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Der dreizehnjährige Boris reist mit Gleichaltrigen und Betreuern in ein Pionierferienlager auf die Ostseeinsel Rügen. Es ist Sommer - als der Junge vor dem Meer steht, ist er überwältigt von der scheinbaren Unendlichkeit und dem zuvor nie gesehenen Blau. Im streng geregelten Zeltleben auf dem Steilufer gerät Boris bald in die unerbittlichen Auseinandersetzungen von zwei Betreuern, dem jungen Boxtrainer Womacka und dem undurchsichtigen Lehrer Standke. Der Junge ist hin- und hergerissen zwischen anerzogenem Gehorsam und dem Verlangen nach Freiheit. In seiner ihn verwirrenden wie erschütternden ersten Liebe steht er zwischen zwei Mädchen: Mit der eher stillen, verständnisvollen Vera schreibt er sich Briefe. Den Weg zur resoluten und reizvollen Ulli versucht ihm sein Widersacher Kalinke zu verstellen, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Und da ist auch noch das Geheimnis um den Tod von Boris´ geliebter Mutter zu lösen …
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Gunter Preuß
Die Gewalt des Sommers
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Manchmal …
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Nachtrag
Anhang
Glossar
Impressum neobooks
… war es, als schliche etwas Böses durchs Lager. Es hatte kein Gesicht, keine Gestalt und doch war es da. Es war zwischen ihnen, aber auch in ihnen. Etwas Bedrohliches breitete sich aus. Es sagte lautlos voraus, dass das, was ihr bisheriges Leben bestimmt hatte, zu Ende gehen würde.
Gewiss hat es in der damaligen DDR andere Pionierferienlager gegeben, in denen es anders zuging. Und doch sieht der Autor sein Szenario der Wahrheit näher, als manchen Schauplatz der Wirklichkeit.
Die Zugfahrt von Leipzig zur Insel Rügen würde wohl niemals ein Ende finden. Eingekeilt zwischen Menschenleibern, umwoben von muffig-süßlichem Geruch toter Blumen, dachte der Junge, dass er dem Gefühl von Enge wohl nie entkommen würde. Soweit er sich zurückerinnerte, hatte es ihn bis auf wenige Augenblicke der Losgelöstheit immer begleitet.
In Berlin mussten die Reisenden den Zug verlassen. Uniformierte kontrollierten die Abteile. Erst nach einer halben Stunde durften sie wieder zusteigen. Die Jungen hatten Spaß am Gewühl und Gejohle. Die Alten schimpften und verschafften sich rempelnd ihren Sitzplatz. Ein paar Haltestellen später wurde die Diesellok aus inländischer Produktion gegen ein rumänisches Fabrikat getauscht. Gleich waren Spottnamen zu hören, wie „Ceausescus Rache“ und „Karpatenschreck“. Je weiter sie in Richtung Norden fuhren, umso langsamer kam der Zug voran. Obwohl als Schnellzug ausgeschrieben, hielt er inzwischen an jeder Kleinstadt. Ein rothaariger Student, der vor seiner Freundin fortwährend prahlte, wollte wissen, dass es auf der Strecke einen Unfall gegeben hatte. An einem Bahnübergang sei ein Lastwagen in den Waggon eines Güterzugs gerast. Der Schaffner spräche von Verletzten und Toten.
Die Zugfahrt erinnerte Boris an Berichte von Erwachsenen, die ihre Reise an die See in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als höchst langwierig und umständlich beschrieben hatten. Er hatte auf eine Fahrt mit E-Lok und Doppelstockwagen in nicht so bedrängender Enge gehofft.
Wenn der Zug nach all den Aufenthalten wieder anruckte, wurde das jedes Mal mit großem Hallo begrüßt. Die Jungen und Mädchen, die mit Boris ins Ferienlager fuhren, waren ihm zu laut und aufgedreht. Ihre Gesichter glänzten fiebrig, es gab Gespött und Zänkerei, Witze wurden erzählt, deren Pointe in übermütigem Gelächter unterging. Die Abteile waren überfüllt, Kleinkinder lagen im Gepäcknetz, junge Leute machten sich einen Spaß, an den Haltestellen durch die Fenster zu- oder auszusteigen. In den Kurven ratterten und knirschten die Waggons. Manchmal warf es die Fahrgäste durcheinander oder schüttelte sie, als würde der Zug über Kopfsteinpflaster fahren. Dann bremste er wieder schrill, von einem Signal oder Haltepunkt aufgehalten. Die Lok surrte wie ein überdimensionales Insekt, die Luft, selbst Gegenstände vibrierten, der Diesel roch nach faulen Eiern. Aufbrüllend wie ein geschundenes Tier setzte sie sich endlich wieder in Bewegung.
In Stralsund mussten sie umsteigen. Diesmal zog die fabrikneuen Wagen, allgemein beklatscht, eine der gewaltigen Dampfloks, die weitgehend aus dem Verkehr genommen waren. Boris stand in dem mit Menschen und Gepäck verstopften Gang, hielt seinen Kopf aus dem heruntergezogenen Fenster und ließ sich vom Fahrtwind den rußigen Dampf, den die Lok kurz und heftig auspaffte, ins Gesicht blasen. Die Pfiffe, die der Koloss hin und wieder ausstieß, klangen dem Jungen lustlos in den Ohren. Er fühlte sich müde, ja alt, jedenfalls älter als die in den Abteilen lärmenden Jungen und Mädchen und ihnen nicht zugehörig. Er wünschte, krank zu sein und sich in seinem Bett verkriechen zu können. Wenn er die brennenden Augen schloss, beunruhigte ihn Annas Blick. Vor ein paar Tagen hatte die Großmutter ihn immer wieder angesehen und, wenn er aufschaute, weggeblickt. Obwohl er die Antworten fürchtete, hatte er Fragen gestellt. Über Nacht dann war ihm in wirren Träumen das Bild seiner Mutter verloren gegangen. Am Morgen hatte er es in seine Gedanken zurückzwingen wollen. Er hatte sich Fotos angesehen und sie zu zeichnen versucht. Aber die Mutter blieb hinter einer Schattenwand verborgen.
Zehn Stunden waren sie nun unterwegs und noch immer nahm die Fahrt kein Ende. Boris sehnte sich bereits jetzt in das Auendorf zurück. Lerchau lag eingebettet in der Tieflandbucht zwischen Leipzig und Halle. Dort war alles überschaubar, ob er sich nun in seinen Tagträumen als Vogel in die Lüfte schwang oder als Frosch an den Boden drückte und zum Himmel aufschaute. Ihm fehlte Brunos schwere Hand auf der Schulter, sein schaukelnder Gang und der ihm anhaftende Geruch nach Tabak und saurem Schweiß. Vor allem aber vermisste er Annas besorgten Blick, ihr Augenzwinkern, wenn sie sich ertappt fühlte und ein Lächeln über ihr gebräuntes Gesicht huschte. Die Großeltern gaben ihm das Gefühl, etwas wert zu sein, mehr als ihr selbst gebautes Haus, vielleicht sogar mehr als ihr eigenes Leben.
Der Junge sah die kommenden Wochen wie ein endlos weites Feld vor sich liegen. Er wusste nicht, wie er da hinüberkommen sollte.
Als sie auf der Insel den Zug verlassen konnten, waren sie steif und müde.
Dann endlich, nach langem Fußmarsch, den von Anna gepackten Rucksack geschultert, stand der Junge vor dem Meer. Sekundenlang war er wie geblendet. In diesem Augenblick schien sich alles, was eben noch in unzähligen Teilen durcheinanderwirbelte, vereinigt zu haben. Er ballte die Hände gegen dieses Sausen und Schwirren in ihm. Wieder im Gleichgewicht, riss er die Augen auf und trank gierig die Weite, das Grün und das Blau. Das alles hatte er so noch nie gesehen. Sein Blick reichte bis zum fernen Horizont. Nur ein in Grautönen fein überlagerter Strich, den wohl kein Mensch so zeichnen konnte, trennte Meer und Himmel voneinander.
Die Jungen, die selbst in den abseits gelegenen „Lehmlachen“ im heimatlichen Auenwald nie nackt badeten, rissen sich die Sachen vom Leib, rannten mit Geschrei ins Wasser und sprangen kopfüber in die rhythmisch heranrollenden Wellen. Die Mädchen zierten sich, sie beratschlagten kichernd. Als das erste schließlich im Badeanzug ins Wasser rannte, schlüpften auch die anderen flink in ihre Badeanzüge und Bikinis und rannten kreischend hinterher.
