Die Geliebte des Trompeters - Gabriela Jaskulla - E-Book

Die Geliebte des Trompeters E-Book

Gabriela Jaskulla

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Beschreibung

Let's get lost!   Let's get lost!   Berlin, 1947. Ein junger amerikanischer Soldat kommt in die zerstörte Stadt und verliebt sich in ein Mädchen, das er zufällig am Straßenrand sieht. Er: ein hübscher, naiver Junge aus Kalifornien, der das Segeln, schnelle Autos und seine Trompete liebt. Sie: das deutsche Mädchen, das aus Nazi-Zeit und Krieg vor allem eines mitgebracht hat: den wilden Drang, endlich zu leben. Dafür ist Riccarda, die der Junge Ricky nennt, bereit, sehr weit zu gehen. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein, und dennoch verbindet sie mehr, als sie ahnen: eine tiefe Sehnsucht,der Hunger nach Anerkennung, die frühe Erfahrung von Gewalt, der Zorn über Eltern, die nicht ansprechbar sind. Zusammen erkunden die beiden die zerstörte Hauptstadt. Die Ruinen, die U-Bahnschächte und Jazz-Keller, der Wannsee und die billigen Tanzlokale bilden die Kulisse ihrer entstehenden Liebe. Der GI und sein "deutsches Frollein" -  eine deutsche Nachkriegsgeschichte, aber auch mehr, denn: Der amerikanische Soldat wird später ein weltberühmter Musiker werden. Chet Baker ist für den Jazz, was James Dean für den Film war: eine Legende. Mit der Sanftheit seiner Musik identifizierten sich Millionen. Am Anfang aber stand: eine kleine Liebe in Berlin.

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Seitenzahl: 314

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Gabriela Jaskulla

Die Geliebte des Trompeters

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2008© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40316-0 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21058-4Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

I. Die Begegnung

II. Zusammen

III. Abschied

Danke

Für Barbara

I.Die Begegnung

Das erste Mal war nicht großartig gewesen. Es war eben so geschehen. Er hatte sie am Straßenrand stehen sehen, und sie hatte ihn auch entdeckt und ihn angeschaut. Sie hatte ihn lange nicht aus den Augen gelassen, was leicht möglich war, denn er saß mit seinen Kameraden rückwärts auf der offenen Ladefläche eines olivgrünen Lastwagens, lachend, lässig, eine ganze Bande war das, und er, ruhig, groß, dunkel, hatte aufgeschaut und sie entdeckt, dort, an der Ecke Kolonnenstraße– Kaiser-Wilhelm-Platz. Der Armeelastwagen entfernte sich langsam, und sie wurde immer kleiner unter seinen Blicken, weil sich der Lastwagen entfernte, es kam ihm so vor, als würde sie herausgezogen aus seinen Blicken, herausgesogen wurde sie, und dass er keinen Einfluss darauf hatte, machte ihn wütend, zum ersten Mal in vier Monaten bei der Army wurde der Soldat wütend und fluchte und hieb seinem Sitznachbarn auf den Oberarm, dass er ächzte. Und alles wegen dieses Mädchens am Straßenrand, das kurz den Rock gelüftet hatte, um einen löchrigen Strumpf zu richten.

Am Straßenrand! Als ob es noch Straßen mit ordentlich befestigten Rändern gegeben hätte! Schneisen waren es, graue, staubige, unebene, holprige, unansehnliche Wege in einem Trümmerfeld. Das Trümmerfeld, das war Berlin gewesen. Da war der junge Mann vorbeigekommen, auf dem Weg vom Hauptquartier der US Army in Zehlendorf nach Tempelhof. Ein Junge war das eigentlich noch, keine zwanzig, und sie hatte ihn angesehen.

Gestiert hast du, hätte ihre Mutter gesagt, geglotzt, der Vater und hinzugefügt: Mach, dass du Land gewinnst. Aber die Mutter hatte Riccarda selbst auf die Straße geschickt, schon vor langer Zeit, und der Vater – war da und doch nicht da, wie so viele. Der junge Mann, der eigentlich noch ein Junge war, hatte ihren Blick erwidert, verblüfft, wie es schien, und das war’s. Nicht mal hallo gerufen oder guten Tag oder die Hand gehoben zum Gruß.

Beiläufig hätte man das wohl früher genannt, als es solche Begegnungen noch gab, die gerade dadurch ihren Charme gewannen, dass sie zufällig waren. Beiläufig wie Wasserholen, wie den Staub von der Schreibmaschine wischen, wie die Spange aus dem Haar nehmen vor dem Zubettgehen. Jetzt gab es nichts Beiläufiges mehr, keine Zeit zu verschwenden hatte man. Die letzte Perlmuttspange schon lange versetzt, Wasserholen noch vor kurzem ein lebensgefährliches Abenteuer, um Bürostaub kümmerte sich keiner mehr, seit meterhoher Schutt in den Straßen lag, den Heerscharen gebeugter Frauen mit bloßen Händen wegräumten, in Kitteln, mit Tüchern um den Kopf, die wie Lumpen aussahen, als hätten diese Frauen alle Kopfschüsse, alle seien sie versehrt, krank im Koppe, wie Riccardas Mutter sagte.

In dieser Welt glaubte man nicht an Zufälle und hatte vergessen, was Beiläufigkeiten waren, da war kein Verlass drauf, sagte Riccardas Mutter, alles musste sitzen, musste passen, wollte organisiert und bewerkstelligt sein. Nie waren die Berliner organisierter gewesen als in dem Chaos, in das der Krieg sie gestürzt hatte, nie wurden straffere Pläne geschmiedet, hastigere Verabredungen getroffen, minutengenauere Abläufe ersonnen und eingehalten als in den ersten Monaten nach dem Krieg.

Und dann das. Ein Mädchen, das glotzt. Und ein Junge, der sich fragt, was das zu bedeuten hat. Sie lächeln beide. Und etwas passiert in der Kehle des Jungen, so dass er sich verschluckt und zu husten beginnt und ihm der Nachbar, den er eben noch geboxt hat, auf die Schulter schlägt: Come on… Mehr nicht: Ein Blick, ein Innehalten, ein kleiner Schluckauf. Etwas, das zum Rest der Zeit nicht passte. Mehr war nicht an diesem trügerisch warmen Apriltag des Jahres 1947.Und doch wusste Riccarda mit einem Mal, dass der Winter vorbei war.

