Die Gabe - Ava Lucason - E-Book

Die Gabe E-Book

Ava Lucason

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Beschreibung

In "Die Gabe - eine erotische Erzählung" begleiten die Leser*innen die junge Bibliothekarin Kari auf ihrer Suche nach Erfüllung in der Liebe. Nach einer erregenden Begegnung in einem Zug eröffnet sich für Kari eine neue Welt der Lust und Leidenschaft. Doch es ist erst ihre Großtante Mia, die Kari die Augen öffnet für eine ganz besondere Gabe, die alle Frauen ihrer Familie mit Mitte Zwanzig entdecken: In Mias Fall ist es die Fähigkeit, in Gemälde einzutauchen. Mia hatte damit Franz Marc und seine beiden Frauen im Gemälde "Zwei Frauen am Berg" kennengelernt und dort ihre homosexuelle Neigung entdeckt. Kari begibt sich auf eine Reise der Selbstfindung, um sich von den einengenden Erwartungen ihrer Familie zu lösen. Und schließlich entdeckt sie ihre eigene Fähigkeit bei der Marmorskulptur "Der Barberinische Faun". Eine fesselnde Erzählung über Lust, Leidenschaft und die Magie der Kunst.

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Inhaltsverzeichnis

Ava Lucason

Die Gabe

Kaffebecher

Tante Mia

Zwischen Büchern

Damals

Familiengeheimnis

Die Badenden

Anfang und Ende

Besuch der Glyptothek

Kari

Ava Lucason

Die Gabe

eine erotische Erzählung

Kaffebecher

Eine schnarrende Lautsprecheransage hallt Kari entgegen. Ratternde Rollkoffer und das Zischen der Züge gesellen sich dazu. Abgestandener Würstchen-Duft versucht, die Backwaren auszustechen, billiger Kaffee übertrumpft sie beide und in alles mischt sich das Aroma von kaltem Schmieröl und Urin.

Mit ihrem Kaffeebecher in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken laviert sich Kari durch die kollektive Choreografie der Bahnhofshalle in Richtung ihres Gleises.

„Hallo, weißt du, wo der Zug nach Frankfurt geht?“ Es ist ein junger Mann, der Kari aus ihrem Such- und Schlängelmodus reißt.

„Entschuldigen Sie?“ Aus Reflex ist sie ganz die zuvorkommende Bibliothekarin, die sie noch vor einer halben Stunde war.

„Hei, so alt bin ich fei nicht!“

Kari muss grinsen, so alt ist sie eigentlich auch nicht. Er dürfte, so wie sie, ungefähr Mitte zwanzig sein.

„Stimmt. Frankfurt? Leider keine Ahnung. Ich will nach Leipzig.“

„Schade wäre nett gewesen.“

Mit einem charmanten Zwinkern dreht er sich um und steigt in den Zug, neben dem sie gerade stehen.

Was war das denn? Kari schaut noch immer auf die Tür, in die der junge Mann eingestiegen ist.

„Meinst du nicht, dass du langsam deine Ampel auf Grün stellen solltest?“ - Die Frage ihrer Freundin Clara kommt ihr in den Sinn. Wiederholt hatten sie darüber gesprochen, dass Kari bereits länger als ein Jahr Single ist. Kein Mann in Sicht, ganz zu schweigen von einer Beziehung. Laut Claras Theorie braucht es keine Kontaktanzeige. Sie behauptet, dass es eine Ausstrahlung gibt, die die Offenheit für eine Partnerschaft signalisiert. Wenn die Ampel erst einmal auf Grün steht, so ihre These, geht alles von selbst.

„Aber so lange dir noch nicht einmal der Sex fehlt, ist da wohl nichts zu machen“, hatte sie am Ende resümiert. Claras Ampel scheint immer auf Grün zu stehen. Selbst der Umzug nach Leipzig hat daran nichts geändert. Auch dafür hat Clara eine Theorie. Aber ganz gleich, wie abstrus Claras Beziehungsgedankengebäude sein mag, sie wird immer Karis beste Freundin sein und das gemeinsame Wochenende ein echter Spaß werden.

