Rufe in die Wüste - Gunter Preuß - E-Book

Rufe in die Wüste E-Book

Gunter Preuß

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Beschreibung

In "Rufe in die Wüste" finden sich Interviews mit Gunter Preuß und Aufsätze von ihm aus dem Zeitraum von 1973 bis 2009. Darin wird die eigene Befindlichkeit immer wieder kritisch an den gesellschaftlichen Gegebenheiten gemessen. Es ist auch ein Gang durch die Zeit und zwei Gesellschaftsordnungen, wobei der sich beharrlich zu Wort meldende Schriftsteller in seinem Kunstschaffen nicht am Alltagsgeschehen vorbeikommt. Mag mancher Text auch noch so privat erscheinen, er ist ein politischer Text, weil der Autor nicht Kunst von Leben und Individuum nicht von Gesellschaft trennen will. Die persönliche Zeitreise, die einen Lebenslauf kennzeichnet, sollte auch für andere Zeitgenossen interessant sein.

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Seitenzahl: 630

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Gunter Preuß

Rufe in die Wüste

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Autors

1. Postulate zur Kritik (1973)

2. Ich (1976)

3. Muzelkopp (1977)

4. Rigorose Frage nach unserer Identität (1982)

5. Vergessen und Erinnern (1983)

6. Da ich ein Suchender bin, darf ich ein Irrender sein (1983)

7. An Unmögliches glauben (1985)

8. Alles Lebendige muss sich verändern (1986)

9. Hänsel und Gretel und die Morgenlandfahrer (1986)

10. Und es muss blaue Hunde geben (1986)

11. Dankesrede zur Verleihung des Alex-Wedding-Preises der Akademie der Künste (1986)

12. „Warum?“ als Zauberformel (1986)

13. Der weite Weg von der Wirklichkeit zur Wahrheit (1986)

14. Ein Haus als Zuhause (1987)

15. Wege, die wir gehen, dürfen nicht das Ziel verstellen (1987)

16. Laudatio für Wolf Spillner (1987)

17. Auf Wanderschaft mit vielen Menschen (1987)

18. Provozieren zum Selbstbekenntnis (1988)

19. Als Kind (1988)

20. Kurzinformation zu einem merkwürdigen Haus (1988)

21. Weltbilder in des Deutschen Wohnzimmer (1988)

22. Der Baum, auf dem die Affen sich lausen können (1988)

23. Nachwort zur Anthologie „Nicht allein im Rosental“ (1989)

24. Zum ersten Mal zur IKiBu – Im Gepäck die Wende (1989)

25. Außer Betrieb (1989)

26. An die Literatur-Greise, (1990)

27. Die Leichen in die Keller (1990)

28. Rufe in die Wüste (1990)

29. Mein schönstes Ferienerlebnis oder lebenslänglich DDR (1990)

30. Was ist Dramatik? - Gedanken in einem Seminar (1990)

31. Dem letzten Wanderer (1990)

32. Leipzig – eine Postkartenschönheit (1990)

33. Kunst - gerecht? (1991)

34. Wirklichkeit mit Wahrheit heilen (1991)

35. Brief über die gefallene Grenze (1992)

36. So stell‘ ich mir Theater vor (1992)

37. Das Bild vor dem Spiegel (1993)

38. Anders als ich und doch nichts anderes als ich (1993)

39. Die Vernunft der Ellenbogen (1994)

40. Nicht für alles Negative, was einem im Leben passiert, einen Schuldigen suchen... (1994)

41. Die besten Jahre (1994)

42. Quo vadis, Jugend? (1995)

43. O Deutschland, deine Literaten... (1995)

44. Alles klar – wenn die Sprache verarmt (1995)

45. Artist ohne Seilschaft (1996)

46. Aber der hat ja nur lange Unterhosen an...! (1998)

47. Im Osten nichts Neues (2000)

48. Am Rande (2001)

49. Das Überleben sichern: Miteinander reden (2001)

50. Die Tränen bekommst du geschenkt, das Lachen musst du erlernen (2001)

51. Der gefesselte Prometheus oder Danke, Kanzler (2001)

52. Perpetuum mobile (2001)

53. Darum sollt ihr vollkommen sein (2001)

54. Staatsschauspieler (2002)

55. Schuldig um jeden Preis (2002)

56. Von Menschen und Büchern (2002)

57. Wie soll ein Blütenbaum schön sein ohne uns (2002)

58. Langer Abschied (2002)

59. Im Leben ertrinken (2002)

60. Zeit ohne Wunder (2003)

61. Wer das Leben nicht verlieren will, muss sich die Kunst erhalten (2003)

62. Spätlese (2003)

63. Denkzettel (2004)

64. Unterm Rad des Fortschritts

65. Wie war das doch? (2006)

66. Anton G. – nicht nur eine Krankengeschichte (2006)

67. Mit Fantasie reich beschenkt (2006)

68. Zwischen Wirklichkeit und Wahrheit (2006)

69. Ausritte eines Don Quichotte in der sächsischen Provinz

70. Holden Caulfield – ein Ritter von der traurigen Gestalt (2007)

71. Ich han min Lehen noch lange nicht (2007)

72. Freud und Leid oder wie die Katze sich in den Schwanz beißt (2007)

73. Schelme sind wir allemal (2008)

74. Abgesang (2008)

75. Gott und die Welt (2008)

76. Es war einmal - Student und Lehrer am „Becher“-Institut (2009)

Publikationen (Auswahl)