Es war der Winter aller Winter gewesen. Schlimmer als alles, was davor gewesen war, und schlimmer als alles Vorstellbare. Es war der Winter der Heimsuchung oder der Rache, und die Berliner Frauen wurden stumm über diesen Vermutungen. Die Vermutungen oder Verfolgungen ließen selbst nachts nicht von ihnen ab, wenn sie unter immer zu dünnen Decken lagen, bemüht, sich nicht zu rühren, bemüht, nicht die kalten Stellen der schäbigen Matratzen zu berühren, da, wo früher der Mann gelegen hatte, der Verlobte, der Freund.

Und während sie wach lagen und auf den Schlaf warteten, der nicht kam, verwandelte sich das Wasser in den Leitungen in Eis, platzten die Rohre. In der Küche froren die ungespülten Teller aufeinander fest und bildeten bizarre Türme. In den Nissenhütten in Wilmersdorf hingen die Decken steif zwischen den behelfsmäßigen Wohnräumen der Flüchtlinge. Die zweite Kältewelle traf Berlin im Januar 1947, als alle schon müde waren und mürbe vom Kampf ums Überleben. Das war, als der letzte tröstliche Rest Wodka ausgetrunken war, den die russischen Besatzer zu Neujahr spendiert hatten: neunzigtausend Flaschen für die Berliner. Freilich nur für die Männer, die Frauen hatten das Nachsehen, und als dann auch noch die städtischen Badeanstalten wegen Kohlemangels geschlossen wurden und es keinerlei Möglichkeit mehr gab, sich zu waschen, igelten sich die Frauen noch mehr in ihren unzureichenden Jacken und Mänteln ein, mummelten sich zu, verhüllten sich, verschwanden unter schmutzigem Filz und Wolle, gingen darin unter, schauten kaum heraus, denn was sie da sahen, machte sie nur noch wütender und hungriger und trauriger.

Manchmal sahen die zornigen Augen einer Berliner Frau einen Bekannten, einen Vertrauten, den eigenen Mann: Sie entdeckte da hinten auf der Straße einen Heimkehrer, der behauptete, ihr Ehemann zu sein, der lange Vermisste. Und während sie ihn mit echten Tränen, aber ohne viel Gefühl, umarmte, betastete sie wohl auf seinem Rücken den Stoff des Armeemantels, den er trug: Den würde er ohnehin ablegen müssen, die Alliierten verboten den besiegten Soldaten das Tragen von Uniformen, und so ließ sich aus dem warmen Mantel sicher noch etwas Nützliches schneidern, für sie selbst, dachte Irmgard, und für die Töchter, für Renate und vielleicht auch für Riccarda. Irmgard Krampitz schämte sich nicht für diese Gedanken, Scham war ein Luxus wie Reinlichkeit oder Brot, nur womöglich noch seltener zu haben. Im Januar 1947 also kehrte der Kohlehändler Siegfried Krampitz aus der Gefangenschaft heim nach Schöneberg, wo es keine Kohlehändler mehr brauchte, und mit ihm Zehntausende andere.

Die Männer retteten sich zurück, aber das Zuhause war nicht mehr da. Eng wurde es in den behelfsmäßig wieder hergerichteten Wohnungen – eng wurde es, aber nicht warm. Männer und Frauen konnten nicht mehr viel miteinander anfangen, die Frauen hatten gelernt, allein zurechtzukommen, und so zog sich Siegfried Krampitz schon nach wenigen Wochen zu seinem Bruder und der Schwägerin zurück. Irmgard und die beiden Töchter machten weiter wie bisher, als ob sie immer noch warteten, nur wussten sie nicht mehr, worauf.

Dass es nicht der Mann war, nicht der Vater, auf den sie ihre Hoffnungen gründen konnten, das wussten sie nun. Aber das Warten ließen sie nicht. Das Wort hoffen hätten sie nicht benutzt, es schmeckte ranzig wie die Butter, die die umsichtige Renate in ihrem Kleiderschrank gerettet hatte. Zu lange gerettet, so was gibt’s auch, sagte Irmgard und gab der Tochter einen gutmütigen Klaps, bevor sie die übelriechende Masse doch noch in einer Art Suppe zu verarbeiten suchte. Der Geruch war stechend: eine Mischung aus Fett, toter Maus und Mottenpulver, und doch sammelten sie sich alle drei um den Kohleherd, die Mutter und die beiden halbwüchsigen Töchter, streckten die sehnig gewordenen Hände aus nach dem Dampf, der aus dem Kochtopf stieg, gierig nach der Wärme des Kochwassers, das unlustig simmerte. Zum Sieden reichte es nicht. Die Brühe ließ den Geruch von Tran in der Haut zurück, und die Haut wurde schrumpelig und schrundig, und vielleicht war es der dauernde Gestank, diese Mischung aus ungewaschenen Leibern und abgetragenen Kleidungsstücken, aus Staub und Schutt und Stillstand, der Riccarda auf die Straße trieb, dorthin, wo sie den fremden Soldaten sah. Vielleicht war es aber auch die Mutter, die sie dazu anhielt.