Auf dem Bahnsteig schweift Karis Blick durch die Wartenden. Auffällig viele Männer zwischen dreißig und fünfzig mit dunklem Anzug, perfektem Kurzhaarschnitt, völlig uninteressiert an der Außenwelt, aber enorm wichtig für das Leben im Handy. Dazwischen eine ältere Dame, die sich an ihrer Handtasche festklammert. In der anderen Hand hält sie ihre Papiere, die sie nervös mit der Digitalanzeige abgleicht. Ihre Gepäckstücke hat sie wie eine Festung um sich aufgebaut. Weiter hinten ein Mann mit einem Buch in der Hand. Er ist so vertieft, dass er nicht merkt, wie ihm der Schal fast vom Hals rutscht. Was er wohl liest?

Der Zug fährt ein, alles gerät in Bewegung. Die Reisenden bücken sich nach ihren Taschen und Koffern, vergewissern sich, dass sie alles dabeihaben und bahnen sich einen Weg zur Waggontür. Die ältere Dame schaut Hilfe suchend hinter ihrer Kofferburg hervor. Nun, da sich der Wald der grauen Herren lichtet, trifft ihr Blick auf Karis. Sie hat es geahnt, keiner der Anzugträger bemüht sich. Es ist an ihr, der Dame behilflich zu sein.

Voll bepackt steigt Kari in den Zug. Draußen bewacht die unendlich Dankbare den Rest, während sich Kari der ersten Gepäckstücke entledigt. Anschließend hieven sie gemeinsam die verbliebenen Koffer und Taschen hinein. Geschafft. An einem Vierertisch in der Mitte des Waggons findet Kari ihren reservierten Platz. Während sie ihre Jacke aufhängt, schaut sie auf den Bahnsteig. Die Bank, oh Mist, da müsste noch ihr Kaffeebecher stehen! Aber die Bank ist leer.

„Ist das Ihr Becher?“, fragt eine tiefe Männerstimme weiter hinten.

Der Buchleser vom Bahnsteig hat sich an die Koffer-Dame gewandt, die ihn verwirrt anschaut. Sie ist zu sehr in das Ordnen ihrer Habseligkeiten vertieft, als dass sie einen Zusammenhang herstellen könnte. Kari geht den Gang hinunter.

„Der Becher gehört mir.“

Der Buchmann schaut sie mit wachen, freundlichen Augen an. Kari fällt auf, dass ihm das kurze, grau melierte Haar sehr gut steht.

„Er stand draußen auf der Bank.“ Er lächelt.

Für einen Moment berühren sich ihre Fingerspitzen bei der Übergabe des Bechers.

„Vielen Dank.“ Kari senkt den Blick schneller, als sie es gerne würde, und geht an ihren Platz zurück.

Irritiert von der aufgeregten Hitze, die die kurze Begegnung ausgelöst hat, schnappt sie sich rasch das oberste Buch aus ihrem Rucksack, packt ihn oben ins Gepäckfach und setzt sich ans Fenster.

„Diese Augen: lebendig, lebenslustig, attraktiv ...“, kreist es Kari ungeordnet durch den Kopf. Und, als würde sich eine höhere Macht einen Spaß erlauben, bleibt der Becherretter an ihrer Sitzgruppe stehen und stellt nach einem kontrollierenden Blick auf seinen Reservierungsbeleg seine Tasche auf den Tisch.

„Man sieht sich wohl immer zweimal im Leben.“

Schon wieder dieses wärmende Lächeln. Jacke, Schal und Ledertasche schiebt er ins Gepäckfach und nimmt ihr gegenüber Platz.

