar, was nicht stimmt.

Dort treibt etwas. Etwas Großes. Irgendwie unförmig.

Waren das Gliedmaßen?

Nein, unmöglich.

Mein Mund wird trocken vor Aufregung.

Ich verlasse meine Deckung.

Mein Atem beschleunigt sich.

Vorsichtig nähere ich mich dem kleinen seichten Gewässer.

Ich spüre, wie mein Herz heftig gegen meine Rippen schlägt.

Meine Augen sehen, aber mein Gehirn kann die Information nur schleichend verarbeiten.

Meine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern.

Jetzt erst fange ich an, zu begreifen. Wie die Teile eines Puzzles fügen sich die Informationen zusammen.

Eisiges Entsetzen ergreift Besitz von mir, wie ein Dämon, der mir im Nacken sitzt.

Ich will schreien, wegrennen, Hilfe holen. Aber ich bin wie gelähmt. Ich kann mich nicht rühren, mich nicht von dem markerschütternden Anblick losreißen.

Vor mir, inmitten dieses idyllischen Teichs im Wald, treibt der Körper einer Frau. Das Gesicht zum Himmel gerichtet, die Augen friedlich geschlossen. Ihr schwarzes Haar wippt leicht auf der im Mondlicht glitzernden Wasseroberfläche. Sie trägt ein Kleid aus schimmerndem Stoff. Der Rock ist gelb, altmodische Puffärmel zieren die dunkelblaue Korsage mit dem weißen Stehkragen.

Zumindest auf der linken Seite. Auf der rechten ist das Kleid zerrissen bis zur Taille und entblößt eine weiße Brust.

Aber das ist nicht das Verstörendste. Dort, wo das Dekolleté sein sollte, klafft ein Loch. Die Haut ist zerfetzt, die Rippen sind gebrochen. Der Blick fällt frei auf das Innere des menschlichen Körpers. Und wo vormals das Herz saß, ist jetzt ein kleines schwarzes Diktiergerät, das friedliche Musik spielt …

 

Elena riss die Augen auf. Mit einem Schlag war sie hellwach. Ihr Atem ging stoßweise. Sie rieb sich mit der Hand über das Gesicht, um die letzten Schleier einer durchwegs aufreibenden Bewusstseinsreise zu vertreiben. »Tut mir leid«, murmelte sie.

»Das muss es nicht«, antwortete die tiefe, einlullend vibrierende Stimme des Mannes, der ihr seit mehreren Monaten regelmäßig im Stuhl gegenübersaß. »Sie wissen, dass die Hypnose immer nur so weit geht, wie Sie es zulassen, Elena. Widerstrebt Ihnen der Weg, den die Reise einschlägt, erwachen Sie. So haben wir es besprochen. So soll es sein.«

Elena nickte leicht und schluckte schwer. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Sie richtete sich auf der Ottomane auf, schob die Beine über den Rand, stellte die Füße bewusst fest auf den Boden. Mit abgestützten Händen und gesenktem Kopf verharrte sie einige Sekunden, ehe sie zum Wasserglas auf dem Beistelltisch griff. Elena nahm einen großen Schluck. Sie fühlte sich gerädert, obwohl sie eigentlich gelesen hatte, dass Hypnosesitzungen entspannend sein sollten. Der Proband fühle sich im Anschluss an die Fantasiereise frisch und erholt, hatte es in einem Bericht geheißen. Das konnte sie definitiv nicht bestätigen. Aber bei ihr war sowieso manches anders als bei anderen Menschen.

»Geht es Ihnen so weit gut?«, fragte Dr. Steffen.

Elena schaute ihn an. Erstaunlich jung war der Mann, kaum älter als sie selbst. Ein kantiges Gesicht, mittellanges blondes Haar, dunkelblaue Augen, die oberhalb von zwei ausgeprägten Wangenknochen saßen. Der Blick aus diesen Augen vermittelte Ruhe, einem dunklen Bergsee gleich, doch Elena gewann immer häufiger den Eindruck, dass hinter dieser stillen Oberfläche ungeahnte Tiefen lagen.

In seiner üblichen Manier schob Dr. Steffen die filigrane Brille mit dem schmalen Goldrand auf die Nasenspitze und musterte sie aufmerksam.

»Elena? Alles in Ordnung? Sie scheinen abwesend.«

Elena riss sich zusammen. »Außer, dass ich eine rauchen will, ist alles in Ordnung, ja.« Elena krümmte die Finger zur Faust und streckte sie wieder, um das Verlangen, einen Glimmstängel dazwischen zu spüren, loszuwerden und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. »Es war einmal mehr ziemlich anstrengend.«

»Versteh ich. Wir werden es das nächste Mal langsamer angehen lassen. Wie ich schon mehrfach gesagt habe, Sie verlangen sich selbst zu viel ab.«

»Ja, ja, das sagten Sie schon. Wir werden sehen, okay?«

»Für mich schon. Aber es geht um Sie und nicht um mich«, meinte er und schob die Brille wieder vor seine Augen. Er las in seinen Notizen, gekritzelt auf einen Block, den er auf seinem Knie balancierte. »Elena?«, fragte er unvermittelt.

»Ja?«

»Real oder nicht?«

Diese Frage musste ja kommen. Wie immer. Elena war darauf vorbereitet. »Nicht real.«

»Dann haben Sie die Frau im Teich nie gesehen?«

»Nein. Ich habe sie nie gesehen.«

»Elena, sagen Sie mir, was Sie wirklich glauben. Nicht, was ich Ihrer Meinung nach hören will.«

Elena seufzte, rieb die Handflächen aneinander. Mit fester Stimme sagte sie schließlich: »Der Unfall, die Schuldgefühle, der Druck. Faktoren, die ich nicht mehr verarbeiten konnte und die sich in Kombination mit den Medikamenten zu einer Einbildung manifestierten. Es gab sie nicht. Die Tote war und ist nicht existent. Ich ging in diesem Wald nicht spazieren, da war auch keine Musik.«

»In Ordnung.« Ein leises Pling der hübschen Uhr aus Marmor auf dem Schreibtisch des Therapeuten verkündete das Ende der Sitzung.

