Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz - Ralf Isau - E-Book
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Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Wir kennen ihn aus der »Unendlichen Geschichte«, diesen Karl Konrad Koreander. Schon in jungen Jahren hat er den Geruch der Bücher geliebt. Abenteuer gehören für den liebenswerten Zauderer schon damals zwischen die Seiten von Büchern. Karl Koreander möchte kein Held sein, sondern in einer Bibliothek arbeiten – den ganzen Tag umgeben von Geschichten und Legenden. Als der junge Büchernarr das Antiquariat des Thaddäus Tillmann Trutz betritt, fühlt er sich seinem Wunsch zum Greifen nah. Er ahnt nichts von den Geheimnissen des Ladens, diesem außen so kleinen, innen aber riesigen Labyrinth von leuchtenden und duftenden Büchern. Unversehens verschwindet Herr Trutz hinter einem Regal und taucht nicht mehr auf. Karl Koreander sucht nach ihm, gerät immer tiefer in den Irrgarten der Bücher – und kommt so nach Phantásien. Im Reich der Kindlichen Kaiserin greift das Nichts um sich. Es verschlingt die Bücher der Phantásischen Bibliothek. Auch jeden, der in die zurückbleibende Leere greift, verleibt sich das Nichts ein. Und je mehr Bücher verschwinden, desto kälter wird es im Reich der Phantasie. Ausgerechnet der Zauderer Karl Koreander soll das Geheimnis des Nichts enträtseln. So beginnt das größte Abenteuer im Leben des Karl Konrad Koreander. Eine Reise durchs Reich der Phantasie. Scheitert er, wäre nicht nur Phantásien für immer verloren. »... aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Fünf deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes »Die unendliche Geschichte« angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe »Die Legenden von Phantásien« spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund und Peter Dempf erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.

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Seitenzahl: 494

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Ralf Isau

Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz

Die Legenden von Phantásien

Roman

An dieser Stelle sollte ursprünglich eine Karte von Phantásien erscheinen. Dieses Vorhaben musste jedoch aus drucktechnischen Gründen aufgegeben werden, weil sich in Phantásien die Grenzen ständig verschieben, die Himmelsrichtungen verändern und zudem etliche Orte immerfort wandern.

Zum Gedenken an Michael Ende, der mehr als nur Phantásien entdeckt hat

1. Kapitel: Der Zauderer

Im Zaudern machte ihm so schnell keiner etwas vor. Karl war ein Experte im Verschleppen von Entscheidungen. An diesem Abend sollte sein Talent indes auf eine harte Probe gestellt werden. Der Novemberwind hatte ihm erst den Mut entrissen und zerrte nun gierig an seinem Mantel. Es dämmerte schon. Zum wiederholten Mal klappte der junge Mann seine Taschenuhr auf und haderte mit dem hastigen Minutenzeiger. Die Zeit verrann und mit ihr eine unwiederbringliche Gelegenheit. Er musste endlich zu einem Entschluss kommen.

Verstohlen spähte Karl zu dem erleuchteten Buchladen hinüber. Ein alter Mann mit schlohweißer Sturmfrisur saß hinter dem großen Schaufenster in einem Ohrenbackensessel und blätterte in einem großen Buch. Vermutlich Herr Trutz, dachte er. Konnte er sich überhaupt noch bei dem gewiss sehr akkuraten Buchhändler sehen lassen? Wer stellte denn einen Gehilfen ein, der sich schon zum Bewerbungsgespräch verspätete, und das um zwölf, nein, mittlerweile dreizehn Minuten? Hätte der Straßenbahnschaffner sich doch an seinen Fahrplan gehalten! Er war überhaupt an allem schuld, dachte Karl, bezweifelte jedoch selbst, dass er damit mildernde Umstände geltend machen konnte. Seit zehn Minuten stand er jetzt schon an der Backsteinmauer gegenüber dem Buchladen, blickte zu dem erleuchteten Schaufenster hinüber und wälzte die immer gleiche Frage im Kopf herum: Hatte es überhaupt einen Sinn, sich bei Herrn Trutz vorzustellen?

Ach, wenn er doch nur wie jene unerschrockenen Romanhelden wäre, von deren Abenteuern er so gerne las! Die wussten immer, was zu tun war, scheuten sich vor keiner kniffligen Entscheidung, strotzten vor Mumm und weckten ihre Lebensgeister, indem sie noch vor dem Frühstück einen feuerspeienden Drachen erlegten. Karl dagegen war schon seit dem Morgen wie betäubt. Dabei musste er keine schuppige Echse aufspießen, sondern nur einen alten Mann davon überzeugen, dass er, Karl Konrad Koreander, haargenau der war, den Herr Trutz mit seiner Zeitungsannonce gesucht hatte.

Karl zog einen Fetzen Papier aus der Tasche seines grauen Fischgrätmantels, schob mit dem Ringfinger die zierliche goldene Brille auf seiner Nase zurecht und las zum hundertsten Mal den Text:

Buchverkäufer und Nachfolger für Antiquariat gesucht Sie sind phantasievoll, fleißig, zuverlässig, lieben Bücher, können eigenverantwortlich arbeiten und haben Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen. Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht. Mit bestandener Probezeit werden Sie kommissarisch die Führung des Ladens übernehmen und ihn nach meinem Fortgang erben, sofern es dann weiterhin Ihr Wunsch und Wille ist, mein Lebenswerk fortzuführen. Junge Bewerber bevorzugt. Bitte vereinbaren Sie mit mir telefonisch einen Termin (Tel. 1 57 46). Thaddäus Tillmann Trutz

»Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen! Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht!«, schnaubte Karl. Er war das genaue Gegenteil von dem, was da geschrieben stand. Sein Selbstvertrauen hatte bestenfalls die Größe einer Walnuss. Wichtigen Entscheidungen ging er geschickt aus dem Weg. Phantasie, na gut, die mochte er schon haben. Und natürlich liebte er Bücher! Nur deshalb hatte er sich ja auf diese wahnwitzige Verabredung eingelassen. Aber Herr Trutz suchte wohl kaum einen Träumer, sondern einen zukünftigen Geschäftsführer: entschlussfreudig, unerschrocken. Karl schüttelte den Kopf, zerknüllte den Zeitungsausschnitt und stopfte ihn in die Tasche zurück. Zeit, nach Hause zu gehen. Das hier war nichts für ihn.

Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, als ein schepperndes Klopfen ihn zusammenfahren ließ. Mit eingezogenem Kopf drehte er sich zu dem Laden um, von dem das Geräusch gekommen war. Hinter der Fensterscheibe saß vorgebeugt der alte Mann. In seiner Rechten hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf – damit hatte er wohl gegen das Glas geschlagen. Mit der freien Hand winkte er den Zauderer zu sich heran.

Karl tippte sich auf die Brust und formte mit den Lippen die Frage: Meinen Sie mich?

Der Alte nickte und winkte heftiger. Karl zögerte immer noch. Vielleicht wollte Herr Trutz – so er es denn war – ihm nur eine Standpauke halten, um ihn danach gleich wieder aus dem Laden zu jagen. Als sich der Buchhändler erneut mit seinem Stock Aufmerksamkeit verschaffte, zersprang unter seinem Gehämmer endlich Karls Unentschlossenheit. Eben schickte er sich an, die Straße zu überqueren, als Stiefelgetrappel ihn aufs Neue zurückschrecken ließ.

Ein Trupp uniformierter Männer in braunen Mänteln war wie aus dem Nichts erschienen, jedenfalls stellte es sich für Karl so dar. Abgelenkt von dem energisch winkenden Alten, hatte er die Parteigänger erst bemerkt, als sie in Viererreihen aus der Straßenmündung gekommen waren. Rasch drückte er sich an die Ziegelsteinmauer, als wolle er mit ihr verschmelzen, und wagte nicht, sich zu bewegen. Vor seinen Augen verwandelten sich die durch Gleichschritt und Chorgesang vereinten Marschierer in ein furchteinflößendes, vielbeiniges, vielköpfiges braunes Wesen. Im Takt der knallenden Stiefel zog es auf der Straße an ihm vorüber. Atemlos starrte Karl auf die in Verzückung erstarrten Gesichter, die wie dämonische Wasserspeier ihr Volkslied hervorsprudelten und darin die einzigartige Schönheit des Vaterlands beschworen. Derlei Zurschaustellungen nationaler Gesinnung erfüllten ihn stets mit Unbehagen. Er verharrte an der Mauer, bis der lärmende Hundertfüßler vorübergezogen war. Als der Kopf des Untiers um die nächste Straßenecke bog, schien ein Zauber von ihm abzufallen: Der Leib löste sich wieder in viele braune Mäntel auf, die nach und nach verschwanden. Karl atmete auf und huschte über die Straße.

Vor der Ladentür blieb er stehen und las andachtsvoll die in verspielten Buchstaben eingeschliffene Inschrift auf der gläsernen Füllung.

ANTIQUARIAT INHABER: THADDÄUS TILLMANN TRUTZ

Was würde er dafür geben, seinen eigenen Namen dort geschrieben zu sehen!

Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen und ein helles Messingglöckchen bimmelte Karl in die Wirklichkeit zurück. Vor ihm stand, leicht vorgebeugt, der alte Mann mit dem Stock. Er war nicht viel größer als einen Meter sechzig und trug einen dunkelblauen Wollanzug mit braunen Lederknöpfen, ein weißes Hemd und eine farbenfrohe Seidenweste. Mit seinem wilden weißen Haarschopf erinnerte er Karl an Ludwig van Beethoven, wobei das Gesicht deutlich runzliger war und weniger zornig anmutete als das auf unzähligen Büsten verewigte Konterfei des berühmten Komponisten. Eher schon wirkte es neugierig, auch ein wenig ungeduldig.