Irmgard zählte auf ihre Töchter. Das konnte sie auch, sie wusste es, seit damals die Russen da gewesen waren. Da hatten sie noch im Keller gehockt, die ganze Hausgemeinschaft – wie die Asseln, sagte Irmgard verächtlich, lichtscheues Gesindel waren sie geworden, argwöhnisch, geräuschempfindlich, panisch wie Katzen, wenn ein ungewohnter Laut an ihre Ohren drang. Katzen allerdings gab es längst nicht mehr, auch sonst keine Haustiere, keine Pflanzen, nur Menschen und Steine und Steine und Menschen, grau und grau und grau. Und eines Abends waren sie da gewesen, die Russen, nach Tagen unerträglicher Agonie. Hatten die Kellertüre aufgestoßen, mit ihren Lampen in die Runde geleuchtet und gleich ein paar Frauen herausgegriffen, Irmgard darunter und die leutselige Marie, die hinkte und von der alle glaubten, dass sie Frauen liebte. Und dann war das Unfassbare geschehen: Da hatte Irmgard, vorgeblich, um die arme Marie zu schützen, ihre beiden Töchter vorgeschickt und zitternd gesagt: Ja otschen bolen… ich bin krank. Der Trick in schlechtem Russisch hatte gewirkt. Die Russen waren abgezogen mit den schreckensstarren Töchtern, hinauf in eine der Wohnungen…

Aber die Mädchen hatten Glück im Unglück gehabt, denn die Russen hatten ihnen Geld dagelassen, einen Batzen Geld, und sie waren wiedergekommen und hatten sie vor den anderen beschützt, mehr oder weniger jedenfalls. Die Nachbarn aber redeten seitdem nicht mehr mit Irmgard, sie wurde geschnitten wie eine Verbrecherin, und gleich am nächsten Tag hatten Seidels und der dürre Gropius ihre Wohnung verlassen, obwohl sie nicht gewusst hatten, wohin.

Das war der Anfang gewesen, der Anfang des Friedens, und Irmgard hatte gewusst, dass sie nie mehr dieselbe sein würde, dass der Frieden sie zu etwas gebracht hatte, was fünf Jahre Krieg nicht geschafft hatten, aber vielleicht war der Krieg ja gar nicht zu Ende, vielleicht ging er weiter, obwohl nicht mehr geschossen wurde oder nur ganz selten. Die Töchter hatten nicht protestiert, sie hatten auch nicht protestiert, als ihre russischen Galane wiedergekommen waren und offenbar glaubten, sich eine Art Gewohnheitsrecht erworben zu haben. Manchmal hoffte Irmgard, dass Renate und Riccarda begriffen oder geahnt hätten, was ihre Mutter zu ihrer Tat veranlasst hatte. Es war doch ein Notfall! hatte sie einmal hilflos gesagt. Es war doch ein Notfall.

Wörter waren nie Irmgards Stärke gewesen, immer schon hatte sie sich damit in Schwierigkeiten gebracht. Marie konnte reden. Marie redete oft für ihre Freundin. Vielleicht konnte sie so gut reden, weil sie sonst nicht viel taugte, mit ihrem Hinken, dachte Riccarda. Jedenfalls für die anderen. Aber zu dem Vorfall im Keller schwieg Marie. Gerade Marie schwieg dazu. Je mehr Irmgard sich danach sehnte, dass Marie etwas dazu sagte, desto beharrlicher schwieg sie. Sie war ja davongekommen. Und die Davongekommenen hatten nichts zu sagen. Als hätten sie das Recht zu reden verwirkt. Wenn Marie danke gesagt hätte, wäre das wie eine Absolution gewesen – gleichzeitig aber auch das Ende. Das wusste Irmgard und hoffte trotzdem auf ein Wort, vielleicht nicht auf einen Dank, aber doch auf ein Wort. Das Wort aber blieb aus. Und als Irmgard vom Notfall sprach, zum Nachbarn Schlüter, der sich daraufhin abrupt umdrehte und durch das zerschossene Treppenhaus nach oben forthumpelte, da zuckte auch Marie zusammen. Es war nicht gut für Irmgard, zu reden. Sie spürte es. Sie spürte, dass der Notfall gar nichts erklärte. Seit Kriegsende war doch immerzu Notfall gewesen. Er hörte gar nicht mehr auf, dieser Notfall, er wurde zum Normalfall, der Notfall, und wer das nicht ertrug, der hängte sich auf. Oder steckte den Kopf in den Herd.

Im Herbst 1946 häuften sich die vermeintlichen oder echten Gasunfälle bei den Berlinern. Die Fensterstürze. Die aufgeschnittenen Handgelenke. Und dann kam der Winter, in dem alles einfror, auch die Verzweiflung, auch die Wut. Die erste Kältewelle noch vor Weihnachten. Die Stadt atmete ein und aus und wieder ein – und dann nicht mehr. Die Flüsse hielten inne; ihr Eis schloss die Kohlefrachter ein. Die Menschen gingen nicht, sie liefen gebückt, gekrümmt von den Minusgraden. Sie verließen die Häuser nur für das Notwendigste, um Brennholz zu holen, beim Händler an der Ecke. Eine Kiste pro Haushalt, das reichte hinten und vorne nicht und war klamm und stank und rauchte, dass man die Türen aufriss und so die kostbare Wärme wieder entwich. In den Fenstern knisterten die Pappen vor Frost. Noch eine Schicht Pappe davorgeschoben, noch ein paar Lumpen geopfert. Fensterglas gab es nicht mehr in dieser Stadt, allenfalls Reste, zerbrochene Scheiben, Drahtglas an Oberlichtern, durch die schon lange kein Licht mehr drang. Nie war es Tag in diesen Wohnungen. Im Winter vor Weihnachten fiel in Neukölln ein Mädchen spätabends mit der Tür ins Haus. Sie schloss auf, aber der Riegel bewegte sich nicht, sie ruckelte und ruckte und kippte schließlich mit einem Knall in den Flur. Die Hausbewohner stürzten sich auf Rahmen und Türe: brennbar auch das. Von morgen an ertrüge man die Kälte, morgen, morgen zahlte man den Preis für die Unvernunft, aber heute, heute soll’s warm sein! Den Türwegräumern kam ein Nachbar entgegen, verschämt, ein kleines Päckchen unter dem Arm: Das war die Notdurft des Mannes und seiner ganzen Familie, er war geschickt worden, sie zum nächsten Trümmergrundstück zu bringen, zum Versenken. Dafür taugten sie noch, die Heimkehrer, die Welteroberer. Der Mann zog seine Mütze tief ins Gesicht und huschte grußlos vorbei.