Elena stand auf. Ihre Beine waren schwer, ihr Kopf rauchte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Trotzdem wusste Dr. Steffen Bescheid. Das erkannte sie an seinem leicht tadelnden Gesichtsausdruck. »Elena. Vergessen Sie nicht: Sobald Sie wieder davon träumen, rufen Sie sich nach dem Erwachen in Erinnerung, was nach der Begegnung mit Schneewittchen geschehen ist. Daran können Sie sich festhalten. Das ist Ihr Anker, der Sie auf dem Boden der Realität hält.«

Elena nickte und verabschiedete sich. Leise zog sie die Tür hinter sich zu, schenkte der eisig dreinblickenden Empfangsdame ein freundliches Lächeln, folgte dem Gang in Richtung Ausgang und verließ das Gebäude.

Nach dem Vorfall. Die Worte des Therapeuten hallten in ihren Ohren nach.

Schneewittchen. Der Inbegriff der Unschuld. Das Sinnbild, das sich ihr Unterbewusstsein, ihr belastetes Gewissen, geschaffen hatte. Blödsinn. Ein Ungeheuer war sie. Das schöne Schneewittchen war Elenas ganz persönlicher Albtraum. Nebst den unzähligen anderen natürlich.

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19. Oktober, morgens

Sie konnte nicht schlafen. Schon wieder nicht. Eigentlich war sie nicht weiter erstaunt, und doch wunderte sie sich jedes Mal erneut darüber, dass sie pünktlich wie eine Schweizer Uhr um drei Uhr morgens erwachte und kein Auge mehr zutun konnte. Sie versuchte es mit autogenem Training, aber der gewünschte Entspannungszustand blieb aus. Schließlich stand sie auf, tigerte in den Räumen umher, bis sie dann doch wieder nach ihrem Mantel griff und die Wohnung verließ. Der Weg zum Wald war nicht weit. Kein Wunder, wenn man direkt am Rand wohnte. Sie knipste die Taschenlampe an, zog ihren treuen Begleiter, die E-Zigarette, aus der Innentasche des Mantels und nahm paffend ihren üblichen Weg.

Sie spürte, wie die Dämonen der Nacht ihr folgten, aber inzwischen war sie es gewohnt. Ständig dieses Gefühl kalter Klauen im Nacken zu haben ängstigte sie nicht mehr. Sie konnte es verkraften, auch wenn ihre Therapeuten anderer Meinung waren. Sie erklomm die leichte Steigung. Um auf dem feuchten Waldboden nicht auszurutschen, stützte sie sich am breiten Stamm einer alten Eiche ab. Die Luft war feucht, roch nach Erde und moderndem Laub. Jeder Schritt raschelte unter ihren Füßen.

An einer Weggabelung blieb sie stehen. Sie schloss ihre Augen und sog gierig die frische Luft ein, ließ sie dann langsam wieder entweichen. Sie wiederholte das Ganze, nur inhalierte sie diesmal tief den Dampf der Zigarette. Elena spürte, wie ihr Körper allmählich zur Ruhe kam. Wie die Anspannung nachließ, die sie antrieb. Und wie sich die Bereitschaft einstellte, ihrem warmen Bett noch einmal eine Chance zu geben.

Da hörte sie sie.

Ein zarter Lufthauch trug die leisen Klänge zu ihr herüber.

Sie stockte. Sofort spannte sich jeder Muskel ihres Körpers aufs Neue an.

Sie wollte dem Drang widerstehen. Nach Hause gehen. Tun, was der Therapeut ihr geraten hatte. Sie musste aufwachen. Aus dieser Illusion fliehen. Nein, nicht fliehen. Wer floh, wurde gejagt. Sie musste die Einbildung bewusst von sich schieben und ihr dann den Rücken kehren.

Aber dazu fühlte sie sich nicht fähig. Elena konnte nicht anders, als den Klängen zu folgen und dem Ursprung auf den Grund zu gehen.

Geduckt schlich sie in die Richtung, aus der sie die Töne vermutete.

Was würde sie heute antreffen?

Wahrscheinlich überhaupt nichts. Wie schon gestern und vorgestern und den ganzen letzten Monat – denn da war nichts.

Trotzdem ging sie weiter. Immer wieder musste sie stehen bleiben, um aufs Neue zu lauschen. Sich neu zu orientieren. Die Melodie war so leise, dass sie von ihrem eigenen beschleunigten Atem übertönt wurde, wenn sie sich vorwärtsbewegte.

Wie lange sie schon zwischen den Bäumen herumirrte und ihrem Hirngespinst nachjagte, wusste sie nicht. Doch auf einmal wurde die Musik tatsächlich deutlicher.

Hier musste es sein, ging es ihr durch den Kopf.

Sie drehte sich um ihre eigene Achse, knipste ihre Taschenlampe an, suchte die Umgebung ab.

Aber da war nichts.

Nur diese verstörend sanfte Melodie.

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19. Oktober, nachmittags

»Ich hab sie schon wieder gehört.« Elena machte es sich auf dem hölzernen Küchenstuhl bequem, indem sie ihren rechten Fuß hochzog und unter das Knie des linken Beins schob.