Durch ein Monokel musterte der Buchhändler seinen Besucher eindringlich, und erst nachdem er sich dessen Aufmerksamkeit einigermaßen sicher war, sagte er: »Sie sind ein sehr zögerlicher junger Mann, Herr Koreander.«

Karl stutzte. »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie der Bewerber sind, mit dem ich mich für heute Abend verabredet habe, dann schon.«

»Ja … der bin ich … aber …«

»Das ist prächtig! Und ich bin der, dessen Namenszug Sie da gerade auf der Tür bewundert haben wie die Signatur eines alten Meisters. Ich dachte schon, Sie wären zu Stein erstarrt.«

Karls Augenbrauen zogen sich über seiner runden Brille zusammen. Meinte der kauzige Alte das etwa ernst? Er schüttelte die ihm dargebotene Hand und hörte sich stammeln: »Es tut mir leid. Ich … habe mich verspätet. Die Straßenbahn …«

Herr Trutz schüttelte den Kopf. »Jetzt kommen Sie erst mal rein. Hier draußen kann es auf die Dauer ziemlich ungemütlich werden, wie Sie ja wohl schon bemerkt haben.«

Hatte er damit den eisigen Wind gemeint? Oder die grölenden Braunhemden? Herr Trutz blieb seinem Gast eine Erklärung schuldig und machte auf dem Absatz kehrt, um wieder zu dem hochlehnigen Sessel zurückzutippeln. Umständlich ließ er sich in das wuchtige Möbel sinken, in dem er ein wenig verloren wirkte. Von einem runden Beistelltischchen nahm er aus einem Alabasteraschenbecher eine gebogene Meerschaumpfeife, die einen silbernen Deckel mit Lochmuster besaß und farblich wunderbar mit dem ins Gelbliche spielenden Alabaster harmonierte. Während er ein paar blaue Wölkchen in die Luft paffte, musterte er den Bewerber mit unverhohlener Neugier.

Karl war dem Ladenbesitzer gerade weit genug gefolgt, um weder zu aufdringlich noch übermäßig scheu zu wirken. Er atmete den aromatischen Tabakgeruch ein und ließ seinen Blick durch den schmalen Raum schweifen. Nichts in diesem Laden schien neu zu sein. Eine schüsselförmige Deckenlampe aus mattiertem Glas tauchte alles in dämmriges gelbes Licht. Die knarrenden Holzdielen waren abgescheuert und stellenweise von kleinen, fadenscheinigen Teppichen orientalischer Machart bedeckt. Die Regalböden bogen sich unter ihrer Last, der Tresen neben dem Ohrenbackensessel sah antik aus, und die Registrierkasse hätte gut und gern dem Frühwerk von Leonardo da Vinci entstammen können. In Karls Augen war der mit Büchern vollgestopfte Laden eine Insel der Glückseligkeit.

Um nicht den Eindruck hemmungsloser Neugier zu erwecken, wandte er sich schnell wieder dem Inhaber zu und versuchte, nicht daran zu denken, was Herr Trutz durch sein silbernes Monokel sah: einen groß gewachsenen, bebrillten jungen Mann von vierundzwanzig Jahren, mit klobigen Gliedmaßen, der in einem abgetragenen grauen Mantel steckte und hingebungsvoll seine Schuhspitzen betrachtete. Sein aschblondes Haar lichtete sich bereits. Vermutlich würde ihn der Antiquariatsinhaber für zehn Jahre älter halten, als er tatsächlich war, und schnell wieder abwimmeln.

»Was ist Ihr größter Wunsch?«, fragte Herr Trutz unvermittelt.

Karl starrte den alten Mann mit offenem Mund an. Die Eröffnung des Bewerbungsgesprächs hatte er sich ganz anders vorgestellt und seine Erwiderung klang nicht gerade wie die eines zukünftigen Geschäftsführers: »Ich liebe Bücher.«

Herrn Trutzens rechtes Auge, in dem das Monokel klemmte, zog sich noch etwas weiter zusammen. »Sagen Sie das nur, weil ich so etwas in meine Annonce geschrieben habe?«

»Nein, weil es stimmt.«

»Aber es beantwortet nicht meine Frage: Was ist Ihr größter Wunsch, Herr Koreander?«

Karls Blick sank wieder auf die abgescheuerten Schuhspitzen. »Entschuldigen Sie, Herr Trutz, aber was ich sagen wollte, ist Folgendes: Ich liebe Geschichten von Abenteuern und großen Gefühlen, Märchen und Legenden, Fabeln und Sagen, Prosa und Poesie – mit ihnen möchte ich mich umgeben, darin leben und …«

»Und?«

»… andere Menschen daran teilhaben lassen.«

Das Monokel fiel aus der Augenhöhle des Herrn Trutz, wurde aber von einer schwarzen Seidenschnur abgefangen. »Für einen jungen Mann haben Sie reichlich antiquierte Ansichten.«

Karl schob das Kinn vor. »Sie meinen, weil mancher heute lieber Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrennt, anstatt sie zu lesen? Wenn das die neuen Zeiten sind, bin ich gerne altmodisch. Apropos antiquiert – wenn ich mich nicht irre, ist das hier doch ein Antiquariat, oder?«

Die blauen Augen des Buchhändlers funkelten verschmitzt. »Gute Antwort, junger Mann! Ja, es ist eines, wie jeder auf der Tür draußen lesen kann. Aber Sie wissen hoffentlich, dass die Behörde unsereinen mit Argwohn betrachtet. Sie schickt uns regelmäßig ihre Zensoren, stille Herren mittleren Alters mit abgewetzten Ärmeln, die in den Regalen herumstöbern und glänzende Augen bekommen, sobald sie ein Buch finden, das auf ihrer schwarzen Liste steht. Dann blühen sie auf. Sie erteilen eine Verwarnung, im Wiederholungsfall gibt es eine Anzeige, und natürlich beschlagnahmen sie das ›entartete‹ Buch, um es für die nächste Verbrennung wegzusperren.«

Karl seufzte. »Wenn man sie nur irgendwie retten könnte!«

»Das würden Sie wagen?«

Der junge Mann erschrak. Würde ich es? Ausweichend antwortete er: »Ich bin von der Universität geflogen, weil meine Fragen den Herren Professoren unangenehm aufgestoßen sind.«

Herr Trutz sog an seiner Meerschaumpfeife und schickte ein weiteres blaues Wölkchen auf die Reise. »Was haben Sie studiert?«

»Geschichte. Natürlich nur die amtlich zugelassene. Auf die Dauer war das ziemlich eintönig.«

»Und woher kommt Ihre Liebe zur Literatur?«

»Schon als kleiner Junge habe ich Bücher nur so verschlungen. Sie halfen mir über manche trostlose Stunde hinweg.«

Herr Trutz nickte versonnen, als habe er aus Karls Worten wesentlich mehr herausgehört, als der von sich preisgeben wollte. »Als Marie, meine liebe Frau, gestorben ist, habe ich auch aus einem Buch neue Kraft geschöpft – was nicht heißen soll, dass ich sie nicht immer noch sehr, sehr vermisse.«

Karl konnte es dem traurigen Blick des Witwers ansehen. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich. »Das tut mir leid.«

Herr Trutz nickte abermals. Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Für einen Moment wirkte er abwesend, aber dann straffte er sich und fragte, mit dem Pfeifenstiel auf die Regale deutend: »Möchten Sie sich ein wenig in meinem Laden umsehen, Herr Koreander?«

»Gerne. Wenn ich Ihre Zeit damit nicht zu sehr …«

»Das geht schon in Ordnung. Wir beide müssen heute Abend eine Entscheidung fällen. Wenn Sie in Zukunft hier arbeiten wollen, sollten Sie ja auch wissen, wie Ihr Wirkungsfeld aussieht, oder?«

Karl nickte und wandte sich benommen den Regalen zu. Dieser schrullige Alte tat ja gerade so, als hätte er an seinem Bewerber Gefallen gefunden. Karl brauchte einen Moment, um seine Fassung zurückzugewinnen, dann aber bewunderte er mit wachsender Verzückung die Schätze des Thaddäus Tillmann Trutz.

Auf den ersten Blick war der Laden nicht besonders groß, nur ein schmaler Schlauch, in dem die dunklen Holzregale bis an die Decke reichten. Die Bücher standen in doppelten Reihen auf den Brettern. Wer sich hier auskennen wollte, musste schon ein phänomenales Gedächtnis besitzen. Da gab es winzige Büchlein, kaum größer als eine Streichholzschachtel, und riesige Folianten, dicke Schwarten und dünne Fibeln, wertvolle Einbände in Leder und Gold ebenso wie schlichte Pappkladden oder ziehharmonikaartige Leporellos. Karl entdeckte Seltenes und Banales, Anspruchsvolles wie auch Triviales, Heiteres und Hochdramatisches, Prosa und Poesie, Leichtes und Besinnliches. Auch auf den Holzdielen türmten sich überall Bücher. Herr Trutz schien keine hohe Meinung von der Ausdauer der Behördenschnüffler zu haben, denn die vom Staat als unbedenklich eingestuften Werke füllten hauptsächlich die Regale in der Nähe des Eingangs. Je tiefer Karl jedoch in den Laden vordrang, desto häufiger stieß er auf Werke verfemter Literaten. Als er das Buch eines von ihm sehr geschätzten Denkers entdeckte, nahm er es in die Hand, hielt es sich unter die Nase und fächerte die Seiten auf.

»Was um Himmels willen tun Sie da?« Herr Trutz beobachtete ihn von seinem Sessel aus und seine Stimme klang belustigt.