„Ja, stimmt wohl.“

Mehr Vokabular bietet sich Kari im Augenblick nicht an. Was gäbe es dazu auch zu sagen? Dass ihr heiß ist, dass sie nicht weiß, wohin mit ihren Händen und sie sich wie eine unreife Teenagerin fühlt, die vom zwei Jahre älteren Jahrgangsschönling angesprochen wird? Sie schaut auf ihr Buch und stellt fest, dass sie das falsche aus ihrem Rucksack geangelt hat. Auch das noch! Eigentlich wollte sie den angefangenen Roman weiterlesen. Stattdessen glänzt ihr die Lektüre entgegen, die sie sich in letzter Minute vom Stapel der Neuerscheinungen geschnappt hat. Schnell verdeckt sie mit der Hand den Einband, den ihre Kollegin als wenig öffentlichkeitstauglich monierte. Eine Kohlezeichnung zeigt zwei unbekleidete Liebende in einer innigen Umarmung. Passend für ein Buch mit erotischen Geschichten. Aber auch passend für eine Zugfahrt? Wohl eher nicht. „Solche Bücher liest man, wenn überhaupt, heimlich oder zumindest nicht in der Öffentlichkeit“, meldet sich Karis innere Stimme. Doch jetzt noch einmal aufstehen und dabei die Aufmerksamkeit auf sich und das unanständige Buch ziehen? Zu viel Aufwand, zu peinlich. Außerdem wird sowieso niemand darauf achten, was sie liest, beruhigt sie sich. Das Inhaltsverzeichnis kündigt sechs Geschichten an.

Die erste Erzählung führt Kari in ein Atelier. Der Maler steht an der Staffelei und arbeitet an der Abbildung eines Aktmodells, das in der Mitte des Raumes auf einem kleinen, gepolsterten Podest liegt. Sie ist zum ersten Mal bei ihm und die Atmosphäre zwischen ihnen ist ebenso kühl wie die Raumtemperatur. Unangenehm. Sie haben nicht viel geredet. Lediglich die Pose, in der er sie malen will, hat er ihr erklärt. Nun liegt sie auf der Seite, ein dünnes Tuch bedeckt ihre Beine und den Po. Sie schaut über die Schulter zu ihm. „Als wärst du gerade aufgewacht, und drehst dich zu jemandem um, der den Raum betritt. Eine vertraute Person ... nicht abwehrend oder verschreckt ... einladend.“

„Entschuldigung?“ Eine Frauenstimme unterbricht Kari. „Kann ich meine Jacke auch an den Haken hängen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, beugt sich ihre Sitznachbarin über sie und zieht ihren Mantel umständlich über den Tisch. Im letzten Moment kann Kari ihren Kaffeebecher vor dem Umkippen retten. Der Buchmann, schaut von seiner Lektüre auf, zieht kurz die Augenbrauen nach oben und schmunzelt. Wieso grinst der so? Kari folgt seinem Blick, der von ihrem Buch zu seinem führt. Jetzt versteht sie: Sie lesen das gleiche Buch.

Und sofort spürt sie wieder die Hitze von vorhin. Wie soll sie reagieren? Ein Gespräch über das Buch beginnen? Fragen, wie er es findet? Bestimmt nicht. Kann sie in Ruhe weiterlesen, wenn ihr ein Fremder gegenübersitzt, der ahnt, wie sie sich dabei fühlt?

Ihre Gedanken überschlagen sich, während sie so tut, als wäre sie ganz und gar in ihren Lesestoff vertieft. Beobachtet er sie immer noch? Verstohlen schaut sie über den Buchrand und sieht, wie er sich auf seine Lektüre konzentriert. Kein Blickkontakt. Gut so. Alles andere wäre seltsam.

Das Aktmodell beobachtet den Maler bei der Arbeit. Sie versucht zu raten, an welcher Stelle er gerade in der Vorskizze mit dem Kohlestift ist. Der Rücken leicht aufgerichtet, der Po rund, schräg rüber die Beine, Faltenwurf, kurze Striche, schnell und rhythmisch, oben das gekräuselte Haar. Immer wieder sinkt seine Hand und sein Blick prüft zwischen Leinwand und Modell. Er vermeidet tunlichst den Augenkontakt, er arbeitet.