Jana ließ die Kaffeekanne, die sie soeben von der Herdplatte gehoben hatte, langsam wieder zurücksinken. Elena spürte Janas Zögern und wartete gespannt.

»Hast du?«, fragte Jana schließlich und hob den kleinen italienischen Kaffeekocher erneut an. Der Duft nach frischem Kaffee erfüllte die ganze Küche und mischte sich mit der leichten Zimtnote, die das Potpourri auf dem kleinen Küchentisch verströmte.

»Ist es nicht etwas zu früh für Zimtdüfte?«, fragte Elena, als hätte Jana nie etwas gesagt.

Jana drehte sich zu ihrer jüngeren Schwester um. »Für Zimt kann es nie früh genug sein.« Jana goss den Kaffee in die hübsch verzierten Porzellantassen mit den goldenen Rändern. »Wann hast du sie gehört?«, fragte sie dann, ohne aufzublicken.

»Gestern Nacht. Drei Uhr morgens, besser gesagt.«

»Pünktlich, wie immer.«

Elena nickte. »Du glaubst mir immer noch nicht, stimmt’s?«

Jana stellte die Kanne weg, setzte sich und führte die Tasse zum Mund. »Nein. Nicht direkt zumindest. Ich glaube dir, dass du diese Melodie hörst, aber ich habe echte Schwierigkeiten damit, mir einen Reim darauf zu machen, woher sie kommt. Du bist so überzeugend, wenn du erzählst, dass sie wirklich da ist. Nur ist es dein Therapeut auch: Er hat mir erklärt, dass die Melodie zwar da ist, aber nur in deinem Kopf.«

»Pünktlich. Um drei Uhr morgens.«

»Das mein ich ja. Wie kann dein Kopf funktionieren wie ein Wecker? Das konnte mir dein Doktor Steffen nicht richtig beantworten.« Jana pustete in die Tasse und nahm vorsichtig einen Schluck. »Hast du sie nur gehört oder auch wieder gesehen?«

»Nur gehört. Schneewittchen ist mir nicht mehr begegnet.«

»Das ist so verrückt.« Jana setzte die Tasse ab und sah ihrer Schwester offen in die Augen.

»Ja, das höre ich in letzter Zeit öfter.« Elena brachte ein schiefes Grinsen zustande, das ihre Schwester mit einem ebenso schiefen Lächeln beantwortete. Es war erstaunlich, wie ähnlich sie sich waren, obwohl sie noch nicht einmal auf dem Papier wirklich Geschwister waren. Sie waren nur miteinander aufgewachsen. Janas Vater hatte Elenas Mutter kennengelernt, da waren die beiden Töchter gerade mal drei Jahre alt gewesen. Janas Mutter hatte sich von ihrem Mann getrennt und die Tochter beim Vater gelassen. Elenas Vater war dreißig Jahre älter als ihre Mutter gewesen. Er hatte sie beide vergöttert, aber Elenas Mutter hatte ihn nie wirklich geliebt. Sie hatte ihn sehr gemocht und als Ehemann und Versorger geschätzt, aber das war es dann auch schon gewesen. Er hatte ihnen einiges hinterlassen, als er starb, und Elenas Mutter mit seinem Tod die Möglichkeit eröffnet, in Janas Vater die wahre Liebe zu finden. Bis zu dem schicksalhaften Tag, an dem sie gemeinsam einen Helikopter bestiegen und abstürzten. Ihr Tod war jetzt drei Jahre her. Seitdem war nichts mehr wie vorher. Vor allem in Elenas Leben hatte sich viel verändert, aber nicht zum Positiven.

»Hör Mal, Elena, meinst du nicht, es wäre sinnvoll, dir Abstand zu gönnen?«

»Doch, könnte schon sein. Das war das Ziel, als ich in der Klinik war und auch als ich mich von meinem Job freistellen ließ. Wie viel mir das gebracht hat, wissen wir ja. Ich höre Melodien und sehe tote Märchenfiguren. Erfolgreicher kann man kaum Abstand von der harten Realität gewinnen, meinst du nicht?«, fragte Elena sarkastisch.

Jana wusste, wie ihre Schwester in solchen Momenten zu nehmen war. Sie ließ sich durch die negative Schwingung nicht abschrecken. »Elena, dein Vater hat dir doch eine Hütte hinterlassen, die du schon seit Längerem auf Vordermann bringen wolltest. Vielleicht ist das die richtige Ablenkung oder Therapie?«

Elena nahm ihrer Schwester den Zuckerstreuer aus der Hand und kippte die weißen Körner auf ihren Kaffeelöffel. Sie tauchte den Löffel bis knapp zum Rand in den Kaffee und schaute zu, wie sich die Kristalle mit der dunklen Brühe vollsogen und sich bräunlich verfärbten, ehe sie langsam zergingen. Dann schob sie die Zucker-Kaffee-Mischung in den Mund.

Jana betrachtete Elenas Tun mit gerümpfter Nase.