Karl lächelte verlegen. »Ist nur so eine Angewohnheit von mir: Ich schnuppere gerne in die Bücher hinein. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass jedes einen anderen Geruch hat?«

»Was Sie nicht sagen!«

»Probieren Sie’s mal. Viele meiner Lieblingswerke kann ich mit verbundenen Augen erkennen.«

Herr Trutz schüttelte den Kopf. »Ich habe mindestens schon drei Dutzend Bewerber in meinem Antiquariat empfangen, aber keiner war wie Sie.«

Karl hätte gerne gewusst, ob das nun gut oder schlecht für ihn war, aber er traute sich nicht, diese Frage zu stellen. Mit einem schiefen Grinsen wandte er sich wieder dem Regal zu, stellte das beschnupperte Buch zurück und setzte seine Erkundung fort.

Der Gang zwischen den Regalen endete vor einer quer stehenden Bücherwand. Dieses Regal war offenbar ein Raumteiler, denn Karl bemerkte nun rechts einen schmalen Durchgang. Während er so tat, als lese er die Titel der Bücher unmittelbar daneben, beugte er sich zur Seite und spähte in das finstere Rechteck. Das Dunkel dahinter verschluckte wie ein schwarzer Samtvorhang alles Licht. Karl wagte einen kleinen Schritt nach rechts und beugte sich vor. Ein Frösteln überlief ihn, als er noch immer nicht erkennen konnte, was sich hinter dem Durchgang verbarg. Wie war das möglich? So riesig konnte der sich anschließende Raum doch nicht sein. Der Schein der Lampe musste auf irgendetwas fallen, einen Tisch, einen Stuhl, einen Karton – oder vielleicht auf ein weiteres Regal? Versteckte der absonderliche Alte seine kostbarsten Schätze etwa dort, in diesem undurchdringlichen Dunkel?

»Kommen Sie zurecht?«, hallte Herrn Trutzens Stimme durch den Laden.

Karl zuckte zusammen, er fühlte sich ertappt. Als er sich zu dem Buchhändler umdrehte, erschrak er abermals. »Ach du liebes bisschen!«

Herr Trutz saß noch immer in seinem Ohrenbackensessel, lächelte freundlich und paffte blaue Wolken in die Luft – aber etwas stimmte trotzdem nicht. Karl blinzelte. Fast kam es ihm so vor, als blicke er verkehrt herum durch ein Fernrohr. Der Laden wirkte mit einem Mal wie in die Länge gezogen. Rauchte der Alte etwa irgendein verbotenes Zeugs, das die Sinne benebelte?

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Buchhändler.

»J-ja«, stotterte Karl und deutete auf den dunklen Durchgang. »Was befindet sich eigentlich hinter diesem Regal hier?«

»Das hängt immer von dem ab, der drum herumgeht.«

Der geheimnisvolle Ton, in dem Herr Trutz das gesagt hatte, bestätigte einmal mehr den Eindruck eines schrulligen alten Mannes. Karl trat vor die dunkle Öffnung. Noch immer konnte er nichts dahinter sehen. Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken.

»Nur zu«, drängte Herr Trutz aus dem Hintergrund. »Wenn Sie der sind, für den ich Sie halte, werden Sie keine Überraschung erleben.«

Kann er nicht einen Moment seinen Mund halten!? Am liebsten hätte Karl sich laut beklagt, aber das verbot ihm der Anstand. Zögerlich, wie es seine Art war, machte er einen Schritt nach vorn. Und das Dunkel lichtete sich.

Nun stand er direkt unter einem Regalbrett, das wie ein Türsturz den oberen Abschluss des Durchgangs bildete. Er blickte in tiefe Schatten, die undeutlich Regale erkennen ließen. Merkwürdigerweise schienen diese weiter auseinanderzustehen, als es der schmale Laden zulassen dürfte. Karl wagte einen weiteren Schritt. Zu seiner Verwunderung wurde das Kabinett hinter der Bücherwand sogleich heller.

Lag es daran, dass er den Lichteinfall zuvor mit seinem Körper behindert hatte? Wie auch immer, er stand in einem annähernd quadratischen Raum, der nach allem, nur nicht nach Pfeifentabak roch und dessen Wände mit weiteren, zum Bersten vollen Regalen bedeckt waren. Also doch eine geheime Sammlung, in der Thaddäus Tillmann Trutz seine literarischen Schätze aufbewahrt, dachte Karl. Menschenkenntnis schien der alte Kauz ja zu haben. Er werde keine Überraschung erleben, hatte er ihm schließlich prophezeit.

Aus der Ferne hallte einmal mehr die Stimme des Ladenbesitzers herüber. »Sind Sie noch da, Herr Koreander?«

»Warum sollte ich nicht mehr da sein?«, rief Karl zurück.

»Und? Haben Ihre Erwartungen sich erfüllt?«

Karl hatte gerade ein Buch aus dem Regal gezogen und fächerte die Seiten unter seiner Nase auf. Jasmin?, wunderte er sich. Noch nie hatte er ein Buch beschnuppert, das nach Jasmin roch. »Sie wurden bei Weitem übertroffen«, antwortete er benommen.

»Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Er nickte, obwohl Herr Trutz ihn ja nicht sehen konnte, und schritt ehrfürchtig die Regalmeter ab. Hier und da roch er an weiteren Büchern. Die Duftnoten waren vielfältig und zum Teil ziemlich überraschend. Neben Alpenveilchen, Flieder und Rosmarin entdeckte er auch so Exotisches wie Moschus, Nardenöl und Stinkende Nieswurz. Nicht alle Werke waren also wohlriechend. Karl sehnte sich nach ein bisschen mehr Licht, um die faszinierenden Bücher genauer in Augenschein nehmen zu können.

Als hätte ein eifriger Diener in seinen Kopf hineingelauscht und darin den unausgesprochenen Wunsch entdeckt, wurde es im Kabinett noch einmal heller. Karl hielt den goldenen Schimmer zunächst für eine indirekte Beleuchtung hinter dem Regal, aber dann machte er eine Entdeckung, die ihm die Fassung raubte.

Es waren die Bücher, die strahlten!

Als seien sie aus Glas!, war sein erster Gedanke, während er das vielfarbige Leuchten bestaunte. Doch dieser Eindruck trog, wie er bei genauerem Hinsehen feststellte. Die Einbände waren aus Leder, Karton oder Pergament und keineswegs durchscheinend. Das Strahlen umgab die Bücher vielmehr wie eine Aura und vermischte sich im Kabinett zu bernsteinfarbenem Licht. Bestimmt bestäubt der alte Kauz sie mit einem phosphoreszierenden Pulver, so wie bei einem Zifferblatt, redete sich Karl ein, obwohl er noch nie eine Uhr gesehen hatte, die auch nur annähernd wie diese Bücher leuchtete. Staunend las er einige der Titel. Die Buchstaben waren als Einziges schwarz und wirkten daher wie aus dem Licht herausgestanzt.

Die höchst absonderliche Reise des Herrn Tuff Lebenserinnerungen eines Grashüpfers Der Fisch, der ein Vogel sein wollte Das Uyulála-Rätsel, gelöst durch Professor Engywuck Siebenhundertsiebenundsiebzig Wege zur Unvernunft Das vertrocknete Herz

Es ergab durchaus einen Sinn, dass der Duft der Bücher mit ihren Namen harmonierte, wenigstens ungefähr. Karl roch das Meer, frisch gemähtes Gras, alten Fisch, eine geheimnisvoll aromatische, ihm gänzlich unbekannte Duftnote, außerdem schales Bier und Rosenblätter. Einige der Verfasser waren ihm geläufig, aber er kannte keinen einzigen dieser Titel. Hatte Herr Trutz hier etwa wahr gemacht, wovon er selbst kaum zu träumen wagte? Er entsann sich seiner eigenen, erst vor wenigen Minuten gesprochenen Worte. Wenn man sie nur irgendwie retten könnte!

Sein Blick wanderte weiter über die Rücken der Einbände und dabei stieß er auf einen anderen Durchgang. Hortete Herr Trutz dort etwa noch mehr »verbotene Früchte«? Diente sein Antiquariat womöglich nur als Tarnung für eine geheime Bibliothek, in der er die bedrohten Werke unbequem gewordener Geister aufbewahrte? Voller Wissbegier betrat Karl den nächsten Raum.

Dieser war noch größer als das benachbarte Kabinett und besaß sogar zwei weitere Durchgänge. Auch hier lag ein betäubendes Potpourri unterschiedlichster Gerüche in der Luft, das in seiner Gesamtheit aber ein wenig anders als das Duftgemisch im letzten Zimmer roch. Wie dort erstreckten sich auch hier die Regale bis … Karls Gedanken stockten. Ja, bis wohin eigentlich? Er blickte nach oben, konnte aber keine Decke sehen. In der Nähe stand eine Leiter. Daran stieg er empor, erst zehn, dann zwanzig, dann dreißig Sprossen. Endlich kapitulierte er vor seinem wild pochenden Herzen und kletterte mit weichen Knien wieder zurück. Phantastisch, diese Bibliothek!, dachte er und lief durch den linken Durchlass in einen noch größeren Raum.

Auf diese Weise erkundete Karl vier oder fünf weitere Zimmer, die alle ein wenig anders rochen und von denen jedes über noch mehr Übergänge in neue, noch geräumigere Säle verfügte. Ja, inzwischen konnte man nicht mehr von Kabinetten sprechen, die Regale reihten sich in Hallen, deren Ausdehnung jeder Vernunft hohnsprach. Karl versuchte, sich die Dimensionen des Gebäudes, in dem sich der Laden von Herrn Trutz befand, vorzustellen. Es musste mit mehreren weiteren Häusern im Hinterhof verbunden sein, die allesamt mit duftenden »Leuchtbüchern« vollgestopft waren.

Oder rauchte der alte Mann tatsächlich Opium, und Karl war zu viel davon in die Nase gestiegen? Argwöhnisch blickte er sich um, betastete ein Buch mit dem Titel Die empörende Puderdose der Frau Aschenbrödel und schnupperte an einem anderen, das Die Abgründe der Phantasie hieß. Alles wirkte so real! Als er die Abgründe zurück ins Regal stellte, bemerkte er über den dort aufgereihten Büchern ein Strahlen, das sich von der hier üblichen Illumination deutlich abhob.