Impressum neobooks

Vorwort des Autors

Fragt mich nicht

denn heute bin ich

der und morgen der

doch immer derselbe

Wie soll ich wissen

was mich bewegt

wenn ich nicht stehen kann

über mir und den Dingen

In der eigenen Haut

bin ich ein Fremder

gehe ein und aus

ohne dass mir warm wird

Kann nicht finden

was ich zu suchen auszog

als Kind schon

aus einem Spiel heraus

das mich nicht loslässt

G. P.

Nun willst du dir auch noch ein Vorwort nachsagen lassen. Als ob das Leben nicht schon genug Müll über unsereinen ausgeschüttet hätte. Aber nein, du sollst dich nicht beklagen: Zum Ersten will´s ohnehin keiner hören, zum Zweiten hast du noch immer den Willen, deinen Teil zu tragen, ohne kniefällig zu werden. Nun, da du die Zeit endlich hast, wird sie dir knapp, du zwingst dich zur Kürze und erfreust damit die Leute. Jetzt wollen sie es dir heimzahlen mit ihrem Sermon über Gott und die Welt und vor allem über sich selbst, der ihnen doch immer am nächsten steht und von einmaligem Interesse ist. Du schleichst dich davon, sie merken es nicht, denn ob du oder ein anderer, im Grunde redet doch jeder nur mit sich selbst. Hast du das in den hier vorliegenden Aufsätzen und Interviews auch so gehalten? Gebündelt willst du sie nun der Nachwelt anvertrauen. Sie möchte doch so freundlich sein, dem handlich verpackten Klugschiss eine Registriernummer zu geben und in einer Ecke eines Archivs bis in alle Ewigkeit, zu der es wohl nicht mehr lange hin ist, überdauern zu lassen.

Deine Beiträge zur Zeit - die Menschen haben sich die Zeit ja darum ausgedacht, um in den Tag hineinleben und wieder herausfinden zu können - bringen vielleicht doch ein wenig Licht und Schatten ins Bild. Wenn es denn der eine oder andere sich von der Welt zu machen gedenkt. Du hast nur Bruchstücke zusammentragen können, die sich nur selten zu einem Bild zusammenfügen lassen wollten. Und dann nur für Augenblicke, um sogleich wieder auseinander zu fallen, dass du sie wiederum mühsam zusammenklauben musstest, um erneut zu versuchen, sie ins Bild zu bringen. Nun, du bist heute nicht mehr der, der du gestern warst. Und gestern warst du wohl nur dem entfernt ähnlich, den du vorgestern dir selbst und dem verehrten Publikum vorgestellt hast. Dennoch bist du immer noch derselbe - ... die Schminke, die ist billig, und Haut, sie passt sich an..., wenn du auch heute manches anders siehst und denkst als gestern. Lachhaft, was du dir im Laufe deines Lebens für Kostüme und Masken übergestreift hast. Die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Wahrheit erlebst du schließlich nur einmal, in der Kindheit nämlich, in einer Zeit also, wo du beides nicht denkst, aber lebst. Da bist du voll Verlangen aufs große Karussell gestiegen, hast ein paar Runden im Kreis mitgedreht und in bittersüßen Augenblicken durchfühlt, was das Leben dir zu bieten hat. Das ist in seiner Weisheit, die aus der Unschuld erwächst, unwiederholbar. Denn bald beginnst du dir Gedanken zu machen und wirst erwachsen, was auch heißt, dass du dir selbst entwächst in eine Form hinein, die dir nur noch wenig Spielraum lässt. Wohlgefühlt hast du dich darin nie so recht. Darum wohl hast du dir auch eine der Künste gewählt, um hier und da den erdrückenden Rahmen zu sprengen und auszubrechen. Um dich auf dem Jahrmarkt zwischen seinen Buden und Karussells herumzutreiben, wo du dir selbst und den anderen am nächsten kommst. Und vielleicht ist es dir ja gelungen, das eine und andere Kind aufs blaue Schaukelpferd zu setzen oder gar ins Riesenrad, was ja auch ein Karussell ist, eben ein vertikales. Den Kindern sollte gegeben werden, was auch du bekommen hast: das wunderbare Gefühl da zu sein. Dazu braucht es kein Wissen, keinen Besitz, keine Wünsche und keine Gesetze. Es ist das Geschenk eines unbekannten Wohltäters, das dann bald in Vergessenheit gerät und vielleicht zwei-, dreimal wieder in der Seele auftaucht für ein kurzes Erschauern.