Die Sonne fällt auf den Rücken des Modells. Jetzt, da sie die erste Anstrengung des Stillliegens spürt, wird ihr die Wärme bewusst. Sie konzentriert sich darauf und merkt, dass das Licht nicht nur wärmt, sondern auch die Atmosphäre verändert. Die kühle Werkstatt tritt in den Hintergrund, sie kann sich ein großzügiges, sonnendurchflutetes Schlafzimmer vorstellen.

Das Weichen der ersten Fremdheit kann Kari nachempfinden. Ihr Sitzpolster fühlt sich nicht mehr abweisend und fremd an. Es schmiegt sich unaufdringliche an sie, als wolle es ihr den Rücken stärken. Auch den unangenehm kühlen Luftzug nimmt Kari nicht mehr wahr. Selbst die Zuggeräusche kommen nur noch gedämpft bei ihr an.

Das Kratzen des Kohlestifts ist nicht mehr zu hören. Der Maler ist mit Pinsel und Farbe am Werk. Die Gedanken des Modells kreisen um die Frage, warum er gerade dieses Motiv gewählt hat. Erinnert es ihn an eine Situation aus seinem Leben? Wer war die Frau, die ihn nach dem Aufwachen so empfangen hat? Ist er im Türrahmen stehen geblieben, um das Bild zu genießen, es sich für später zu bewahren? Sicher hat er nicht so konzentriert geschaut wie jetzt gerade, vermutlich waren seine Gesichtszüge weicher und spiegelten etwas von der Befriedigung aus der vergangenen Nacht wider.

Kari lässt ihr Buch sinken. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie diejenige wäre, die nach einer Liebesnacht lüstern betrachtet wird? So wie sie sich kennt, würde sie nicht zugeben können, dass sie es genießt. Wahrscheinlich hätte sie die Decke höher gezogen, um ihre Blöße zu bedecken. Aber schön wäre es, jemanden im Türrahmen stehen zu haben und in seinen Augen zu sehen, dass sie begehrenswert ist. Was der Buchmann bei dieser Szene wohl dachte? Kari! Als hätte sie diesen Gedanken laut ausgesprochen, schaut sie verschreckt auf und erkennt erleichtert, dass nichts weiter passiert ist. Er liest.

Die Ansage des Zugbegleiters kündigt den ersten Zwischenstopp an. Kari beobachtet die allgemeine Zusammenpackerei. Aus dem Augenwinkel nimmt sie wahr, dass der Buchmann sie mustert. Soll sie seinem Blick begegnen? Oder ausweichen und ohne Umwege wieder in ihr Buch verschwinden? Kari entscheidet sich, zu verharren und ihn wie die erste Frühlingssonne auf ihre blasse, ausgehungerte Haut wirken zu lassen. Wärmend spürt sie seinen Blick auf ihren Wangen, am Hals, empfindet die weiche Verletzlichkeit dieser Stellen, wünscht sich, dass er verweilt.

„Schau, wie sie sich ihm anbietet!“, ätzt es gedanklich aus ihrer Vergangenheit. Vorwurf und Neid zugleich. Kari rappelt sich auf und blickt sich um.

Die Aussteigenden sind draußen, die Zugestiegenen sortieren sich und ihre Gepäckstücke. Auf dem Weg zurück in ihr Buch sieht Kari, dass ihr Gegenüber einige Seiten weiter ist als sie. Klar. Er hat ja schon am Bahnsteig gelesen. Dort wo Kari aufgewachsen ist, wäre das undenkbar gewesen. Zumindest wäre das Cover nicht unkommentiert geblieben. „Schämen sollte der sich!“, hört Kari innerlich die empörte Stimme der Mutter und schüttelt sich unwillkürlich. Dass lustvolle Gedanken ein Grund zu Scham und Heimlichkeit sind, hat Kari schon immer angezweifelt, aber offen widersprochen hat sie es nie. Stattdessen hat sie die dörfliche Enge so schnell wie möglich verlassen. Doch es gehört mehr dazu als ein Ortswechsel. Das weiß sie mittlerweile auch.