Die Lehrer und Betreuer sahen amüsiert dem Badevergnügen zu. Sie hätten wohl gern mitgetan, doch sie waren einander noch wenig bekannt und warteten erst einmal ab.
Der Pionierleiter kam lachend heran und blieb neben Boris stehen, der, noch immer fasziniert vom Anblick der See, zurückgeblieben war. Lothar Womacka war Mitte zwanzig, ein ehemaliger Spitzensportler, der im Amateurboxen zum Olympiakader gehört hatte. Die Schüler nannten ihn „Ali“, nach dem schwarzen Boxgenie Muhammad Ali, was er sich gern gefallen ließ.
„Beeindruckend, was?“
Ali schattete mit einer Hand seine Augen ab und schaute aufs Meer. Durch seine gerade und straffe Haltung wirkte er geradezu übermächtig. Wenn Boris neben ihm stand, bemerkte er überrascht, dass Ali nicht so groß war, wie er ihn immer vor Augen hatte. Der Junge machte sich unwillkürlich kleiner.
„Dein erstes Mal, stimmt.“
Ali stellte den Koffer ab, der mit Abziehbildern von Ländern Osteuropas beklebt war, und nach kurzem Zögern auch den großen Vogelkäfig. In ihm hüpfte „Sandra“, ein selten gewordener Kolkrabe, schwerfällig von Stange zu Stange und krächzte, dass es wie sattes Rülpsen klang.
Nun setzte auch Boris seinen Rucksack ab. Er drehte sein Gesicht weg und wischte mit dem Jackenärmel darüber. Gern hätte er mal losgeheult. Das Gespött der Jungen fürchtete er nicht. Aber Alis Verachtung hätte er nicht ertragen. Er nickte eifrig, als Ali verschwörerisch sagte: „Kriegen wir hin, versprochen.“
„Ja“, sagte Boris. „Ja, klar.“
Ali lachte, da lachte auch Boris, der Pionierleiter ging in Boxerstellung und schlug eine linke und rechte Gerade am Kopf des Jungen vorbei.
„Wie wir das hinkriegen, immer!“
„Ja, Ali! Ja!“
Das Zeltlager befand sich unweit dem kleinen Fischerdorf Dranske, etwa fünfzehn Kilometer von Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt der Republik, entfernt. Der dunkle Wald aus hochgewachsenen Kiefern und Fichten und vereinzelt stehenden mächtigen Buchen war stellenweise etwa zweihundert Meter breit und zog sich an der steil abfallenden Küste hin. Größere Geländeabschnitte waren von hier stationierten Grenztruppen besetzt und für Einheimische und Urlauber streng gesperrt. In einem frei zugänglichen Waldstück und anschließender Heide hatte eines der über die Insel verstreuten Pionierlager seinen Platz.
Es war früher Morgen und der dritte Tag, an dem der Junge nun hier war. Die Kinder und Betreuer schliefen noch in den Zelten, als Boris sich ruckartig aufsetzte. Er war wieder in diesem alten Haus gewesen, durch unzählige Zimmer geirrt und Treppen hoch und runter gestiegen. Das alte Holz hatte zu ihm gesprochen, um ihn war es dunkel und doch konnte er sehen, in einem abgewetzten Plüschsessel lag an der Rückenlehne ein eingedrücktes Kissen, eine Schlafdecke war zurückgeschlagen. Er hatte gewartet, war die Treppen hoch und runter gelaufen, von Zimmer zu Zimmer gegangen, er wartete ...
Seine drei Zeltgenossen schliefen noch fest. Der stämmige Kalinke, der keiner Rauferei aus dem Weg ging, hatte den Kopf auf seine Boxhandschuhe gebettet. Neben ihm hatte sich der lang aufgeschossene Horst eingerichtet. Um seine Augen zuckte es, als sollte ihnen auch im Schlaf nichts entgehen. Der Dickwanst Ralph Malisch hatte ein abwehrendes Lächeln im blassen Gesicht.
Die drei Jungen, die Boris aus Lerchau kannte, erschienen ihm verändert. Sie hatten andere Gesichter bekommen, waren sich manchmal nur noch entfernt ähnlich. Auch die anderen Jungen und Mädchen, ob nun aus seiner Klasse oder aus einer anderen, waren anscheinend nicht mehr dieselben. Sie saßen ja in den Klassenzimmern zusammen, trafen sich nach der Schule im Dorf und liefen sich hier und da über den Weg. Auf der Insel, beim gemeinsamen Essen, zu den Ausflügen und beim Baden im Meer, erlebte er sie anders. Er achtete auf ihre Stimme, hörte sie atmen und las aus ihren Gesichtern, was ihm sonst verborgen geblieben war. Auch er selbst versetzte hin und wieder einen von ihnen in Erstaunen. Dabei meinte er, sich wie sonst auch zu verhalten. Er war neugierig geworden. Manchmal war ihm danach, einem Jungen oder Mädchen, wer gerade in seiner Nähe war, Fragen zu stellen, um mehr von ihm oder ihr zu erfahren. Vor allem aber war er neugierig auf sich selbst. Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte er es tatsächlich mit einem anderen zu tun.
Boris öffnete mit klammen Fingern die verschnürte Zeltplane. Er rutschte auf den Knien nach draußen, atmete gierig ein und verharrte. Es war keine Nacht mehr, aber auch noch nicht Tag, es waren die Minuten, wo sich beide umarmten, um gleich darauf wieder voneinander Abschied zu nehmen. Der fast einen halben Meter große Kolkrabe, dessen Käfig vor Alis Zelt an einem Pfahl hing, drehte ihm den Kopf zu und schüttelte sein wie mit dunkelblauem Lack überzogenes Gefieder.
Die frühen Morgenstunden waren Boris nicht unbekannt. Die Großeltern standen täglich früh auf, obwohl sie inzwischen beide in Rente waren. Bruno arbeitete täglich noch ein paar Stunden im Möbelkombinat. Auch Anna war bislang halbtags in der Küche des Drehmaschinenwerks beschäftigt. Die beiden waren von jeher gewohnt in aller „Herrgottsfrühe“, welche Anna für die „segensreichste Zeit des Tages“ hielt, aufzustehen. Für Boris war es auch mit dem Schlaf vorbei, wenn in der Küche die Dielen knarrten und er bald darauf aus Stall und Hof Grunzen, Gackern und Meckern hörte. Dreimal in der Woche kehrten um diese Zeit auch die Düsenjägerstaffeln der Sowjets, die um Mitternacht im Tiefflug das Dorf überquert hatten, zu ihrem Fliegerhorst in die Dübener Heide zurück.
Hier an der Küste war der Morgen ganz anders, irgendwie weiter und scheinbar lautlos. Dann die Frische der Luft, der intensive Geruch nach Harz, der sich klebrig auf der Zunge ablagerte. Das wabernde blaue Licht vom Meer. Die schaukelnden Wipfel der Fichten, die ihn, den Kopf im Nacken, in ein beruhigendes Gefühl regelmäßigen Pendelns versetzten.
Eine Singdrossel flötete aus eng ineinander verhakten Wildrosenbüschen. Ein kleiner Vogel, wohl ein Zaunkönig, den Boris nur von Abbildungen kannte, flog schnurrend aus den Büschen am Boden entlang, setzte sich auf eine Leine mit aufgehängten Badesachen und sang rollend. Da erwachte eine Blaumeise aus dem Schlaf. Nach einem lockenden „sit sit“ ließ sie es glockenhell klingeln, was von hier und da erwidert wurde.
Der Junge zog hastig den Trainingsanzug aus und die Badehose an. Er rannte barfuß den mit Wurzeln überzogenen Waldweg bis zur Steilküste, schlüpfte unter einem Absperrband durch und stand am Rand der Klippe. Die Tage zuvor war er die Stufen hinuntergegangen, die Jungen hatten „Feigling!“ gerufen. Es hätte ihm nichts ausgemacht sozusagen blind zu springen, denn die Steilküste stand zum Meer hin etwas über, wobei das darunterliegende Stück nicht einzusehen war. Das Gehabe der Jungen war ihm einfach zu angeberisch und die Geheimnistuerei der Mädchen zu albern. Sie sprachen manchmal über ihn. Er tat, als hörte er es nicht. „Lach doch mal“, hatte ein Mädchen aus der Gruppe gerufen. Er hatte sich abgewandt. Seinen Schwur, nicht zu lachen, bis er das Gesicht der Mutter wiederfand, würde er nicht brechen. Auch der Vater war weg. Der war drüben. Für Boris war er gestorben. „Mit einem Toten lässt sich leichter leben als mit einem Lebenden, der nicht mehr da ist.“ Das sagte Bruno, bekräftigt mit einer wegwischenden Handbewegung, wenn Anna manchmal vorsichtig auf ihren Sohn zu sprechen kam.