Übrigens, ich habe in den Texten heute fast alles so stehen lassen, wie ich es gestern aufgeschrieben habe. Ein paar Schönheitskorrekturen habe ich mir hier und da gestattet - nur an der Form, nicht aber am Inhalt -, kaum der Rede wert und wohl nur vom Federfuchser wahrzunehmen.

1. Postulate zur Kritik (1973)

Leben und Kunst sind keine Schindmähren, aber auch keine Paradepferde, und in einen Stall passen sie schon gar nicht. Sie müssen sich in der Weite unserer Welt, die eng werden kann, zurechtfinden. Sie sind nicht gänzlich zu zähmen, und wer sie reiten will, muss schon den Sprung ins Ungewisse wagen und ins Kalkül ziehen, abgeworfen zu werden. Nach jedem Aufschwung muss dann auch wieder abgestiegen werden, um erneut aufsteigen zu können. Sehen wir doch die Kritik als Steigbügelhalter beim Aufstieg und Abstieg, die unerlässlich sind, denn wer will schon verdammt sein, ewig im Sattel zu sitzen.

Wenn ein Kritiker Kritisches anmerkt und nicht des Lobes voll ist, wird ihm vorgeworfen, dass er mit Autor und Werk nicht sensibel genug umgeht. Kritik an misslichen Zuständen innerhalb der Gesellschaft, ja, Selbstkritik am eigenen Versagen und all den menschlichen Unzulänglichkeiten wird von Partei und Regierung allerorts verlangt, um den Prozess des allgemeinen und individuellen Werdens und Reifens zu befördern. Doch wenn dann kritisiert und nicht nur an geschönter Oberfläche gekratzt und die Wurzel des Übels freigelegt wird, reagiert man höchst empfindlich. Kritik wurde bislang als gesellschaftsschädigend empfunden, wir haben nicht gelernt maßvoll mit ihr umzugehen. Man legte uns die Pflicht auf, ohne Fehl und Tadel zu sein, nur wenige Wege standen offen, die auf freies Feld zum Suchen und Ausprobieren führen. Es ist eine Binsenweisheit, die man lange vor uns dem Leben abgerungen hat – wo nicht gesucht wird, kann nicht gefunden werden. Das Suchen und Finden ist längst zum Kinderspiel geworden, das wir uns aber als Erwachsene verbieten. Fürchten wir uns vor der eigenen Entwicklung, haben wir Angst, in unserer neuen Gesellschaft Neues auszuprobieren? Was sich nicht bewegt ist tot oder stirbt. Dieses Lebensgesetz ist auch uns auferlegt.

Wir haben keine Schule der Kritik, keine Kritik in den Schulen. Unsere Menschen sind nicht von klein auf vorbereitet, mit Kritik selbstverständlich als Lebensnotwendigkeit umzugehen. Sie erleben Kritik als Bedrohung ihrer Persönlichkeit, anstatt sie als Chance für ihre Weiterentwicklung zu sehen. Alles hechelt nach Lob, das man doch am ehesten durch Anpassung an „gottgegebene“ Regeln erreicht. Jean Paul sagt 1806 in „Levana oder Erziehlehre“: Hofmeister suchen, wie Anatome, ihren Ruhm darin, Gerippe zupräparieren durch Entfleischen und sie dann zu bleichen, - Kräftigen und Kraft lassen, soll das erste und letzte Erziehwort sein.

Die Literaturkritik sollte wieder werden, was sie ist: ein eigenständiges literarisches Genre, das selbstbewusste, kluge, kenntnisreiche und vor allem mutige Persönlichkeiten verlangt. Wenn Kunstkritik sich nicht energisch Bewegungsfreiheit verschafft, wird sie weiterhin dilettieren und Unbehagen und Beschämung hervorrufen. Der Kritiker, wenn er sich denn als solchen ernst nimmt, bedarf keiner „Vorschläge“, wie er seine Kritik zu verfassen hat, er muss Parteiisches abwerfen und sich wie der Künstler ganz auf seine Subjektivität besinnen, um der Objektivität nahe zu kommen. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Der Bezug auf sich selbst verleiht Glaubwürdigkeit; wenn man glauben kann, versteht man, was man weiß und kann sich selbst vertrauen, was Voraussetzung für die vielfältigen Beziehungen zu den anderen ist.

