Die Geister der Vergangenheit  Band 2 - Charlotte Camp - E-Book

Die Geister der Vergangenheit Band 2 E-Book

Charlotte Camp

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Beschreibung

Prolog: Geister der Vergangenheit (Fantasy.Roman) Neuauflage (STERNENSTAUB) Sie hatten sich daran gewöhnt, durch die Jahrhunderte pendeln zu können. Doch durch einen fatalen Fehler waren sie in eine falsche, feindselige Zeit geraten, aus der es kein Entrinnen zugeben schien. Fassungslos, den Tod vor Augen, erlebten und sahen sie, was nie zuvor ein anderes Wesen je schauen durfte... Fortsetzung von: Tor zur Ewigkeit Buch1 mit der Bestellnummer: ISBN 9783945769133 oder unter: http://www.meine-buch-ideen/

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Inhalt

Sternenstaub

Kapitel 1: Geister der Vergangenheit

Kapitel 2: Der Hausfreund

Kapitel 3: Ein Hauch von einem Traum

Kapitel 4: Der falsche Freund

Kapitel 5: Neubeginn

Kapitel 6: Haus ohne Fenster

Kapitel 7: Die November Sonne

Kapitel 8: Die junge Großmutter

Kapitel 9: Der tiefe Schlaf

Kapitel10: Am Anfang der Zeit

Kapitel 11: Das Ende ist der Beginn

Impressum

Sternenstaub

Kapitel 1: Geister der Vergangenheit

Ich sah zu den Sternen empor, welcher von der großen Zahl in der unendlichen Weite des Universums, war mein Verbündeter, der uns auf so wundersame Weise die unglaublichsten Wunder erleben ließ. Wem dort droben verdanke ich, dass er uns den Zeitenlenker gesendet, mein zweites Leben und somit die Unsterblichkeit auf dieser vergänglichen Erde ermöglicht hat. Doch welcher der Gestirne in der ewigen Galaxie mag es sein, würde er uns aufnehmen und uns willkommen heißen nach den Irrwegen am Ende der Zeit. Oder war er längst schon erloschen und nur noch ein schwarzes Loch das uns verschlingen würde? Erstrahlt unser Licht dann als neuer Stern im Universum als neuer Planet über dem Orbit? Doch unsere Sternenreise zu zweit, sollte unerfüllt bleiben. Nur sein Stern war aufgegangen einsam, unerreichbar, irgendwo dort oben. Denn nun war ich allein.

Mein Liebster lebt nicht mehr, undenkbar, was soll ich ohne ihn, nach den vielen Jahren die uns verbinden. Er war ein Teil von mir. Eine unsägliche Traurigkeit, Verzweiflung und Einsamkeit wollte mich erdrücken.

Ich dachte an unsere schöne Zeit zurück, an den Anfang, als wir uns in der Höhle, dem Zeitkanal zum ersten Mal sahen und uns auf der Stelle unsterblich in einander verliebten. Seitdem gingen wir unseren Weg gemeinsam, teilten Glück und Sorgen, leider wurden wir durch Intrigen und Schikanen des gräflichen Onkels, immer wieder auseinandergerissen und getrennt.

Doch auch, dass meisterten wir, und fanden immer wieder gestärkt zueinander.

Wie glücklich waren wir in dem Haus am Berge, dem Berge mit der mystischen Höhle.

Nur wir und Justin besaßen das Wissen, die unheimliche Kraft des Berginneren für uns zu nutzen, um in andere Zeiten, ja gar in andere Jahrhunderte zu gelangen.

Längst hatten wir uns daran gewöhnt, die einzigen Zeitreisenden zu sein.

Doch wir flippten nicht aus, blieben meist bodenständig, nutzten allerdings alle Annehmlichkeiten

welche das 21. Jahrhundert bot.

Wir bereisten häufig die Zukunft, selten aber die Vergangenheit. Bald erkannten wir eine andere Fähigkeit, die uns durch die unerklärliche Macht gegeben war. So konnten wir in vergangene Zeiten zurückgehen und uns somit beliebig verjüngen, was wir nur selten wahrnahmen, denn mit jedem Trip in die Zeit zurück, löschten wir alles gemeinsam Erlebte, denn es hatte ja noch nicht stattgefunden in der alten Zeit.

So lebten wir ein etwas abenteuerliches Leben, in dem Bewusstsein, beinahe unsterblich zu sein.

Aber wir sind nicht unsterblich. Ich sitze hier allein im Berge, allein in einer kalten Dezembernacht, als wollte ich die Geister beschwören und beklage den Tod meines Liebsten. Diese Gedanken hatten sich in meinem Kopf festgesetzt.

Der Mond war aufgegangen und beleuchtete die gespenstische Szenerie. Ich war jetzt verwirrter als vorher. Günter ist tot, mein Liebster war ohne mich den Weg gegangen und hat mich allein zurück gelassen auf dieser Erde die ja auch nur ein Stern ist. Die Zeit wird vergehen und er wird zu Staub zerfallen, bleibt mir nur, ihn in alle Winde zu zerstreuen. – Nein schreie ich in die Einsamkeit – Nein, nein, nein! Schallt mein verzweifelter Ruf von den Bergen zurück. Keiner hat die Macht uns zu trennen. Ich werde ihn aus dem Reich der Toten befreien, werde in suchen, in der Vergangenheit, bis ich ihn finde.

Die Kirchenglocke schlug elf Mal. Ich habe einen Zeitsprung über 10 Jahre zurück gemacht. 10 Jahre aus meinem Leben gelöscht, also die Zeit ungeschehen gemacht und mich somit gleichsam um 10 Jahre verjüngt. Später werde ich die Zeit wieder vorspulen und diese Jahre einholen. So das wir uns in der gleichen Zeit wie vorher befinden, nur das uns diese Jahre fehlen, denn sie sind ja gelöscht, haben also in der Erinnerung nicht stattgefunden obgleich wir sie gelebt haben. Gott steh mir bei, das es mir gelinge. Wenn meine Berechnung stimmte, war heute ein Tag vor Heiligabend 1879 unser erstes Weihnachten zusammen, die Zeit in der zu leben, wir uns entschieden hatten. Anschließend wollte ich wieder in das Jahr 1889 zurück, aus dem ich soeben gekommen war.

Benommen kauerte ich im Schnee und fühlte, die Kälte meine Glieder lähmen, ich fror erbärmlich.

Der Mond war schon ein gutes Stück gewandert, als ich ein Geräusch vernahm. Es klang wie ein Sprung. Gibt es Tiere in dieser kahlen Höhe? Dann schwebte ein Schatten aus Richtung der Höhle, ich rührte mich nicht. Der unförmige Schatten näherte sich. Jetzt sah ich, dass er mit vielen Paketen beladen war, ich sprang auf und lief ihm entgegen. Günter, es war Günter, mein Liebster lebte.

„Oh, Liebster, du lebst!“, schluchzte ich vor Freude.

Er ließ alles fallen und breitete die Arme aus, ich fiel in seine starken Arme, wir hielten uns minutenlang fest umschlungen.

„Oh, du lebst“, sagte ich immer wieder und streichelte sein Gesicht. Es war glatt und fest, er war, wir waren 10 Jahre jünger. „Ich hatte so einen bösen Traum“ sagte ich, „du wurdest getötet, erschossen. Komm, lass uns schnell in unsere Zeit zurückgehen!“

„Aber wir sind doch in unserer Zeit“, sagte er verwundert.

„Frag jetzt nicht!“ Wir griffen gemeinsam nach den Paketen. „In das Jahr 1889“ bestimmte ich, als wir den Zeitkanal betraten.

Wir stiegen aus der Höhle am 23. Dezember 1889 um 23 Uhr.

„Warum 89“, fragte Günter, „wir haben zehn Jahre übersprungen, warum?“

„Wir haben die zehn Jahre erlebt, wir lebten im Jahr 89, du wolltest nicht deinen 70. Geburtstag erleben, du hast dich dagegen gesträubt und hattest einen Herzanfall. Du warst tot, mein Liebster! Jetzt bist du wieder zehn Jahre jünger, aber unser Haus wird verwüstet sein, zehn Jahre unbewohnt. Alles was wir in dieser Zeit geschaffen haben gibt es nicht.“ Günter sagte nichts, er war vollkommen verwirrt und verstand das Meiste gar nicht, was ich sagte.

„Vielleicht gibt es unser Haus gar nicht mehr, zehn Jahre sind ausgelöscht.“

„Zehn lange Jahre? Wieso weiß ich nichts davon und du weiß mal wieder alles!“

„Gehirntraining“, sagte ich, „wenn man es immer wieder denkt, bleibt es im Kopf, nicht als wirkliche Erinnerung, sondern als Gedanke, wie etwas das man gelernt, eingetrichtert bekommen hat. Mach dich also auf alles gefasst, das Haus kann ausgeraubt oder zerstört worden sein. Dafür hast du zehn Jahre deines Lebens zurück. Du hattest solch ein Grauen vor dem Altwerden, besonders vor dem 70. Geburtstag.