»Tageslicht?«, murmelte Karl. War das etwa wieder so eine Unmöglichkeit? Er ging mit den Augen so dicht wie möglich an das Regal heran, um besser durch den schmalen Spalt über den Büchern hindurchspähen zu können. Tatsächlich! Dahinter befand sich ein strahlend helles Zimmer. Über dessen Zweck musste er nicht lange grübeln – die zentralen Möbelstücke waren ein Stuhl mit niedriger runder Lehne und ein Schreibtisch. Erheblich rätselhafter erschien ihm dagegen die Quelle des warmen gelben Lichts: ein großes, oben in einem weiten Bogen endendes Sprossenfenster an der gegenüberliegenden Wand. Hastig suchte er in den tiefer gelegenen Regalböden nach kleineren Büchern, die ihm einen besseren Durchblick gewährten, aber die Zwischenräume waren überall ähnlich schmal, weshalb er schließlich wieder zu dem Spalt auf Augenhöhe zurückkehrte.

Ungläubig betrachtete er die lichte Fensterwand. Sie bestand aus einem dünnen Gitter mit zahllosen viereckigen Scheiben, jede etwa so groß wie eine Handspanne im Quadrat. In der Mitte befand sich, nur durch einen Drehknauf und die etwas dickere Umrahmung erkennbar, eine Glastür. Die höchste Stelle des Rundbogens mochte etwa fünf Meter messen. Karl schüttelte benommen den Kopf, weil er sich das helle goldene Licht im Fenster noch immer nicht erklären konnte. Es spiegelte sich in den Scheiben. Zu stark, als dass erkennbar wäre, was sich dahinter befand. Auf jeden Fall müsste es draußen längst dunkel sein. Oder hatten sich die Wolken verzogen und er sah die letzten Sonnenstrahlen des scheidenden Tages ins angrenzende Zimmer fallen? Ja, so musste es sein. Wie sonst …?

»Kommen Sie zurecht, Herr Koreander?«

Die Stimme des Buchhändlers drang aus weiter Ferne an Karls Ohr. Er riss sich vom Anblick des sonnendurchfluteten Fensters los, formte mit den Händen einen Trichter und rief: »Ja, Herr Trutz! Sie haben aber eine Menge Bücher! Ein richtiges Bücherlabyrinth ist das hier.«

»Das ist Ihnen aufgefallen!«, kam die prompte Antwort aus dem Laden. Der Inhaber klang so erfreut, als hätte sein junger Bewerber gerade eine fünfte Himmelsrichtung entdeckt. »Vielleicht kommen Sie jetzt besser zurück«, fügte er hinzu, und sein Tonfall verriet, dass er allmählich ungeduldig wurde.

Karl warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Sonnenlicht hinter dem Regal, dann kehrte er um. Nicht ohne Schwierigkeiten fand er zum vorderen Teil des Ladens zurück; seine empfindliche Nase leistete ihm dabei wertvolle Dienste. Herr Trutz saß noch immer in seinem Sessel, die eine Hand auf den Silberknauf seines Gehstocks gestützt, die andere hielt die Meerschaumpfeife. Auf dem Beistelltischchen lag jetzt eine schwarze Dokumentenmappe, die von einem roten Gummiband zusammengehalten wurde.

Der alte Mann empfing seinen Gast in gelöster, fast beschwingter Stimmung. »Was haben Sie gesehen, Herr Koreander?«, stieß er aufgeregt hervor, als handele es sich um eine letzte Prüfungsfrage.

»Bücher über Bücher! Tausende in allen Farben leuchtende und nach allen Düften riechende Bücher! Ich kann mir das nicht erklären, aber es war wunderbar«, antwortete Karl.

»Dann gefällt Ihnen also meine geheime Bibliothek?«

»Ihre …?« Karl konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Habe ich mir fast gedacht, dass Sie da die ›entarteten Literaten‹ horten. Die Bücher sind doch nicht zum Verkauf bestimmt, oder?«

»Da haben Sie wohl recht«, sagte Herr Trutz seltsam gedehnt. »Dann nehmen Sie den Posten also an?«

»Mit Freuden!«

»Sie haben keine Angst vor den Schnüfflern der Behörde?«

»Doch, aber ich würde alles dafür geben, Ihnen beim Hüten Ihres Schatzes zu helfen.« Karl erschrak über seine eigene Antwort. Seit dem Rausschmiss aus der Hochschule neigte er eher dazu, allem, was Ärger verursachen könnte – vor allem jeder Konfrontation mit dem Staatsapparat –, aus dem Weg zu gehen. Zum Glück schien diese Angst vor der eigenen Courage seinem neuen Brötchengeber nicht aufzufallen.

»Prächtig!«, rief Herr Trutz und schlug übermütig die Pfeife und seinen Stock aneinander. »Wann können Sie anfangen?«

»Nun …«

»Sofort?«

»Ja, schon. Ich müsste nur …«

»Prächtig!«, jubilierte Herr Trutz abermals und deutete auf den Aktendeckel neben seinem Sessel. »Ich habe schon alle erforderlichen Dokumente vorbereitet. Sie müssen nur einschlagen.« Er steckte sich den Pfeifenstiel zwischen die Zähne und reichte Karl die Hand.

Der junge Mann griff rasch zu. Er konnte sein Glück kaum fassen.

Unvermittelt entzog ihm Herr Trutz wieder die Hand. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.« Er sprang aus dem Sessel auf, durchquerte mithilfe seines Stocks erstaunlich hurtig den Laden und verschwand am anderen Ende hinter der Bücherwand.

2. Kapitel: Das Vermächtnis

Karl stand wie ein begossener Pudel neben dem leeren Ohrenbackensessel und sah konsterniert zu dem dunklen Durchgang hinüber. Was hatte den Weißschopf so plötzlich aus dem Raum getrieben? Vielleicht eine schwache Blase? Bei älteren Leuten sollte es so etwas ja geben. Karl wartete.

Minuten verstrichen, ohne dass auch nur der Pfeifenstiel des Antiquars auftauchte. Karl begann zu schwitzen. Er zog seinen dicken Wintermantel aus und legte ihn über den Tresen. Sein Blick wanderte eine Weile ziellos durch den Laden und schließlich zur Straße hinaus. Auf der anderen Seite des Schaufensters stand eine Gaslaterne, deren weißgelbe Lichtinsel hastig von einem älteren Paar durchquert wurde. Der Mann hielt seinen Hut fest, um ihn nicht im böigen Wind zu verlieren.

»Herr Trutz?«, rief Karl und lauschte.

Niemand antwortete.

»Herr Tru-uuutz?«

Stille im Kabinett.

»Er kann sich doch nicht durchs Klo gespült haben«, murmelte Karl ärgerlich. Sein Blick blieb an der schwarzen Dokumentenmappe hängen. Verstohlen sah er zur Bücherwand. Von Herrn Trutz noch immer keine Spur. Mit langem Arm und nur leichter Beugung in der Taille klappte Karl den Aktendeckel auf. Sein Unterkiefer sank herab. Was er da las, musste ein Irrtum sein.

Generalvollmacht

Ich, Thaddäus Tillmann Trutz, bevollmächtige für die Dauer meiner Abwesenheit Herrn Karl Konrad Koreander zur Tätigung sämtlicher rechtsverbindlicher Handlungen, die mit der Führung meines Antiquariats zusammenhängen. Weiterhin darf der oben bezeichnete Bevollmächtigte, so es sein Wille ist, ins Gästezimmer meiner Wohnung über dem Laden einziehen. Sollte ich innerhalb von sieben Jahren nicht zurückgekehrt sein, kann er mich für tot erklären lassen. Nach Ausstellung des amtsgerichtlichen Erbscheines tritt er als Begünstigter entsprechend den Verfügungen in meinem bei Notar Doktor Harribald Windig hinterlegten Testament ein. Gezeichnet am Montag, dem 7. November 1938 in

Karl stieß prustend den Atem aus, den er vor Schreck angehalten hatte. Da stand tatsächlich in fast noch feuchter Tinte, mit einer Handschrift hingekritzelt, wie sie sonst nur auf den Rezepten hektischer Ärzte zu sehen war, sein vollständiger Name. Herr Trutz konnte diese Vollmacht unmöglich ernst meinen. Karls Hand fuhr in die Manteltasche und zog den Zeitungsausschnitt hervor. Mit zitternden Fingern glättete er das zerknüllte Papier und las noch einmal laut den Satz, der sich für ihn anfangs wie ein Köder angehört hatte, mit dem man leichtgläubige Bewerber für eine schlecht bezahlte Anstellung angelte.

»Mit bestandener Probezeit werden Sie kommissarisch die Führung des Ladens übernehmen und ihn nach meinem Fortgang erben, sofern es dann weiterhin Ihr Wunsch und Wille ist, mein Lebenswerk fortzuführen.«

Benommen starrte Karl auf die Generalvollmacht. Ich habe schon alle erforderlichen Dokumente vorbereitet. Sie müssen nur einschlagen. Also, der Alte hatte wirklich »Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen«, wie er es in seiner Annonce auch von seinem Nachfolger erwartete. Allerdings konnte er kaum ein so guter Menschenkenner sein, wie Karl anfangs vermutet hatte. Sonst hätte er sich schwerlich einen so ängstlichen und unentschlossenen Geschäftsführer geangelt. Aber nun hatten sie sich die Hand gegeben. Abgemacht ist abgemacht …

Erst in diesem Augenblick wurde sich Karl der klaffenden Lücke am Ende des Dokuments bewusst: Ort und Unterschrift fehlten. Niedergeschmettert sank er in den Sessel. Was hatte er sich überhaupt eingebildet? Ein Schlappschwanz führt einen eigenen Buchladen. Lachhaft! Das schaffst du sowieso nicht! Die Worte seines Vaters, hundertmal gehört, hallten durch seinen Geist.