Kritik muss in der Wirklichkeit angesiedelt sein und die Wahrheit wollen; der Kritiker muss seine Eitelkeit und die Furcht anzuecken mit dem Mut zur Offenheit bekämpfen; die Scheuklappen der Parteilichkeit sind abzulegen; es ist nur nach dem eigenen Mund zu reden und eher zu schweigen, als ein Wort auszusprechen, das nicht von innen kommt.

Kunst ist eine „heilige Sache“, weil sie der Wahrheit verpflichtet ist, am deutlichsten wird das in der Literatur, da sie auf das Wort baut. Mit dem Wort umgehen, soll heißen: mit dem Leben umgehen. So wahr wir sprechen, so wahr leben wir, und umgekehrt. Die Sprache, die ja auch im Schweigen ist, ist der einzige gangbare Weg zum inneren und äußeren Frieden. Das Leben in all seinen Spielarten ist immer auch ein Tanz auf dünnem Seil. Die Kunst kann für den Seiltänzer eine hilfreiche Balancestange sein. Die Kritik sollte zum Scheinwerfer werden, der die Akteure nicht blendet und dem Publikum eine genaue Sicht ermöglicht. Im Leben und in der Kunst sollten wir uns vor Plattformen hüten, auf denen es sich todsicher stehen lässt, wo der Einzelne, eingekeilt in die Masse, zwar nicht stürzen, aber auch nicht steigen kann; denn es fehlt ihm einfach an Bewegungsfreiheit, die er benötigt, um ein Suchender zu sein, der finden will: sich selbst und die anderen.

2. Ich (1976)

Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, und ich erwarte, dass noch einiges anfängt.

Mein Ich kenne ich nur vom Spiegel her, meistens von morgens, eine schlechte Nacht hinter mir, Unruhe in den Fingern, welche die Klinge führen gegen üppig wucherndes Barthaar. Das äußere Ich ist mit einem flüchtigen Blick zufrieden. Man hat sich an sein Gesicht gewöhnt. Aber da ist noch das zweite, das innere Ich, das wandelbare, verletzliche, ängstliche, aufbegehrende, das suchende Ich. Mit dem liege ich im Streit, täglich, oft auch nachts. Wie Welt sich verändert, verändert sich das Ich. Der Streit mit dem Ich ist Streit mit der Welt. Kann man überhaupt im Ich Welt entdecken? Zumindest muss man es über das Ich.

Als ich Kind war, sagte meine besorgte Mutter zu mir: „Junge, zieh dir eine Jacke drüber. Es ist kalt da draußen.“ Ich hatte gestern nicht gefroren. Warum sollte ich heute frieren? Ich ging ohne Jacke los. Es war ein schneidend kalter Tag. Bald schlich ich zurück in die Wohnung und zog mir die Jacke an. Aber manchmal konnte mir die Kälte nichts anhaben, ich vergaß sie im Spiel und brauchte nichts zum Drüberziehen.

Die Kinderzeit war bald vorbei. Es lag nun unendlich viel zwischen hässlich und schön, gut und böse, hell und dunkel, und manchmal war alles eins auf der Suche nach mir und den anderen. Es kamen die Lehrjahre, ein nach Maschinenöl und Kreide riechender Raum, in dem Relaisfedern nach zehntel und hundertstel Gramm justiert werden mussten; die Sucht nach schwerer Handarbeit, Kisten karren auf dem Güterboden eines Verladebahnhofs; der Kampf auf der Judomatte; der Traum vom dreifachen Salto am Flugtrapez und die erdgebundene harte Arbeit der Äquilibristik, das Bett in einer vulkanhaft auseinanderberstenden Stadt. Und es kamen Krankheit, Verzweiflung, immer wieder neue Hoffnung auf Erfüllung, und es kam der Griff zu Feder und Papier, um dort weiterzukommen, wo ich stehen geblieben war.

In dem Roman, an dem ich gerade arbeite, sagt der ältere Bruder zum jüngeren: „Mach eine Tür auf und tritt heraus, und du wirst wieder in einem verschlossenen Raum stehen. Und so viele Türen du auch öffnest, so viele geschlossene Räume wirst du finden.“

Ich bin froh, dass noch viele Türen zu öffnen sind, und ich will hoffen, dass die Räume, in die wir eintreten, die Anstrengungen lohnen. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und würde noch heute alle Mahnungen in den Wind schlagen und ohne Jacke auf die Straße gehen, um selber zu spüren, ob ich sie mir anziehen muss.