Du hattest immer wieder davon gesprochen, wie schön es wäre, jünger zu sein, nun bist du 59 Jahre und niemals 70 geworden, kurz vorher hat Hermann auf dich geschossen. Er wollte dich töten, aber du warst schon tot, du bist einem Herzinfarkt erlegen.“

„Warum wollte er mich töten?“

„Du hast dem Jungen deine Vaterschaft gebeichtet. Hermann weiß auch, dass du mich einst entführt hast, in einem anderen Leben, als ich bei ihnen im Haus gelebt habe, mit seiner Mutter, der Schwester und dem Sohn. Er hatte mich damals aufgegriffen, als ich das erste Mal völlig verwirrt in diese Zeit gestolpert bin. Er hat dann gehofft, ich würde bei ihm bleiben, dann war ich plötzlich verschwunden, du hattest mich entführt! Er sagt, du hättest mich ihm fortgenommen! Der Junge, den er liebt, ist plötzlich nicht mehr sein Sohn, sondern deiner. Du hast ihm alles genommen, meinte er!“

„Du hast also mit ihm zusammengelebt?“

„Wir haben alle unter einem Dach gelebt, vielleicht wäre bald mehr daraus geworden. Dich kannte ich doch noch nicht, du warst mein Bergführer. Danach habe ich dich erst wiedergesehen, als du zu einem Krankenbesuch gekommen bist als Doktor. Ich war sehr erstaunt damals, in dir den Bergführer zu erkennen, erinnerst du dich denn nicht daran?“ „Nein“, sagte er, „aber du weißt offensichtlich alles und Hermann auch, kannst du mir das erklären?“

„Ich weiß es, weil ich alles oder Vieles aufgeschrieben habe und Hermann offenbar auch, er ist ja ein Schriftsteller!“

„Wann hast du dich denn so ausführlich mit deinem Hermann unterhalten, du bist ja so gut informiert, was Hermann sagt und denkt.“

„Als ich die Nachricht von deinem Tot erhalten habe, bin ich in sein Haus gestürmt. Ich hatte sofort einen gewissen Verdacht, denn du hattest mir erzählt, du wüsstest jetzt genau, dass der Junge dein Sohn ist und dass du es ihm sagen würdest. Der hat es natürlich seinem Ziehvater gesagt, und das hat zu diesem Hassausbruch geführt.

Ich stürmte also in dieses Haus und bedrohte ihn mit dem Revolver. Er sagte, ich könne ihn erschießen, aber er würde seine Tat nicht bereuen, er war zerfressen von Hass. Der junge Wolfgang erzählte, du hättest ihm alles gesagt. Weiter sagte er, dass sein Vater, also Hermann, dich nicht getötet hat, denn du warst zu diesem Zeitpunkt schon Stunden tot! Er hat also auf einen Toten geschossen.“

„Ich habe erst jetzt von dir gehört, dass der Wolfgang mein Sohn ist“, sagte Günter. „Ich hätte dich gern gesehen, wie du diesen Kerl mit dem Revolver in Schach gehalten hast“, sagte er grinsend.

„Wie kannst du darüber lachen Günter, kannst du dir nicht vorstellen, wie sehr ich gelitten habe?“

„Oh ja, denn ich hätte genauso gehandelt. Jetzt allerdings habe ich Sorge, dass unser Haus möglicherweise eine Ruine ist.“

Ich drückte seine Hand. „Alles, was du mühsam aufgebaut und erschaffen hast“, flüsterte ich kaum hörbar. Wir hatten bereits den geheimen Weg erreicht.

Oh mein Gott, dachte ich, lass uns nicht eine Ruine vorfinden.

Das Haus stand noch unversehrt. Das Tor war nicht verschlossen, wir gingen über den vom Mond beleuchteten Hof zur Haustür. „Was ist das dort für ein Anbau?“, fragte er verwundert.

Ich staunte selbst, denn ich hatte den Anbau der Praxis noch nicht gesehen, nur darüber gelesen. „Lass uns erst mal ins Haus gehen, den Anbau können wir morgen bei Tageslicht bewundern.“

In der Diele brannte Licht, wir öffneten die Küchentür und knipsten das Licht an, der Tisch war gedeckt für zwei, in der Mitte des Tisches stand eine Christrose, an die ein Foto gelehnt war. Ein Bild des lachenden Justin, vor dem ein Zettel lag. „Herzlich Willkommen zu Hause! Ich habe dafür gesorgt, dass alles so geblieben ist wie es war. Liebe Grüße, euer treuer Freund Justin.“

Günter betrachtete das Foto sinnend. „Ich glaube, ich kann mich an ihn erinnern.“

Wir gingen durch das Haus, betraten jeden Raum, wir gingen auch auf den Hof, um den Anbau zu bestaunen. Das Wartezimmer, Günters Behandlungsraum, die aufwendige Ausstattung, die kostspieligen Geräte, all das erschien uns wie ein Wunder.

„Ich fasse es nicht, wie ist das möglich?“, sagte Günter ungläubig.

„Das frag ich mich auch“, sagte ich staunend, „wann ist das alles gebaut worden?“ Wir gingen wieder in das Haus, alles war wie ich es in Erinnerung hatte, im Haus hatte sich nicht viel verändert. Die Küche war etwas moderner ausgestattet, wir gingen ins Bad und starrten in den Spiegel.

„Sind wir das“, fragte ich „der gutaussehende Mann neben mir ...“

„... und die tolle, aufregende Frau neben mir?“, ergänzte Günter.

„Juhu“, riefen wir wie aus einem Munde. „Wir sind wieder jung und verliebt wie am ersten Tag, obwohl ich mich kaum erinnere, schon fast 70 gewesen zu sein“, sagte Günter.

Ich kramte nach einem Foto vom letzten Sommer im Garten, ein Schnappschuss, von Justin fotografiert. Wir schauten verwundert in die Kamera. „Das sind wir, zehn Jahre älter, wow“, sagte Günter, „ich bin, ich war ein alter Mann, und du hast es mit so einem alten Mann ausgehalten?“

„Warum nicht“, sagte ich, „die ältere Dame neben dir war immerhin auch schon 62 Jahre alt, wir wollten zusammenbleiben, bis der Tod uns scheidet.“

„Soll das heißen, wir sind verheiratet?“

„Ja freilich, schon 9 Jahre!“, sagte ich.

Wir gingen eng umschlungen in die Stube, Günter öffnete eine Champagnerflasche und füllte die Gläser, wir tranken und küssten uns immer wieder, berauscht vom Champagner und von unserer jungen alten Liebe.

Günter betrachtete das Bild von Justin. „Ein toller Kerl, dieser Freund“, sagte er, „wo ist er und wo wohnt er?“

„Er hat hier gewohnt, die meiste Zeit jedenfalls, er bewohnte die Gästezimmer oben unter dem Dach. Ich habe ihn fortgeschickt, als du, als das mit dir passierte.“

„Wir führten also eine Ehe zu dritt?“, fragte er misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht, wie kannst du nur so etwas denken. Du bist mein Mann und Justin ist unser beider Freund, ihr habt zusammen ein Auto gebaut, ihr wart dicke Freunde“, log ich.

„Denk nicht, dass ich mich an gar nichts erinnere“, sagte Günter, „er ist dir doch nachgelaufen wie ein Hündchen. Habe ich ihn nicht schlagen müssen, dass er die Finger von dir lässt?“

„Du erstaunst mich, dann erinnerst du dich also doch!“

„Nicht direkt, nur an den Groll gegen ihn, die bohrende Eifersucht, und dass ich ihn am liebsten umgebracht hätte. An die Gedanken, die mich gequält haben eben!“

„Das war alles ganz am Anfang, danach waren wir wie Bruder und Schwester“, sagte ich. „Wenn er hier gewohnt hat, unter unserem Dach, dann wart ihr doch viel allein im Haus, wenn ich zu tun hatte!“

„Selten“, sagte ich, „er hat doch ständig am Auto gebastelt, das war seine Geliebte. Im Hause hat er mir gelegentlich bei der Hausarbeit geholfen, wir haben viel geredet. Ich war seine Vertraute, er hat mir von seinen Liebschaften erzählt.“

„Ihr wart also sehr vertraut miteinander!“

„Nun ja, wir haben uns recht gut verstanden“, sagte ich, „bist du schon wieder eifersüchtig, obwohl du ihn noch gar nicht kennst?“ Sein Gesicht hatte sich verändert, er hatte wieder diesen gewissen Zug um den Mund, plötzlich packte er mich und schüttelte mich. Es dauerte nur einen Moment, sofort ließ er die Hände wieder sinken und sagte: „Du weißt, dass wir zusammengehören, du bist mein Leben. Wenn du mich betrügst oder einen anderen mehr liebst, werde ich uns umbringen, nein, nur mich!“ Er fixierte mich und versuchte in meinen Augen zu lesen.

„Soll ich jetzt aus Angst vor dir bei dir bleiben oder weil ich es selber will, weil ich dich genauso liebe wie du mich?“, sagte ich ärgerlich.

„Oh, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Ich habe die Hoffnung, dass du die gleichen starken Gefühle für mich hast wie ich für dich!“

„Hätte ich dich sonst aus dem Totenreich geholt? Ich hätte ebenso gut mit Justin weiter hier leben können, nachdem ich dich begraben hätte. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich gelitten habe, als ich die Nachricht von deinem Tode erhalten habe? Es war, als hätte man mir das Herz herausgerissen, ich war selber gestorben. „Es ist traurig, dass du mir nicht traust. Wenn du mir nicht vertraust, hat doch alles mit uns keinen Sinn!“

„Oh meine Liebste verzeih mir, verzeih mir bitte, ich bin verrückt, verrückt nach dir.“ Er bedeckte mich mit hundert Küssen, hielt mich fest im Arm und streichelte mich. Abends öffnete er wieder eine Flasche unseres besten Weines, füllte die Gläser und reichte mir eines. „Lass uns auf unseren Neuanfang anstoßen, ich verspreche dir, ich werde mich bessern.“

Es war Heiligabend, Günter holte die Pakete aus seinen Taschen, die er am Abend zuvor den Berg hinab geschleppt hatte.

Am nächsten Tag nahmen wir erneut das Haus in Augenschein. Wir öffneten die Gästezimmer, sie waren nicht leergeräumt. Im Schrank hing noch Kleidung, auch die Schubladen enthielten noch Wäsche und persönliche Dinge, das Gäste Bad war verschlossen, der Schlüssel steckte nicht. Da ich weiterhin alle Geschehnisse auf geduldigem Papier festgehalten hatte, brauchte ich nur den dritten und dicksten Teil zu lesen, er berichtete über zehn Jahre pralles Leben.

Alle Freuden, Höhen und Tiefen waren niedergeschrieben, allerdings auch manche Belanglosigkeit, die sich später als wichtig erweisen sollten!