Toiletten und Wasserhähne funktionierten seit Wochen nicht mehr. Licht nur stundenweise. Dem Pferd, das auf dem Damm gestürzt war, schnitt man die Kehle durch und räumte es aus wie die Wohnungen der Besiegten. Die Gedärme des Pferdes schlängelten sich auf dem Pflaster, aber nicht lange, dann gefroren auch sie. An den Haltestellen sah man gelegentlich Frauen, die trugen Pantoffeln. Und unter den Pantoffeln trugen sie Lappen. Und unter den Lappen suppte und eiterte die entzündete Haut, aufgeplatzt von der Kälte. Einem Säugling erfroren die Hände im Kinderwagen. Jeder wusste solche Geschichten. Das Kopfschütteln war allgemein und die lebhafteste Regung.

Irmgard und ihren Töchtern blieben die Verehrer weg. Zu kalt war es auch den nachgerückten Amerikanern, die Tempelhof und Neukölln von den Russen übernommen hatten. Immer mehr Amerikaner kamen, so schien es. Aber die Neuankömmlinge glaubten, sie gelangten in eine verlassene Stadt. Oder in eine fiktive Stadt.

In diesem Winter 1946 legte die Missouri in Bremerhaven an. Ein Truppentransporter der US Army, mit eintausendachthundert Soldaten an Bord. Junge Kerle, die meisten aus Georgia, Mississippi und South-Carolina. Nicht alle waren auf der zehntägigen Überfahrt seekrank geworden, aber doch genug, um das Schiff zu einem schwimmenden, stinkenden Lazarett zu machen. Die, die aufrecht stehen konnten, hielten sich mit selbstgemachten Drinks über Wasser: Rasierwasser, gemischt mit Orangensaft, machte erst high und dann blind. Nie war Aqua Velva begehrter gewesen.

Der Soldat aus Oklahoma war erst siebzehn, und sein Handicap war: Er sah aus wie zwölf. Meinten jedenfalls die Menschenfresser unter den Sergeants, die sich immer neue Schikanen ausdachten. Aber der Junge fand einen Beschützer: Dick, nur drei Jahre älter als er, jedoch lässig wie kein zweiter. Das Schiff, mit dem sie fuhren, nannte Dick nur Parmesan, weil er fand, es stänke wie eine Dose von dem billigen Reibekäse, den er sich in Pasadena über die Spaghetti kippte. Stinkt – sagte Dick – aber stinkt irgendwie ein bisschen wie zu Hause! Und lachte und haute sich vor Vergnügen über den eigenen Witz auf die Schenkel.

Einmal wollte einer von den Menschenfressern im engen Gang zwischen den Kabinen an Dick und dem Jungen vorbei. Dick zog eine Schulter ein, um ihn durchzulassen. Da rempelte ihn der andere an, nicht besonders heftig, aber mit absichtsvoller Geringschätzung. Dick packte ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum. Eine schnelle Bewegung, ein Hieb – und der unhöfliche Flegel lag ohnmächtig am Boden. Der Junge erzählte die Geschichte noch viele Jahre später, sie begründete ihre Freundschaft. Dick beschützte, der Junge bewunderte. Darin war er gut. Jedenfalls, wenn es um Männer ging. Immer suchte sich der Junge solche Freunde. Leidenschaftlich hatte er sich gewünscht, seinen Vater zu bewundern, wie er es nun bei Dick tat, aber sein Vater gab ihm keine Gelegenheit dazu. Nichts als Kontrolle und Gewalttätigkeit. Als der Junge zehn Jahre alt war, waren sie fortgezogen, von Oklahoma nach Kalifornien, es war nicht der erste Umzug, immer auf der Suche nach Arbeit. Der Vater, Musiker von Beruf, fand keine Anstellung in den Jahren der Krise und in den Jahren danach, er tourte nur hier und da und spielte in zweitklassigen Bars.

Die Mutter saß zu Hause und zitterte und spürte ihre Schönheit von sich abblättern wie den Putz von den Wänden. Der Mann schlug oft mit den Fäusten gegen die Wände und gegen die Möbel. Wenn sie Glück hatten – sie und das Kind. Das Kind liebte sie abgöttisch, mit der gleichen verheerenden Inbrunst, mit der ein Priester seine Madonna verehrt. Bewahre mich davor, den Glauben zu verlieren! Zur Madonna betete sie auch, denn ihre Eltern stammten aus Italien, aber sie betete nur heimlich und versteckte die kleine Gipsfigur der Maria vor dem Mann. Sie verzärtelte den Jungen, sie nähte ihm Kleider, die einem kleinen Mädchen gut gestanden hätten, sie zwang ihn, in der Kirche mit seinem Knabensopran die Alten zum Weinen zu bringen.

Den Vater machte das wütend, unendlich wütend, oder vielleicht suchte seine allgemeine Wut, sein Hass auf die eigene Hilflosigkeit, auch nur ein Ventil. Aus dem Jungen sollte ein Mann werden, verdammt noch mal! Der Vater nahm das selbst in die Hand. Alles und jedes wurde bestraft und verboten. Nur eine Posaune schenkte er dem Zehnjährigen, deren Gewicht den zarten Jungen allerdings schier zu Boden zog. Das sah selbst der Vater ein: Eine Posaune war nicht das richtige. Die Trompete, die das allzu mächtige Instrument ersetzte, die spielte der Junge bald so hingebungsvoll, dass kein Kirchenchor und keine Altenversammlung mehr eine Chance hatten. Der Vater war zufrieden: Er würde einen richtigen Mann aus dem Jungen machen!

Wo ist mein Baby geblieben?, weinte die Mutter, die vergeblich darauf hoffte, dass der Mann ihr ein neues Kind machte. Aber der Mann dachte nicht daran. Ihm war die kleine Familie jetzt schon zu viel. Er war, das spürte er, eigentlich nicht zum Familienvater bestimmt. Sondern zu etwas anderem, Größerem. Und daran hinderte ihn die Frau! So viel war klar.