3. Muzelkopp (1977)

Das Gespräch führte: Prof. Dr. Peter Reichel

Zum Stück:

Bruno Jäger, Abiturient, 19 Jahre, tritt seine vierte Ar­beitsstelle innerhalb eines Jahres an - bei der Batterietruppe, einer Brigade von Fernmeldeleuten. Seiner Mutter Olga zuliebe (den Vater kannte er nicht) und auch ein wenig aus eigener Einsicht nimmt er sich für diesmal äußerste Disziplin und Höflichkeit vor. Doch es ist Montag, die Brigade hört nur auf Fierats „verdienstvolles“ Kommando und in der ersten halben Stunde hat Bruno einen kräftigen Anpfiff und den neuen Spitznamen weg: Muzelkopp. Mit dem ängstlich-genügsamen Kauer zieht er nun mit destilliertem Wasser von Batterie zu Batterie, träumt dabei aber von hoher See oder auch vom Philosophiestudium. Es gibt Differenzen: mit der scheinheiligen Verwandtschaft bei der Geburtstagsfeier, mit seinen Freunden in der Disko - dem realistisch denkenden Eddy und dem karrieristisch handelnden Pythagoras -, mit dem Brigadier bei der Punktehascherei. Aber er findet auch Freunde: beim alten Kollegen Jakob Baum spielt er nachts wortlos Gitarre, seine Freundin Ev begreift ihn trotz seiner provokanten Maskerade. Am Ende verlassen ihn einige wieder, auf andere aber kann er sich nun verlassen.

Da Sie für das Leipziger Theater, fürs Leipziger Publikum und für das Theaterpublikum überhaupt ein vorläufig Unbekannter sind, möchte ich Sie zunächst bitten, einiges zuBiografie, Werdegang, bisherigen literarischen Arbeiten zu sagen - im Telegrammstil.

Jahrgang 1940, Grundschule, Lehre als Fernmeldemechaniker in Leipzig. Dann Arbeit in anderen Berufen: Lagerist, Transportarbeiter. Starke Neigung zum Leistungssport: Judo bei der Deutschen Hochschule für Körperkultur. Danach drei Jahre Fachschule für Artistik in Berlin, wurde krank, musste abbrechen. Dort entstanden auch 1959/60 die ersten Schreibversuche. Der Grund: Die ganze vertrackte Situation, in die ich geraten war. Das gespaltene Berlin zu dieser Zeit, die ständigen politischen Auseinandersetzungen, Leben auf einem Vulkan, ich war damals 18 Jahre alt. Da blendete der Glanz von „drüben“, Kinos, Schaufenster, usw.. Tagsüber aber wurden wir an dieser Schule gefordert, also Drahtseilakrobatik, Jonglieren, Flugtrapez, alle artistischen Genres. Dazu die theoretische Ausbildung, Fremdsprachen, Ästhetik und mehr. Ich war neugierig, auf mich und die anderen, auf das Leben überhaupt. Ich wollte nicht nur die Oberfläche beharken, ich stellte mir die alten Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Vergänglichkeit usw.. Für die Antworten reichte die Artistenschule nicht, ich besuchte „illegal“ Vorlesungen in Philosophie und Germanistik an der Humboldtuniversität.

Waren es im Grunde nicht Fragen, die aus der politischen Situation entstanden und damit außer ihrer „schriftstellerischen“ Bewältigung auch eine politische Entscheidung verlangten?

Wir Studenten pendelten fast täglich zwischen Ost und West. Früh zum Unterricht, nachmittags mal rüber ins Kino oder nachts in eine Bar, nur ein paar Pfennige des begehrten Westgelds in der Tasche. Die gespaltene Stadt und der Wechsel zwischen hüben und drüben spaltete auch uns Überläufer. Das Hin und Her war eine ständige Überforderung. Der eine hielt den zunehmenden Druck aus, der andere nicht. Auch wenn manches Erleben recht privat erschien, so war es im Grunde doch auch politische Auseinandersetzung. Man suchte sein Zuhause in der Zeit, eben nicht nur das schützende Dach über dem Kopf, sondern den angemessenen gesellschaftlichen Spielraum.

Viele Menschen verabschiedeten sich täglich aus dem Osten in den Westen. Auch von den Studenten verschwand mancher von heute auf morgen. Auch mein Freund, der mit mir die Schule besuchte, ging bald nach drüben. Unser Jugendtraum sollte sich für ihn erfüllen. Wir waren ja aufgebrochen, um die ganze Welt zu erkunden. Er heuerte in Bremen auf einem „Bananendampfer“ für einen Südseetrip an. Wir trafen uns Jahre später in Leipzig wieder. Gesehen hat er nicht viel, er hat im Maschinenraum geschuftet und Befehle ausgeführt. Geblieben war ihm ein Foto, das er gern herumreichte, das zeigte ihn auf einer Südseeinsel in Tarzanbadehose und ein Hulamädchen im Arm. Das farbige Foto, mit dem er Eindruck machen wollte, war eigentlich Zeugnis seines Scheiterns.