Es war Weihnachten, Günters 60. Geburtstag, wir feierten zu zweit allein, von Justin gab es weiterhin keine Spur. Im neuen Jahr wollte Günter seine Praxis wiedereröffnen. Wir beschrifteten ein Holzplakat mit den Öffnungszeiten, welche sich bewährt hatten, die Praxiseröffnung wäre in einem Monat. Günter war auf dem Weg zum Schlösschen. Ur-Ur war vor drei Jahren verstorben, er hatte Günter alle seine öffentlichen Ämter überschrieben mit einer Frist bis 1890. Zu Zeit wurden sie von anderen Personen wahrgenommen. Würde Günter nicht bis 1890 erscheinen, würden sie endgültig an den Grafen, seinen zweiten Sohn übergehen.

Günter musste sich also umgehend in dem Schlösschen zeigen, die Familie besuchen und besonders mit dem neuen Grafen, seinem Urgroßvater reden, um seine Zukunft und die der Untertanen zu sichern! Auch wenn ihm nichts an dem Erbe gelegen war, so sah er doch die Zeit für eine Veränderung gekommen, die alleinigen Machtverhältnisse der Gräflichen Sippe endlich gerecht verteilt zu wissen. Ich saß indes in der Küche in mein eigenes Büchlein vertieft. Unglaublich, was alles geschehen war! Bis auf den endlos langen Abend im Berg vor der Höhle war alles aufgeschrieben, den Rest werde ich jetzt ergänzen.

Gleichwohl müssten einige Kürzungen vorgenommen werden. Es waren dies die schlüpfrigen Sprüche und die Anmache, mit denen Justin mich des Öfteren bedrängt hatte. Das durfte Günter auf keinen Fall lesen, es würde unnötigen Ärger geben und eine Freundschaft der beiden Männer im Voraus zunichtemachen! Also entfernte ich die Seiten und füllte sie mit Belanglosigkeiten. Diese jeweils mit den Geschehnissen des jeweiligen Tages zu verflechten, war gar nicht so einfach. Ich musste einiges neu erfinden, um allem einen Sinn zu geben, mir rauchte der Kopf. Ich atmete erleichtert auf und klappte das Büchlein zu. Heute oder morgen würde ich ein neues Buch beginnen, sorgfältiger als die ersten und mit Fotos an den passenden Stellen, das hatte ich bisher versäumt. Die aussortierten Seiten verbrannte ich unverzüglich im Ofen.

Diesen dritten Teil, den umfangreichsten von allen, wollte ich heute Günter zu lesen geben. Was zählen diese zehn gelebten Jahre schon, wenn nur ich alleine davon wusste. Es war mir auch wichtig, Günter mit seinen unmöglichen, übertriebenen, krankhaften Eifersuchtsausbrüchen zu konfrontieren! Ich hatte die Hoffnung, er würde sich in Zukunft zurückhalten, sich zusammenreißen und seine Wutanfälle zügeln.

Falls Justin eines Tages zurückkommen sollte, würde das ganze Theater von Neuem beginnen, darauf hatte ich nicht die geringste Lust. Ich würde ihn vor Justin bloßstellen müssen, das aber war nicht meine Absicht, denn das wäre Gift für unsere keimende neu erwachte Liebe und unser friedliches Zusammenleben.

Ich hörte die Haustür und Schritte im Flur.

Ich nahm das Büchlein und platzierte es auf Günters Tischseite. Nach dem Essen begann er zu lesen, ich räumte so leise es ging die Küche auf und ließ ihn mit seiner Lektüre allein. „Wow“, sagte er sichtlich erschüttert, „zehn gelebte Jahre mit dir, von denen ich so gut wie gar nichts mehr wusste. Du hast sie wieder zum Leben erweckt! Ich werde alles noch einmal lesen, damit es fest in meinem Kopf sitzt. Du hast so lebendig geschrieben, dass ich glaube, alles selbst erlebt zu haben.“

„Du hast alles selbst erlebt!“, sagte ich.

„Bin ich wirklich so ein Scheusal?“, fragte er betreten.

„Noch schlimmer“, antwortete ich.

„Ich gelobe Besserung, wie kannst du es nur mit mir aushalten?“

„Nun ja, du hast auch deine guten Seiten, sehr gute Seiten, mein Liebster. Du hast mich verhext, hätte ich dich sonst von den Toten wiederauferstehen lassen?“ Ich breitete meine Arme aus. „Komm, lass uns unser drittes Leben genießen.“

Er las das Büchlein einige Tage später noch einmal und wusste nun, was gut und was schlecht gelaufen war, man musste ja nicht die gleichen Fehler wiederholen. Ein jedes neue Leben sollte besser sein, bis hin zu Perfektion, hatte ich einmal gelesen.

Das Wartezimmer füllte sich nur langsam nach Günters langer Abwesenheit. Doch seine Heilerfolge sprachen sich schnell herum. Nach zwei Monaten schon raufte sich Günter die Haare, der Zustrom nahm kein Ende. Wir kürzten die Sprechzeiten auf drei Stunden täglich, obwohl die Patientenzahl die gleiche blieb.

„Was können wir dagegen tun?“, fragte ich ratlos.

„Ach“, sagte Günter, „ich bin jung, ich kann das bewältigen, ein paar Jahre halte ich das durch, dann werden wir weitersehen.“

Ich assistierte ihm, so gut ich konnte. In der Freizeit gehörte der Doktor mir. Wir waren sehr verliebt, seine Augen sprühten wieder Blitze, seine Blicke trafen mich ins Herz. Umgekehrt war es offensichtlich ebenso, wir turtelten wie in den Flitterwochen. „Wir sollten gleich heiraten“, sagte Günter, „denn sonst bist du nur meine Haushälterin, nicht meine Frau.“

„Wir sind verheiratet“, sagte ich.

„Ja, in der anderen Zeit“, erwiderte er.

Ich öffnete eine Schublade und zeigte ihm unsere Heiratsurkunde mit Siegel und Unterschrift des Standesbeamten.

„Wow“, sagte Günter, „vor neun Jahren haben wir geheiratet, leider entsinne ich mich nicht!“

„Wir waren nur auf dem Standesamt, es gab keine große Feier, die Urkunde ist echt.“

„Justin hat dafür gesorgt, dass alles im Haus so blieb, ich weiß immer noch nicht, wie ihm das gelungen ist!“

„Ich habe eine Ahnung“, sagte Günter. „Du erinnerst dich, als wir im Dezember durch das Haus gingen, durch alle Räume, das Gäste Bad war verschlossen. Ich habe es im Januar aufgebrochen und mit riesigen Kanistern vollgestopft vorgefunden, und mit einem starken widerlichen Gestank. Ich musste überlegen, es roch nicht nach Klo, sondern wie in der Höhle.“

„Oh mein Gott“, rief ich, „das ist die Lösung!“

„Ich habe alles so belassen“, sagte Günter, „falls der Schönling wiederkommt, soll er alles so vorfinden, wie er es verlassen hat.“

Günter ging mit der Trauungs-Urkunde in das Rathaus und brüskierte die ahnungslosen Beamten mit dem Vorwurf, schlampig gearbeitet zu haben. „Warum wird meine Gattin nicht als meine Gattin geführt?“, polterte er mit der Autorität eines Grafen und des allwissenden Doktors. „Zeigt mir das Heiratsregister.“

Es gab keine Eintragung!

„Das ist ja ein Skandal, wer ist dafür verantwortlich? Sicher der Standesbeamte, der uns getraut und die Urkunde unterzeichnet hat. Wo ist der Faulpelz?“, schimpfte Günter. „Der ist inzwischen verstorben, schon vor drei Jahren“, sagte der Beamte.

„Bringen Sie das schnellstens in Ordnung, Mann!“, fauchte Günter. „Jetzt auf der Stelle!“

„Ich kann doch nicht so einfach … das müsste der Kollege ge...“

„Sie können“, beharrte Günter, „geben Sie sich Mühe, was machen Sie hier eigentlich den ganzen Tag? Hier!“ Er reichte ihm die Urkunde. „Tragen sie alles sorgfältig ein!“

Schon ein paar Tage später wurde ich mit Frau Doktor angesprochen, ich kannte das ja von damals.

Kapitel 2: Der Hausfreund

Anfang April stand Justin mit seiner großen Reisetasche vor der Tür. Er schaute unschuldig wie ein Kind. „Bin ich denn noch erwünscht?“, fragte er.

„Komm in meine Arme und lass dich drücken“, sagte ich lachend und breitete meine Arme aus.

Wir drückten uns, ein wenig zu lange.

„Mein Herzallerliebstes“, murmelte er und ergänzte den Satz mit „Schwesterlein“. „Endlich wieder zu Hause, mein Gott war diese Zeit lang und öde.“ Er ließ sein Gepäck fallen und drehte sich einmal langsam im Kreis, um alles in Augenschein zu nehmen.

„Komm mein Freund, komm in die Küche. Wie schön, dass du wieder hier bist, ich koch uns einen Kaffee.“ Ich hakte mich bei ihm ein und zog ihn in die Küche. Er war älter geworden, ich hatte ihn in Erinnerung, wie er auf dem Foto war. Ich überlegte, jetzt war er nicht mehr 14 Jahre jünger als ich, sondern nur noch vier Jahre.

„Du siehst toll aus, so jung und so hübsch“, sagte er, als er mir am Tisch gegenübersaß. „Du hast ihn also wieder zum Leben erweckt, du siehst so glücklich aus, deine Augen strahlen, warum kannst du mich nicht so lieben wie ich dich?“

„Meine Augen strahlen, weil du wieder da bist“, sagte ich, „ich freue mich wirklich!“

„Du vielleicht, aber Günter bestimmt nicht.“

„Günter wird bald kommen, dann stoßen wir auf deine Heimkehr an.“

„Meine Heimkehr“, sagte er wehmütig, „zu der Frau, die ich liebe, aber sie liebt einen anderen. Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin!“

„Ach Justin“, sagte ich, „du hast gedacht, ich wäre jetzt alleine?“

„Ja, ich hatte es gehofft!“

Günter kam ins Haus. „Ach, unser Hausfreund ist wieder da“, sagte er. Die beiden Männer begrüßten sich ohne Emotionen. Sie sahen sich als Rivalen, und so würde es auch immer bleiben.