»Herr Tru-uuutz!«, rief er in jämmerlichem Ton. Der alte Kauz hatte sich irgendwo versteckt und hielt ihn zum Narren. Es konnte nicht anders sein.

Aber kein kichernder, sich die Schenkel klopfender Buchhändler erschien.

Lustlos griff Karl nach dem Aktendeckel, zog ihn auf seinen Schoß und blätterte die anderen Dokumente durch, die der Buchhändler »schon vorbereitet« hatte. Unter der Generalvollmacht lag ein Anstellungsvertrag, datiert und unterschrieben. »Also bist du wenigstens nicht arbeitslos«, brummte Karl. Als Nächstes stieß er auf die Abschrift eines Testaments, ebenfalls signiert. »Meinem Geschäftsnachfolger, der sich gegenüber Herrn Notar Dr. Harribald Windig durch die mit diesem abgestimmte Legitimation ausweisen wird, vermache ich alles, was ich mein Eigen nenne«, hieß es in der Urkunde, bevor Herr Trutz seine Vermögenswerte auflistete. Mit der »Legitimation« konnte er nur die ausgefüllte und unterschriebene Generalvollmacht gemeint haben.

»Aus der Traum«, seufzte Karl und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken.

Wieder wartete er. Wieder ließ sich kein Thaddäus Tillmann Trutz blicken. Vermutlich hockte der Alte in seiner Geheimbibliothek und las schmunzelnd irgendein phantastisches Buch, Koreanders siebenundsiebzig tollste Reinfälle, irgendetwas in dieser Art. Mutlos zog Karl das letzte Schriftstück aus dem Aktendeckel hervor. Es bestand aus mehreren Seiten, die mit einem zweifarbigen Bändchen zusammengeheftet waren. Darin nannte der Buchhändler die Anschrift seines Notars und listete endlose Anweisungen auf, angefangen bei A wie »Ablagesystem für Geschäftspapiere« bis hin zu Z wie »Zedernholzmöbel in der Veranda der Wohnung einmal jährlich einölen«. Das Karl wie ein Vermächtnis erscheinende Dokument endete mit einem lapidaren Satz:

Man kann es aber auch ganz anders machen.

Vollends verwirrt, klappte Karl den Aktendeckel zu.

Nach etwa einer Stunde begab er sich auf die Suche nach dem Ladenbesitzer. Irgendwie musste er seinem Unmut Luft verschaffen. Man verschwindet nicht so mir nichts, dir nichts und lässt einen gerade eingestellten Mitarbeiter mit solchen Dokumenten zurück. Zumal die Vollmacht nicht einmal unterschrieben ist.

Karl betrat das Kabinett hinter der Bücherwand. Erwartungsgemäß fand er dort nicht den vermissten Alten. Wäre ja auch zu leicht gewesen. Er lief zum nächsten Raum. Wieder Fehlanzeige.

Durchgang für Durchgang drang Karl tiefer in das Labyrinth aus glosenden Büchern ein. Immer wieder rief er den Namen des Gesuchten, probierte es mit allen möglichen Abzweigen, aber Herr Trutz ließ sich weder blicken, noch antwortete er. Nach langem Hin und Her erreichte Karl zufällig wieder die Stelle, wo er zuvor das Tageslicht durch die Regalreihen hatte strahlen sehen, und stutzte. Hinter dem Fenster schien immer noch die Sonne.

Karl traute seinen Augen nicht. Er musste träumen. Benommen klammerte er sich an einem Regalholm fest, weil ihm plötzlich schwindlig wurde. Das konnte nicht sein! Er hatte doch durch das Schaufenster die beiden Alten im Licht der Straßenlaterne beobachtet, den Mann, der so krampfhaft seinen Hut festhielt …

»Wie kann hier die Sonne scheinen, wenn es draußen dunkel ist?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Wenn er nicht den Verstand verlieren wollte, musste er das Rätsel des sonnigen Fensters ein für alle Mal klären. Sehr vorsichtig, wie es seine Gewohnheit war, wandte er sich dem letzten Durchlass zu. Plötzlich drang ein lautes Klirren an sein Ohr.

Karl lief es kalt den Rücken hinunter. Das Geräusch hallte immer noch nach. Es kam aus derselben Richtung wie zuvor Herrn Trutzens Stimme, klang aber viel näher – fast so, als hätte der Laden um Hilfe gerufen. Karl begann zu laufen.

Unter anderen Umständen wäre er bestimmt darüber verwundert gewesen, mit welcher schlafwandlerischen Sicherheit er den Weg zurückfand, aber dafür fehlte ihm die Muße. Tausend Gedanken schwirrten wie Glühwürmchen durch seinen Kopf. Was war da passiert? Hatte der wacklige Witwer mit seinem Gehstock irgendetwas zerschlagen? Aber was? Vorn im Antiquariat war Karl nichts aufgefallen, das auch nur annähernd einen solchen Lärm verursachen konnte. Mit Ausnahme …

Er rannte noch schneller. Womöglich gab es eine andere Erklärung für das Scheppern. Herr Trutz hatte ihm, Karl Konrad Koreander, die Verantwortung für sein Geschäft übertragen. Selbst wenn die Vollmacht noch nicht unterschrieben war. Ihm schwante, dass da etwas Schreckliches passiert sein könnte. Er musste helfen.

Endlich erreichte er das Kabinett. Aus dem Laden drang ein flackerndes Licht. Karl stürzte darauf zu – und verharrte gleich darauf wie angewurzelt.

Die gläserne Eingangstür war in tausend Splitter zerborsten. Ein Stück weit im Laden lag ein – brennender Stein? Wieder beschlich Karl das Gefühl, verkehrt herum durch ein Fernrohr zu blicken. Als er jedoch genauer hinsah, wurde ihm klar, was dieses Geschoss war: Jemand hatte den Brocken mit einem Lumpen und einer Schnur umwickelt, das Ganze angezündet und durch die Glasscheibe geschleudert. Die primitive »Brandbombe« lag auf einem der verschlissenen Teppiche, aus dem bereits kleine Flammen züngelten.

»Die Bücher!«, hauchte Karl entsetzt und endlich fiel die Starre des ersten Schreckens von ihm ab. Er lief zu dem Feuer, kippte einen Bücherturm von der Teppichkante, fasste diese mit beiden Händen und schlug sie über das Brandgeschoss. Atemlos trat er das Feuer aus, packte das rauchende Teppichbündel und schleifte es zur Tür. Dort hob er es hoch und warf es durch den Rahmen, in dem nur noch einige Scherben steckten, auf die Straße. »Wer tut so etwas nur?«, zischte er.

»In was für einer Zeit leben Sie eigentlich? Und wer sind Sie überhaupt?«

Die tiefe Stimme klang ein wenig wie eine ins Rutschen geratene Geröllhalde. In seinem gerechten Zorn hatte Karl noch gar nicht bemerkt, dass aus der Haustür links neben dem Laden ein grobschlächtiger Mann mittleren Alters getreten war. Er hatte kurz geschorenes Haar, einen Stiernacken und sah ihn argwöhnisch an. Den hochgekrempelten Hemdsärmeln und dem abgeknöpften Kragen nach zu urteilen, hatte ihn der Lärm des zersplitternden Glases aus seiner Feierabendruhe aufgeschreckt.

»Ich bin der Koreander Karl, der neue Ladengehilfe von Herrn Trutz. Mit dem Überfall habe ich nichts zu tun«, erklärte Karl, um den bulligen Mann von Kurzschlussreaktionen abzuhalten.

Dessen Antwort klang denn auch schon erheblich umgänglicher. »Ach, hat der Alte also endlich einen Träumer gefunden, der seinen Schwartenladen übernimmt. Mein Name ist Holle, Horst Holle. Meine Freunde nennen mich Hotte.« Der Nachbar grinste, was seine despektierliche Äußerung über Herrn Trutz und dessen Gehilfen wohl ins rechte Licht rücken sollte. Er reichte dem »Träumer« eine fleischige Hand.

Während Karl diese noch schüttelte, kam hinter Herrn Holle eine korpulente Frau in Kittelschürze aus dem Hauseingang. Sie schleppte einen schwarzgrauen emaillierten Wassereimer, dessen Inhalt sie über den qualmenden Teppich entleerte. Erst danach wandte sie sich Karl zu. »Männer! Alles Schwätzer. Hotte quasselt den ganzen Tag und mich lässt er die Arbeit tun.« Sie streckte Karl die Hand entgegen. »Heide.«

»Wie bitte?«

»Ich bin Heide Holle. Frau Holle, wenn Sie wollen. Sie wissen schon, die mit dem Schnee.« Sie zwinkerte Karl zu.

Er schüttelte auch ihre Hand und seufzte. »Wenigstens gibt es noch hilfsbereite Nachbarn. Danke für das Wasser.«

»Keine Ursache«, antwortete Frau Holle. »Unheimlicher Bursche, der den Laden von unserem Bücherwurm überfallen hat.«

Karl riss die Augen auf. »Sie haben ihn gesehen?«

»Klar. Nicht zum ersten Mal. Er schleicht schon eine ganze Weile um den Laden herum, wie ein räudiger Köter um die Wurst.«

»Sie sagten, er sei unheimlich?«

Frau Holle nickte und deutete zur Straßenmündung, aus der vorhin der singende braune Hundertfüßler gekommen war. »Bevor er da um die Ecke verschwunden ist, hat er sich noch einmal umgedreht, vielleicht weil ein Auto die Straße entlangfuhr. Und da habe ich seine grünen Augen leuchten gesehen.«

In Karls Kopf drehte sich ein Karussell, das ihn schwindeln machte. An diesem Abend schien aber auch alles verkehrt zu sein. »Sind Sie sicher, dass seine Augen geleuchtet haben?«

»Ja doch! Wie bei einer Katze. Oder bei einem Wolf. Aber irgendwie auch anders. Ich kann dieses gelblich grüne Glühen schlecht beschreiben. Eben unheimlich war’s. Ja, das trifft’s, glaube ich, am besten.«

»Du hast beim Putzen zu viel Salmiak eingeatmet«, brummte Herr Holle.