Kari legt ihr Buch auf den Tisch, beugt sich darüber und taucht wieder in die Geschichte ein.

Das Modell spürt, wie sich langsam ihre Muskeln verhärten und an verschiedenen Stellen das Druckgefühl unangenehm wird. Sie kennt das schon und weiß, dass Gedankenausflüge ihr helfen, länger durchzuhalten. Wie fühlte sich ihr Vorbild damals nach der Liebesnacht mit dem Maler? Vermutlich war es eine dieser Nächte, die nur der verheißungsvolle Anfang für eine wilde Zeit sind. In der die Lust, Lust auf Lust macht. In der es weder Zeit noch Scham noch Zweifel gibt. In der die Welt aus purer Sinnlichkeit und hüllenloser Offenheit besteht. Eine Welt, in der der Wunsch nach verspielter, grenzüberschreitender Vereinigung über allem schwebt.

Lange ist es her. Kari kann die Gedanken des Modells nachempfinden. Wilder Herzschlag, warme, feuchte Haut, trockene Kehle. Mit dem Griff nach ihrem Becher fällt ihr das Buch gegenüber auf. Er hat es ebenfalls auf den Tisch gelegt und ist nun auf derselben Seite wie sie. War er vorhin nicht schon viel weiter?

Kari erliegt dem Reflex der Neugier und schaut auf. Seine Augen ruhen auf ihrem Buch. Er scheint zu warten. Was soll sie tun? Zuklappen? Lächeln? Etwas sagen? Was gäbe es zu sagen? Heiß schwirrt ihr die Aufregung aus der Magengegend durch den Kopf und zerschießt jeden klaren Gedanken. Nichts außer einem pubertären Kichern könnte sie abrufen. Peinlich. Also weiterlesen, sich treiben lassen. Es ist ein Spiel, nichts weiter.

Zusammen mit dem Buchmann folgt Kari den fantasierenden Gedanken des Modells in eine aufregende Liebesnacht. Kari merkt, wie sehr sich die Empfindungen ihrer eigenen Mitte vor die Buchstaben schieben. Hat sich ihre Atmung hörbar verändert? Was ist mit ihrem Gegenüber? Sie lehnt sich zurück und betrachtet den Lesenden. Er hat frisch gerötete Wangen und scheint konzentriert dem Erleben des Aktmodells zu folgen. Empfindet er so wie sie? Spürt er die erregte Haut, das Ziehen in der Brust, die harten Knospen? Wohin versammeln sich seine Gedanken? Dahin, wo Kari es vermutet?

Er blättert um. Dranbleiben, Kari. Sie will nicht riskieren, den Anschluss an ihr Gegenüber zu verlieren. Ob er noch einmal warten würde? Sie ist sich nicht sicher. Er könnte ihr Zögern als Absage an sein gemeinsames Leseangebot verstehen. Kari blättert um, obwohl ihr nun eine ganze Seite fehlt.

Das Modell lässt ihre Hand über ihren Bauch gleiten. Ihre Schenkel fallen langsam auseinander. Ist das nun die Fantasie oder geschieht es wirklich im Atelier? Die Antwort befindet sich auf der nicht gelesenen Seite. Kari entscheidet sich, es nicht wissen zu müssen. Sie will nur der Empfindung des Modells folgen. Ihre Hand ruht auf dem weichen Bauch, ihr Blick auf dem beobachtenden Gegenüber, der ihr die Sicherheit gibt, dass sie alles tun kann, wonach ihr ist. Sie kann Tabugrenzen fallen lassen, sich intim, verletzlich, suchend und zugleich als die Frau zeigen, die wild und urtümlich ihrem Trieb folgt. Diese Frau führt ihre Hand unter das Tuch zwischen ihre Beine. Mit kleinen, kreisenden Bewegungen erhitzt sie ihren Beobachter und sich selbst. Er hält sie mit seinem lüsternen Blick, sie lässt sich in ihre Empfindungen fallen. Mit geschlossenen Augen führt sie sich selbst zum Höhepunkt, verwandelt die unerträgliche Spannung in bebende Lust und lässt sie in einer schaukelnden Welle langsam verebben.