„Hallo Alter“, sagte Günter nur.

Justin erhob sich und beide Männer klopften sich linkisch auf die Schultern. „Was hast du so getrieben in der Zeit?“, fragte Günter, um etwas zu sagen.

„Ach, dies und jenes, ich habe alte Scheinwerfer besorgt und diverse Teile für unser Auto.“

„Das Auto ist Vergangenheit, das war einmal“, sagte Günter, „die Zeit hat es mitgenommen. Schön von dir, dass du das Haus vor der Zeit erhalten hast, ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet.“ Er hielt die Unterhaltung absichtlich kühl, ja geradezu feindselig.

„Wenn ich nicht willkommen bin, sag es doch einfach, dann geh ich sofort wieder.“

„Du bist hier willkommen“, sagte ich an Günters Stelle.

„Dieses Gefasel, das eine Unterhaltung sein soll, ist eine Farce. Wenn er ein Auto bauen will, dann soll er es doch tun. Der Schuppen ist kein Schuppen, sondern nur ein Unterstand, so wie er war, als ich 1879 gekommen bin.“

„Alles habe ich leider nicht für euch erhalten können“, sagte Justin bedauernd.

„Du hast uns genug erhalten, du bist ein Zauberer. Hier stand das Auto“, sagte Günter, „ich habe es auf einem Foto gesehen, ein Prachtstück, und das hast du zum Fahren gebracht?“ „Wir haben es gemeinsam zusammengeschweißt, vier Jahre haben wir gebraucht, bis es endlich funktionierte“, sagte Justin.

„Und jetzt willst du ein neues bauen?“, fragte Günter.

„Ich brauch kein neues bauen, denn es ist noch da!“

„Es ist noch da?“, fragten wir erstaunt.

„Es steht am Berge, ich habe es noch vor zwei Stunden gesehen, es ist unversehrt, wir können heute Abend alle hingehen und nachsehen.“

Wir gingen nachsehen.

Justin hatte in den vergangenen Jahren immer wieder den Berg nach weiteren Öffnungen abgesucht. Auch wir hatten oft davon gesprochen, nach einer weiteren Öffnung zu suchen, weil wir vermuteten, dass die Höhle den gesamten Rauminhalt des Berges füllte. Gleichwohl, wir haben es versäumt. Am Fuße des Berges in geringerer Höhe, ca. 100 Meter von unserem Aufstiegsweg entfernt, hinter Tannen verborgen, stand das von allen heißgeliebte Fahrzeug. Mittlerweile mit Grünspan bedeckt und ein wenig rostig. Günter brachte vor lauter Staunen zunächst kein Wort heraus, bis es klick machte im Kopf. „Jetzt verstehe ich, ah ja, jetzt verstehe ich alles, du Teufelskerl. Ich dachte immer, ich bin erfinderisch. Das ist ja genial! Du hast die Höhle direkt angezapft, erst hast du Luft aus der Höhle in die großen Kanister gepumpt und im Haus entweichen lassen. Oben in dem kleinen Bad hast du dich selbst durch die Zeit gebracht, du hast alles luftdicht verschlossen und dich in diesem Luftgemisch aufgehalten, bis die Zeitverschiebung beendet war.“

„Ich wollte auf keinen Fall in die Vergangenheit versetzt werden, ich hätte ja nichts mehr gewusst von diesen schönen Jahren, als wären sie nie gewesen. Obwohl ich es jetzt ein wenig bereue. Wenn ich euch so frisch und verjüngt sehe, jetzt bin ich fast so alt wie du, Günter!“

„Das ist schon gut so“, sagte Günter grinsend.

„Ja, für dich“, antwortete Justin.

„Sag wie es war, hast du etwas gemerkt während der Zeitreise?“, fragte Günter.

„Ja, es war wie in einem Lift, der mit 100 km/h in die Tiefe rast. Ein Druck, der mich lähmte. Dann habe ich warten müssen auf den nächsten Zeitsprung nach oben, das waren die längsten, scheußlichsten Stunden meines Lebens.“

„Woher wusstest du von dem zweiten Zeitsprung, habt ihr euch abgesprochen?“, fragte Günter.

„Ich habe es vermutet, ich war ziemlich sicher, dass ihr nicht in der alten Zeit bleiben wolltet. Ihr hättet ja auch in das Jahr 1900 gehen können. Es war ein großes Risiko für mich. Wäret ihr in dem Jahr 1879 geblieben, hätte es tödlich für mich ausgehen können, denn in dieser Zeit gab es mich hier ja noch gar nicht. Nur gut, dass alles geklappt hat!“

„Wir werden jetzt schauen, ob wir unser Schmuckstück zum Leben erwecken können, dann fahren wir nach Hause.“ Er hatte für alle Fälle seinen Werkzeugkasten mitgenommen.

Während die Männer am Auto probierten, untersuchte ich die Höhlenöffnung. Wie viel einfacher wäre es, gleich hier in den Berg gehen zu können und sich nicht erst mit einer Klettertour zu plagen. Doch leider war die Öffnung zu klein für einen Menschen. Ich stellte mir die Wesen hinter dem Spalt vor. War es für sie wie ein Fenster, können sie mich sehen? Den Wald, die Eichhörnchen, die Vögel - wohl nicht! Es gab ja nicht nur dieses Jahrhundert, sondern alle Zeiten, schwer zu begreifen! Ich hörte den Motor brummen und ging zu den Männern.

Wir fuhren nicht den kurzen Weg nach Hause, dafür hätte es nicht gelohnt, den Motor anzuwerfen. Wir fuhren durch das Dorf, weil es so schön war auch durch die nächsten Dörfer, die Leute liefen auf die Straße, jeder wollte das Automobil sehen. Wir winkten allen fröhlich zu, huldvoll wie Könige, dachte ich belustigt.

Von nun an hockten die Männer wieder viel im Schuppen. Eine Außenwand wurde in aller Eile hochgezogen, denn das geliebte Vehikel musste geschützt und trockenstehen. Sie verbrachten Stunden und steckten die Köpfe zusammen über das Auto gebeugt.

Es wurde Sommer, ich hatte meinen Garten und die Hausarbeit, Günter seine Patienten und seine Geliebte, das Auto. Justin tätigte alle Besorgungen und freute sich wie Günter darauf, das Auto zu perfektionieren.

Im November besuchten wir die alte Gräfin, Günters Mutter, zu ihrem Geburtstag. Sie war sehr beleidigt, denn sie hatte uns lange nicht gesehen. Der Frost im Dezember zwang die Männer zu einer längeren Pause, sie lungerten missmutig im Haus herum und gingen mir auf die Nerven, es gab ja auch eine Zeit vor dem Auto, was haben sie da nur gemacht, überlegte ich. Justin verbrachte vier Wochen im Jahr 2040 und stand Silvester wieder vor der Tür. So hatte sich die Frage geklärt, ob wir zum Ball gehen oder nicht. Wir feierten zu dritt in das Jahr 1892.

Die Sprechstunde war wie immer in den Wintermonaten gut besucht. Justin half mir im Hause, in diesen Monaten war alles wieder wie in der vorigen Zeit, wir redeten über Gott und die Welt. Ich riet ihm wie schon so oft, sich doch endlich eine Frau zu suchen!

„Das ist mir zu anstrengend“, sagte er immer wieder, „langsam werde ich zu alt, um noch auf Brautschau zu gehen, mittlerweile bin ich fast 50 Jahre.“

„Ein Mann ist nie zu alt, um nach Frauen zu sehen, außerdem ist er genetisch dazu geschaffen.“

„Du weißt mal wieder alles besser, Schwesterchen“, sagte er grinsend und gab mir einen brüderlichen Kuss auf die Wange. In Günters Anwesenheit gab er sich mir gegenüber höflich, aber kühl. Das war zwar gut für den Hausfrieden, aber es kränkte mich ein wenig. Im Herbst hatten die Männer längst ein anderes Objekt, an dem sie sich austoben konnten. Auch waren die Pumpe am Bach und der Generator nicht mehr in Ordnung. „Du hast ja gesehen“, sagte Günter eines Tages vor dem Mittagessen zu Justin, „wir kochen wieder auf dem Kohleherd, der Strom reicht nicht mehr für alles, bis zum Winter müssen wir alles erneuert haben!“

„Das packen wir schon“, sagte Justin, „wir werden die Sache gleich in Angriff nehmen, schließlich wollen wir ja nicht leben wie im 18. Jahrhundert!“

Es wurde ein hartes Stück Arbeit, Günter hatte das einst vor vielen Jahren allein bewerkstelligt. Der alte Generator, von Wasserkraft angetrieben, war längst ein uraltes Model für das 20. Jahrhundert, nicht aber für 1890. Günter wollte es auf jeden Fall erhalten, ein Relikt aus unserer Anfangszeit. In Gummistiefeln und derber Kleidung machten sich die Männer an die Arbeit.

Ich sah sie mittags über den Hof kommen, einer hatte den Arm über die Schulter des anderen gelegt, sie lachten und verstanden sich prächtig, ich war ein wenig eifersüchtig. Als sie ins Haus kamen, hörte ich Günter sagen: „Du bist ein echter Freund!“

Na schön, dachte ich, lange genug hat es ja gebraucht!

Sie hockten ständig zusammen, beide waren Bastler und Tüftler, beide hatten eine gewisse Erfindungsgabe. In der Küche saßen sie oft stundenlang über Pläne und Skizzen gebeugt, ich war nicht mehr vorhanden. Als die Anlage am Bach und das gesamte System wieder zusammen harmonierten, hatten sie schon längst das nächste Projekt in Angriff genommen. Nur in den Wintermonaten waren sie zum Nichtstun gezwungen. Günter hatte seine Kranken, Justin war für einige Zeit nach 2050 gereist, um neues Arbeitsmaterial zu besorgen. Im März nahmen sie die Arbeit wieder auf.