Zu dieser Stunde erschien Boris das Meer grenzenlos. Sein kühles Blau erweckte den Anschein, als sei es noch unberührt. Boris verlangte es danach, einzutauchen und sich bis auf den Grund sinken zu lassen. Er trat ein paar Schritte zurück, sprintete los und sprang mit zum Kinn angezogenen Knien weit hinaus. Er landete weich in einer Sandkuhle, stieß sich gleich wieder ab, dass er wie auf einer Rutsche in Schussfahrt zum Strand hinunterglitt. Wieder auf den Füßen, musste er rennen, bis dann das Wasser ihn in Hüfthöhe abbremste.
Sein Schrei, den er so lange zurückgehalten hatte, schreckte ein paar Möwen auf. Sie hoben von den morschen Buhnenpfählen ab und kreisten schimpfend über ihm. Ihr „Krrjäh“ war ihm vertraut, als wäre er unter ihnen aufgewachsen, er hatte es eben nur lange nicht gehört. Das Meer, das ihn wie mit kühlen Händen anfasste, erinnerte an einen alten Freund, der früher, in längst vergessener Zeit, mit ihm gespielt hatte. In diesem Moment war ihm die Welt näher als sonst. Sie erschien ihm kleiner und leichter zu verstehen. Zugleich aber war sie unendlich größer und unentdeckt.
Langsam tauchte er ins Wasser ein und schwamm unter seiner Oberfläche, bis es ihn zum Auftauchen zwang. Das Ufer war weit weg, er fühlte sich gut aufgehoben hier draußen, begann zu planschen, drehte sich im Kreis, tauchte, bis ihm die Luft ausging, und genoss es, steil an die Oberfläche zurückzuschießen und mit aufgerissenem Mund einzuatmen.
Als er wieder in der Tiefe war, kam etwas auf ihn zu geschwommen. Er dachte an einen sich in die Ostsee verirrten Delfin, an eine Robbe; schließlich sah er, dass es ein Mensch war.
Sie tauchten gleichzeitig auf. Es war Ali, den Boris trotz der Taucherbrille und der Wäscheklammer auf den Nasenflügeln gleich erkannte. Sie schwammen nebeneinander zum Ufer zurück. Boris glich seine Schwimmbewegungen denen von Ali an, die ruhig und kräftig waren. Die letzten hundert Meter forderte Ali ihn mit einem Kopfnicken heraus. Sie kraulten, doch so sehr der Junge sich anstrengte, sein Kontrahent erreichte knapp vor ihm das Ufer.
Sie schüttelten sich wie Hunde. „Nicht schlecht, Kämpfer“, sagte Ali. „Mach was aus dir, sag ich doch, aber immer.“
Boris nickte. Zu dem, was der Pionierleiter sagte, konnte man nur nicken. Auch die anderen Jungen, mochten sie noch so aufsässig sein, widersprachen ihm nie. Bei Ali erschien alles, was manchmal so kompliziert und nur schwer zu ertragen war, verblüffend einfach. Er erklärte die Welt als Boxring: „Gibt nur dich und deinen Gegner. Den hast du zu besiegen. Durch k. o., möglichst. Kann dir kein Kampfgericht den Sieg nehmen, stimmt.“
Ali ließ sich vornüber auf den Sand fallen, pumpte exakte Liegestütze, und der Junge tat es ihm nach. Boris hatte sich früher nichts aus Sport gemacht. Es war ihm sinnlos erschienen, sich anzustrengen und zu schwitzen, ohne zu wissen, wofür. Doch dann war er aus der Stadt ins Dorf und an der neuen Schule in Alis Pioniergruppe gekommen. Ali hatte ihm kraftvoll die Hand geschüttelt, ihn mit taxierenden Blicken umkreist, dann auf die Schulter geklopft und gesagt: „Untrainiert. Ausbaufähig, schätze ich. Ein Kämpferherz, mal sehen. Zum Boxtraining, komm mal. Kalinke sagt dir, was Sache ist. Pünktlich, klar.“
Boris´ Muskeln zitterten, ein pressender Druck war hinter seiner Stirn, ein Würgen im Hals. Nicht aufgeben, dachte er verbissen. Niemals aufgeben.
„Siebenundzwanzig, achtundzwanzig“, zählte Ali die Liegestütze laut mit, und rief, während er selbst scheinbar mühelos weiter pumpte: „Nicht schlappmachen, du hörst! Neunundzwanzig! Dreißig! Noch einen! Einunddreißig! Noch zwei: Zweiunddreißig! Dreiunddreißig! Einer geht noch! Vierunddreißig!“
Als dem Jungen die Arme wegknickten und sein Gesicht auf dem feuchten Sand lag, rügte der Trainer: „Schwach, bei siebenunddreißig standest du, stimmt. Zum letzten Sparring, Kalinke, hat dich in die Mangel genommen, keine Überraschung.“
Ali schaffte neunzig Liegestütze. Er schüttelte seine Arme und Beine aus, setzte sich neben Boris in den Sand und sagte: „Sage dir, was ein Mann wissen muss, klar.“
„Ja“, sagte Boris. „Klar doch.“
„Also“, sagte Ali. „Der alte kubanische Fischer, Santiago, hab erzählt, von ihm, du weißt.“
„Ja“, sagte Boris. „Das hast du.“
Der Junge erinnerte sich an die Geschichte, die Ali an einem Pioniernachmittag geradezu andächtig wiedergegeben hatte, als wäre er dabei gewesen. Boris hatte sich das Buch dann ausgeliehen. Der alte Mann war vierundachtzig Tage vergeblich zum Fischfang aufs Meer gefahren. Er schlief in seiner armseligen Hütte und lebte von dem, was die Nachbarn ihm abgaben. Am fünfundachtzigsten Tag fuhr er mit seinem kleinen Boot wieder hinaus und harpunierte endlich den großen Fisch. Drei Tage und Nächte kämpfte er mit dem Schwertfisch. Und als er zu siegen glaubte, jagten ihm die Haie seinen Fang ab.
„Der Hemingway, lässt Santiago sagen, was Sache ist. Das zählt, nur das.“
„Ja, Ali, sag´s mir.“
„Aber der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“
Alis Blick tastete den eigenen durchtrainierten Körper ab, als wollte er sich bestätigen, dass er einem Kampf auf Leben und Tod gewachsen war. Er nickte, schlug eine kurze Gerade knapp am Kinn des Jungen vorbei, und rief: „Deckung, Mann. Muss im Schlaf sitzen, muss sie. Der Gegner, schläft nicht, wenn er was drauf hat. Der Gegner, du weißt wer?“
„Das weiß ich“, beeilte sich der Junge zu antworten. Er schmeckte fauligen Fisch, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, ihn fröstelte. „Aber immer, Ali.“
Ali wies mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. „Drüben, uns gegenüber, ist Schweden. Links Dänemark. Scharf links Westdeutschland. Denk nicht, dass die da drüben pennen, niemals. Heißt wie? Also.“
„Vorwärts und nie vergessen“, sagte der Junge schneidig. „Wessen Straße ist die Straße? Wessen Welt ist die Welt? Wir oder die? Seid bereit!“
Der Pionierleiter nickte und lachte. Sie schwiegen, der Junge fror, er spannte die Muskeln an. Ali pfiff leise einen Schlager. Hinter ihnen war die Sonne schnell aufgestiegen - als würde vom Land her eine blutrote Fahne auf der grünen Wasseroberfläche ausgerollt.
„Was stimmt nicht, was?“, fragte Ali unvermittelt.
Boris duckte sich, er wollte antworten, fand aber kein Wort.