»Also gut«, meinte Elena schließlich. »Sagen wir mal, ich zieh vorübergehend in die Hütte. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr da. Sie wird in einem desolaten Zustand sein. Mal ganz abgesehen davon, dass sie am Arsch der Welt liegt. Meinst du, die Einsamkeit ist der richtige Weg? Könnte es nicht sein, dass der Wiedereinstieg ins Alltagsleben die Normalität eher zurückbringt?«

»Doch«, antwortete Jana prompt. »Aber dann läufst du Gefahr, die Schwierigkeiten zu verdrängen, ins alte Muster zurückzufallen und dieselben Fehler erneut zu begehen. Das heißt natürlich nicht, dass du wieder einen Unfall baust. Es ist vielmehr so, dass du dich bis zur endgültigen Erschöpfung in die Arbeit stürzen wirst. Ich kenn dich.«

»Könnte stimmen. Wenn das nun aber die einzige Möglichkeit ist, die Bilder endlich loszuwerden?«

»Du wirst nie ganz vergessen. Weder den Tod unserer Eltern noch deinen eigenen Unfall und alles, was damit einherging. Ziel muss es sein, dass du damit leben kannst, ohne dass es dich zerfrisst.«

»So wie du.«

»So ähnlich, ja. Und glaube mir, das war nicht leicht. Es war ein ganz schönes Stück Arbeit, bis hierher zu kommen. Das weißt du. Du bist auf einem guten Weg, Elena. Die richtige Art der Bewältigung haben wir für dich einfach noch nicht gefunden.«

»Stimmt. Ein fürsorglicher Partner und Kinder, die mich so tragen, wie deine Familie es für dich tut, die fehlen mir.«

»Das wäre auch nicht dein Stil. Abgesehen davon, scheinst du zu vergessen, dass mein fürsorglicher Freund erst aufgetaucht ist, nachdem meine Ehe zerbrochen und mein Ehemann mitsamt den Kindern ausgezogen war. Wie gesagt, es war auch bei mir ein langer und steiniger Weg, mein Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken.«

Elenas Blick trübte sich noch etwas mehr. »Glaube mir, das habe ich nicht vergessen, genauso wenig wie den anderen Teil, der zu dieser Vergangenheit gehört.«

Janas Kiefermuskeln spannten sich an bei der Erinnerung, die Elena mit diesen Worten heraufbeschwor. »Lass uns nicht darüber sprechen. Das ist vergessen und vorbei. Wir haben uns geschworen, nach vorne zu blicken, weißt du noch?« Janas Anspannung wich einem liebevollen Lächeln, als sie ihrer Schwester zärtlich über die Wange strich.

Elena nahm Janas Hand zwischen ihre beiden Hände. »Ich wollte nicht wieder damit anfangen, entschuldige. Du hast natürlich recht. In die Zukunft zu sehen ist klüger, als der Vergangenheit nachzuhängen. Wie wäre es also, wenn ich in naher Zukunft endlich deinen Freund kennenlerne, den du mir schon eine gefühlte Ewigkeit vorenthältst?«

Janas Lächeln wurde geheimnisvoll. »Er ist eben viel unterwegs, aber du wirst ihn kennenlernen, versprochen!«

»Na gut«, gab Elena nach. »Dann kümmere ich mich in der Zwischenzeit weiter um meine Genesung. Ich bin mir nur nicht sicher, ob mich die Probleme in der Einsamkeit einer Hütte am Waldrand nicht erst recht einholen …«

»Direktkonfrontation. Wenn dich Schneewittchen dort einholt, dann guck dieser Schlampe in die Augen und sag ihr, sie soll sich ein für alle Mal verpissen.«

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20. Oktober, kurz nach Mittag

Die Hütte lag nicht besonders weit weg von ihrem Wohnort. Bei geringem Verkehr war sie in eineinhalb Stunden Autofahrt von Basel aus gut erreichbar. Erlach war ein beschauliches Dorf am Bielersee – See und beschaulich, zwei Ausdrücke, die Elena lange Zeit rätseln ließen, warum ihr leiblicher Vater diese Hütte damals gekauft hatte. Es war ihr so lange nicht klar gewesen, bis sie erfuhr, dass er ein leidenschaftlicher Jäger gewesen war. Ein Schock für das kleine tierliebende Mädchen mit den großen grünbraunen Kulleraugen. Obwohl, eigentlich hätte sie eben diese Augen nur etwas weiter öffnen müssen, dann wäre der Fall klar gewesen. Oder warum sonst hingen überall an den Wänden in der Hütte diese Hirschköpfe? Aber er hatte auch Trophäen von Tieren nach Hause gebracht, die höher in den Bergen lebten. Zum Beispiel von Gämsen, Steinböcken und sogar von einem Bären.

Elena holperte mit ihrem Yaris über die Pflastersteine und parkte ihr Auto vor der Dorfbäckerei. Sie wagte kaum zu hoffen, dass die Besitzerin immer noch dieselbe war. Elena erinnerte sich dunkel daran, wie die für sie damals schon ältere Dame dem kleinen Knirps ständig hinter dem Rücken der Eltern Schokolade zugesteckt hatte. Natürlich hatte ihre Mutter bemerkt, was los war. Wie hätte sie auch anders gekonnt? Schließlich spazierte Elena nach jedem Bäckereibesuch mit verschmiertem Mund und vollgestopften Backen scheinheilig grinsend neben ihrer Mutter her. Gesagt hatte sie aber nie etwas. Sie hatte immer nur milde gelächelt.

Elena schluckte den Kloß hinunter, den ihr diese süße Erinnerung in den Hals getrieben hatte, verließ den Wagen und öffnete die gläserne Tür zur Bäckerei. Ein leises Klingeln kleiner Glöckchen, die über der Eingangstür hingen, kündete ihren Besuch an. Zuerst tat sich überhaupt nichts. Elena musterte die Auslage und stellte sich in Gedanken ihren Einkauf zusammen. Als das Nötige beieinander war, suchte sie nach dem Überflüssigen. Sie entdeckte die luftigen Gebäckkügelchen mit der Vanillefüllung ganz hinten in der Auslage. Zufrieden in sich hineingrinsend, bemerkte sie nicht, wie Bewegung hinter den Vorhang kam, der den Zugang zur Backstube verdeckte.

»Guten Tag«, krächzte eine Stimme.