Und wieder brach sie durch, die große Wut. Und entlud sich in Schlägen und Fausthieben gegen die Mutter des Jungen. Der Zwölfjährige war in seinem Zimmer und versuchte die großen Swing-Melodien aus dem Radio nachzuspielen. Sie waren verwirrend, diese Melodien: große, kühne Schleifen und dann wieder scharfe, schnelle Akkordfolgen, wie Schwalben, die Formation fliegen, und der Junge, wenn er so Radio hörte, die Trompete an den Lippen, legte unwillkürlich den Kopf in den Nacken, als wolle er wirklich versuchen, dem Flug der Schwalben zu folgen und sich ihre Lieder einzuprägen. Mit seiner Trompete konnte er fliegen. Aber die Schreie, die er hörte, waren keine Vogelschreie, sie kamen von seiner Mutter. Und seine Mutter flog nicht, sie stürzte. Der Junge rannte voller Angst in die Küche, um ihr zu helfen. Es gab kein Instrument gegen den Schmerz.

Also brach er auf, mit sechzehn, zur Army. Das war nun ein bisschen mehr Männlichkeit, als dem Vater recht war, aber was sollte er machen? Die Frau hing weinend an seinem Arm, da musste er so tun, als ob er es gut fände. Und eigentlich fand er’s auch gut: Irgendwer musste es den Japanern ja zeigen oder den verdammten Nazis, was spielte es für eine Rolle, dass die schon vor anderthalb Jahren kapituliert hatten! Der Vater trug sogar den Instrumentenkoffer des Jungen, er reichte ihm das Gepäckstück die Gangway hinauf: Mach’s gut, Junge, zeig’s denen da drüben. So richtig hatte er nicht kapiert, wo’s hinging, auch der Junge hatte es erst in letzter Minute erfahren, nach der üblichen Grundausbildung, die drei Monate dauerte und für Indochina genauso nützlich sein sollte wie für das besiegte Deutschland: Durch den Dreck robben, Handgranaten schmeißen, das Sturmgewehr putzen. Putzen schien die Lieblingsdisziplin aller sadistischen Sergeants zu sein. Und es gab eine Menge Sadisten in Fort Lewis. Dort war ihm Dick zum ersten Mal aufgefallen.

Dick, ein einfacher Rekrut wie er, Private Dick Douglas aus Pasadena, hatte zum dritten Mal den Boden der Offiziersmesse schrubben müssen. Und Dick? Nahm den Eimer, füllte das scharf riechende Putzmittel und acht Liter Wasser hinein – dann öffnete er seinen Hosenstall und pisste ins Wasser. Dabei begann er fröhlich zu pfeifen und putzte und zwinkerte dem verblüfften Jungen zu, der sich bemühte, nicht auf Dicks Hose zu starren, denn so ein Ding hatte er noch nicht gesehen.

Der Junge hielt sich in Dicks Nähe und war fast ärgerlich, dass sie von Fort Lewis noch einmal nach Hause kamen für dreißig Tage. Aber da stellte er fest, dass er schon ein Fremder war, selbst Shirley roch fremd und fühlte sich fremd an, auch wenn sich ihre vorwitzigen kleinen Zitzen noch genauso eifrig unter seinen Fingern aufrichteten wie vor sechs Monaten. Was hätte er ihr erzählen können? Und so nestelte er lustlos an Shirley herum, zog sie halb aus und dann wieder an und versuchte, dabei nicht an das M1 zu denken, das genauso glatt und widerstandslos in seinen Händen lag wie das Mädchen.

Und dann schifften sie sich ein, in Camp Kilmer, New Jersey, nun keine Jungen mehr, sondern Männer mit einer Mission. Das Hochgefühl hielt, bis die ersten drei Dutzend seekrank wurden. Dann weitere fünfzig. Irgendwann gut ein Drittel der eintausendachthundert. Und während das große graue Schiff über den Atlantik schleuderte und die Männer in seinem Inneren hin- und herwarf wie nutzlosen, falsch geladenen Ballast, machten die Männer gleich mehrere Verwandlungen durch: Die eben noch überzeugten GIs, die Männer, die der Welt Demokratie, Ordnung und Sicherheit bringen würden, verwandelten sich wieder in Jungen, ängstliche, unsichere Rotzlöffel, die darauf warteten, dass jemand käme und sie bei der Hand nähme – oder ihnen wenigstens die durchgeschwitzten T-Shirts wüsche.

Und wieder eine Weile später wurden sie apathisch, eine aggressive Gleichgültigkeit befiel sie, eine furchtbare und grundsätzliche Müdigkeit – allen Aufgaben zum Trotz, die sie an Bord zu erledigen hatten und die, das war leicht zu durchschauen, vor allem dazu dienten, die Disziplin aufrechtzuerhalten: Wache schieben, Antreten, Waffen pflegen, Essen vorbereiten und immer wieder Putzen. Sie schwankten beim Wachdienst vor Lethargie, sie traten an, starr wie mechanisches Spielzeug, sie glotzten beim Putzen auf die nassen Streifen, die ihre Lappen hinterließen, als stünde darauf eine Lösung geschrieben. So groß und so allgemein war diese Müdigkeit, dass sogar die Pornohefte ungelesen von Mann zu Mann weitergereicht wurden, manchmal besorgte es sich einer nachts und gab sich wenig Mühe, das zu verheimlichen, und das Stöhnen klang eher wie Kindergreinen. Meistens gaben sie es auf halber Strecke auf. Und immer stank es. Nach Erbrochenem, nach Urin und Schweiß und schlechtem Schlaf. Nach den Resten der immer gleichen Suppen und nachts nach der Mischung aus Aqua Velva und Orangensaft und Tabak, den sie heimlich, trotz des strengen Verbots, einander verkauften.

Nachts versuchten die Jungen, die tagsüber gehorchten wie folgsame Kinder, erwachsen zu sein. Nachts stießen sie Rauch in die Luft, rülpsten vernehmlich und marschierten breitbeinig herum, standen mit verschränkten Armen hinter den Kartenspielern. Das Kartenspiel war natürlich verboten. Glenn und Johnny organisierten die Pokerrunden, und sie hatten es geschafft, dass es als Ehre galt, dabei zu sein.