Kari kann ihre Atmung nur schwer kontrollieren. Ihr Puls rast, ihr ist warm, der Pullover reibt, die Hose klebt. Ihr Lesepartner schaut aus dem Fenster, sein Buch liegt auf seinem Schoß. Seine Brust hebt und senkt sich zu schnell für eine entspannte Zugfahrt. Wie es wohl unter seinem Buch aussieht? Kari lenkt ihren Blick ebenfalls aus dem Fenster. Die Landschaft saust an ihnen vorbei. Die Lust hat es weniger eilig, sie bleibt.

Kari schließt die Augen. Bildet sie sich nur ein, gemeinsam mit dem Fremden zu empfinden? Ist das wieder einer der Momente, in dem sie früher als „überspannt“ bezeichnet worden wäre? Immer, wenn sie nach dem Spielen von ihren Abenteuern mit den Wesen und Tieren im Wald erzählte, wurde es abgetan. „Zu viel Fantasie, das Kind! Was sie sich alles einbilden kann!“ Sie denkt an die Hängematte im Garten ihrer Großtante, in die sie sich dann mit ihren Büchern und „Fantasien“ flüchtete. Dort fühlte sie sich wohl und sicher. Das Schaukeln des Zuges, die Wärme, das Gefühl, in einem feinen Netz gehalten zu sein, lassen sie in einen leichten Schlaf gleiten.

Die Lautsprecheransage weckt sie. Ihre Sitznachbarin lehnt sich herüber und zieht ihren Mantel wie zuvor quer über den Tisch. Der Buchmann hat ihren Becher mit dem inzwischen erkalteten Gebräu vorsorglich in Sicherheit gebracht. Als er ihn zurückgibt, hat die Berührung ihrer Fingerspitzen nichts mehr von dieser ersten, sprachlosen Überraschung. Kari kann ihr „Danke“ sogar mit einem verschwörerischen Grinsen garnieren.

Während sie den letzten Schluck austrinkt, bemerkt sie, dass sich ihr Knie im Schlaf an das Bein ihres Lesegefährten angelehnt hat. Sie zieht es umgehend weg und spürt mit Bedauern die Kühle, wo vorher die Verbindung zwischen ihnen war. Als hätte sie die Türe der warmen Stube geöffnet und dem Winter erlaubt einzutreten. Es fühlt sich an, als gäbe es kein Zurück, doch der Buchmann dreht seinen Kopf und schaut sie an. Liegt eine Frage in seinem Blick? Oder eine Aufforderung? Sie kann es nicht deuten. Er sagt nichts und wendet sich seinem Buch zu, in dem die nächste Geschichte aufgeschlagen ist.

Kari blättert die zweite Geschichte auf. Die Berghütte. Sie spürt eine Mischung aus Widerstand gegen das Bergdoktor-Klischee und gespannter Neugier. Unterdessen hat sich das Kommen und Gehen nach der Haltestelle wieder beruhigt. Fahrplanmäßig rüttelt der Zug sie durch die Weichen und Kurven des Bahnhofs hinaus aus der Stadt. Ihr Bein wird gegen den Oberschenkel ihres Lesegefährten geruckelt. Er reagiert nicht. In ihr breitet sich wieder das Gefühl des Verbundenseins aus. „Trau dich, lass es dort!“, ermutigt sie sich in Gedanken. Sie schaut ins Buch, stellt jedoch fest, dass nur ihre äußere Hülle die interessierte Leserin mimen kann. Ihr Inneres hängt unterdessen freischwebend an einem gewagten Lesefaden, gehalten durch eine kleine hitzige Stelle an ihrem Knie. Sie spürt ihren wilden Herzschlag und erkennt nur schemenhaft die Buchstaben. Was sie herauslesen kann, ist, dass die Geschichte von einem Paar handelt, das sich nur in großen Abständen sieht. Karis Blick wandert zum Fenster. So kann sie beim besten Willen nicht lesen, erst muss sie sich beruhigen. Ihr Knie strahlt wie eine kleine Sonne unter dem Tisch. Verrückt, wie so ein bisschen Fremd-Nähe wirken kann.