»Und er ist da hinter der Backsteinmauer verschwunden?«, vergewisserte sich Karl, während er zur Einmündung deutete.

»Spreche ich so undeutlich, junger Mann?«

»Nein. Bitte entschuldigen Sie mich.« Karl ließ die beiden stehen und lief wie in Trance über die Straße. Es war der Zorn, der ihn dazu trieb. Wie konnte jemand so etwas wagen? Sein Geschäft zu überfallen, seine Bücher anzuzünden … Nun, noch waren sie nicht sein Eigentum, aber Herr Trutz hatte das Antiquariat seiner Obhut anvertraut. Karl schäumte. Wenn er jemals in seinem Leben etwas richtig machen wollte, dann musste er allmählich damit anfangen.

Er war außer sich. Hätte er nur einen Moment über sein Handeln nachgedacht, wäre er in den Laden zurückgelaufen, hätte die Polizei gerufen und sich bis zu deren Eintreffen hinter Bücherstapeln verschanzt. Das war nicht der Karl Konrad Koreander, den er kannte, aber an diesem Abend hatte er sich schon auf so viele Unmöglichkeiten eingelassen, dass ihm seine forsche Reaktion als die natürlichste von der Welt erschien.

Als er um die Straßenecke bog, kamen ihm erste Zweifel. Die Querstraße lag verlassen vor ihm. Das Licht der wenigen Laternen wurde vom Geäst kahler Bäume gedämpft. Gegenüber der Backsteinmauer befand sich ein langes, unbebautes Grundstück, auf dem Unkraut wucherte. Keine Menschenseele war zu sehen. Karl begann zu frieren – sein Mantel lag immer noch über dem Tresen im Laden. Sollte er umkehren?

In diesem Moment sah er vor sich einen Schatten. Hinter einem Baum, vielleicht dreißig Meter entfernt, glommen zwei grüne Punkte. Das musste der Täter sein, den Frau Holle gesehen haben wollte. Wie kann ein Mensch solche Augen haben? Karl schauderte. Und wieso treibt er sich noch hier herum? Er hatte genügend Bücher über geistesgestörte Brandstifter gelesen, die sich an den von ihnen gelegten Feuern weideten. Das musste so ein Kerl sein.

Karl packte die Wut. »Stehen bleiben!«

Sein Ruf zeigte Wirkung. Er sah einen Schemen hinter dem Baum hervor und auf die Straße huschen. Wen immer da das schlechte Gewissen zur Flucht trieb, er wollte offenbar unerkannt bleiben. Geschickt nutzte er die Schatten, um nicht mehr als nötig von sich preiszugeben. Er hatte einen auffallend hohen Wuchs und breite Schultern, zweifellos ein Mann, dachte Karl und spürte sein altes Leiden in den Gliedern. Sie wurden bleischwer und wollten ihm nur träge gehorchen. Die Angst kehrte zurück.

Einige Sekunden lang hielt er sich selbst hinter einem Baum versteckt und verfolgte den Flüchtigen nur mit Blicken. Grünauge bog links um die nächste Straßenecke, folgte also der Grenze des ummauerten Grundstücks. Endlich siegte Karls Sinn für Gerechtigkeit über seine Furcht – der Gauner musste angezeigt werden! – und er setzte dem Brandstifter nach.

Als er die Ecke erreichte, spähte er vorsichtig um die Mauer herum. Die Straße hier war fast ein Spiegelbild der parallel verlaufenden, in der sich das Antiquariat von Herrn Trutz befand: links die Ziegelsteinwand, rechts vier- und fünfstöckige Mietshäuser aus der Zeit der Jahrhundertwende. Aus einer Eingangstür fiel Licht, ein senkrechter, heller Streifen, der schnell schmaler wurde und, begleitet von einem Klappen, schließlich ganz verschwand.

»Bist du da eben reingelaufen, Grünauge?«, murmelte Karl und überlegte angestrengt, was er tun sollte. Ebenso gut konnte der Brandstifter weitergerannt sein und jemand anderer hatte das Haus betreten. Er könnte seine Beobachtungen der Polizei melden, fiel ihm nun ein, doch ein solcher Schuss ging nicht selten nach hinten los, weil der vermeintliche Verbrecher sein Unwesen mit Duldung oder sogar auf Geheiß staatlicher Organe trieb: Vielleicht hatte die Behörde von der geheimen Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz Wind bekommen und eine Bücherverbrennung stante pede verordnet. Karl ballte vor ohnmächtiger Wut die Fäuste. Was sollte er tun? Ohne handfeste Beweise würde er Herrn Trutz nach dessen Rückkehr nur den Schaden präsentieren können, aber keinen Täter.

Mit wachsweichen Knien schlich er über die Straße, hin zu dem Haus, in das der Brandstifter möglicherweise geflohen war. Zaghaft drückte er die schwere, dunkle Holztür auf. Im Haus brannte noch immer Licht. Hielt sich der Kerl hier irgendwo versteckt? Oder war er längst in seine Wohnung geflüchtet? Karls Blick wanderte zu dem »stillen Portier« an der Wand. Hinter einer Glasscheibe befand sich ein hölzernes Gitter mit Schildern: fünf Reihen à drei Namen. Missmutig begann er sie von oben nach unten zu lesen:

O. Müller K. Valentin Werner Wolf T. Storm Johanna von Schlagstöckel G. Mork …

Plötzlich ging das Licht aus. Karl erschreckte sich fast zu Tode, weil die überraschende Verfinsterung mit einem lauten Klacken einhergegangen war. Er wagte kaum zu atmen, während er in den Hausflur lauschte. Plötzlich hörte er über sich ein verdächtiges Knarren. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Er begann zu zittern. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, hier einfach so hereinzuspazieren, wo ihm Grünauge auflauern und ihn – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – massakrieren konnte?

Als wäre ein ganzes Rudel hungriger Wölfe hinter ihm her, rannte Karl zur Tür, stürzte auf die Straße hinaus und machte sich aus dem Staub.

*

Über der Straße vor dem Antiquariat lag eine trügerische Ruhe. Die Nachbarn hatten sich längst wieder in ihre Wohnungen zurückgezogen. Unter Karls Füßen knirschten Glassplitter, als er in den Laden trat. Irgendjemand hatte das Licht ausgeschaltet. Vielleicht Frau Holle. Karl zitterte immer noch, aber nun eher vor Kälte. Er lief zum Tresen, um seinen Mantel wieder anzuziehen. Gegen die eiskalten Füße – eine seiner Schuhsohlen war durchgelaufen und die andere so dünn wie Pergament – konnte er vorerst nicht viel tun. Während er in den Wintermantel schlüpfte, bemerkte er auf dem Verkaufstisch einen Zettel. Eine handgeschriebene Mitteilung, wie er in dem durchs Schaufenster fallenden Laternenschein gerade noch erkennen konnte. Er lief zum Eingang zurück, um Licht einzuschalten. Dabei knöpfte er seinen Mantel zu. Allmählich strömte neues Leben in seine klammen Glieder.

»Grüße vom Polizeirevier«, murmelte er säuerlich, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Jemand musste ihm – eine für ihn nicht neue Erfahrung – die Entscheidung abgenommen und die Ordnungshüter herbeigerufen haben. Als sein Blick sich von dem Zettel löste und die Scherben am Boden streifte, durchfuhr ihn ein Stromschlag oder etwas, das sich zumindest so anfühlte. Karl traute seinen Augen nicht.

Die wie winzige Kristalle funkelnden Glassplitter waren nur etwa zwei Schritte weit ins Geschäft eingedrungen. Als wären sie an eine unsichtbare Mauer geprallt und dann herabgefallen, bildeten sie auf den Dielen eine schnurgerade, glitzernde Linie. Zudem hob sich die Stelle, wo der brennende Läufer gelegen hatte, wie eine Landzunge aus dem glitzernden Glasmeer ab. War denn da noch ein anderer Teppich gewesen? Nein, Karl gestand sich nicht viele verlässliche Eigenschaften zu, aber seine Beobachtungsgabe hatte ihn bisher nur selten im Stich gelassen.

Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Eine riesige Geheimbibliothek in einem bei Weitem nicht so großen Mietshaus, leuchtende und duftende Bücher, ein selbst in der Nacht noch sonnendurchflutetes Fenster, ein mal kurzer, dann wieder langer Laden, ein Brandstifter mit glühenden grünen Augen und nun auch noch diese unsichtbare Schutzwand! Karl fiel keine bessere Bezeichnung dafür ein. Was konnte Tausende umherstiebender Glassplitter und sogar ein schweres brennendes Geschoss mitten in der Luft aufhalten? Trotz angestrengten Nachdenkens fiel ihm keine auch nur annähernd zufriedenstellende Erklärung ein.

Was sollte er jetzt tun? Den Abend einfach vergessen? Zurückkehren in die leere Wohnung seines kürzlich verstorbenen Vaters? Oder sich im Gästezimmer von Herrn Trutz verkriechen? Er ging zum Beistelltischchen neben dem Ohrenbackensessel und klappte den Aktendeckel auf. Nein, ohne die Unterschrift des Buchhändlers konnte er nicht einfach in dessen private Räume eindringen. Außerdem musste er den Laden beschützen, falls der Brandstifter zurückkehrte. Er würde also die Nacht im Kabinett verbringen, beschloss Karl, gleich hinter dem Durchgang, wo ihn niemand sehen, er selbst aber den Laden im Auge behalten konnte.