Elena zuckte zusammen und schaute auf. Da war sie. Kaum zu glauben. Sie sah irgendwie immer noch genau gleich aus. Die Frau kniff die Augen zusammen und musterte ihre Kundin. »Was darf’s sein?«

Elena räusperte sich, zählte auf, was sie brauchte, und schloss ihre Bestellung mit den Worten ab: »Dazu bitte noch sechs von den Vanillebällchen zusammen mit einem Säckchen Marzipannüssen.«

Da stutzte die Frau. Langsam sah sie auf. »Diese Kombination habe ich schon lange nicht mehr verkauft.«

Elenas schiefes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Auf einmal fiel der Groschen bei der alten Dame. »Elena? Die kleine Elena? Was für eine Freude! Was treibt dich denn hierher? Ist das lange her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du warst noch so klein! Und jetzt, mein Gott! Das Mädchen ist eine erwachsene Frau. Dieses braunrote Haar hast du eindeutig von deiner Mutter, die weichen Gesichtszüge auch. Aber um die Augen wirkst du härter als sie. Das wird wohl der väterliche Einfluss sein.« Sie legte eine kurze Pause ein. Über ihre freudestrahlenden braunen Augen huschte ein Schatten. »Und die Spuren, die das Leben hinterlässt. Wir waren entsetzt, als wir von dem Unglück hörten.«

Ehe Elena den Redeschwall der Frau verarbeiten konnte, klingelten die kleinen Glöckchen über der Tür erneut, und ein kühler Lufthauch kitzelte sie in ihrem Nacken. Sie drehte sich instinktiv zur Tür, um zu sehen, wer eintrat. Ein Mann. Groß. Gesenkter Kopf. Rotbraunes Haar lugte unter der Baseballkappe hervor. Elena kehrte dem Neuankömmling den Rücken und wandte sich wieder der Frau zu, die aber an Elena vorbei auf den Mann in der Tür sah. Die Trübseligkeit war aus ihren Augen verschwunden, und das Leuchten war zurückgekehrt. »Hallo Leon.«

Leon. In Elena regte sich etwas, das sie nicht zuordnen konnte.

»Hallo Sarah.«

Diese Stimme. Elena spürte, wie sich die Nackenhaare unter ihrem Pferdeschwanz aufstellten. »Möchtest du das Übliche?«

Leon schien in Elenas Rücken zustimmend zu nicken, denn Sarah meinte: »Gut, ich bin gleich bei dir Leon, ich muss nur eben mal nach hinten eine frische Tüte Marzipannüsse holen.«

Die Frau verschwand hinter dem Vorhang, und sofort fühlte sich der Verkaufsraum leer an, obwohl zwei Menschen darin standen. Die großmütterliche Sarah Meister hatte noch immer die gleiche raumfüllende Wirkung wie früher. Faszinierend.

Während Elena in ihrer Handtasche nach der Brieftasche kramte, spürte sie, wie der andere Kunde neben sie trat. Sie wagte einen kurzen Blick auf sein Seitenprofil. Er musterte konzentriert die Auslage, obwohl er offenbar genau wusste, was er wollte.

Nett. Dreitagebart. Maskulin geschnittenes Gesicht, aber nicht zu kantig. Irgendwie amerikanisch, schoss es Elena durch den Kopf. Seine Hände steckten halb in der verwaschenen Jeans. Sie wirkten groß und rau. Sofort ging Elenas Fantasie auf Reisen. Wenn der Rest von ihm so aussah, wie Gesicht und Hände es erahnen ließen, und wenn seine Finger das konnten, was sie optisch versprachen … Ein wohliger Schauer rieselte durch ihren Körper und brachte sie erneut zum Grinsen.

»Was ist so lustig?«

Elena geriet ins Wanken. Der sommerregenähnliche Schauer in ihr wandelte sich in nervöse Nadelstiche. Röte stieg in ihr Gesicht, als hätte er ihre Gedankenreise miterlebt.

»Stumm?«, fragte er und sah sie dabei seitlich aus klaren braunen Augen an.

Leon. Die Erinnerungen fluteten die anfängliche Barriere. Elena straffte die Schultern. »Nichts weiter. Ich dachte nur über einen Witz nach, den ich kürzlich gehört habe.«

Sarah kehrte aus dem hinteren Teil der Bäckerei zurück und löste die unangenehme Situation. Sie hielt triumphierend eine Tüte Marzipannüsse in die Höhe. »So, die sind ganz frisch. Nur für dich, Elena.« Dann wandte sich die Frau an Leon. »Und hier hast du deine Nussschnecken. Ich hab sie soeben aus dem Ofen gezogen. Sie sind also noch warm.«

Die Frau begann zu rechnen und nannte Elena den Betrag. Elena bezahlte, sammelte ihre Ware zusammen, die Sarah Meister bereits in Tüten gepackt hatte, und verließ die Bäckerei, ohne Leon noch einmal eines Blickes zu würdigen. Sie schaffte es knapp bis zum Parkplatz.

»Elena, hm?« Elena drehte sich nicht gleich um. Sie biss sich auf die Unterlippe, schloss die Augen und atmete tief durch. Wie sollte sie sich geben? Cool und unnahbar? Offen lächelnd? Warum dachte sie überhaupt darüber nach? War ja sowieso egal! Sie drehte sich um, akzeptierte, was ihr Körper spontan hergab. Es fühlte sich an wie ein neutraler Gesichtsausdruck.

»Genau. Und du bist?« Okay, das war unerwartet. Warum stellte sie sich dumm?