Irgendwann erwischten sie auch den Jungen. Der Kleine aus Glendale, Kalifornien, hatte keine Chance gegen die Tricks der Alten. Sie wollten sich totlachen über seine schlecht verborgene Zuversicht, als sie ihm am Anfang ein gutes Blatt zuspielten, damit er sich in Sicherheit wiegte: Two Pairs, auch mal einen Flush, es war erstaunlich, wie schnell man dem Jungen eine Freude machen konnte! Die Einsätze wurden erhöht. Jemand warnte den Jungen. Der Jemand war Dick, der ihn nicht aus den Augen ließ, aber der Junge wies die Warnungen zurück und spielte weiter. Und verlor.

Er verlor eine Runde und dann noch eine, und irgendwann war er blank und war pleite und hatte nichts mehr, keinen einzigen Cent vor sich auf dem Tisch. Da erwachte er, wurde zornig, begriff, dass sie ihn betrogen hatten, und die Tränen der Wut schossen ihm in die Augen. Heul doch! Oder sing uns was vor, Kleiner! Singst ja eh wie Cab Calloway, dieser Schwanzlutscher. Aber ein Schwanzlutscher bist du ja auch, stimmt’s! Eine kleine Schwuchtel! Und sie machten das Getänzel des Sängers aus Baltimore nach, oder vielleicht machten sie auch den Jungen nach, der morgens im Waschraum manchmal vor sich hin sang und sich dazu leise bewegte: Singen beim Zähneputzen! Sie lachten sich tot!

Angesichts der Hänselei stürzte sich der eher schmächtige Junge auf Glenn, den Rädelsführer. Er mochte Cab Calloway, er liebte die Musik aus dem New Yorker Cotton Club, aber darum ging es jetzt nicht. Der Tisch wurde umgeworfen, Gläser flogen, Fäuste landeten hier und da, und im allgemeinen Getümmel wurde übersehen, dass jemand den Jungen beim Kragen packte und aus dem Raum zerrte, unnachgiebig, entschieden: Dick. Mach so einen Bullshit nie wieder!, sagte er streng. Das ist nichts für dich. Ich weiß noch nicht, was du für einer bist, aber das hier ist nichts für dich.

Schwer atmend standen sie an Deck, der Junge, der vor Empörung und vor Kälte zitterte, und Dick, schwitzend. Der Junge fühlte sich hingezogen. Dick war stark. Er war mutig. Er hatte ihn beschützt. Dick fand den Jungen seltsam. Ungewöhnlich. Ein hübscher Bengel, sicher, aber das konnte Dick nicht beeindrucken. Es gab vielmehr etwas im Gesicht dieses Jungen, das ihm gefiel. Es gefiel ihm – und gleichzeitig beunruhigte es ihn. Etwas in diesem Gesicht flackerte. War unstet. War unberechenbar. Chet konnte von einem Augenblick zum anderen völlig in sich versinken – oder, wie eben, in eine unkontrollierte Wut ausbrechen. Und die Wut hatte nur scheinbar etwas mit dem abgekarteten Spiel der anderen zu tun, die Wut, das ahnte Dick, hatte einen anderen Ursprung, sie wurde genährt von Erlebnissen, die sehr weit zurücklagen. Dick wusste nicht, was ihn an dem Jungen mehr anrührte: sein Zorn oder seine Sanftheit.

Gehen wir wieder rein!, sagte er nach einer Weile. Habe keine Lust auf die Krankenstation. Und Calloway ist ganz großer Mist, merk dir das!

Und dann waren sie durch. Dann warf sich der Truppentransporter in der deutschen Stadt Bremerhaven an den Kai und spuckte seine Ladung aus. Und die Männer, die an Land geworfen wurden, ihr spärliches Gepäck über der Schulter, blickten in einen neuen Tag. Der Tag war unbekannt und grau, weiß und eisig. Das Land lag unter einer knöchelhohen Schneedecke.

So was!, sagte Dick andachtsvoll. Der Schnee schluckte die Stiefeltritte der Männer und das Geräusch der heranrollenden Laster, der Schnee schluckte die gebrüllten Befehle der Offiziere. Schnell liefen die Gesichter der Männer rot an: Die Kälte biss unbarmherzig zu. Sie setzten sich in Bewegung. Folgten irgendwem irgendwohin. Behielten immer das Weiße im Auge. Das Weiße hypnotisierte sie, sie saugten das Weiße durch die Augen in sich hinein, und das Weiße breitete sich in ihnen aus wie die Kälte, irgendjemand entfaltete in ihnen ein großes Laken, eisig und steif und weiß. Irgendwo eine Halle. Beschlagende Brillen, Pfützen um die Stiefel und Nasen, die so heftig liefen, dass kein Taschentuch half. Rotzjungen jetzt wieder vor den Anschlagstafeln auf irgendeinem Flur. Und dann das Glück, als der Soldat las, wohin der Marschbefehl ging: nach Berlin. Nicht deswegen war der Soldat glücklich, er hatte nur eine sehr vage Vorstellung von der ehemaligen Hauptstadt des Reiches – glücklich war er, weil auch Dick nach Berlin abkommandiert war. Sie würden zusammenbleiben.

In einem nüchternen Saal hieß es warten. Sie waren müde, sie waren stumm. Jemand brachte Kaffee. Ein Radio lief. Eine tiefe Frauenstimme sang, und Chet horchte auf. Er konnte nicht anders. Er hörte jeder Musik zu. Das hier war ein Lied, ein kleiner Song, und Chet, der den Text nicht verstand, begriff dennoch, dass es um die Seefahrt ging und die unvermeidliche Sehnsucht: Der Junge an der Reling/ der sieht nur still in diese Sternennacht hinaus./ Die Küsten sind voller Häfen,/ doch jeder Hafen spuckt ihn wieder aus/ Hoppla-he… Ein Akkordeon, ein paar Streicher, ziemlich sentimental das Ganze. Aber die Frau sang nicht schlecht. Lakonisch, so, als würde sie das üppige Arrangement gar nicht kümmern. Ein deutscher Star, belehrte man ihn, sehr berühmt während des Krieges. Der Junge erkundigte sich nach dem Namen. Lale Andersen. Eine Blondine. Man erzählte ihm von Lili Marleen, die während des Krieges die Soldaten auf beiden Seiten der Front gerührt hatte – aber Chet hörte schon nicht mehr zu. Was für eine Stimme! Chet stellte sich die Person vor, die zu dieser Stimme gehören musste, und dachte, dass die Geschichten von den gewaltigen deutschen Frauen, diesen blonden Walküren, wahrscheinlich doch stimmten, und dass diese Frauen genauso gefährlich wären wie ihre Nazimänner. Mindestens. Zum ersten Mal spürte der Junge so etwas wie Angst. Er würde auf der Hut sein. Er würde sich in keine Falle locken lassen. Er war froh, als das Lied zu Ende war.