*

Ein leises Knirschen ließ Karl aus dem Schlaf hochschrecken. Im Nu war er wach, richtete sich kerzengerade in dem Ohrenbackensessel auf, den er mühsam hinter die Bücherwand geschoben hatte, und lauschte. Im vorderen Teil des Ladens war es dunkel – obwohl er das Licht angelassen hatte!

Wieder knirschte es. Karl schob seinen Kopf in den Durchgang und spähte nach vorn. Nahe beim Schaufenster, das von der Straßenlaterne schwach erhellt wurde, bewegte sich eine hünenhafte Gestalt wie ein zum Leben erweckter Scherenschnitt. Karl glaubte zu Eis zu erstarren. Unfähig, sich zu rühren, folgte er dem Schemen mit seinem Blick. Der Mann schien etwas zu suchen, genau dort, wo vorhin noch der Sessel gestanden hatte.

Das Vermächtnis des Herrn Trutz!

Karl presste sich den Aktendeckel an die Brust, den er mit ins Kabinett genommen hatte. Sein Verdacht jagte ihm schon genug Schrecken ein, aber in ihm regte sich eine Vermutung, die ihm das Blut in den Adern stocken ließ: Er möchte wissen, wer seinen Anschlag vereitelt hat. Er sucht den Namen auf der Generalvollmacht. Er will MICH!

Als hätte Karl diese Gedanken laut geschrien, wandte sich der Schemen dem Durchgang zum Kabinett zu. Zwei runde, gelblich grüne Punkte glommen in der Dunkelheit. Sie schwebten hin und her, als suchten sie irgendetwas – oder irgendjemanden. Dann verharrten sie. Karl hatte das Gefühl, direkt angestarrt zu werden, und verlor die Nerven.

Er schrie, als hätten die Augen des Eindringlings seinen Mantel in Brand gesteckt. Es interessierte ihn auch nicht, dass der unheimliche Fremde herumfuhr und mit einem unglaublichen Satz durch den leeren Türrahmen nach draußen verschwand. In panischem Schrecken flüchtete Karl tief in die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz hinein.

*

An einem Bücherregal lehnend, umgeben von einer nach Pfefferminz riechenden Wolke, war Karl für den Rest der Nacht damit beschäftigt, seine Ohren aufzusperren, um nach verdächtigen Geräuschen zu lauschen. Was hatte er sich da nur eingebrockt! Zum wiederholten Mal blickte er auf seine Taschenuhr und haderte mit dem trägen Minutenzeiger. Das nötige Licht lieferte ihm ein fünfzehnbändiges Werk mit dem Titel Wechselwirkungen von Feld-, Wald- und Wiesenkräutern im Schaffensprozess von Literaten. Es leuchtete grün.

Um acht – draußen musste es mittlerweile hell werden – wagte er sich aus seinem Versteck. Im Laden war alles unverändert. Bis auf eine Kleinigkeit. Jemand hatte die wie mit dem Lineal gezogene Glassplitterspur verwischt.

Karl zwang sich, systematisch nachzudenken. So schwer es ihm fiel, er musste einige Entscheidungen fällen. Wenn er das Antiquariat sich selbst überließ, würde Herr Trutz ihn am Ende noch haftbar machen. Bereits eine Viertelstunde später hatte Karl einen Plan gefasst und wurde aktiv.

Als Erstes bat er Frau Holle, bis zu seiner baldigen Rückkehr den Laden im Auge zu behalten. Das tue sie sowieso, lautete ihre Antwort, und er machte sich ein wenig zuversichtlicher auf den Weg zum nächsten Polizeirevier. Dort erstattete er stellvertretend für Thaddäus Tillmann Trutz Anzeige gegen unbekannt. Der Diensthabende schien nicht sonderlich begeistert. In der letzten Nacht seien überall Fenster zu Bruch gegangen, der Ordnungsapparat sei restlos überfordert. Als Karl trotzdem im Namen seines Arbeitgebers auf einer polizeilichen Ermittlung bestand, verlangte der Beamte eine Vollmacht. Karl zeigte ihm das vom Buchhändler aufgesetzte Papier.

»Die ist aber nicht unterschrieben«, brummte der Polizeibeamte.

»Herr Trutz hat sein Geschäft gestern Abend überstürzt verlassen. Er wird diese Formalität unverzüglich nachholen.«

»Trotzdem kann ich Ihre Angaben nur als Zeugenaussage zu Protokoll nehmen, aber nicht als Anzeige namens des Geschäftsinhabers bearbeiten. Tut mir leid, Vorschriften sind Vorschriften.«

»Ich weiß.« Karl seufzte. Wie oft hatte er diese Floskel schon gehört!

Nachdem der Beamte sein Formular zerrissen und ein anderes ausgefüllt hatte, durfte Karl unterschreiben. Anschließend begab er sich zu einem Schreiner, den er beauftragte, die beschädigte Eingangstür mit einer Holzplatte behelfsweise zu reparieren. Dann endlich suchte er den im Vermächtnis von Herrn Trutz bezeichneten Notar auf.

*

Die Kanzlei von Doktor Harribald Windig lag im Hochparterre eines ehrwürdigen Mehrfamilienhauses mit Gipsputten über dem Portal und einem hellgrauen Marmoraufgang. Die Räume waren so gut wie lückenlos mit Nussbaumholz und dicken Teppichen ausgekleidet, wodurch eine Atmosphäre der Gediegenheit entstand, die unwillkürlich auf die in ihnen arbeitenden Menschen ausstrahlen musste. Die Vorzimmerdame des Notars war ein Fräulein Schmitz. Karl schätzte sie auf Mitte fünfzig. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, erklärte sie ihm, was für ein viel beschäftigter Mann Doktor Windig sei, und stimmte den unangemeldeten Besucher auf eine längere Wartezeit ein.

Bereits nach zweieinhalb Stunden wurde Karl vorgelassen. Das Büro des Notars war ein opulentes Arrangement aus Nussbaum, Messing, Plüsch und prall gefüllten Aktendeckeln. Der Herrscher über dieses Refugium für Testamente und andere Willenserklärungen spielte in der gleichen Altersklasse wie seine Vorzimmerdame. Er hatte volles braunes Haar, eine aufrechte Haltung und einen Schmerbauch, den er aber geschickt mit einem offenbar maßgeschneiderten Anzug aus feinem dunkelblauem Tuch kaschierte. Zu seinem makellos weißen Hemd trug er eine rot-blau gestreifte Krawatte, auf der ein für Karl nichtssagendes Wappen prangte. Vertrauter waren ihm da schon die kleinen Anker auf den Messingknöpfen am Jackett seines Gastgebers. Vielleicht hatte Doktor Windig in der Marine gedient. Gegen den durch und durch soliden Notar kam sich Karl in seinem abgetragenen Mantel – ein Erbstück seines Vaters – schäbig vor.

Doktor Windig schien die Aufmachung des jungen Mannes aber nicht zu stören, nachdem er den Grund seines Kommens erfahren hatte. Herr Trutz sei ein hochgeschätzter Klient, versicherte der Notar, ein wenig weltfremd vielleicht, aber gleichwohl hochgeschätzt. Karl möge doch bitte Platz nehmen.

Er ließ sich in einem Sessel ohne Armlehnen vor dem wuchtigen Schreibtisch des Notars nieder und erzählte von dem Anschlag der letzten Nacht. Doktor Windig schien ehrlich betroffen und erwiderte, dass Thaddäus Tillmann Trutz sich schon länger mit dem Gedanken trage, sein Geschäft an einen jungen Nachfolger zu übergeben. In letzter Zeit habe er zudem häufiger im Notariat angerufen, ständig seine hier hinterlegten Instruktionen geändert oder neue diktiert und dabei immer wieder eine eventuell längere Reise erwähnt, die er so bald wie möglich anzutreten gedenke. Offenbar sei er nun überstürzt aufgebrochen, fügte Doktor Windig hinzu und ließ sich von Karl die Dokumentenmappe reichen. Nach einem mehrminütigen Studium der darin befindlichen Papiere stieß er einen tiefen Seufzer aus.

»Unter der Generalvollmacht fehlt die Unterschrift«, sagte Karl, um seine Kompetenz in Sachen Vertragsgestaltung unter Beweis zu stellen.

Doktor Windig nickte bedeutungsschwer. »Und die Ortsangabe. Formaljuristisch ist die Vollmacht nur ein wertloser Fetzen Papier.«

»Das Schiff ist also ohne Kapitän.«

»Was sagten Sie?«

»Nur so eine Redensart, die ich neulich in einem Roman gelesen habe.«

Doktor Windig lächelte verbindlich. »Offensichtlich will der alte Büchernarr Sie nicht ohne Grund mit seiner Nachfolge betrauen. Ohne die Unterschrift jedoch …«

»… darf ich mich wieder auf Arbeitssuche begeben.«

»Das würde ich so nicht stehen lassen. Ihr Anstellungsvertrag ist rechtswirksam. Sie sind zwar ohne eine gültige Vollmacht im Außenverhältnis nicht handlungsbefugt, aber was Sie im Laden von Herrn Trutz anstellen, obliegt Ihrer Sorgfaltspflicht als dessen Mitarbeiter.«

Karl verstand nur die Hälfte von dem, was der Notar ihm da in der Juristensprache klarzumachen versuchte, aber immerhin schöpfte er neue Hoffnung. »Was ist, wenn Herr Trutz nicht von seiner Reise zurückkehrt? Er selbst schien diese Möglichkeit nicht auszuschließen.«

»Für diesen Fall hat er das Testament aufgesetzt. Leider ist es ebenfalls ungültig, weil Sie die darin erwähnte Legitimation nicht vorlegen können. Oder?«

Karl verstand die Frage nicht. Er deutete auf den Aktendeckel. »Ich fürchte, mehr als das da habe ich nicht.«

»Sind Sie sicher? Denken Sie gut nach, Herr Koreander. Hat Ihnen Trutz sonst nichts gegeben?«

»Nein, alles ging so schnell. Er sprang auf, rannte in sein Kabinett, als müsse er mal dringend – Sie wissen schon. Aber er kehrte nicht mehr zurück.«

»Das sieht ihm ähnlich. Nun, vielleicht muss ja, um Ihre Metapher aufzugreifen, das Schiff nicht gleich untergehen, wenn der Kapitän mal für einige Zeit nicht auf der Brücke steht. Vorausgesetzt, der Steuermann trifft die richtigen Entscheidungen.«

Karl konnte dem prüfenden Blick des Notars nur mit Mühe standhalten. Da hat er sich den denkbar Schlechtesten ausgesucht, hätte er am liebsten erwidert, beließ es aber bei dem Gedanken.