Allmählich sehnte ich mich nach der trauten Zeit zu zweit, mittlerweile kam ich mir überflüssig und nutzlos vor. Ich war nur noch für Küche und Schlafzimmer von Interesse! Im Sommer war ich mit Gartenarbeit eingedeckt. Es wurde November. Die beiden diskutierten und führten viele Fachgespräche an den langen Abenden, es wurde Dezember, alles war immer gleich, nichts änderte sich für mich, ich fühlte mich wie das dritte Rad am Wagen. Im März 93 kam mir zum ersten Mal der Gedanke zu gehen. Ich werde einfach gehen, man wird mich kaum vermissen, der Gedanke setzte sich bei mir fest!

Ich wurde schweigsam und schwermütig. Günter bemerkte meine Veränderung und meinte mich mit gelegentlichen Spazierfahrten zu dritt in unserem Schmuckstück in bessere Stimmung zu bringen.

Es tat mir tatsächlich gut, doch der Trübsinn stellte sich bald wieder ein. Das war es nicht, was mich zufrieden machte, hier war kein Platz mehr für mich.

Ich fühlte mich selbst in der Gesellschaft der beiden allein! Allein konnte ich auch im Jahr 2013 sein. Für die Männer war die Welt in Ordnung, wenn ich zu Hause auf sie wartete. Allein die ständige Anwesenheit und der gedeckte Tisch machten sie zufrieden, sie freuten sich mich zusehen, wärmten sich an meiner Anwesenheit und Fürsorge, alles war gut für sie!

Nicht aber für mich, ich wollte kein nützlicher Gegenstand sein, an dem man sich gelegentlich erfreut! Ich würde gehen, mit diesem Gedanken im Hinterkopf sah ich alles mit Geduld. Es war kalt geworden, Justin half mir wieder im Hause.

„Du bist so anders geworden“, sagte er, als er den Kamin säuberte. „Du bist unzufrieden oder gar unglücklich“, er hatte seine Arbeit unterbrochen und stand mir nun dicht gegenüber. „Ich würde dich nicht so vernachlässigen, wenn du 'meine' wärst, kann ich dir irgendwie helfen? Oder soll ich gehen? Für immer meine ich!“

„Dafür ist es zu spät, es würde nichts mehr ändern“, sagte ich seufzend.

„Wie meinst du das?“, fragte er hellhörig geworden. Als ich nicht antwortete, sagte er: „Ist eure große Liebe also schon erloschen nach ein paar Jahren? Meine Liebe ist nicht vorbei! Wenn du mich haben willst ...“, er hob die Arme und senkte sie resigniert wieder. „Du müsstest es nur Günter selber sagen, wenn du lieber bei mir ... also mich …“ Er brach ab, ohne den Satz zu vollenden.

„Feigling“, sagte ich verächtlich, „du möchtest keinen Unfrieden zwischen euch, eure Männerfreundschaft ist dir wichtiger!“ Ich drehte mich um und wollte gehen.

„Carla, warte doch, ich werde es ihm sagen!“

„Was willst du ihm denn sagen? Dass du mich liebst? Ha, niemals wirst du diese Worte in seiner Gegenwart benutzen! Du hast recht, ich selber muss mit ihm sprechen, ich selber muss alles regeln und zu Ende bringen“, sagte ich und lief ins Bad um zu heulen.

Bei der nächsten Mahlzeit sprach keiner ein Wort. Ich zog mich bald in die Kammer zurück, in der ich regelmäßig schrieb. Es war die Kammer, in der ich einst eingesperrt worden war. Ich hatte hier alles was ich brauchte, eine gute Auswahl an Film- und Musikscheiben, ein Abspielgerät, ja selbst ein eigenes WC, hinter einem Vorhang verborgen. Ich überlegte noch bei leiser Musik, ob ich alles Wichtige niedergeschrieben hatte, als es laut an der Tür pochte.

„Carla, komm!“, rief Günter befehlend. Ich öffnete und sagte, während ich wieder ins Bett schlüpfte: „Der Herr will sicher seine ehelichen Rechte eintreiben, komm, das können wir gleich hier schnell erledigen!“

„Schnell erledigen?“, sagte er irritiert.

„Ach“, sagte ich, „wir lieben uns doch längst nicht mehr, ich werde in Zukunft hier schlafen!“

„Du liebst mich nicht mehr“, sagte er das Du betonend, „ich liebe dich wie immer“, beharrte er.

„Ihr Männer verwechselt Liebe mit Verlangen und Begierde, Verlangen nach Sex.“

„Ich habe Verlangen nach dir und begehre dich, das ist wahr, aber ich brauche nicht zwingend Sex mit dir. Ich dachte immer, du hast auch Freude daran. Ich habe Verlangen danach, dich im Arm zuhalten.“

„Tatsächlich?“, sagte ich spöttisch. „Zehn Minuten am Tag, die restliche Zeit nimmst du mich nicht wahr.“

„Ich nehme dich immer wahr, ich bin mir stets deiner Gegenwart bewusst und freue mich immer dich zu sehen und … du hältst dir die Ohren zu, deine Liebe hat ja nicht lange gehalten, du liebst mich also nicht mehr?“ Er war zu mir ins Bett geschlüpft und hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und musterte mich mit brennenden Augen. „Ich kann es nicht glauben, was du mir eben gesagt hast, darf ich denn wenigstens in deiner Nähe verweilen? Oder stört dich meine Anwesenheit, bin ich dir unangenehm?“

„Natürlich kannst du bleiben, deine Anwesenheit stört mich keineswegs“, sagte ich.

„Aber sie freut dich auch nicht, meine Nähe“, sagte er. „Wann hast du dich nur so verändert, warum bist du nur so geworden, so kalt“, seine Stimme begann zu beben, er wendete sich um und rollte sich zur Seite.

„Das hätte ich dich schon lange Fragen sollen, wann hast du dich so verändert!“, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf und begann am ganzen Körper zu zucken.

Er weint, dachte ich, auch mich würgte es in der Kehle. Ich hatte unsägliches Mitleid mit ihm, aber ich musste eisern bleiben, ihm eine Lektion erteilen, die ihn aufrüttelte. Ich sollte wirklich gehen, nicht für lange, wohl aber für einige Zeit. Vermutlich würde es für mich schlimmer werden als für ihn, oder?

Er stand wie immer früh auf und ich döste noch ein wenig in der wohligen Wärme. Als ich in die Küche kam, fand ich sie leer vor. Günter war schon in der Praxis, und Justin? Ich trank Kaffee und schrieb in mein Büchlein, dann sah ich auf den Kalender. Ich sollte heute noch gehen, in der nächsten Stunde. Ich füllte gerade Obst und Wurst in die Tasche, als Justin in der Tür stand. Ich fühlte mich ertappt und hielt in der Bewegung inne. Justin, wie toll er aussah, jahrelang hatte ich das nicht mehr bemerkt. Seine blonden welligen Haare reichten fast bis auf die Schultern und die lustigen Augen strahlten. Nun aber schaute er nicht lustig, sondern traurig. „Du willst uns beide verlassen!“, sagte er vorwurfsvoll.

Ich ging an ihm vorbei aus der Küche. „Ich werde erst mal auf den Markt gehen, damit ihr nicht verhungern müsst“, sagte ich. Nach dem Mittagessen, als die Männer das Haus verlassen hatten, begann ich zu packen. Ein paar Pflegeartikel packte ich in eine kleine Tasche, zog mehrere Kleidungsstücke übereinander und setzte mich noch einige Minuten auf den Stuhl. Ich war wieder allein, sie kümmerten sich nicht um mich, sie hatten anderes im Sinn. So würde es immer weitergehen, ich durfte putzen und kochen, ihre Wäsche waschen, bügeln und in die Schränke räumen, aber was bekam ich? Vor Selbstmitleid drückte ich ein paar Tränen raus, zog Mantel und den dicken Wollumhang über und ging durch den Hinterausgang. Ich hatte keinen Plan. In die Vergangenheit konnte ich natürlich nicht gehen, ich würde ja wieder alles auslöschen, das wollte ich nicht, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre.

Ich kann ja nicht den lieben Gott spielen und alles nach meinen Wünschen biegen, dachte ich auf dem Weg zur Höhle.

Ich würde gerne in zwei Monaten zurückkommen, aber das war nicht möglich. Man kommt immer in der gleichen Jahreszeit zurück, also Ende November. Aber ein ganzes Jahr wollte ich nicht fortbleiben. Was mach ich nur, überlegte ich. Oben angekommen, setzte ich mich auf den großen Stein und grübelte. Wenn ich in zwei Monaten wieder hier in diese Zeit kommen will, muss ich zwei Monate in einer anderen Zeit verbringen oder gleich hierbleiben. Gerade hatte ich eine Idee, als ich Schritte hörte. Erschrocken sah ich mich um. Justin kam aus der kleinen Höhle. Er trug etliche Kartons, welche offensichtlich leer waren, warf sie auf einen Haufen und steckte sie in Brand. Sogleich züngelten die Flammen empor. Durch die Flammen hindurch sah er mich plötzlich. Wir gingen aufeinander zu und trafen auf halbem Weg zusammen. „Das ist nun unsere Gelegenheit!“, sagte er. „Wie beide können ab jetzt den Weg gemeinsam gehen, entscheide dich!“ Er hatte mich in die Arme genommen und hielt mich fest.

„Du meinst in das Jahr 2050? Niemals gehe ich freiwillig in diese Zeit!“, rief ich leidenschaftlich.

„Wir können auch in das Jahr 1900 gehen“, sagte er.

„Und wo willst du mit mir leben, in welchem Haus? Oder willst du ganz einfach warten, bis er sich selbst umgebracht hat?“, sagte ich gehässig.

Er zuckte zusammen und sah mich ungläubig an.

„Entschuldige“, sagte ich und tätschelte seinen Arm, „ich bin ungerecht, es tut mir leid.“

„Schon in Ordnung“, sagte er gutmütig, „du hast ihn also jetzt verlassen. Komm, geh mit mir“, er breitete seine Arme aus.