Das Buch gegenüber sinkt auf den Tisch. Es wird Zeit, dass sie sich traut, ihn anzuschauen.

Etwas Spitzbübisches liegt in seinem Gesichtsausdruck, herausfordernd, keck. Ein Abenteurer. Er hält ihrem Blick stand, scheint ebenso in ihrem Gesicht lesen zu wollen, mit wem er es zu tun hat. Sie kann es zu ihrer eigenen Überraschung geschehen lassen, empfindet nicht den Drang, etwas sagen zu müssen. Was auch? „Wer bist du?“ Oder „Wie heißt du?“ Über das Stadium mit den Namen sind sie schon hinaus. Vollkommen nebensächlich. Ein Gefühl, als würde sie sich anlehnen können, breitet sich in ihr aus.

„Die Fahrkarten bitte!“, unterbricht sie der Kontrolleur.

Alle suchen ihre Karten, warten, bis sie dran sind, finden sich wieder in ihren Sitzpositionen ein. So auch sie. Ihre Aufregung hat sich inzwischen gelegt, es ist Ruhe eingekehrt. In den Augen ihres Lesegegenübers taucht eine Frage auf. Ja, jetzt ist sie so weit. Sie atmet tief ein, gibt ihrem Knie einen leichten Impuls und sie wenden sich der zweiten Geschichte zu.

Eine Frau und ein Mann treffen sich zweimal im Jahr zu einem gemeinsamen Wochenende in einer abgelegenen Berghütte. Zwischen den Treffen hat jeder sein eigenständiges Leben. Das letzte Mal trennten sie sich im Streit. Es ging irgendwie darum, ob ihre Affäre nach all den Jahren noch immer ein Spiel oder schon etwas Ernsthafteres geworden ist.

Kari spürt, wie sich ihr Widerstand gegen die Geschichte weiter verstärkt. Dieses leidige Spiel-oder-Ernst-Thema kennt sie nur zu gut. Jedes noch so harmlose Techtelmechtel wurde von ihrer Familie aufmerksam beäugt und mündete früher oder später in der wenig subtilen Feststellung, ob er sich als zukünftiger Schwiegersohn eignen würde. Warum konnte es nicht einfach ein Spiel sein? Warum musste so rasch wie möglich die Lebenslänglich-Frage beantwortet werden? Die Frage, die ihr jedes Mal ein Gefühl von Enge bescherte. Nein, damit will Kari eigentlich nichts mehr zu tun haben. Den Lesekontakt hingegen, den will sie behalten, also liest sie weiter.

Warum der Streit damals eskalierte, ist der Frau in der Hütte ein Rätsel. Sie hofft, dass sich ihr Geliebter ebenso wenig erinnern kann und sich trotz der Hitze des Gefechts den nächsten Termin gemerkt hat. Allerdings weiß sie auch, wie empfindlich er ist. Es kann also durchaus sein, dass er heute nicht auftaucht. Vielleicht wird er nie wieder kommen. Weder zu ihr in die Hütte noch in ihre Arme. Bittersüß krampft sich ihr Magen bei diesem Gedanken zusammen. Unruhig geht sie immer wieder ans Fenster, als würde er schneller da sein, wenn sie öfter hinausschaut. Sie verflucht die Tatsache, dass sie kein Netz hat. In der Nacht ist die Hoffnung, dass er sich im Termin geirrt hat, ihre einzige Fluchtmöglichkeit vor dem ätzenden Gefühl des Verlassenseins. Mutterseelenallein treibt sie inmitten der verunsichernden Naturgeräusche auf brüchigem Gefühlseis und findet nur schwer in einen unruhigen Schlaf.