»Ich hätte einen Vorschlag zu machen«, sagte Doktor Windig, weil sein Gegenüber wie ein Häuflein Elend vor sich hin brütete und zu keiner sinnvollen Äußerung mehr fähig schien.

»Und der wäre?«, fragte Karl.

»Ich kenne meinen Klienten, Herrn Trutz, ein halbes Leben lang, das schließt auch seine krakelige Schrift ein, von der er uns hier eine Kostprobe zurückgelassen hat. Ihr Name auf dieser Generalvollmacht ist authentisch, Herr Koreander, von der Hand meines Klienten geschrieben, dafür verbürge ich mich. Unser vergesslicher Freund hat mich schon vor einigen Jahren als Sachwalter eingesetzt, um während seiner häufigen Reisen seine geschäftlichen Interessen zu wahren. Kraft dieser Verantwortung bin ich befugt, Sie vorübergehend mit der Geschäftsführung des Antiquariats zu betrauen.«

»Vorübergehend?«, wiederholte Karl wie im Traum. Er ahnte, dass es da noch einen Haken gab.

»Nun ja, bis Sie die Unterschrift beigeholt haben.«

»Ach so. Und wie viel Zeit geben Sie mir dafür?«

»Nicht ich, Herr Koreander. Auch diesen Fall hat Herr Trutz in seine äußerst ausführlichen Anweisungen aufgenommen. So verschroben er manchmal auch erscheinen mag, so detailversessen kann er sein.«

»Wem sagen Sie das!« Zedernholzmöbel in der Veranda der Wohnung einmal jährlich einölen …

»Um auf Ihre Frage zu antworten: Die kommissarische Führung des Antiquariats ist Ihnen von dieser Minute an für sieben Tage übertragen. So viel Zeit räumt Ihnen Herr Trutz ein, um ›die Legitimation‹, wie er es nennt, beizubringen.«

»Die unterschriebene Vollmacht. Und was ist, wenn er eine Weltreise auf einem Dampfer angetreten hat?«

Doktor Windig griff nach einem dicken schwarzen Füllfederhalter, der vor ihm auf der grünen Schreibunterlage lag, und während er langsam den Deckel abschraubte, antwortete er: »Vielleicht können Sie ihn noch einholen. Aber das ist, so leid es mir tut, nicht mein Problem, Herr Koreander. Ich befolge nur die Anweisungen meiner Klienten.« Und er notierte auf einem Zettel:

Dienstag, 8. November 1938, 11.58 Uhr plus 7 Tage

Der Notar ließ die Notiz in seiner eigenen Trutz-Akte verschwinden und reichte Karl die Dokumentenmappe über den Schreibtisch zurück. »Viel Glück, Herr Koreander.«

Der frisch gebackene kommissarische Geschäftsführer nahm sie eher lustlos entgegen. »Danke.«

»Ich meine es ernst«, bekräftigte Doktor Windig.

Karl nickte. »Ja, das fürchte ich auch.«

3. Kapitel: Alphabetagamma

Den Traum vom eigenen Antiquariat konnte er wohl begraben. Karl gab sich da keinen Illusionen hin. Er hatte noch nie etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt, warum also gerade jetzt? Nachdem er mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zum Buchladen zurückgekehrt war, hatte er als Erstes die Unordnung beseitigt. Während er noch die Glasscherben zusammenkehrte, kam der Schreinermeister mit seinem Gesellen und reparierte die Tür; innerhalb einer Stunde war der Schaden wenigstens provisorisch behoben. Karl bezahlte die Handwerker aus der nicht gerade üppig gefüllten Registrierkasse.

Danach zog er sich ins Kabinett zurück, setzte sich in den Ohrenbackensessel und nahm sich noch einmal die Dokumentenmappe vor. Grimmig starrte er auf die »formaljuristisch wertlose« Generalvollmacht und versank in tiefes Nachdenken. Dabei übermannte ihn der Schlaf.

Plötzlich fuhr Karl in die Höhe wie eine Marionette, an deren Fäden ein unsichtbarer Puppenspieler zog. In seinem Kopf strahlte eine Idee, die ihn unwillkürlich schmunzeln ließ. Sie war etwas sonderbar, aber nicht ganz abwegig, wenn man die Kauzigkeit des Ladenbesitzers zugrunde legte. Vielleicht hatte sich Herr Trutz das ganze Versteckspiel als eine Art Probe ausgedacht? Sie sind phantasievoll … haben Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen. Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht. Der Wortlaut der Stellenanzeige verriet ja, woran dem Alten gelegen war.

Karls Blick wanderte über die bunt illuminierte Bücherparade. Ruhig atmete er die von unterschiedlichsten Düften geschwängerte Luft ein. Womöglich hatte Herr Trutz tatsächlich irgendwo eine Nachricht versteckt. Einen Hinweis, den es mit Phantasie, Mut und Entscheidungskraft zu deuten galt. Karl verdrängte den Gedanken an seine Unzulänglichkeit und begann zu suchen.

Abermals drang er tief in die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz ein. Dabei folgte er buchstäblich seiner Nase. Unangenehme Gerüche ließ er links liegen, wohlriechende unterzog er einer genaueren Beurteilung. Er las die bisweilen reichlich bizarren Buchtitel und fragte sich, ob in ihnen geheime Botschaften versteckt sein mochten. Nach einer Weile – er musste schon seit Stunden auf der Suche sein – hörte er ein fernes Wimmern.

»Herr Trutz?«

Keine Antwort. Das Weinen hielt an.

»Herr Tru-uuutz!«

Wer immer da klagte, er hatte keine Ohren für sein Rufen. Karl folgte dem Geräusch. Je näher er ihm kam, desto abgrundtiefer schien die Seelennot des Weinenden. Die Stimme klang auffallend piepsig. Wenn sie Herrn Trutz gehörte, dann musste er Helium eingeatmet haben. Karl durcheilte ein Zimmer nach dem anderen, ohne noch länger auf die wechselnden Gerüche oder auf die leuchtenden Bücher zu achten. Beim Betreten eines weiteren Raumes stieg der Geräuschpegel deutlich an. Karl war sich ganz sicher, dass von hier das Klagen kam. Aber er konnte niemanden sehen.

Der Gedanke, dass er eine Stimme verfolgt hatte, die keinen Körper zu besitzen schien, war einigermaßen beunruhigend. Am liebsten wäre er umgedreht und geflohen, aber bedrohlich klang die Stimme eigentlich nicht. Also suchte er weiter nach der Quelle des Zeterns und Schreiens, grenzte das Gebiet auf ein Regal ein, und dann sah er ihn.

Auf einem rot leuchtenden Buch saß ein Wicht und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Das winzige Männchen trug eine spitze gelbe Mütze und sah ein bisschen wie ein Bleistift mit Armen und Beinen aus. Kaum größer als ein solcher, war es in einen grünen, wie Lack glänzenden Anzug gehüllt.

Allerdings konnte es so etwas nun wirklich nicht geben. Daran zweifelte Karl keine Sekunde lang. Jammernde Bleistifte! Absolut unmöglich. Er musste träumen. Vorhin war er eingenickt und dachte nur, dass er sich auf Herrn Trutzens Schnitzeljagd eingelassen hätte. In Wirklichkeit hing er immer noch im Ohrenbackensessel und würde beim Aufwachen über einen steifen Hals klagen. Andererseits – die Idee, nach Hinweisen des Buchhändlers zu suchen, war, selbst wenn nur im Schlaf ersonnen, gar nicht so übel. Manchmal führen auch Träume zum Ziel. Irgendwo hatte Karl das erst kürzlich gelesen. Er beschloss, sich auf das verrückte Spiel einzulassen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte er zu dem Wicht.

Der reagierte nicht, sondern plärrte weiter.

»He, du da!«, rief Karl energisch – in wachem Zustand hätte er sich das nie getraut, nicht mal bei einem sprechenden Bleistift.

Der Wicht verstummte. Er zuckte zusammen, hielt sich zwei winzige Händchen wie zur Abwehr eines bösen Zaubers vor das Gesicht und starrte zwischen den noch winzigeren Fingerchen aus stecknadelkopfgroßen schwarzen Augen auf den Riesen vor seiner spitzen Nase. Dann wurde das Gesichtchen streng. »Was hast du denn hier zu suchen?«

»Das könnte ich dich ebenso gut fragen.«

»Ich war aber zuerst dran.«

Träume können manchmal ziemlich albern sein! Karl holte tief Luft. »Na schön, du komischer Wicht. Mein Name ist Koreander. Ich bin der kommissarische Geschäftsführer von Thaddäus Tillmann Trutz.«

»Dem Meisterbibliothekar?«

»Diesen Titel hat er in meiner Gegenwart noch nie benutzt.« Hat ja auch wenig Gelegenheit dazu gehabt. »Dürfte ich jetzt endlich erfahren, mit wem ich die Ehre habe zu konversieren?«

»Du redest ganz schön geschwollen. ›Kommissarischer Geschäftsführer!‹, ›Konversieren!‹ Was hat der ehrenwerte Thaddäus sich nur dabei gedacht, so einen wie dich auszusuchen?«

Das frage ich mich allerdings auch. »Und du? Hat er dich auch eingestellt?«