„Und dann?“, fragte ich, „Gehen wir Hand in Hand nach unten und setzen uns zu Günter an den Tisch und verkünden unsere Verlobung!“

„Ich sehe schon, du hast selber keine Ahnung was du willst, außer mich zu beleidigen. Du kannst ja noch überlegen, ich habe jetzt zu tun“, sagte er und begab sich wieder in die kleine Höhle, um Unrat herauszuschaffen. „Das ist hier mittlerweile die reinste Müllhalde“, sagte er. Tatsächlich war die Höhle voller Kram.

„Ich habe heute früh schon Weihnachtseinkäufe gemacht“, sagte er. „Ich wollte gleich noch einmal losgehen. Komm einfach mit, dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Ich gehe allerdings immer ins Jahr 2090, da sind die Winter meistens warm, die Sommer allerdings kaum zu ertragen. Die Kuppel wird dann verkleidet, sie ist schon schadhaft und marode, ein Orkan kann sie vollständig zerstören.“

Wir gingen wie selbstverständlich zur Haupthöhle.

Wir schlenderten gemeinsam durch die Läden, in dem Gewimmel konnte ich meine Gedanken nicht ordnen. „Ich setze mich in unser Lokal“, sagte ich zu Justin, „ich habe keinen Bock auf diesen Trubel hier.“

„In unser Lokal“, sagte er und strahlte mich an. „Ich schaffe alles was ich noch kaufe auf den Berg, dann komme ich wieder hier her.“ Als Justin wiederkam, speisten wir in dem Lokal, in dem wir uns einst vor zehn Jahren kennen gelernt hatten. Als wir ins Freie traten, war es bereits dunkel. Justin fasste nach meiner Hand, so stiegen wir den Hang empor. Er hatte seine ganzen Besorgungen indessen in der kleinen Höhle deponiert. Ich übernahm einen Teil der Last und wir gingen zu der großen Höhle.

„Du kommst also wieder mit nach Hause?“, fragte er, als wir die Höhle betraten.

Spontan und ohne zu überlegen entschied ich mich für das Jahr 1894. Ich könnte ja jederzeit wieder zurückgehen, dachte ich.

Justin verließ vor mir die Höhle. Als ich ins Freie trat, war von Justin keine Spur, denn er war natürlich in das Jahr 1893 gegangen. Da stand ich nun blöd kichernd. Du bist ein Idiot, sagte ich zu mir selbst. Ich bin also ein Jahr weitergegangen. Mein erster Blick ging in Richtung unseres Hauses, stand es noch? Oder war es eine Brandruine? Es war schwarze Nacht, ich konnte es nicht sehen. Ich schlug die Richtung zum Dorf ein. Bei den ersten Häusern stand die erste Laterne. Ich ging weiter bis zur nächsten Laterne, dort blieb ich stehen und sah direkt in Hermanns Arbeitszimmer. Er saß offensichtlich über ein Buch gebeugt an seinem Schreibtisch. Hinter dem Gartenzaun stand noch immer die schmucke Laube mit Efeu zu gerankt. Ich schlich um den Garten herum zu der schmalen Pforte und öffnete sie vorsichtig, um keine Geräusche zu machen. Durch das Licht der Laterne konnte ich genug sehen und lief zu der Laube. Sie ließ sich nicht öffnen. Ich erinnerte mich, dass sie klemmte. Schließlich gelang es mir, sie zu öffnen und sie hinter mir wieder zu schließen. Auch hier hinein fiel ein schwacher Lichtschein. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich alle Gegenstände im Raum ausmachen. Alles war noch wie damals, vor vielen Jahren in einem anderen Leben. Dort in dem großen Steintopf hatte ich meinen Rucksack mit meinen Papieren, dem Handy, Feuerzeug und Zigaretten, den Fotos von den Kindern, den Tieren, dem Auto und dem Haus versteckt. Ich erinnerte mich genau, als wäre es gestern gewesen. Wieso konnte ich mich so genau daran erinnern?

Es war der erste Abend in dieser Zeit, so unwahrscheinlich, merkwürdig und utopisch, dass er sich in meinem Hirn festgesetzt hatte. Ich bin keineswegs verwirrt und verängstigt durch die Gegend geirrt, sondern mit wachen Augen und Sinnen. Ich wusste noch vieles aus dieser Zeit. Hermann war noch recht jung, Mitte 40, jetzt ist er Ende 50, überlegte ich. Ich setzte mich auf das Bett, es gab noch immer das dicke Daunenzudeck. Es roch muffig und staubig, doch es würde mich wärmen. Wenn es morgen hell ist, schau ich nach, ob mein Rucksack noch hier ist. Ich begann im Raum umherzugehen und überdachte meine Situation, wie sollte ich weiter vorgehen? Nach langem Grübeln kam ich zu dem Schluss, ich würde wie selbstverständlich morgen durch die Hintertür ins Haus stolzieren, als wäre ich nur mal kurz draußen gewesen. Oh, was für eine Sehnsucht mich plagte, nach Günter. Mein Magen zog sich vor Schmerz zusammen. Diese Sehnsucht hatte ich selbst in seinem Haus verspürt, wenn er mich übersah. Es genügte ihm ja, dass ich gegenwärtig war.

Die Lampe erlosch und mich überkam die Müdigkeit, das Bett lockte und ich schlüpfte unter das dicke Federbett. Morgen werde ich so stinken wie das Bett, dachte ich, noch bevor ich in tiefen Schlaf versank.

Nach dem ersten Schock und stundenlangem vergeblichem Warten meinte Günter: „Sie ist unser beider schnell überdrüssig geworden.“

„Du glaubst ein Frauenversteher zu sein?“, spottete Justin. „Du hast keine Ahnung von Frauen, denn du hast deine Frau sträflich vernachlässigt. Sie hat Trost bei mir gesucht“, brüstete er sich, „aber ich wollte dich nicht als Freund verlieren. Ich wusste ja nicht, wie es zwischen euch steht. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie dieses Mal nicht wieder zu dir zurückkommt, so wie du sie ignoriert hast. Wenn das meine Frau wäre, dann ...

„Sie ist aber nicht deine, sie gehört mir“, fiel Günter ihm ins Wort.

„Sie gehört dir wie ein edles Kätzchen, das du erworben hast. Es hat nur schnurrend zu Hause auf dem Sofa zu liegen und auf dich zu warten und dir zu Verfügung zu stehen! Wenn sie dir langweilig geworden ist, ich finde sie aufregend“, sagte Justin. „Wenn sie mich will, ist deine Zeit abgelaufen, Alter!“

Günter hatte viele Erwiderungen bereit, aber er schwieg, er war nachdenklich geworden. Meine Schuld ist es also, dachte er, ich habe sie vernachlässigt. Eine solche Frau vernachlässigt, das ist unverzeihlich. Zumal ich mich den ganzen Tag auf sie freue, wie konnte es soweit kommen. Er raufte sich die Haare. Vorgestern hat sie mir mehr als nur ein Zeichen gegeben, nur einen Tag später lass ich sie wieder allein am Tisch zurück. Ich hatte nichts kapiert, nichts begriffen, ich Narr! Er

schlug sich die Hände auf die Stirn, was bin ich nur für ein Idiot, so eine Frau gehen zu lassen.

Kapitel 3: Ein Hauch von einem Traum

Die niedrig stehende Novembersonne weckte mich. Erschrocken setzte ich mich auf und musste mich erst einmal orientieren. Was um Himmelswillen mache ich hier in Hermanns Laube? Wahnsinn, was ich mir da wieder eingebrockt hatte. Ich ordnete meine Haare notdürftig mit den Fingern, kniff mir in die Wangen und schon sah ich frisch aus.

Ich schlich durch die Hintertür ins Haus und lauschte den Geräuschen. Hermann saß am Frühstückstisch und rührte emsig in seiner Tasse. Lautlos war ich in die Stube geschlichen und stand nun mitten im Raum. Als er aufblickte, fiel ihm der Löffel aus der Hand. Erschrocken sprang er auf und stierte mich an.

„Du bist es“, sagte er verwirrt, „meine Zauberfee aus dem Traumland oder vom anderen Stern. Warum verwundert mich dein Erscheinen noch, offenbar kannst du sogar durch Wände gehen. Komm, setzt dich!“ Er rückte mir einen Stuhl zurecht. „Du bist es wirklich?“ Er umfasste meinen Arm und strich mir über die Wangen. „Aus Fleisch und Blut“, stellte er fest. „Ich warte schon ein halbes Leben auf dich!“

„Vierzehn Jahre und vier Jahre“, sagte ich nüchtern.

Er hatte mir ein Frühstücksgedeck hingelegt und schenkte mir Kaffee ein. „Ich weiß nicht genau wer du bist, ich weiß aber genau, dass du es bist, auf die ich schon lange warte. Ich habe ein Bild von uns beiden aus einem anderen Leben, das hast du mir selber gesagt. Und vieles mehr. Das letzte Mal habe ich alles aufgeschrieben, was du mir gesagt hast. Darum weiß ich, wir haben zusammengelebt. Bis du entführt wurdest von dem brutalen Wüstling, der sich Doktor nennt. Er hat dich gefangen gehalten und dich dann geheiratet. Du hast ihn dann irgendwann verlassen und mich geheiratet, stimmt doch, oder? Wir beide waren ein Ehepaar, ich habe alles aufgeschrieben, was du mir erzählt hast. Alles das ist wirklich geschehen, aber von dir ungeschehen gemacht worden. Ich weiß nicht welche Macht du besitzt und woher, aber du kannst alles Erlebte wieder zunichtemachen und es bleibt nichts als ein Hauch von einem Traum, Erinnerungsfetzen. Aber etwas bleibt aus jedem Leben. Ich erinnere mich an bewegte Bilder auf einer Scheibe, einem Glas“, stotterte er.

„Auf einem Monitor, also auf einem Bildschirm“, ergänzte ich seinen Satz.