»Du weißt, wer ich bin.«

Oh ja, sie wusste, wer er war. Oder eher gewesen war. Ein süßer Junge, der es faustdick hinter den Ohren hatte. »Nein, tut mir leid. Kennen wir uns?«

Seine Augen blitzten amüsiert. »Nein, ich muss dich wohl verwechseln. Obwohl das kaum möglich ist, sosehr gleichst du deiner Mutter.«

Warum sagten das bloß alle? »Tu ich das? Das scheint nur den Leuten in ländlichen Gegenden aufzufallen. In der Stadt sagt das nie jemand.«

»Ist das so? Na dann. So hübsch, wie deine Mutter war, sollte der Vergleich eigentlich schmeichelhaft sein, aber auf Schmeicheleien hast du noch nie viel gegeben.«

Doch, hatte sie, aber das hatte sie ihn nie spüren lassen. Herrgott waren sie jung gewesen! Sie zuckte gleichgültig mit der Schulter anstelle einer Antwort.

»Gehst du in die Hütte? Oder reist du gleich wieder ab?«

»Die Hütte. Ich werde da wohl mal nach dem Rechten sehen müssen. Sie wird sicherlich eine Renovierung nötig haben.«

»Renovieren reicht da nicht mehr. Eine Grundsanierung trifft es wohl eher.« Er hob eine Augenbraue und fügte an: »Dafür, dass du mich nicht kennen willst, gehst du mit deinen Informationen aber ganz schön sorglos um.«

Elena öffnete ihren Wagen, warf die Einkäufe hinein und machte sich daran, einzusteigen. Aber bevor sie hinter dem Steuer Platz nahm, grinste sie ihr typisches Grinsen und meinte noch: »Nein Leon, es ist nicht so, als wollte ich dich nicht kennen. Ich kenn dich nicht. Aber den Teenager, der du mal warst, den kannte ich.«

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20. Oktober, nachmittags

Ich liebe die Jagd. Egal, worauf, egal, in welchem Sinn des Wortes. Das ist noch nicht lange so. Früher wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen, zu jagen. Aber die veränderten Lebensumstände zwangen mich dazu. Wenigstens etwas Positives, das ich diesen beschissenen Ereignissen der vergangenen Jahre abgewinnen kann. Die Verbitterung und die rasende Wut kochen wieder in mir hoch. Ich presse meine Lippen aufeinander. Ich spüre, wie ich die Kontrolle zu verlieren drohe. Ich brauch ein Ventil, und zwar schnell. Als hätte mich jemand gehört, nehme ich einige Meter vor mir eine Bewegung wahr. Ein kehliges Knurren verrät mir, dass mich gefunden hat, was ich suche. Ich verhalte mich weiterhin ruhig, warte, bis die Falle zuschnappt. Auf ein klickendes Geräusch folgt ein markerschütterndes Jaulen. Mein Zeichen. Ich biege die Äste des dichten Strauches vor mir auseinander und stehe vor dem prächtigen Rotfuchs. Sein rechtes Vorderbein klemmt in der Schlagfalle. Ein Gefühl der Macht durchströmt mich, als sich das Tier zu winden beginnt, während ich weiter darauf zugehe. »Dein Überlebenswille ist vergebene Mühe. Du wirst nicht entkommen.« Als Antwort erhalte ich einen keckernden Laut aus einer weit aufgerissenen Schnauze. Unbeeindruckt ziehe ich mein langes Jagdmesser aus der Scheide an meinem Gürtel und stürze mich auf das Tier. Es reagiert sofort, will sich aus meinen Armen entwinden, mich mit seinen scharfen Zähnen beißen. Aber der Fuchs hat keine Chance. Mit dem Bein in der Falle kann er nicht fliehen, und ohne Flucht ist sein Schicksal besiegelt. Ich hocke mich auf seinen Rücken, packe ihn an den Ohren, reiße dem nun winselnden Tier den Kopf hoch und ramme das Messer in seine Kehle. Ein erneutes Jaulen hallt durch den Wald, ehe der drahtige Körper zusammensackt. Blut sickert aus der Wunde an seinem Hals, benetzt die braunen Blätter, versiegt in dem feuchten Waldboden.

Ich ziehe das Messer aus der Kehle des Tieres. Keuchend richte ich mich auf, wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Er war kein harter Gegner gewesen, dennoch kostete es Anstrengung, ihn zu töten.

Ich gehe in die Hocke und schlitze ihm den Bauch auf. Das Leben spendende Blut blubbert wie ein kleiner dunkelroter Wasserfall aus dem Tier heraus. Aber was soll’s, jetzt, da es tot ist, braucht es diese rote Sauce ja nicht mehr.

Ein unangenehmer Geruch wabert um meine Nase, als ich die Bauchdecke öffne, aber das kümmert mich nicht. Ich bin damit beschäftig, die Innereien herauszutrennen, die ich brauche. Ich verpacke sie in einen schwarzen Müllbeutel.

Mein Messer wische ich mit einem Tuch ab, das ich in meine Tasche gestopft habe, und stecke es zurück in die Scheide, wo ich es mit einem Druckknopf sichere. Das ist mir lieber, als wenn ich eine Schusswaffe sichern müsste. Das Messer ist das bessere Jagdinstrument. Du kommst deinem Opfer so nahe, dass du fühlst, wie das Leben durch die Adern pulsiert, bevor du es ihm mit einem einzigen gezielten Stich nimmst.

Ich sehe mich um. Es stehen viele kräftige Bäume an dieser Stelle, ich brauche mir nur einen auszusuchen. Aber der Platz ist nicht geeignet. Ich binde ein Seil um die Hinterbeine des toten Tiers, lege das Seil über meine Schulter und beginne zu ziehen. Ein verhältnismäßig schwerer Brocken, der mir da vor die Klinge gelaufen ist. Er gäbe bestimmt eine nette Trophäe ab. Doch ich habe andere Pläne mit ihm. Die Schweißperlen stehen mir auf der Stirn, nachdem ich den Rotfuchs nun schon eine Weile durch den Wald geschleppt habe. Mein Atem geht schnell, mein Puls rast, aber ich bin noch nicht am Ziel. Ich zerre weiter an dem Seil, bis ich einen geeigneten Platz gefunden habe. Direkt unter einem Baum lasse ich das Tier liegen.