Sie reisten mit Umwegen, erst in einem Wagenkonvoi, dann im Zug, dann in einem anderen Zug, und schon bald verloren die Soldaten die Orientierung. Aber erst nach ein paar Stunden fiel ihnen auf, dass da draußen etwas fehlte: die Deutschen. Sie fuhren durch ein verlassenes Land. Sie passierten tote Landschaften, ein endloses, flaches Schwarzweiß von niedrigem Buschwerk, Zäunen und erstarrenden Flüssen. Sie rumpelten durch Dörfer, in denen sich nichts regte, durch wenige Kleinstädte nur, die aber schon vor langer Zeit aufgegeben schienen: überall Ruinen, Trümmer, verkohlte, verbrannte Mauern und davor der Schnee, der auch eine graue Farbe angenommen hatte, grau wie alte Kohle, grau wie Ruß, grau wie die unendliche Traurigkeit, die auf dem Land lag.

Das kalte Leintuch, das sie im Innern trugen, wurde fleckig, wies Risse auf. Die Soldaten fühlten sich unbehaglich, verstummten. Wo war der Feind? Wo waren die Besiegten, denen sie Freiheit und Demokratie bringen sollten? Wo waren die Walküren und die blonden Bestien, an die er sorgenvoll gedacht hatte? – Gibt vielleicht gar nicht viel zu tun!, sagte Dick lachend: Keiner zu Hause!

Aber dann sahen sie sie doch, die Verlierer, die Feinde. Es war am Rande einer kleinen Siedlung. Sie verließen gerade im Schritt-Tempo den Bahnhof, da, wo sich mehrere Gleisstränge auf komplizierte Weise verzweigten, um dann für eine Weile parallel zueinander weiterzulaufen. Der Junge wischte gerade mit dem Jackenärmel über die Scheibe des Abteilfensters, da entdeckte er sie: eine kleine Gruppe verhüllter Gestalten, die rasch einen kleinen Hügel herabstiegen, mehr rutschten als kletterten, unsicher, eilig, wobei sich mehrere von ihnen umwandten und den anderen winkten. Einige hatten Säcke dabei, andere trugen etwas in ihren Taschen, unter den Mänteln und Umhängen, sorgsam, als würden sie kleine Kinder mit ihren Körpern schützen, vor dem Wind, vor dem Schnee, der über die Gleise blies. Die Gestalten sprangen, krümmten sich, rannten, schleppten und wuchteten schwere Lasten. Der kleine Hügel war ein Kohlehaufen, der auf dem Wagen eines Güterzugs aufgetürmt war, und die ameisenhaft wimmelnden Gestalten, diese Schwarzgekleideten ohne Gesichter, die rafften, sammelten, bargen, stolperten, flohen – das waren die Deutschen. Die Nazis. Das gefährlichste Volk der Welt. Einige hasteten zwischen den Gleisen davon, andere verkrochen sich, wie es schien, unter den abgestellten Waggons.

Ein Sergeant war zu ihnen ins Abteil gekommen: Kohlen klauen!, erklärte er. Das ist ihre liebste Beschäftigung, wenn sie nicht gerade auf Hamstertour sind.

Kohlen klauen? Warum klauten die Deutschen und kauften sich keine Kohle? Und was hatte es mit der Hamstertour auf sich? Dick, der eine schnelle Auffassungsgabe hatte, merkte sich die beiden Wörter sofort: Kohlenklau. Hamstertour. Das waren ihre ersten beiden deutschen Vokabeln. Auch der Junge vergaß sie nicht mehr, dabei hatte er gar kein Talent für Fremdsprachen. Und auch keins zum Reden.

Sonst machte sich Dick, der geschmeidige, immer wieder lustig über seine Wortkargheit, seine Unbeholfenheit, seinen Ernst. Aber jetzt, nachdem sie zwanzig, dreißig Mal die neuen Wörter geübt hatten, schwiegen sie gemeinsam. Sie schauten auch nicht mehr hinaus. Sie wussten ohnehin nicht, wo sie waren. Sie waren – Verlorene. Ausgesetzt in einem fremden Land. Selbst Dick spürte das.

Irgendwann stand der Junge auf, griff in das Gepäckfach über ihnen und holte einen langen, schwarzen Lederkoffer hervor. Er setzte sich wieder, legte sich den Koffer auf den Schoß und öffnete ihn. Mit der Linken griff er, ohne hinzuschauen, in das blausamtene Futteral, in dem seine Trompete lag, und berührte sie sorgfältig: Das Mundstück, den Hals, die Ventile. Er hatte nicht vor zu spielen. Es reichte ihm, sie zu berühren. Ihre Glätte, ihre Kühle, die stille Kompaktheit des Instruments gaben ihm Ruhe und sogar so etwas wie Zuversicht. Dick lächelte. Was ließen sie sich so ins Bockshorn jagen! Aber er sagte nichts.

Renate hatte die Nase im Dreck. In einem schmutzigen, schmierigen Eisbrei. Ihr würde das Gesicht festfrieren, gleich hier, auf den Schwellen eines stillgelegten Gleises am Stadtrand, wo sie mit anderen Verlorenen Kohlen klaubte. Bis, ja, bis die Militärpolizei auftauchte und man nicht wusste, wie ernst sie es heute meinten mit der Wachsamkeit. Das Gesicht würde ihr einfrieren, und an Vaseline war nicht zu denken. Sie dachte daran, wie liebevoll und resolut die Mutter die Lippen des Vaters früher damit eingerieben hatte, bevor er losmarschierte, die Trompete unterm Arm, zum großen Umzug des Spielmannszugs. Das war vorher gewesen.