„Geht schon“, sagte Ali. „Muss gehen.“
„Meine Mutter“, sagte Boris schließlich. „Sie ist ...“
„Weiß“, sagte Ali. „Tut weh, weiß.“
„Sie ist – weg.“
„Weg?“
„Aus meinem Kopf. Einfach weg. Ich meine, ich kriege sie nicht mehr - zusammen. Ihr Bild – nur noch ein dunkler Fleck ...“
Ali nickte. „Klar“, sagte er nach kurzem Schweigen. Er nickte abermals, sagte fest: „Kriegen wir hin, geht schon.“
„Ja“, sagte Boris. „Ich weiß.“
Ali wusste anscheinend über alles Bescheid, was das Geschehen in der Schule und darüber hinaus betraf. Manchmal fragte einer der Jungen scherzhaft, ob er vielleicht hellsehen könne. Ali sagte lachend, dass kleine graue Männlein ihm ab und zu was zuflüstern würden.
Boris hatte den Großeltern von Alis erstaunlichen Fähigkeiten erzählt. Die hatten sich angesehen. Anna wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Bruno meinte, Boris solle nur einfach seine Sache machen und nicht rumreden. Gahlich, einer aus der Zehnten, ein Punk, der sich nach einem Indianerstamm „Mohawk“ nannte und mit seinem farbenprächtigen Irokesenschnitt wie ein Gockel über den Schulhof stolziert war, hatte gesagt, dass die „kleinen grauen Männlein“ bei der „Stasi“ seien. Die würden den Leuten hinterherschnüffeln. Mohawk war für die Erweiterte Oberschule vorgesehen, verließ dann aber überraschend am Ende der zehnten Klasse die Schule. Es wurde getuschelt, keiner wusste wirklich was. Die Lehrer waren froh, dass Mohawk nicht mehr das „Gesamtbild“ störte, bald war er vergessen.
Boris hatte dem Pionierleiter gleich vertraut, er war beeindruckt von seinem sicheren Auftreten. Ali besaß noch immer den Ruf eines fairen Boxers. An der Schule erzählte man sich Geschichten aus seiner aktiven Zeit. Für die Teilnahme an einem internationalen Turnier sollte er sogar einem nach ihm rangierenden Boxer den Vortritt gelassen haben. Weil er ihm mehr Chancen für den Titelgewinn eingeräumt hatte. Ali meinte, der Einzelne sei nur so viel wert, wie er der Gemeinschaft von Nutzen war. Er war stark und zäh, eben ein Kämpfer, er sagte von sich selbst, er sei hart, aber gerecht, und wer mit ihm ginge, würde unter den Siegern sein.
Sie saßen ein paar Minuten schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet. Die eben noch rot glitzernde Oberfläche färbte sich golden, dann hellgrün. Selbst Ali, der sonst immer etwas anpacken und bewegen musste, saß reglos. Boris vergaß ihn, auch die Großeltern, die Mutter, das Dorf, sich selbst, einfach alles. Er hatte die Augen geschlossen und spürte das Streicheln des Windes. In ihm summte zärtlich eine Frauenstimme.
Wie von weit her kam Boris zu sich. Jungen aus dem Zeltlager sprangen schreiend in die Sandkuhle und kamen zum Strand heruntergerutscht.
Die Zeit auf der Insel verging in schnell wechselnden Bildern. Am frühen Morgen pickten die Mädchen und Jungen sich wie Vögel aus dem Ei, sie schüttelten ihre Flügel und schon schwangen sie sich in die Lüfte. Am späten Abend landeten sie flügellahm wieder auf dem Erdboden und ließen sich in einen tiefen Schlaf fallen, um am nächsten Morgen das gleiche lustvolle Spiel zu wiederholen.
Mit jedem neuen Morgen fiel mehr Last von Boris ab. Das Gewesene blieb immer weiter zurück. Misstrauisch beobachtete er eine Szene wie aus einem Film über eine vergangene Zeit. Nach dem Waschen und dem Morgenappell fuhr täglich um die gleiche Zeit ein Tafelwagen am Essenszelt vor. Ein mächtiger rotbrauner Ochse ging im Geschirr, die großen Augen ausdrucksleer. Eine Frau mit grimmigem Männergesicht sprang gewandt vom Kutschbock und schlug mit einem Treibstock dem Tier zwischen die Hörner, dass es stehen blieb. In ihrem schmutzig-gelben Overall wirkte sie wie eine Wespe, die schlank und emsig umhersurrte. Sie zog die Milchkannen von der Ladefläche und stellte sie in schnurgerader Reihe vor dem Zelteingang auf. Mit schroffer Gebärde lehnte sie jede Hilfe ab. Wenn sie die leeren Kannen aufgeladen hatte, drosch sie abermals mit dem Stock gegen den mächtigen Schädel des Ochsen. Bevor der anruckte, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, hatte gleich die Zügel fest in der Hand und knallte mit der dünnen Peitsche. Jedes Mal wichen alle Umstehenden instinktiv zurück. Im gemächlichen Trott des Ochsen entfernte sich der Wagen. Einige der Umstehenden rissen nun Witze darüber, dass sie die Milch nicht in den üblichen Beuteln oder Flaschen, sondern frisch aus der Kuh geliefert bekämen. Und was dieser klapprige Ochsenkarren überhaupt solle? Die Bauern hätten doch genug Autos und überhaupt das meiste Moos. Boris schaute dem Gefährt fasziniert, aber auch abwehrend hinterher, bis nur noch das gelegentliche Scheppern der Kannen zu hören war.
Ali ließ sich jeden Tag etwas einfallen, mit dem er seine Schützlinge überraschte. Die Jungen und Mädchen schwammen morgens und abends in der Ostsee, spielten Volleyball, Fußball und Tischtennis. Sie setzten aufs Festland über und besuchten das mittelalterliche Stralsund mit seinen zahlreichen Toren, Kirchen und Türmen. Im Meeresmuseum standen sie stumm vor einem fünfzehn Meter langen Skelett eines Finnwals. Bei einem Bummel durch das Inselstädtchen Sassnitz besichtigten sie im Fischereihafen die nasskalten und dämmrigen Hallen der Fischverarbeitung. Junge und alte Frauen mit weißen Haarnetzen, langen Gummischürzen und in klobigen Stiefeln sortierten die Fische und verpackten sie in Kisten. Die Frauen sprachen, wenn überhaupt, knapp miteinander. Kaum eine sah mal hoch. Auch die Besucher verstummten angesichts der Düsternis, der klammen Luft und des scheinbar unter die Haut gehenden Fischgeruchs. Wieder im Licht sahen sie vom Kai aus sehnsüchtig der Eisenbahnfähre nach dem schwedischen Trelleborg hinterher. Auf dem Jasmunder Bodden setzten sie mit einem Kutter nach Ralswiek über. Hier wurde in einer Bucht zu den Festspielen die „Ballade von Klaus Störtebeker“ aufgeführt. Ali hatte die spannende Geschichte des Seeräubers, der auf Rügen geboren sein sollte, am Lagerfeuer erzählt: Der Störtebeker hatte im Streit seinen Brotherrn erschlagen, war unter Piraten geraten und selbst zum Anführer der legendären Vitalienbrüder geworden. Schließlich hatte man ihn gefasst und enthauptet. Irgendwo auf der Insel sollte er einen Schatz vergraben haben. Für die Boxgruppe war täglich eine Stunde Training angesetzt. Ali sagte, dass er den Jungen den nötigen Schliff geben würde. Der sollte die Muskeln härten, die Lungen dehnen, den Biss schärfen und vor allem das Kämpferherz formen. Der Körper brauche Kultur, vor allem, klar doch.
An einem Tag voller steifer Böen wanderten sie auf den steil zum Meer abfallenden Kreidefelsen über das Nordkap der Insel. An den Ruinen des Walles einer Tempelburg gebot Standke Halt. Der Lehrer ließ wissen, dass sich hier die Jaromasburg mit dem Standbild des slawischen Gottes Swantewit befunden habe. Elfhundertachtundsechzig sei sie vom dänischen König Waldemar I. zerstört worden.
Die nüchternen und nicht enden wollenden Wissenskundgebungen des Geschichtslehrers erzeugten bei den Schülern gähnende Langeweile. Die Jungen lenkten sich mit versteckten Rempeleien und dem Erzählen von Witzen ab. Die Mädchen traten von einem Bein aufs andere, hauchten in die Hände und steckten die Köpfe zusammen. Alle sehnten sich nach einer heißen Suppe aus der Feldküche, die sie im Lager erwartete.