Sie aber hatten Ihr Zuhause gefunden?

Ich blieb an der Artistenschule, hielt aber dem Leistungsdruck nicht stand, war weiterhin ein Pendler zwischen den Welten, begann zu malen und zu schreiben, um Antworten auf quälende Fragen zu finden, und erkrankte schließlich an Seele und Leib. Ich lag ein knappes Jahr in der Klinik - in der Zeit starb auch meine Mutter, an die ich problematisch gebunden war -, fand dann zurück nach Leipzig und arbeitete wieder in meinem alten Beruf als Fernmeldetechniker.

Und wie ging es mit dem Schreiben weiter?

Ich versuchte weiter meine Erlebnisse schriftlich fest zuhalten und dachte nicht daran, das Schreiben vielleicht einmal hauptsächlich zu betreiben. Doch das Schreiben wirkte wie eine Droge, es brachte zwar kein dauerhaftes Glück, aber ich wollte davon nicht mehr lassen. Mit der Zeit wurde es mir in mir zu eng, ich suchte die Erfahrungen anderer und besuchte Zirkel „Schreibender Arbeiter“, wo ich hoffte, auf Gleichgesinnte zu treffen. Ich fand auch Freunde, ja, aber eigentlich wurde vom Zirkelleiter ein böses Spiel mit mir getrieben. Er versuchte mich zu verunsichern und schob mich zwischen den Zirkeln hin und her. Daran war wohl nicht mein mangelndes Talent schuld, das politische Engagement und die Parteilichkeit standen ohnehin im Vordergrund. Es fehlte mir einfach an Anpassungsfähigkeit und bedingungsloser Gläubigkeit. Entgegen der Meinung des Leipziger Schriftstellerverbandes habe ich mich schließlich am „Literaturinstitut J. R. Becher“ beworben, bin dort auch für mich überraschend angenommen worden, habe von 1970 bis 1974 studiert und in dieser Zeit ein Kinderbuch und den Band Erzählungen „Die Grasnelke“ veröffentlicht. Letztes wurde mit einem Förderpreis des Ministeriums für Kultur und auch mit der „Erich-Weinert-Medaille“ ausgezeichnet.

Nach Absolvierung des Literaturinstituts „Johannes R. Becher“ haben Sie gleich den Schritt zum freischaffenden Autor getan. Gehört dazu nicht - neben hinreichendem Mut - eine entsprechende moralische und materielle Förderung durch unsere Gesellschaft?

Ich hätte mich nicht zum Freischaffenden machen können ohne die Unterstützung durch den „Rat des Bezirkes“. Für die Arbeit an einem Roman, mit dem ich immer noch zu schaffen habe, bekam ich ein großzügiges Stipendium. Einige andere Arbeiten sind fertig: der Fernsehfilm „Ein verdammt wunderschöner Tag“ (inzwischen gesendet) und drei Hörspiele für Kinder. Im Herbst erscheinen der Band Erzählungen „Die großen bunten Wiesen“ und der Roman „Julia“. Anderes ist in Arbeit.

Sie haben jetzt einiges erzählt, und ich habe lauter Zwi­schenfragen gestellt. Trotzdem hätte ich gern manches noch genauer gewusst. In dem Stück, um das es hier geht, ist die Titelfigur Muzelkopp Fernmeldemonteur. Sie haben eine Lehre in diesem Beruf absolviert. Haben Sie die abgeschlossen, und warum sind Sie weggegangen aus diesem Beruf?

Die Lehre habe ich wahrlich mit Müh und Not abgeschlossen. Ich hatte mir den Beruf auch nicht selbst ausgesucht. Ich wäre lieber nach Meißen zur Porzellanmalerschule in die Lehre gegangen. Aber meine Mutter, immer noch von Kriegsängsten geplagt, wollte ihre kleine Familie immer in Reichweite um sich haben. Mein Vater, selbst Arbeiter, hatte schon meinem älteren Bruder den Berufsweg geebnet, der inzwischen die Maurerlehre beendet hatte und nun zielstrebig zum Ingenieur studierte. Ich sollte nun, was der große Bruder erfolgreich vorgemacht hatte, ebenso erfolgreich nachmachen. Doch ich fühlte mich im Lehrkombinat eingesperrt, geistige Enge und disziplinarische Unterwerfung machten uns jungen Leuten, von denen ja die meisten erst vierzehn Jahre alt und somit noch Kinder waren, tüchtig zu schaffen. Einige, zu denen auch ich gehörte, rebellierten immer wieder und versuchten auszubrechen. Als es dann nach drei sich quälend dahinschleppenden Jahren dennoch geschafft war, arbeitete ich ein paar Monate im Fernmeldeamt, wo es nicht anders zuging wie im Lehrkombinat. Gegen den erbitterten Widerstand meiner Übermutter kündigte ich dennoch bald. Mein Freund und ich wollten endlich richtig zufassen, etwas anpacken und in eine Richtung bewegen, die wir selbst bestimmten. Wir waren ständig am Träumen von großen Taten, jedes Frühjahr saßen wir auf gepackten Koffern, um endlich in die Ferne zu gehen. Wenn wir nach Arbeitsschluss eingekeilt in der überbesetzten Straßenbahn standen, bewunderten wir Männer vom Bau, von Wind und Wetter gegerbte Kerle mit großen vernarbten Händen. Wir schämten uns, dass wir noch immer im sterilen Fernmeldeamt gefangen saßen, Drähte anlöteten und im Wählersaal nach Störungen suchten.