Das Seil werfe ich über einen dicken Ast in knapp zwei Meter Höhe. Ich ziehe daran, lehne mich mit meinem ganzen Körpergewicht zurück, bis sich der Torso des Fuchses vom Boden hebt. Als er in der Schwebe ist, zurre ich das lose Ende des Seils ebenfalls an den Hinterbeinen fest.

Ich mache ein paar Schritte zurück und sehe mir mein Werk an. Wie das Tier so schlaff da hängt, aufgeschlitzt und ausgeblutet. Ein entzückender Anblick.

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20. Oktober, abends

Mit jedem Meter, den Elena weiter Richtung Hütte fuhr, kehrten mehr Erinnerungen zurück. Zwischen den letzten Häusern des Dorfkerns bog sie von der Hauptstraße auf eine Nebenstraße ab. Zwei Autos passten gerade mal aneinander vorbei, aber die Kurven waren schmal, und die Hausecken ragten weit in die Fahrbahn hinein. Je weiter sie fuhr, desto mehr lichteten sich die Häuser. Immer weiter standen sie auseinander, immer größer wurden die Grundstücke rundherum. Elena bog in einen Weg ein, der am Waldrand entlangführte. Die Straße war nach wie vor geteert, aber es kam ihr vor, als hätte man den Belag achtlos hingeschmiert. Links und rechts gab es keinen sauberen Übergang zum umliegenden Land, er hörte einfach auf. Noch etwas oberhalb des letzten Hauses erreichte Elena schließlich ihr Ziel. Sie bremste ab und äugte aus der Windschutzscheibe. Nieselregen hatte eingesetzt, und die Scheibenwischer arbeiteten in steter Regelmäßigkeit. Ein Bild wie aus dem Bilderbuch präsentierte sich vor ihr. Das Haus auf dem weißen Sockel mit den dunklen Holzschindeln hob sich von dem grauen, wolkenverhangenen Himmel und dem herbstlichen Wald ab, dessen Bäume nach und nach ihre bunten Blätter verloren. So hübsch die Szene anzusehen war, so sehr graute es Elena davor, sich intensiver mit dem Motiv auseinanderzusetzen.

Doch es half alles nichts. Sie stellte den Motor ab, zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn und stieg aus. Elena holte den Schlüssel, den sie seit Jahren bei sich in der Wohnung in einer Kiste weggesperrt hatte, aus der Jackentasche und stapfte auf den Eingang zu. Innerlich wappnete sie sich für das, was sie drinnen erwarten würde. Sie rechnete beinahe mit allem. Schimmel, Moder, undichte Stellen im Dach, gebrochene Rohre, verstopfte Leitungen, tote und lebende Insekten und eine Unmenge Dreck.

Elena steckte den Schlüssel ins Schloss und wollte ihn drehen. Zuerst tat sich überhaupt nichts. Sie ruckelte und rüttelte, zog den Schlüssel wieder heraus, drehte ihn und steckte ihn wieder ins Schloss. Er bewegte sich ein wenig, aber der Riegel saß fest.

Na wunderbar.

Nach einigen vergeblichen Versuchen ließ sie es sein und beschloss, sich einen anderen Weg ins Haus zu suchen. Sie machte sich daran, das Haus zu umrunden. Auf ihrem Weg versuchte sie, einen Blick durch die schmutzigen Fenster ins Innere zu werfen. Um den Lichteinfall zu reduzieren, schirmte sie ihr Gesicht seitlich mit den Händen ab und spähte ins Haus. Sie sah die alten Möbel, die da immer noch standen, als hätte ihre Familie den Ort eben erst verlassen. Nur eine dicke Staubschicht ließ erahnen, wie lange schon niemand mehr da gewesen war.

Elena ging weiter, bis sie an der Hintertür ankam. Sie zog am Fliegengitter, das schräg in den Angeln hing. Es gab knarzend nach und erlaubte ihr den Zugriff auf die dahinterliegende Tür. Rasch holte sie den zweiten Schlüssel von dem Bund in ihrer Hand und steckte ihn in das Schloss. Sie wiederholte die Drehbewegung und wich überrascht zurück. Das Schloss gab genauso nach wie das Fliegengitter, dennoch nicht ganz wie erwartet. Elena sah auf ihre Hand, in der sie immer noch den Schlüssel hielt. Und am Schlüssel hing der komplette Zylinder des Türschlosses.

Gut, wenigstens hatte sie jetzt Zutritt zum Haus. Sie ergänzte ihre Checkliste, die sie in Gedanken führte, um den Punkt »Schloss Hintertür ersetzen«, oder am besten gleich die ganze Hintertür auswechseln, überlegte sie weiter, während sie vorsichtig einen Schritt in die Küche wagte. Der Boden ächzte, als sie einen Fuß auf die morschen Dielen setzte. Die Küchenschränke waren verblasst. Der Staub klebte überall, in jeder Ecke hingen Spinnweben, aber es roch weder modrig noch feucht. Elena verließ die Küche, folgte dem Treppenaufgang entlang dem Korridor, von dem drei Zimmertüren abgingen. Unter der Treppe befand sich eine kleine Kammer, einen Keller gab es nicht. Elena atmete tief ein und wappnete sich gegen das, was in der Dunkelheit der kleinen Kammer so alles auf sie wartete. Sie zog schnell die Tür auf, wartete einen Moment, damit sich verkriechen konnte, was sich durch die überraschende Störung verkriechen wollte, und leuchtete dann mit ihrer Taschenlampe ins Innere des Raumes.