Boris sah hinüber zu einem weitläufigen Gelände, das mit Stacheldraht umzäunt war. Schilder, die das Betreten strengstens untersagten, wiesen auf ein Militärgelände hin. Malisch stand massig neben ihm, nickte zu den beiden Leuchttürmen hinüber, die aus dem Gelände hoch herausragten, und sagte sehnsuchtsvoll: „Von da oben kann man bestimmt große Kähne sehen. Wie sie die Ostsee durchs Kattegat und Skagerrak verlassen. Über die Nordsee in den Atlantischen Ozean. Mit ein bisschen Glück ums Kap Horn. Hinein in den Pazifischen Ozean bis zu den Cookinseln.“
Malisch malte mit eindringlichen Worten die Koralleninseln farbig aus, er erzählte von freundlichen Polynesiern, deren höchster Gott Io war. Sie sollten tatsächlich Kannibalen gewesen sein. Von weiten schneeweißen Stränden sprach er, vom Singsang des Seewindes in hohen Palmen. Von Held Maui, dem es gelungen war, sogar die Sonne vom Himmel zu holen, dass die Tage der Menschen länger wurden.
Boris musterte Ralph Malisch aus den Augenwinkeln. Der blasse Junge wirkte für gewöhnlich wie frisch gebadet. Sein voluminöses weiches Aussehen wurde unterstützt von einer Löwenmähne aus schimmernden hellen Haaren, die bis auf die Schultern herabfielen. Vom Direktor der Schule bekam er dafür scheele Blicke. Lehrer Standke hatte ihn zur Hofpause im Kreis der Jungen gefragt, was er denn mit einem solchen „Wirrkopf“ bewirken wolle? Malisch hatte sich weggedreht und war ins Schulgebäude zurückgegangen.
Was Malisch da redete, wollte nicht zu ihm passen. Die Jungen im Dorf riefen ihn „Tunte“, seitdem sie ihm am gefluteten Tagebau die Badehose heruntergezogen hatten. Sie schrien, dass „sein Pimmel verkümmert“ wäre und er „Titten wie ein Weib“ hätte. Sie hatten ihn in die Brustwarzen gekniffen und herumgestoßen. Möbius hatte sich auf ihn geworfen. Unter den Anfeuerungsrufen der anderen hatte er getan, als sei Malisch ein Mädchen, mit dem er Geschlechtsverkehr ausübte. Malisch war es schließlich gelungen, seine Sachen aufzuraffen und zu entkommen. Boris hatte abgestoßen zugesehen. Am Abend dann, als er mit den Jungen ins Dorf zurückkehrte, hatte er Malischs Fahrrad an das Haus gelehnt, in dem der Junge mit seinen Eltern wohnte.
Boris schluckte, er verspürte mit einmal Fernweh und sagte abwehrend: „Aber was willst du denn dort?“
Auf Ralph Malischs Gesicht kehrte das Lächeln zurück, das seine Gegenüber auf Distanz hielt.
„Was soll denn dort schon Großartiges sein?“
Malisch zuckte mit den abfallenden Schultern, sagte dann: „Das Paradies.“
„Das Paradies? Ja, was soll denn das sein?“
Malisch errötete. „Natürlich nicht Gott, Adam und Eva und so was.“
„Was denn dann?“
Malisch ging in die Hocke und legte einem Käfer einen Stein in den Weg, den der flink überkletterte. Boris wollte sich schon abwenden, da sagte der Junge: „Ich meine einen Ort, wo du – frei bist.“
„Frei?“
Boris erinnerte sich, dass der Vater von „frei sein“ und „Freiheit“ gesprochen hatte. Die Eltern waren darüber oft in Streit geraten. Es waren böse Worte gefallen. Einmal hatten sie aufeinander eingeschlagen. Wenig später waren beide in sein Zimmer gekommen. Die Mutter hatte Boris umarmt, dass es ihm wehtat. Der Vater, sonst sparsam mit Berührungen, hatte ihm eine Hand auf den Kopf gelegt.
„Du spinnst ja, Malisch.“
Boris ging ein paar Schritte zur Seite. Die Erinnerung tat immer noch weh. Er schloss die Augen. Da spürte er eine Hand auf der Stirn, schmal und warm. Für den Moment wusste er nicht, ob die Berührung wirklich war oder der Vergangenheit angehörte.
Er hörte Lachen, riss die Augen auf und stieß das Mädchen weg. Es war Ulrike Blau, die sie Ulli riefen, sie kam aus einer Schule des Nachbarortes. Er hatte sie erst hier beim Volleyball kennengelernt. Sie spielten gut zusammen, er gab die Vorlagen für ihre hart geschlagenen Schmetterbälle. Bisher hatten sie sich nur Kommandos zugerufen wie: „Aufpassen!“, „Jetzt!“ und „Hier!“ Wenn ihnen ein Punkt gelungen war, trafen sich kurz ihre Blicke. Früher hatte er sich nichts aus dem Ballspiel gemacht. Jetzt konnte er nicht genug bekommen. Es machte ihn stolz, wenn Ulrike Blau ihn als Ersten für ihre Mannschaft auswählte.
„Entschuldige“, sagte Ulli und zupfte eine schwarze Haarsträhne unter ihrer Strickmütze hervor, was ihr kesses Aussehen betonte. „Die dummen Hühner haben mich geschubst.“ Sie schimpfte auf Russisch: „Ty ssuma ssaschla!“
Die Mädchen lachten und riefen: „Verrückt sind wir nicht! Ulli liebt Boris! – Boris liebt Ulli!“
„Glaub ihnen kein Wort.“ Ulli drohte den Mädchen mit der Faust und lachte mit. „Die sind doch alle schwer krank.“
Boris drängte sich an ein paar Jungen vorbei. Nun stand er wieder neben Ralph Malisch.
„Hast du was mit der?“
„Dummes Zeug“, entgegnete Boris. Das sagte Anna immer, wenn sie über eine Sache nicht mehr reden wollte. Dann lenkte er ein: „Wie hast du das eigentlich gemeint vorhin?“
„Was denn?“
„Mit dem Ort. Wo man - frei ist?“
„Du weißt doch. Malisch spinnt manchmal ein bisschen.“
Boris fragte nicht weiter. Er kannte das von sich selbst. Wenn ihn jemand bedrängte, verschloss er sich. Es gab sowieso keinen Ort, wo man frei war. Was war überhaupt frei sein? Fliegen vielleicht. Wer konnte schon fliegen? Aus eigener Kraft. Menschen jedenfalls nicht. Die Vögel konnten es. Und Engel. Jetzt fing er auch noch zu spinnen an. Wie dieser schwabbelige Junge.
Standke beendete endlich seinen Vortrag, dem er schließlich nur noch selbst zugehört hatte. Mit Ali voran verließen sie das Nordkap. Sie liefen in einer langen Schlange, die bald in kleine Gruppen zerfiel, zum Lager zurück. Boris und Malisch gingen am Ende nebeneinander her. Der milchgesichtige Junge blickte manchmal zurück, wo die Entfernung Land, Meer und Himmel eins werden ließ und ins Unendliche verschob.
Obwohl Ulrike Blau weit vorn lief, trug der Wind Fetzen ihres Lachens zu Boris heran. Dann lief er unwillkürlich schneller. Nach ein paar Schritten zwang er sich stehen zu bleiben und passte sich erneut Malischs gemächlichen Schritten an.
Boris sah zu Ulli und dachte an Vera, ein Mädchen aus der Stadt, mit dem er vor ein paar Wochen zusammengekommen war. Sie hatte im Frühjahr Verwandte, die in Lerchau in der Genossenschaft arbeiteten und nebenher etwas Vieh hielten, besucht. Im Dorfkonsum, wo Boris für die Großmutter den Einkauf erledigte, hatte das Mädchen ihn gefragt: „Soll ich mein letztes Geld für Eis oder für meine Lieblingsbonbons ausgeben?“ Bis zum kleinen Gehöft der Großeltern war sie neben ihm hergegangen. Er hatte sie dann zum Grundstück ihrer Verwandten gebracht. Ihre Mutter wartete bereits, um sie mit zurück in die Stadt zu nehmen. Vera hatte noch schnell Namen und Adresse auf die inzwischen leere Bonbonschachtel gekritzelt und gesagt: „Schreib doch mal. Ich bekomme gern Briefe.“
Der erste Brief war Boris schwergefallen, obwohl er nur aus vier Worten bestand: Wie geht es Dir? Vera hatte ihm gleich geantwortet, ihre Unbekümmertheit gab ihm schnell das Gefühl von Nähe. Fast täglich gingen zwischen ihnen Briefe hin und her.