Dann war es schwierig geworden bei ihnen zu Hause, der Kohlehandel des Vaters florierte nicht recht, und aus der Vaseline wurde Schweineschmalz und aus dem Schweineschmalz etwas Geronnenes, Bräunliches, das auf dem tupfenden und reibenden Zeigefinger der Mutter Spuren wie von Rost hinterließ. Dann gab es nicht mehr genug Männer für den Spielmannszug. Dann zogen sie den Vater ein. Und als er zurückkam, war die Trompete nicht mehr da. Verkauft, versetzt, Irmgard wusste kaum noch, wofür, und regte sich auf, weil der Vater es unbedingt wissen wollte. Rosinen, Kartoffeln, Mehl – was weiß ich, ist doch auch egal! Aber dem Vater war es nicht egal, überhaupt nicht, und das Schweigen zwischen Irmgard und ihm wurde so feindselig, dass selbst die Untermieter schlichen, als könnten sie jederzeit bei etwas Verbotenem ertappt werden.

Ertappt werden! Nur das nicht! Renate versuchte, möglichst flach zu atmen, als sie unter den Waggons hindurch Stiefel näher kommen sah. Dieses Knirschen und Quiemen des Schnees! Die Beine starben ihr ab, zwischen ihnen lag ihre Beute, ein halber Sack voll, nicht viel, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie den nach Hause bringen sollte. Irgendein Bauer mit einem Fuhrwerk würde sich erbarmen – sich sein Erbarmen aber bezahlen lassen, so oder so. Für alle Fälle hatte sie noch ein paar Silberlöffel dabei – Zigaretten wären besser gewesen. Irgendwo hinter ihr raschelte einer. Und dann donnerte es. Rumpelte. Ratterte gewaltig – ein Zug, ein richtiger, ordentlicher Personenzug. Renate wusste, dass damit die amerikanischen Truppen transportiert wurden: in Zügen, die nicht nur Abteilfenster hatten, sondern angeblich sogar geheizt wurden. Sie hätte zu gern einen Blick riskiert.

Immerhin entfernten sich jetzt die Stiefel; die Militärpolizei verordnete sich Winken und Grüßen, und diese wenigen Augenblicke genügten Renate und den anderen, um zu türmen. Schnell, bloß weg hier! Im Geratter des Zuges gingen leise Rufe und das Gepolter der Säcke unter. Sie zerrte ihre Beute mit sich fort. Und tatsächlich nahm sie ein Bauer mit bis Zehlendorf.

Zurück auf dem verlassenen Bahngelände blieben die Körperabdrücke der Kohlesammler, ausgestreckte Körper, scheinbar ohne Arme, weil sie diese dicht am Körper gehalten hatten; Eiskäfer, flügellos und schmutzig. Immerhin: Für diesmal waren sie entkommen.

Die Freude über die gelungene Aktion hielt nicht lange vor, denn ab Zehlendorf hieß es schleppen. An der Ecke Unter den Eichen wartete die Schwester, halb unter einem abgestorbenen Busch verborgen. Sie wartete schon lange, sie hatte sich nicht weggetraut, um Renate mit der Last keinesfalls zu verpassen. Es sah nicht so aus, als ob sie sich ohne weiteres bewegen könnte. Wie festgefroren. Renate zog sie hoch. Aber Riccardas Atem verriet einen weiteren Grund, neben der Kälte: Brandy. Ein äußerst kostbares Gut, für solche langwierigen Märsche wie diesen aufgehoben, als Kräftigung und gegen die Kälte. Riccarda hatte ihren geheimen Schatz dabei: Eine silberne, kugelförmige Flasche mit der Gravur New York, 1939. Eigentlich war es kein Silber, die Flasche war nur silberfarben.

Die Kugel war eine Nachbildung des Wahrzeichens von der New Yorker Weltausstellung – eigentlich nur eine Hälfte des Wahrzeichens, denn zu dem berühmten Ensemble gehörte noch ein Obelisk – aber für Riccarda war dieses unechte Schmuckstück, dieses halbe Symbol des Fortschritts, ihr kostbarster Besitz. Das Geschenk eines Offiziers aus New Jersey, der die World Exhibition tatsächlich besucht hatte und der ihr von Wunderdingen wie Rolltreppen und scheinbar stützenlosen Gebäuden berichtet hatte. Riccarda hielt diesen Besitz vor der Mutter geheim. Sie bewahrte ihn für sich und die Schwester auf. Sie sorgte dafür, dass sie immer genug Brandy hatten. Für Augenblicke wie diesen. Komm, trink!

Renate grinste, sagte aber nichts. Eine Weile gingen sie eingehakt, trotz des Kohlesacks auf Renates Rücken. Der Kohlesack rutschte nach links, über Renates Schulter und plumpste zu Boden. Da lachten sie und stöhnten und luden ihn sich wieder auf. Mal nahm Riccarda den Sack, mal Renate. Mal nahm die eine einen Schluck, mal die andere. Nach zwei Stunden fing es wieder an zu schneien.

Viermal waren sie kontrolliert worden – von Russen. Der Junge hatte noch nie in seinem Leben Russen gesehen. Eigentlich überhaupt keine Ausländer. Diese hier guckten feindselig, sie trugen seltsame graue Hosen und Blusen aus steifem Stoff. Sie redeten nur untereinander, verlangten aber unmissverständlich die Papiere, verzogen sich wieder und ließen den Zug passieren, unwillig, wie es schien. Waren das nicht ihre Verbündeten?, dachte der Junge. Und dachte zum ersten Mal: Wir sind im Krieg. Sie befanden sich in einer Art Krieg, auch wenn seit über einem Jahr Waffenstillstand herrschte. Dies hier war ein anderer, ein merkwürdiger Krieg. Eine komplizierte Sache mit mehr als nur einer Front.