Elena war in der Regel nicht anfällig für Sentimentalitäten. Zumindest hatte sie jegliche Gefühle in diese Richtung erfolgreich verdrängt. Bis heute.

An jeder freien Stelle der Wände hafteten Regalböden. Darauf lag einiges an Plunder. Plunder aus schönen Zeiten. Ihre alten Beachballschläger zum Beispiel. Ein weißer Federball, dessen Plastik spröde geworden war. Eine Luftmatratze, ein Tennisschläger, den nie jemand gebraucht hatte, außer wenn es darum ging, Insekten zu verscheuchen. Elena spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie schluckte ihn mit störrischer Entschlossenheit hinunter, ehe er die Augen erreichen konnte. Sie ignorierte den Grill, der unter einer zerrissenen Abdeckplane in der Ecke stand und für noch mehr Gefühlsduselei sorgte. Stattdessen wandte sie sich dem kleinen grauen Kasten zu, der in der Wand eingelassen war. Sie öffnete ihn und besah sich die Sicherungen. Sie schraubte die alten Dinger hinein und hoffte das Beste. Elena zog an der Schnur, die von der Lampe über ihr herunterbaumelte. Tatsächlich wurde es hell im Kämmerchen. Aber gleich darauf gab es einen Knall, und auf einen Schlag war es wieder dunkel.

Elena zuckte vor Schreck zusammen. Laut fluchend, machte sie sich daran, die Sicherungen mithilfe ihrer Taschenlampe erneut zu überprüfen. Anscheinend brauchte sie für gewisse Teile des Hauses neue Sicherungen und auch neue Glühbirnen, wie sie mit einem Blick auf diejenige in der Lampe über ihr feststellte. Der Draht war komplett durchgeschmort.

Eine Liste. Sie musste unbedingt eine handschriftliche Liste anfertigen, denn allmählich konnte sie sich nicht mehr merken, was alles zu reparieren und zu besorgen war. Mit diesem Gedanken schlüpfte sie aus der Kammer und setzte ihren Rundgang fort. Sie spähte ins Wohnzimmer, dessen Eingang sich schräg gegenüber der Kammer befand, bediente den Lichtschalter und wartete auf den Knall, der aber ausblieb. Wie es schien, sollte sie heute Abend wenigstens hier Licht haben. Sie kehrte dem Wohnzimmer mit der alten grünen Couch und dem braunen Esstisch den Rücken und spähte ins nächste Zimmer. Es war das größere zweier Schlafzimmer mit direktem Anschluss an das Bad. Die Verbindungstür hatte man aber aus Platzmangel im Badezimmer mit einem Regal blockiert, wenn Elenas Erinnerung nicht trog. Da das Bad aber auch vom Korridor her begehbar war, spielte das keine Rolle.

Die Matratze war weg, aber das Bettgestell stand immer noch da. Ansonsten war das Zimmer zu einer Rumpelkammer verkommen. Elena zog die Tür wieder hinter sich zu und sperrte damit auch weitere Erinnerungen weg, die mit diesem Zimmer in Verbindung standen. Die Toilette sah nicht einmal so schlecht aus, wie sie erwartet hatte. Den zweiten Stock ließ Elena aus. Dort oben waren nur noch ein leerer Raum, der je nach Bedarf als Schlafzimmer, Kellerersatz oder Dachboden gedient hatte, und ein kleines Zimmer mit einem schmalen Bett unter der Dachschräge sowie einem hölzernen Regal. Das war ihr Zimmer gewesen. Früher.

Elena versuchte sich erneut am Türschloss der Eingangstür, gab es aber nach mehreren missglückten Versuchen wieder auf. Sie kehrte in die Küche zurück, öffnete den Schrank unter der Spüle und konnte eben noch einen Blick auf eine große schwarze Spinne erhaschen, die schleunigst das Weite suchte. Elena erschauderte. Reiß dich zusammen, mahnte sie sich. Die Spinne hat mehr Angst vor dir als du vor ihr. Eklig ist sie trotzdem. Elena sammelte ihren Mut, unterdrückte ihre Angst und ihren Ekel, ging in die Hocke und griff blind nach dem Hauptwasseranschluss. Sie erwischte irgendetwas Klebriges, tastete aber tapfer weiter und fand schließlich den Hahn. Sie drehte das Wasser an, als sie irgendetwas an den Fingern kitzelte. Schleunigst zog sie die Hand zurück und schnellte hoch.

Wie sollte sie die Tage hier nur überstehen? Von diesem ekelhaften Viehzeug gab es hier so einiges; schlafen wollte sie auf ihrer Campingmatratze, in ihrem Schlafsack auf dem staubigen Boden. Damit war sie den Tierchen quasi ausgeliefert und würde einen wunderbaren Insektenspielplatz abgeben. Sie beschloss, sich ein Hotelzimmer zu nehmen, sollte sie kein fließendes Wasser haben. Hoffnungsvoll drehte sie am Hahn. Die Leitungen gurgelten und klopften. Sonst tat sich nichts. Elena war erleichtert. Sie versuchte, sich an den Namen des einzigen Hotels im Dorf zu erinnern, als der Hahn auf einmal zu tropfen begann.

Nein. Nein. Nein.

Die Tropfen wurden größer, die Leitung gurgelte erneut, und auf einmal ergoss sich ein kräftiger bräunlicher Wasserstrahl ins Becken.

Mist. Aber solange es braun war …