Boris erzählte keinem von ihr. Die Post fing er bei der Briefträgerin ab. Mit den derben und prahlerischen Geschichten und Witzen, die die Jungen einander über Mädchen erzählten, konnte er nichts anfangen. Er lachte mit, um nicht aufzufallen und womöglich in den Mittelpunkt ihres Spotts zu geraten. Niemals hätte er sich einem von ihnen anvertraut. Dann passierte das mit seiner Mutter. Vera hatte gefragt, warum er denn nicht mehr auf ihre Briefe antworten würde? Was ist denn bloß los, Junge? Er hatte keine Worte mehr für sie gefunden.
„Na, los doch“, mahnte Malisch. „Der große Chef hat´s nicht gern, wenn einer zurückbleibt.“
„Weiß“, sagte Boris. „Komme schon.“
Boris starrte auf die fleckige Zeltplane, er neidete seinen drei Mitbewohnern die regelmäßigen Atemzüge. In seinen Gedanken tauchten im schnellen Wechsel die Gesichter der beiden Mädchen auf. Vera und Ulli. Jede sah ihn fragend an.
Er kroch aus seinem Schlafsack und tastete sich nach draußen. Unter den Fichten und Kiefern war die Luft unwirklich blau, scheinbar aus feinem Glas, das bei jeder Bewegung leise zu singen schien. Vom Meer her klang es herauf wie das entspannte Ausatmen eines gewaltigen Wesens. Dem Jungen war, als müsste er etwas suchen, von dem er noch nichts wusste.
Er ging den gewohnten Weg zum Waschplatz. Hier fanden auch die morgendlichen Appelle statt. Am Waldrand stand eine hüfthohe und mehrere Meter lange Zinkwanne. Über ihr verlief ein Rohr mit eine Reihe von Wasserhähnen, von denen nur noch ein paar gebrauchsfähig waren. Am Ende der Lichtung standen neben einem Abfallcontainer zwei aus Bohlen und Brettern zusammengenagelte Toilettenhäuschen. In das raue Holz waren jeweils die Symbole für Frauen und Männer und eine Vielzahl eher karikaturistischer Abbildungen des Geschlechts eingeritzt. Etwas weiter weg befand sich ein drittes etwas komfortableres Häuschen, für das nur die Betreuer einen Schlüssel hatten. Jeden Morgen standen an den beiden Häuschen Mädchen und Jungen in getrennten Reihen Schlange, erzählten Witze, lachten lauthals und tauschten Neuigkeiten aus. Ab und zu rannte ein Junge oder Mädchen mit auf den Unterleib gepressten Händen in den Wald, vom Johlen der Zurückgebliebenen begleitet.
Das Mondlicht fiel auf einen Spiegel, der an einem überhängenden Ast mit einer Schnur befestigt war. Das Glas war stellenweise trübe, an den Rändern waren noch Spuren eines goldlackierten Holzrahmens. Als Boris an den Spiegel herantrat, begann der lautlos zu drehen. Der Junge hielt ihn fest und näherte sein Gesicht vorsichtig dem Glas. Noch nie hatte er so bewusst in einen Spiegel geblickt. Er sah in ein fremd anmutendes Jungengesicht: Helle, wegen der ungeliebten Locken kurz geschnittene Haare. Auf der Nase und auf den Wangen unter der Bräune Sommersprossen. Trockene, leicht geöffnete Lippen. Ein ausgeprägtes Kinn, aus dem Ali auf starken Willen und „Nehmerqualität“ geschlossen hatte.
Boris blickte seinem Gegenüber in die Augen, sagte leise: „Na du?“ Das vertrauliche Augenzwinkern erwiderte er nicht.
Die Gesichter der beiden Mädchen waren in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund war das Gesicht des Jungen aus dem Spiegel. Er ging zurück ins Zelt, es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen.
Am nächsten Morgen, beim Appell unter der blauen Fahne der Thälmannpioniere, fing Boris einen Blick Ullis auf. Die beiden Mädchengesichter verdrängten wieder sein eigenes Bild. Die Unruhe kehrte in ihn zurück, eine Frage bedrängte ihn, die er nicht formulieren konnte.
Er blickte zu Ali, der schallend sein Lieblingslied anstimmte: „Von all unseren Kameraden ...!“
Die Jungen und Mädchen stimmten willig ein, dass der Chor weithin schmetterte: „ ... war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut ...!“
Ullis dunkle Augen, in denen ein Lachen hüpfte, blickten Boris unverwandt an.
„... Da kam eine feindliche Kugel bei einem fröhlichen Spiel; mit einem seligen Lächeln unser kleiner Trompeter, er fiel!“
Boris hatte Mühe einen Rempler auszubalancieren. Kalinke hatte sich vor ihm aufgebaut. Er war etwas kleiner als Boris, aber muskulöser, sein Gesicht war hart und kantig, als sei es aus hartem Holz und noch nicht fertig geschnitzt.
Kalinke drohte mit mühsam beherrschter Stimme, die männlich tief, aber zwischendrin mädchenhaft hoch klang: „He, Pflaume, geh mir aus dem Weg. Misch dich bloß nicht ein.“
„Da nahmen wir Hacke und Spaten und gruben ihm morgens ein Grab, und die ihn am liebsten hatten, sie senkten ihn stille hinab!“
Boris erschauerte jedes Mal, wenn sie das Lied sangen. Er konnte nicht verstehen, dass sie so laut und fröhlich sangen, wo doch einer von ihnen tot war.
„Du bist doch kein Idiot.“ Kalinke drückte ihm die Faust in den Rücken. „Oder soll ich dich erst fertigmachen?“
„Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, wir waren dir alle so gut, ...“
Boris verstand nicht. Das war auch egal. Er konnte Kalinke einfach nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Klassenzimmer hatte der Kraftprotz ihm zu verstehen gegeben, dass er das Sagen hatte. Kalinke war immer verschwitzt, in der Schule hatte er jeden Tag ein frisches Hemd an. Boris fand, er roch dennoch wie ranziges Fett.
„... schlaf wohl, du kleiner Trompeter, du lustiges Rotgardistenblut!“
Boris sah zu Ulli hinüber und sagte: „Du stinkst, Kalinke.“
Kalinke schlug zu. Boris konnte noch die Deckung hochreißen. Doch der folgende Haken traf seine Leber, der Schmerz krümmte ihn, er umklammerte seinen Gegner, kippte aber doch weg. Kalinke schlug weiter, er war wegen seiner Gewaltausbrüche auch von den Älteren gefürchtet. Es hieß, dass er sich eher totschlagen lassen als aufgeben würde.
In Boris rotierten rote Spiralen. Er wurde hochgerissen. Der Pionierleiter hatte ihn und Kalinke an den Kragen ihrer Trainingsanzüge gepackt und schüttelte sie wie junge Hunde. Frau Wieland, eine greisenhaft wirkende Betreuerin, die man auch „das Denkmal“ nannte, bekam einen Schreianfall. Sie konnte sich nicht wieder beruhigen, kreischte, heulte und zuckte am ganzen Körper. Standke und eine junge Lehrerin führten sie weg. Noch von weitem klang es wie eine Sirene durchs Lager.
Alle blickten befremdet zu Boden. Von Frau Wieland wusste man, dass sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und ihrem Widerstand gegen die Nazis ins KZ Buchenwald gekommen und erst am Kriegsende befreit worden war. Sie war mehrfach in die Schule eingeladen worden, um von ihrer Leidenszeit im Konzentrationslager zu berichten. Als sie in der Aula vor all den Lehren und Schülern stand, hatte sie kein Wort rausgebracht und war schließlich von der Bühne gewankt.
Die Aufregung legte sich langsam, allgemeine Verwirrung blieb zurück. Die Gruppe unternahm einen Ausflug in ein Waldstück, wo ein Geländespiel vorbereit war. Der Pionierleiter hatte Boris und Kalinke mit Lagerarrest bestraft. Sie mussten inzwischen die Plumpsklos leeren und Wasserhähne reparieren. Ali wollte am Abend die „Latrinen piekfein wie im Interhotel“ vorfinden.