Dann also Transportarbeiter, Güterbodenarbeiter. Warum gerade das? War das so was mit Zupacken? Wo man richtige Massen bewältigen, Kraft einsetzen konnte?

Ich war auf der Suche nach dem Abenteuer, wo ich zum Bestehen all meinen Mut und meine ganze Kraft einsetzen musste. Meinen Freund und mich trieb es auf den Güterboden: täglich achtstündiges Karren der schweren Kisten aus den Waggons über die Rampe in die Lastkraftwagen oder umgekehrt. Die Kollegen waren schwere Jungs mit krimineller Vergangenheit, Studenten, die ein paar schnelle Mark machen wollten, und die „Politischen“, Akademiker, die von der Uni zur Arbeiterklasse strafversetzt waren, um ihr mangelndes sozialistisches Bewusstsein zu stärken. Es gab täglich verbale Auseinandersetzungen, aber auch Schlägereien und einmal sogar eine Messerstecherei. In der Nachtschicht erzählte uns ein Alter immer wieder Geschichten aus dem 2. Weltkrieg, wie er da noch „wirklich gelebt“ hätte, wie sie in Frankreich den Champagner wie Wasser getrunken und mit den „Madams“ die Nächte verbracht hätten. Der Bahnhof atmete Welt, die Ferne lockte uns, in den Waggons roch es nach Menschen und Dingen, die wir nicht kannten, aber um jeden Preis kennenlernen wollten.

Nun verstehe ich Abenteuer nicht ganz an dieser Stelle. Ich verstehe, dass Sie dort eine feinmechanische Arbeit verlassen haben und jetzt eine etwas gröbere, aber vielleicht abwechslungsreichere suchten. Spielte der Gedanke dabei mit an her­umfahren, rauskommen?

Ja, das Rauskommen. Das Fernmeldeamt war ja ein abgeschlossenes Haus, für uns eine Art Gefängnis. Man trat an die Pforte, zeigte den Ausweis, durfte eintreten und musste nun acht Stunden drin bleiben, gleichgültig, was in der Welt auch passierte. Es war aber auch die Monotonie der Tätigkeiten, der ganze bis ins Detail festgelegte Tagesablauf, der uns lustlos und auch aggressiv machte. Auf dem Güterboden hatten wir ein Stück Himmel über uns, von dem wir wussten, dass er unendlich war. Und dann die Züge, ihr Ankommen, das kurze Verschnaufen und ihr Fortfahren, der schrille Pfiff der Lokomotive, die hoch aufschießende Dampffontäne, das Stampfen der Räder, wie sich der schwarze Koloss aus dem Stillstand befreite und langsam, aber kraftvoll in Fahrt kam - das machte Hoffnung auf das Gelingen der eigenen Befreiung.

Während Ihrer Schilderung fiel mir noch etwas auf. Sie haben in Berlin während der Zeit der Artistenschule heimlich Vorlesungen besucht. Das ist nicht üblich. Gab es dafür Gründe, die in der Person der Vortragenden oder in der Sache gelegen haben? Wenn ich Philosophie und Germanistik höre, scheint mir die Sache eine Rolle gespielt zu haben. Können Sie nachträglich ein Motiv namhaft machen, warum Sie dorthin gegangen sind und nicht in die Anatomie?