Nächste Seite. Hat ihr Gegenüber schon umgeblättert? Kari schaut ihn kurz an. Er stutzt. Was sieht er in ihren Augen? Warum zögert er weiterzulesen? Kann er sehen, wie sehr Kari die Ängste der Frau mitfühlt? Ist sie so ein offenes Buch? Ohne den Blickkontakt zu lösen, beugt sich ihr Lesepartner leicht nach vorne. Er legt seinen Unterarm und seinen Handrücken auf den Tisch. Die Hand hält er geöffnet, als wolle er sich etwas hineinlegen lassen. Sie zögert. Hat sie ihn richtig verstanden? Was macht sie, wenn er es nicht so gemeint hat und sie die Grenze der zufälligen Berührung überschreitet, ohne dass er das will? Aber wie soll sie sein Angebot sonst deuten? Sie sucht noch einmal seinen Blick, vergewissert sich und legt mutig ihre Hand in die seine. Er lächelt, schließt seine Finger um ihren Handrücken und scheint sofort für die weitere Lektüre bereit zu sein. Sie hingegen muss erst das Gefühl verarbeiten, das sich in ihr ausbreitet. Eine große Hand umfasst ihre zierlichen Finger. Trocken und warm ist seine Haut, fest fühlt sie sich an, sehr angenehm. Die Sonnenwärme am Knie verbindet sich mit der Wärme, die in ihre Hand strömt, als würde sich ein Kreis schließen und sie schützend umfangen. Ein Gefühl, das die Frau in der Hütte sicher in dieser Nacht vermisst. Hand in Hand lesen sie weiter.

Am kältesten und einsamsten Punkt der Nacht, kurz bevor die Dämmerung den Tag ankündigt, weckt ein knarrendes Geräusch die Frau in den Bergen. Wieder ein Tier, das draußen herumschleicht? Vermutlich. Sie zieht die Decke über den Kopf und wickelt sich fester ein. Noch ist sie nicht bereit, dem nächsten Tag und dem vollen Ausmaß der Enttäuschung zu begegnen. Gerade als sie in den Schlaf hinübergleiten will, hebt sich ihre Bettdecke und etwas Eiskaltes berührt ihre Schulter. Mit einem Schrei fährt sie in die Höhe und stößt sich den Kopf hart an.

Kari erschrickt mit ihr und merkt, dass sie sich an der Hand ihres Lesepartners festkrallt. Er kennt die Geschichte, fährt mit dem Daumen beruhigend über ihren Handrücken.

In dem schmerzverzerrten Stöhnen erkennt die Frau die Stimme, nach der sie sich in den letzten Stunden so sehr gesehnt hat. Ihre Stirn hat seinen Wangenknochen erwischt. Mit einer einleuchtenden Erklärung für seine Verspätung kriecht er unter die Decke und nimmt sie in die Arme. Seine Haut, sein Geruch, seine entschlossenen Bewegungen, alles sagt ihr, dass der Streit und ihre Zweifel keine Rolle spielen. Mit innigen Küssen finden sie in die Hülle aus Erinnerungen und Begehren zurück, in der nur sie beide existieren. Sein Geruch, sein heftiges Atmen an ihrem Ohr, seine harte Lust, die sich suchend an sie drängt – wie sehr hatte sie das vermisst und wie tief wäre der Abgrund gewesen, wenn er nicht gekommen wäre.

Karis Griff kann sich wieder lockern. Die Hand des Buchmanns bleibt ihr warmer Hort. Sicher und geborgen schmiegen sich ihre Hände aneinander wie zwei lang Vertraute. Ganz bestimmt gehen die Umsitzenden davon aus, dass sie ein Paar sind.