Für Ali wäre der Vorfall damit erledigt gewesen. Aber Standke, den die Schüler insgeheim „Dschugaschwili“ - nach dem Geburtsnamen des ehemaligen Sowjetdiktators Stalin - nannten, mischte sich ein. Dschugaschwili galt als „harter Hund“, er nahm alles politisch und war für strenge Strafen als „erzieherisches Mittel proletarischer Bewusstseinsbildung“. Dem aschgrauen Gesicht des Geschichtslehrers konnte man keine Regung ansehen. Seine Stimme, Dschugaschwili war Kettenraucher, klang heiser, wie von einem alten Tonband, das Höhen und Tiefen nur noch verwischt wiedergab. Wenn er sich aufregte, schnappte sie manchmal in ein ebenso lächerliches wie unerträgliches Fisteln über.
Dschugaschwili erklärte: „Die beiden Rowdys müssen umgehend nach Hause geschickt werden. Sie haben beim Morgenappell die Fahne der Pionierorganisation geschändet. Der zunehmend ins sozialistische Lager herüberschwappenden westlichen Verderbtheit der Jugend muss entschieden Einhalt geboten werden.“
Der Lehrer ordnete eine Versammlung der Erwachsenen im Essenszelt an, das auch zum Verarzten von kleinen Verletzungen diente. Bei schlechtem Wetter saßen hier die Betreuer bis in die Nacht zusammen. Auf einen Wink Kalinkes schlich Horst, sein ständiger Begleiter, zu dem großen Zelt und presste seinen Kopf seitlich an die Plane. Bald gab er aufgeregt Zeichen, und nach Kalinke pirschten sich auch die anderen ans Zelt heran. Drinnen wurde gestritten, hauptsächlich waren Alis und Dschugaschwilis erregte Stimmen zu hören. Dann rief jemand dazwischen, noch unsicher, aber beim zweiten Zwischenruf entschiedener. Es war Mathemüller, der im Unterricht strohtrocken, aber gut nachvollziehbar die Rechenwege erklärte und sonst taub und stumm zu sein schien. Er klang wie beim Unterrichten sachlich, aber jetzt auch zögerlich, als er sagte: „Bitte, Kollegen, wir sollten nicht zu streng urteilen. Es sind immerhin noch – Kinder. Und wer von uns ist schon ohne Fehl und Tadel.“
Boris und Kalinke tauschten einen ungläubigen Blick. Von der Seite hatten sie keine Hilfe erwartet.
„Mathemüller“, raunte Kalinke verächtlich. „Der soll sich bloß nicht die Kreide abbrechen.“
Dschugaschwili hatte etwas geantwortet, was nicht zu verstehen gewesen war. „Maul halten“, drohte Kalinke den anderen Lauschern, obwohl er ja dazwischengesprochen hatte.
Der Mathelehrer sprach weiter, seine Stimme klang jetzt fester: „Und überhaupt, Kollegen. Ist das nicht ein bisschen zu viel – Drill in unserem Zeltlager? Die Kinder – unsere Schüler, die sind doch zur Erholung hier.“
„Drill?“, war Ali zu hören. „Verstehe nicht.“
„Nun ja, ich meine nur …“ Mathemüller druckste, doch dann verfiel seine an sich hohe Stimme in einen Bass: „Ich habe mich gestern in anderen Pinonierlagern auf der Insel umgesehen. Ich muss sagen, keine Spur mehr von den Sechziger- und Siebzigerjahren. Dort geht es viel – lockerer zu.“
Unter den Jungen und Mädchen kam Unruhe auf.
„Schnauze“, gebot Kalinke.
„Lo – cke – rer“, wiederholte Dschugaschwili, und es klang so, als hätte er das Wort mit Kopfstimme gesungen. „Haben Sie lockerer gesagt, Kollege Müller?“
„Ich – meinte – wollte sagen … Ja, ich sagte lockerer, Kollege Standke.“
Im Zelt klapperte Geschirr, dann war es sekundenlang still, schließlich war Standkes rasselnder Atem zu hören, er sagte wie von einem hohen Podest herab: „Es dürfte auch Ihnen, Kollege Müller, als Lehrer für Mathematik, nicht unbekannt sein, was locker für Synonyme hat: lose, nicht fest, durchlässig, wackelig, ja, und lotterig.“
„Jetzt geht der Müller auf die Bretter“, kommentierte Kalinke. „Der hat doch nichts drauf.“
Keiner widersprach. Auch Boris schätzte, dass der Mathelehrer nun wieder in der Versenkung verschwinden würde. Umso erstaunter war er, als Müller geradezu temperamentvoll widersprach: „Ich möchte Sie nicht belehren, Kollege Standke. Aber neben den eher negativen sinnverwandten Wörtern, gibt es durchaus auch positive: Aufgelockert. Entspannt. Natürlich. Nicht starr, gelöst. Ungezwungen und unverkrampft.“
Boris wusste nicht warum, aber er spürte etwas wie Freude, oder war es Genugtuung? Er hatte weder für Standke noch für Müller viel Symphatie, den einen fürchtete er, der andere war ihm gleichgültig. Er hätte gern zu Ulli gesehen, deren Nähe ihn in Aufregung versetzte, die ihn zugleich beglückte wie ängstigte. Aber er wagte es nicht, als könnte er etwas von sich verraten, das ihm selbst noch nicht klar war.
Standke schnauzte, was sonst nicht seine Art war, da er auch mit gequetschter Stimme nachdrückliche Wirkung zu erzielen wusste. Seine Worte, in kurze Sätze verpackt, waren wie Geschosse, die Müller ein für alle Mal mundtot machen sollten. Er sprach davon, dass die „westliche Lockerheit“ nur alle im menschlichen Leben notwendigen Formen und Normen aufweichen würde. Im „Flitterangebot“ des sogenannten „Freien Marktes“ würden die in Kaufrausch geratenen Kosumenten jeglichen revolutionären Geist verlieren. Der in zwei Weltkriegen missbrauchte Mensch würde wieder zur knetbaren Masse, von den Ausbeutern zu Ausgebeuteten geformt. Lockerheit brächte dem Sozialismus nichts als Instabilität und Zersetzung. Er, Standke, werde es fortan nicht hinnehmen, dass im Lehrerkollegium Ideengut des Klassenfeindes als Möglichkeit sozialistischer Lebensweise angepriesen würde.
Dschugaschwili hatte nicht lange gesprochen, aber seine Rede schien nachzuhallen, es herrschte im Zelt und davor Schweigen. Alis unterstützende Worte von Disziplin, Selbsthärtung und Kampfeswillen wirkten dagegen nur noch wie ein zu spät kommender überflüssiger Anhang.
Im Zelt klirrte wieder Geschirr, Kaffeeduft breitete sich aus, jemand kam zum Eingang. Die Lauschaktion wurde augenblicklich beendet, die Beteiligten brachten sich in sichere Entfernung.
Kalinke beorderte nun zwei Jungen als Späher und Bote zum Essenszelt. So erfuhren alle, um die Feuerstelle sitzend, vom weiteren Verlauf der Verhandlungen. Im Zelt schienen sie zu keiner einheitlichen Meinung zu kommen. Bis schließlich Paulchen mit hoch erhobener Faust gerannt kam und schon von weitem rief: „Ihr müsst nicht nach Hause fahren! Ali hat gegen Dschugaschwili einen Punktsieg gelandet!“
Boris und Kalinke boxten die Fäuste gegeneinander. Für den Augenblick waren alle Feindseligkeiten vergessen. Wie sich später herausstellte, hatte Frau Wieland das Kräftemessen zwischen Ali und Standke entschieden. Sie war vom Stuhl hochgefahren, hatte sich die Hände auf die Ohren gedrückt und gesagt, dass es nun gut sei, sie wolle nichts mehr von alldem hören. Der mit hohen Auszeichnungen dekorierten Antifaschistin, die selbst mit dem Staatsratsvorsitzenden und maßgeblichen sowjetischen Genossen bekannt war, wagte niemand zu widersprechen.
Als der Pionierleiter zu den Mädchen und Jungen trat, wurde er mit Beifall begrüßt. Ali verkniff sich ein Lächeln, winkte ab und sagte, dass die beiden Raufbolde die Angelegenheit sportlich lösen sollten. Es sei Zeit, dass Kalinke wie Boris in einem fairen Boxkampf den eigenen Standort bestimmten. Termin sei in drei Tagen, die beiden hätten also ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Frau Wieland würde morgen abreisen, sie sei ja nicht mehr die Jüngste, das Küstenklima mache ihr zu schaffen.
Hinsichtlich des bevorstehenden Kampfes warf Kalinke seinem Gegner einen triumphierenden Blick zu und stieß kraftvoll die Faust in die Luft.