„Bunt und lebendig, man kann sich aussuchen was man sehen will, einen Wald mit Tieren oder tanzende fast nackte Frauen, schießende Cowboys oder küssende Liebespaare im Bett.“

„Du hast alles behalten?“, fragte ich verwundert.

„Ja, es hat mich so umgehauen, dass es mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Flackernde Bilder wie Blitze. Später habe ich es dann aufgeschrieben, wie alles was du mir erzählt hast. Ein Buch mit 300 Seiten, nur für mich bestimmt!“

„Du wurdest damals fernsehsüchtig. Das war auch der Grund, weshalb ich dich verlassen hab“, log ich, um das Thema abzuschließen.

„Wo sind diese Bildschirme geblieben?“, fragte er.

„Sie sind verschwunden, als die Zeit verschwand“, sagte ich.

„Du hast also überirdische Kräfte, oder wie soll ich das verstehen?“

„Ich bin Zeitreisende, ich kann Zeiten, Jahre, Jahrhunderte überwinden, vor oder zurück. Wenn ich zurückgehe in eine frühere Zeit, löscht sich alles Geschehene. Ich kann nicht zaubern, wenn du das glauben solltest.“

„Mit Sicherheit glaube ich nicht, dass du jetzt hierbleiben wirst, dafür bist du zu ruhelos“, sagte er.

„Das scheint nur so. In Wahrheit bin ich geduldig und genügsam. Ich gehe erst, wenn ich spüre - wie soll ich sagen - wenn ich sehe, dass es keinen Sinn mehr hat. Wenn alles, was einmal harmonisch und einmalig war, nicht mehr so ist.“

„Aber die Perfektion gibt es nicht, jede Beziehung wird einmal langweilig und die Liebe wird schwächer oder schläft ein, oder etwa nicht?“

„Das Verlangen nach körperlicher Liebe wird weniger und schläft auch manchmal ein, aber die echte Liebe, die Seelenverwandtschaft, das Gefühl mit dem anderen eins zu sein, das muss nicht zwangsläufig sterben!“, sagte ich.

„Du sprichst von der einmaligen großen Liebe, die ewig hält, und flatterst wie ein Schmetterling von einem zum anderen, sobald es Schwierigkeiten gibt. Wie viele Liebhaber hattest du auf deinen Zeitreisen schon?“, fragte er sarkastisch.

Ich holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Er saß stocksteif da, rührte sich nicht und starrte mich verdattert an, die Wange färbte sich rot.

Ich hatte mir, dass alles selbst eingebrockt. Er muss ja so von mir denken, dachte ich. „Ich habe niemals einen Liebhaber gehabt“, sagte ich, „ein Liebhaber ist es doch nur, wenn man einen Ehemann oder seinen Lebenspartner hintergeht oder betrügt. Das habe ich nie getan. Es gibt keinen anderen als Günter und dich, mit dem ich gelegen habe.“

Ich erhob mich und fragte, ob ich ein Bad nehmen dürfte. „Ja selbstverständlich, der Herd ist angeheizt, wo die großen Töpfe stehen, weißt du ja sicher noch?“

„Ja sicher“, sagte ich und ging in die Küche. Während sich das Wasser erhitzte, stöberte ich in den Schränken. Wovon leben die Junggesellen bloß, dachte ich, als ich nichts Anderes als Kartoffeln und einen matschigen Kohlkopf fand.

In der Vorratskammer fand ich eine Kiste mit Möhrchen und Sellerie mit Sand bedeckt und viele Eier. Wenigstens etwas, dachte ich und trug das Gemüse in die Küche. Ich nahm das Bad in einem Holzzuber in der warmen Küche, wickelte ein Handtuch als Turban um meine nassen Haare und begann mit der Arbeit. Ich kochte eine Kartoffelsuppe und deckte den Tisch. Ich fand Hermann in seinem Arbeitszimmer über den Schreibtisch gebeugt und rief ihn zum Mittagsessen. „Du hast ja gar keine Lebensmittel im Haus“ sagte ich, als wir bei Tisch saßen. „Du wirst doch wohl nicht nur von Fleisch und Eiern leben?“ Ich hatte einen Steintopf mit gepökeltem Fleisch in der Vorratskammer entdeckt.

„Nun ja“ sagte er, „was soll ich für mich alleine kochen?“

„Solange ich hier bin, wird anständig und gesund gegessen!“ Hatte ich das Gleiche nicht auch zu Günter gesagt?

An dem Tage, an dem Hermann mich fragt, warum ich gekommen bin und wann ich gehe, werde ich gehen, dachte ich. Er fragte nicht heute und nicht später, er schwieg verbissen, er fragte gar nichts. Das Schweigen wurde erdrückend. Um das unangenehme Schweigen zu überbrücken, fragte ich, ob er gut mit seinem Buch vorankommt und wovon es handelt. Mein Interesse freute ihn und er begann zu erzählen.

„Es handelt vom 16. Jahrhundert, von dem rauen Leben der armen Landbevölkerung und dem gegensätzlichen Leben des Landadels, des Landvogtes. Ich habe das letzte Kapitel noch nicht beendet, vielleicht hast du ein paar gute Einfälle, du kannst mir helfen, ich glaube, das hast du früher auch schon oft getan, in einem früheren Leben.“

„Ja, ich glaube das habe ich, du kannst mir später den unvollendeten Teil zeigen.“

„Ja gerne“, sagte er erfreut.

Wir saßen täglich in seiner Bibliothek, jeden Nachmittag leistete ich ihm Gesellschaft. Ich las seine vorigen Werke, mit jedem Werk wurden seine Bücher besser. Abends nahm ich das Buch, in dem ich gerade las, mit ins Bett und las mich müde. Als ich auch sein letztes Buch gelesen hatte. sagte ich bewundernd: „Wow, super, woher weiß du das alles?“

„Ich habe viel recherchiert, eine mühselige Arbeit.“ Er deutete auf einen Stapel dicker Bücher. „Die habe ich alle gelesen.“

„Wahnsinn“, sagte ich. „Wenn ich schreibe, sind es nur meine Gedanken, die ich auf Papier bringe, ich recherchiere nie.“

„Du schreibst auch?“, fragte er erstaunt.

„Och, so für den Hausgebrauch, früher habe ich Kindergeschichten erfunden. Dein letztes Buch ist das Beste, was ich je gelesen habe“, sagte ich. „Du bist mehr als gut, du bist genial, ich bewundere dich und bin sehr stolz auf dich.“

Für die Weihnachtstage hatte Hermann die Speisekammer gut gefüllt, frischen Fisch, frisches Gemüse, lieb gemeinte Geschenke für mich. Er fragte, ob er ein Huhn und ein Kaninchen schlachten sollte. Ich versuchte meine Traurigkeit mit lockeren Sprüchen zu vertuschen. Weihnachten hat mein Günter Geburtstag. Mein Günter? Aber er liebt mich nicht mehr. Hat es noch einen Sinn, zurück zu ihm zu gehen? Meine Sehnsucht nach ihm war unerträglich.

Am Weihnachtsabend war es mit meiner Beherrschung vorbei, ich brach in Tränen aus. Hermann stand verständnislos mit hängenden Armen vor mir und wusste nicht, was er machen sollte. Schließlich nahm er mich in den Arm und drückte mich so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte. „Ich verderbe uns den ganzen Abend“, sagte ich und versuchte wieder zu lächeln. „Erzähle mir von deinem Sohn, er ist doch sicherlich schon längst ein gestandener Mann geworden, sicher ist er schon Oberarzt. Will er nicht eine eigene Praxis eröffnen?“

„Vermutlich hat er das vor. Zur Zeit besucht er mich kaum. Er hat noch nicht verkraftet, dass er nicht mein Sohn ist.“

„Hast du es denn nicht geahnt, die ganzen Jahre?“

„Doch schon, ich habe den Gedanken immer verdrängt.“

„Aber hast du denn die Ähnlichkeit nicht gesehen?“

„Ich wollte sie nicht sehen. Ich habe damals alles Geschehene aufgeschrieben nach deinem Überfall, du wolltest mich erschießen. Du hättest es tun sollen, mein Leben ist nichts mehr wert. Ich könnte mir allen Luxus leisten, Koch, Diener, ein Hausmädchen, das mir auch das Bett wärmt. Doch es gibt keinen, der sich mit mir freut! Stattdessen führe ich ein Einsiedlerleben, pansche mir selber mein armseliges Rührei oder vergesse zu essen und zu trinken, vergesse die Zeit, vergesse zu leben. Schreibe halbe und ganze Nächte durch und sorge dafür, dass mein Konto immer dicker wird, doch wofür? Der einzige Sohn ist kein Sohn und hat sich abgewendet. Die Frau, die ich bis zum Wahnsinn liebte, hat mich immer wieder verlassen. Auch dieses Mal wirst du plötzlich fort sein, plötzlich verschwunden. Ich versuche dir mit Gleichgültigkeit zu begegnen, aber mein Herz ist nicht kalt, es brennt. Sei es drum, es bringt nichts darüber zu reden, dein Herz kann ich nicht erwärmen!“

„Du hast Ruhm und Ehre. Du wirst in die Geschichte eingehen als berühmter deutscher Schriftsteller, du bist längst in die Geschichte eingegangen. Ein Buch unter deinem Pseudonym habe ich schon vor dreißig Jahren gelesen.“

„Vor dreißig Jahren gab es noch kein Buch von mir, da war ich noch nicht bekannt.“

„Ich habe dein Buch 1980 gelesen, du bist in die Geschichte eingegangen. Die Kinder lernen in der Schule deinen Namen im Geschichtsunterricht.“

„Der glücklose einsame Mann!“, sagte er verbittert.

„Glücklos kannst du dich nicht bezeichnen, du hast Glück in deinem Beruf, deiner Berufung. Zudem hattest du drei Ehefrauen. Doch mich gibt es nicht hier in dieser Zeit, mit uns kann es niemals länger gut gehen, mit uns treffen zwei verschiedene Welten aufeinander! Wir mögen uns, finden einander interessant, vielleicht auch aufregend. Du bist ein attraktiver Mann, du siehst immer noch gut aus, vermutlich gibt es viele Frauen, die ein Auge auf dich haben. Du brauchst nur in die Hände klatschen, dennoch beklagst du mir deine Einsamkeit. Es liegt einzig an dir, deine Einsamkeit zu beenden, Hermann! Auf mich kannst du als gute Freundin rechnen, ich werde in Zukunft immer wieder nach dir sehen, als treue Freundin.“

Plötzlich war ein donnernder Lärm zu hören, Motorenlärm.

„Der überkandidelte Doktor und sein verrückter Handlanger, vor einem Monat sind sie auf einem dröhnenden Feuerstuhl vorbeigerattert, so laut wie ein Donnerschlag. Wenn sie mit dem Automobil fahren, ist auch eine Frau dabei. Ich dachte erst, das bist du mit einer Perücke in Braun.“

„Nein, das war ich gewiss nicht.“

„Du hast mal gesagt, wir hätten uns geliebt. Ich dachte immer, nur ich hätte dich geliebt“, sagte er.

„Es gab eine Zeit, in der wir uns sehr zugetan waren. Einer konnte nicht ohne den anderen sein. Wir haben alles gemeinsam getan. Du hast mit mir den Garten bestellt, ich hockte stundenlang im Arbeitszimmer, wir gingen gemeinsam auf den Markt, du hast sogar Kartoffeln geschält, wir fuhren zu meinen Verwandten. Hast du denn mal wieder etwas von den Familien gehört?“

„Das kleine Mädchen Christine wird in wenigen Wochen 14 Jahre.“

„Vielleicht können wir sie im Februar besuchen.“

„Aber sicher, sehr gerne“, sagte er.

Günter wollte keine lustige Gesellschaft um sich haben, kein albernes Lachen, keine Witze all das störte seine Stimmung. Er wollte sich erinnern, alles noch einmal erleben. Justin hatte er fortgeschickt. Abends las er in ihren Büchlein, das brachte sie ihm nahe.

„Oh, wie ich ihn liebe“, hatte sie mehrfach geschrieben. Er hatte diese Liebe nicht gehalten, hat sie nicht verdient, war ihrer nicht würdig. Wie konnte es dazu kommen, wann hat das Ende begonnen? Sein tödlicher Egoismus, wann genügte ihm seine eigene Freude, die Freude sie zu sehen, das Glücksgefühl, jeden Tag ins Haus zu ihr zu kommen. Er hatte sich mit der eigenen Freude begnügt, weiter hatte er nicht gedacht. Wie konnte er nur so blind sein, nicht zu merken, dass ihre Gefühle mit jedem Tag etwas mehr erloschen neben seiner Gleichgültigkeit. So eine Frau muss man jeden Tag neu erobern, hätte er doch noch einmal die Chance dazu.

„Ich habe das Gefühl der Liebe immer noch in mir. Wann ist das Gefühl bei dir gestorben, warum war plötzlich alles vorbei?“ Griff Hermann wieder das Thema auf, von dem ich ablenken wollte.

„Ich weiß es nicht mehr“, log ich, „irgendwann ging es nicht mehr mit uns.“ Es war spät geworden, ich war müde vom vielen Reden, ich wünschte eine gute Nacht. Ich schlief wieder in der Kammer neben der Küche. Vor dem Einschlafen dachte ich an Günter, Justin und die neue Frau im Hause. Es hatte mir einen schmerzhaften Stich versetzt, als Hermann von der Frau an Günters Seite gesprochen hatte. Der Gedanke, dass sie nur wenige hundert Meter von hier, von mir lebten, war mir unerträglich. Ich selber war gegangen, jetzt musste ich auch die Folgen ertragen.

Wie konnte es nur dazu kommen, wann hatte alles zu bröckeln begonnen? Die Ursache war natürlich Justin, aber eine richtige starke Liebe darf sich durch keinen Dritten zerstören lassen. Waren Günters Gefühle so schwach, dass er sich durch Justin ablenken ließ und mich darüber übersah und vergaß? Ich werde auf jeden Fall zurückgehen und nicht hier bei Hermann bleiben. Wie lange bin ich fort? Hier ist es ein Jahr später, also bin ich schon ein Jahr fort. Sie waren schon ein Jahr ohne mich, um Gottes willen, ich kann sie nicht noch länger allein lassen, dachte ich, es sollten doch nur Wochen sein.

Silvester war mir klar, dass ich diese Stille, besonders an den Abenden, nicht länger ertrug. Wenn ich doch nur wenigstens Musik hören könnte, aber außer dem Ticken der Uhr gab es keine Geräusche. Wie hatte ich das nur die anderen Jahre aushalten können. Am anderen Tag fragte ich Hermann, ob er sich daran erinnern kann, auf Günter geschossen zu haben. „An diesem unglückseligen Tag habe ich alles aufgeschrieben“, sagte er, „auch dein Erscheinen. Auch du trugst eine Waffe und hast auf mich gezielt, wie ein Racheengel standest du plötzlich vor mir. Ich hatte keine Angst, ich wünschte, du würdest mich töten, denn mich erwartete eine viel schlimmere Strafe. Der Junge hatte die Leiche untersucht, es gab ja keinen anderen Doktor, und er hat sehr schnell die Wahrheit herausgefunden. Er sagte mir alles und ich habe es sogleich aufgeschrieben. Als ich fertig war, war alles anders. Plötzlich saß ich mit dem Jungen am Kaffeetisch und hielt einen beschriebenen Bogen Papier in der Hand. Wir saßen in der Stube und nicht mehr in meinem Schreibzimmer. Wir trugen andere Kleidung, der Junge fragte, was das für ein Brief wäre, ob er ihn lesen dürfe. Er nahm mir das Schreiben aus der Hand und begann zu lesen. Ich merkte, wie meine Hände zitterten. Er las alles zweimal. Ich sah, wie sein Gesicht sich veränderte. 'Das kann nicht wahr sein, sagte er immer wieder', schließlich sprang er auf, er wirkte zehn Jahre älter. Er hatte einen brutalen Zug um den Mund als er sagte: 'Meine Mutter, die Heilige, war eine Hure!'

'Sag so was nicht, du versündigst dich Junge', versuchte ich ihn zu beruhigen.

'Hast du das gewusst, Vater?' Vater betonte er höhnisch. 'Meine Mutter war eine Hure und du bist nicht mein Vater, was mache ich also hier?' Er holte seine Reisetasche und verließ grußlos das Haus.

Später, nach Wochen, kam er reumütig zurück, um sich zu entschuldigen, aber es wurde nie mehr so wie es einst war zwischen uns. Jetzt kommt er fast nur noch zu meinem Geburtstag. Er ist jetzt Oberarzt und hat vor ein paar Monaten seinen Professor gemacht.“

Im neuen Jahr zeigte mir Hermann seine neue Kutsche, ein super tolles Luxusgefährt mit getönten Scheiben, ein Schmuckstück, ein Augenschmaus. „So ein nobles Stück habe ich noch nie gesehen!“, sagte ich erstaunt.

„Was soll ich sonst mit dem vielen Geld machen, ich habe ja nicht mal Enkel.“

„Du solltest dir Personal anschaffen, Reisen machen in Kurorte, dort würdest du vielleicht eine gebildete Frau kennen lernen, nicht solche Dorftrampel wie hier.“

„Gebildete Frauen“, sagte er, „ja, die gibt es, die hat es schon immer gegeben.

„Es gibt ja die Hohe-Töchter-Schulen“, sagte ich.

„Dort lernen sie sticken, vielleicht ein wenig kochen und das Personal scheuchen, aber Bildung?“

„Sie werden doch sicher auch Mathe und Deutsch lernen, also rechnen und schreiben. Meine Mutter kommt auch von hier, sie besuchte eine Schule für höhere Töchter in der Stadt, sie war gebildet, konnte fehlerlos schreiben und hatte ein umfangreiches Allgemeinwissen. Sie hatte den passenden Mann gefunden, doch leider ist er im Krieg gefallen“, sagte ich.

„Ja, das war doch sicher viel später!“, sagte er.

„So viel später auch nicht, in den zwanziger und dreißiger Jahren, nach dem ersten Weltkrieg.“

„Dann sind wir beide uralt“, sagten wir beide fast gleichzeitig.

„Obwohl, dann bin ich über 80, ich könnte also die Geburt meiner eigenen Mutter erleben! Lass uns am 10. Februar unseren Besuch machen, wenn es dir recht ist.“

„Ja, das machen wir, mit Anmeldung, Ich werde gleich eine Karte schreiben!“ Wir gingen in sein Arbeitszimmer.

Der Januar schlich zäh dahin, die stillen Abende waren endlos, die Stille rauschte laut in den Ohren, jeden Abend sprang ich auf und begann durch das Zimmer zu laufen. Hermann sagte: „Ich bemerke schon lange deine Unruhe, du willst also nicht mehr lange bleiben. Ich verstehe nicht, was du suchst und was dich zufrieden macht. Ich könnte dich mit Luxus überhäufen, ja das könnte ich, aber du wärst trotzdem unzufrieden und würdest mich bald verlassen.“

„Wenn ich gehe, hat das nichts mit dir zu tun. Ich ertrage die Stille nicht, es geht nicht mehr, ich kann hier nicht mehr leben. Das kannst du nicht verstehen, du kennst es ja nicht anders als es ist. Wenn ich wenigstens Musik hören könnte, wäre ich schon zufrieden.“

„Musik ist es, was dich zufrieden macht, ein wenig leise Musik“, wiederholte er meine Worte. „Wir können jede Woche ins Theater gehen, uns eine Operette anschauen, oder ins Konzert. Gute Orchestermusik kann ein Genuss sein, aber ein wenig leise Musik hier kann ich nicht zaubern. Es gibt zwar eine neue Erfindung, das Grammophon, daraus hörst du schraulige Musiktöne, wenn du stundenlang an der Kurbel drehst. Es klingt wie aus einem Blecheimer, willst du so ein Gerät haben?“