Boris verließ den Kreis, stieg die schmale Treppe zum Strand hinunter und kauerte sich vor die gemächlich heranrollenden Wellen. Wenig später hockte Ali sich neben ihn und sagte schroff: „Angst, oder was?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Boris. „Ich habe keine Angst.“
„Dann was?
Boris nahm einen Stein auf und warf ihn flach übers Wasser, dass es siebenmal in der untergehenden Sonne bunt aufspritzte.
„Nur zwei Dinge, die ein Mann zu fürchten hat“, sagte Ali. „Angst und Frauen, weiß ich. Also Frauen.“
„Weiß nicht.“
„Ist so.“
Ali warf einen Stein, der weiter hinten im Meer versank als der von Boris.
Der Junge dachte, dass für den Trainer alles Kampf war. Da war immer ein Gegner, mit dem er seine Kräfte messen musste. Boris wusste nicht, ob er das auch wollte, ständig kämpfen und siegen müssen. Er nahm einen zweiten Stein, richtete sich auf und warf ihn weiter als die beiden Steine zuvor.
„Nicht schlecht, Kämpfer. Sag´s doch.“
Ali wog einige Steine in der Hand, ließ sie fallen, bis er dann einen für gut befand. Er nickte Boris kurz zu. Sein Oberkörper drehte sich geschmeidig zur Seite, und während er wie in Zeitlupe den linken Arm nach hinten streckte, die Hand mit dem Stein auf Kopfhöhe, hob er den gestreckten rechten Arm in scheinbar genau vorgegebenen Winkel. Zwei, drei Sekunden verharrte er. Mit einem Schrei schleuderte er den Wurfarm nach vorn und schnellte gleichzeitig mit dem Oberkörper in seine Ausgangslage zurück, wobei er den anderen Arm steil abfallend nach hinten riss. Sie hatten Mühe, mit ihren Blicken den Flug des Steines zu folgen. Aufschlagen sahen sie ihn nicht.
Boris nickte zugleich bewundernd und beschämt. Es machte keinen Sinn, noch einen Wurf zu versuchen, so weit würde er in seinem ganzen Leben keinen Stein werfen können. Er war erleichtert, dass das Kräftemessen vorüber war. Manchmal hatte er versucht, sich auszumalen, wie es wäre, wenn er Kalinke, ja vielleicht sogar Ali besiegen würde. Er hatte das nicht zu Ende gedacht, denn die Welt, von der er sich mühsam ein Bild machte, wäre nur wieder in Unordnung geraten. Zu oft schon musste er sich neu orientieren und Menschen und Dinge einordnen, um sich halbwegs zurechtzufinden.
„Was ist, also?“, fragte der Trainer nach.
„Ich weiß nicht“, sagte Boris, er wollte ja reden, ja. Ali wusste immer, wo es lang ging, selbst beim Nachtmarsch, wenn alle die Orientierung verloren hatten und keine Karte und kein Kompass mehr was nützten.
„Ich weiß nicht, was ist.“
„Weißt schon.“
„Da gibt es - ein Mädchen. Eigentlich sind es zwei. Die eine hier. Die andere dort. Weißt du, es ist – ich habe keine Ahnung, was da ist.“
Ali nickte. Sie zogen die Schuhe aus und liefen nebeneinander im seichten Wasser. Es dämmerte, ohne dunkel zu werden. Vom Lager klang Lachen über die Klippe. Hier und da stand ein Angler im Wasser. Ein zottiger Hund lief schnüffelnd am Fuß des Steilhangs entlang. Ein paar Hundert Meter weiter blitzte es in unregelmäßigem Abstand vom Klippenrand auf. Der blendend gelbe Strahl eines Suchscheinwerfers huschte über sie weg den Strand entlang und aufs Meer hinaus.
Boris suchte nach Worten, er wollte reden, sich erklären, alles loswerden, diesem harten Pochen in sich eine Tür öffnen, es gab ja so viele Worte. Aber kein einziges erschien ihm tauglich, seinen Zustand zu beschreiben.
„Brauch keine Erklärung“, sagte Ali. „Kenne das, alles. Musst nichts sagen, mir nicht.“
Boris nickte eifrig. „Sag mir doch, was man da machen kann, Ali?“
„Eine Geschichte, kann ich erzählen“, sagte Ali. „Überschrift: Sandra. Weiß man gleich, worum´s geht, aber immer.“
Boris spürte, wie die Anspannung des Trainers sich auf ihn übertrug.
„Frauen“, sagte Ali. „Thema für sich. Hab meine Lektion weg, sag ich. Also Sandra. Bin ein Großstadtkind. Aus einer Arbeiterfamilie. Vater ist Gießer. Fünfzig Grad, acht Stunden lang, Tag- und Nachtschicht, gestern, heute, morgen, du verstehst. Mutter im Konsum, an der Kasse. Drei Geschwister. Nicht ganz einfach, für alle. Die Partei, hat geholfen. Zuweisung einer Neubauwohnung. Kur für Vaters kaputte Lunge. Ich konnte studieren. Sportpädagogik, einwandfrei. Auch sonst, die Genossen waren immer da.“
Ali schwieg, als wollte er Boris Gelegenheit geben, seine Worte zu bekräftigen. Schließlich sprach er weiter: „War Knirps, fing mit Boxen an. Vater meinte, das müsse man frühzeitig lernen: Einstecken und Austeilen. Der Kommunismus hätte viele Feinde. Der Arbeiter, müsse seinen Teil beitragen, sie in Schach halten. Die Halbstarken, lungerten an Ecken herum, qualmten die Lungen löchrig, inhalierten Westgeplärrr aus Kofferradios, ich los, zum Training. Jeden Tag. Gewann einen Kampf nach dem anderen. Hatte immer schon den nächsten Gegner im Blick. Auch beim Training. Immer.“
Alis Stimme klang eisern, sie räumte keinen Widerspruch mehr ein. Boris hatte den Trainer nie boxen gesehen, aber er konnte sich vorstellen, mit welch unerbittlichem Willen er seine Kämpfe gewonnen hatte.
„Trainierte, in der Hochschule für Körperkultur“, sagte Ali. „Neben der Boxhalle, probierten die Turner. Dienstag und Donnerstag, die Frauen. Sandra. Auf dem Balken. Alle Mann an der Tür. Boxer, Ringer, Handballer. Ich auch. Wusste nicht, wen das Mädchen im Blick hatte. Darfst raten, los.“
„Dich?“
„Traf mich ohne Deckung, war so. Liefen uns nun ständig über den Weg. Bei den Duschräumen. Beim Pförtner. An der Straßenbahn. Sie sagt: „Grüß dich. Du kannst ganz schön zuhauen. Ich habe dir beim Kampf zugesehen.“
Im schmalen Gesicht des Trainers traten knotig die Wangenmuskeln hervor. Ali lachte abweisend, sagte „Sandra“, als stände er vor einem unlösbaren Rätsel. Er sprach weiter, als wollte er es schnell hinter sich bringen: „Jeden Tag, waren wir zusammen. Disco. Kino. Eisdiele. Fußball. Schwimmen. Theater. Was losgehen, musste immer. Sie, konnte nicht genug kriegen. Ich, vergaß alles. Meinen Sport. Meine Eltern. Meine Partei. Meinen Kampfauftrag. Mich selbst. Wollte nur noch sie, nur sie.“
Ali schlug einen Aufwärtshaken, ließ einen Schwinger folgen und stieß verächtlich hervor: „Kurz: Wurde eine Null. Als ich eine Lusche war, ließ sie mich sitzen. Mit einem Ringer. War gerade Europameister geworden. Sandra.“
Ali hob selbstanklagend die Stimme. „Fiel mir alles wieder ein. Meine Eltern. Meine Partei. Mein Sport. Mein Ziel. Hatte alle verraten, war klar. Trainierte wieder. Härter als vorher. Unmenschlich hart, härter.“
Der Trainer holte aus, als wollte er sich selbst niederschlagen. „Vorbei. Kleine Erfolge noch. International, Ende, aus. Zu spät, alles. Die Frau. Der Biss, war weg. Sandra. War so.“
„Jetzt, hör zu, Kämpfer.“ Der Trainer blieb stehen, legte Boris die Hände auf die Schultern und sah ihn zwingend an. „Gegen Kalinke, wirst antreten. An Mädchen, denk nicht. Aus dem Kopf, schlag sie dir. Denk an den Kampf. Den Sieg, nur das.“