Es war nicht der Grund, dass etwa ein prominenter Wissenschaftler bestaunt werden sollte. Wir junge Leute waren an dieser „Kunststückchenschule“ körperlich oft überfordert und geistig einfach unterbeansprucht. Man hätte keinen von der Schule entfernt, wenn er in den theoretischen Fächern schlecht, aber in der Artistik zu gebrauchen gewesen wäre. Bei diesem dürftigen geistigen Angebot suchten eben einige von uns nach Möglichkeiten, um ihren Wissensdurst zu stillen. Das fortwährende Pendeln zwischen den Welten, der tägliche Kampf ums Überleben mit sechzig „Ostmark“ Stipendium im Monat, die Unzufriedenheit mit der allgemeinen Mangelsituation an der Schule, das alles warf viele Probleme auf. Die illegale Vorle­sungsteilnahme an der Uni und die erschlichenen Besuche bei geistig-kulturellen Höhepunkten – wie die um die Osterzeit von Konwitschny dirigierten „Brandenburgischen Konzerte“ oder die Neuinszenierung eines Brechtstücks am „Berliner Ensemble“ - waren da wohl eine Art Notwehr. Es kam aber auch zu ziemlich handfesten Aktionen. Wir litten ja unter ständigem Geldmangel, die Internate und die Trainingsräume waren in schlechtem Zustand, für eine Verpflegung war nicht gesorgt. Der Sekretär der „Freien Deutschen Jugend“, der sich hätte für die Belange seiner Kommilitonen einsetzen sollen, hatte sich nach drüben abgesetzt. Mehr aus einem Ulk heraus wurde ich gewählt, nahm aber dann doch die Funktion ernst. Bald darauf haben wir, eine schnell zusammengestellte Delegation von Studenten, das Kulturministerium „gestürmt“. Wir sind auf heute recht abenteuerlich anmutende Weise bis ins Büro des Ministers vorgedrungen. Und man hörte uns an. Wir erzählten haarsträubend wahre Geschichten: wie ein Mitstudent vor Hunger vom Trapez gefallen war; dass wir uns in den Ruinen mit Luftgewehren der „Gesellschaft für Sport und Technik“ Wildtauben schossen und von den Mädchen braten ließen; dass bei Regen der obere Schlafsaal unter Wasser stand und es in der Schule wie im Raubtierhaus roch, weil keine Duschen vorhanden waren. Man gab uns zu verstehen, dass das alles nach einer Medienlüge des Klassenfeindes röche. Aber ein paar Tage danach kam der Minister persönlich in die Schule, und ein Vierteljahr später veränderte sich vieles zum Positiven. Wir waren mächtig stolz auf uns; aber den Studenten des neuen Studienjahres waren unsere „Errungenschaften“ schon nicht mehr gut genug.

Haben solche Jugenderlebnisse für Ihr späteres Leben und Ar­beiten eine Rolle gespielt?

Meine Weltanschauung hat sich im geteilten Berlin entscheidend geprägt. Man hatte uns ja in den Schulen gelehrt, dass im Kapitalismus das Wolfsgesetz vom Fressen-und-gefressen-Werden herrscht und sich alles Tun und Lassen um den Profit dreht, dass das kapitalistische Wesen amoralisch, ja, menschenfeindlich ist. Und täglich erlebten wir ja den Propagandakrieg zwischen Ost und West. Ich bin wohl eher ein Zweifler als ein Glaubender und mache mir gern selbst mein Bild von Menschen und Dingen. Im Alltag lernte ich nun selbst den Kapitalismus zwischen Verlockung und Abstoßung kennen. Wie schon erwähnt, wir waren ja fast täglich im Westteil der Stadt. Der Glanz und Flitter, mit all seinen Versprechungen ums Glück, lockten gerade die jungen Leute an. Zudem waren wir begierig auf Westgeld, der Kurs stand zeitweise eins zu sechs, also für eine Westmark konnte man sechs Ostmark tauschen, oder aber wir gingen am Gesundbrunnen ins Kino und natürlich musste eine Markenjeans her. Vielleicht sagt aber ein kleines „Lehrstück“ mehr, als alle Erklärungsversuche. Wir haben abends und manchmal bis in die späte Nacht in Westberlin Kegel aufgestellt. Das war eine mörderische Arbeit nach dem harten Training in der Schule und dem nicht ausreichenden Essen. Wir bekamen als „die aus der Zone“, die von den Kegelbrüdern als bedauernswerte Individuen aus dem „Kommunistischen Knast“ gesehen wurden, für die Stunde fünfzig Pfennige und für jede Neun, die gekegelt wurde, eine Limo spendiert oder einen Fünfziger dazu. Wir haben unsere Arbeitgeber, meist Arbeiter und kleine Angestellte, die zu uns durchaus, wenn auch von oben herab, freundlich waren, bei dieser Schinderei von Herzen gehasst. Sie kamen mit ihren Autos vorgefahren, aßen erst einmal ausgiebig, eine Runde veranlasste die andere, es wurde lärmend gewitzelt und eben auch fleißig gekegelt. Nun, wir hatten bald heraus, wie auch wir auf unsere Kosten kommen konnten. Wir befestigten jeden Kegel an einen schwarzen Zwirnsfaden, deren Enden wir in der Hand hatten. Nun bestimmten wir mit unserem Fadenzug, wo es lang ging. So viele Kegel waren hier nie zuvor gefallen, und bei jedem Ruf „Alle Neune!“ hatten wir fünfzig Pfennige mehr in der Tasche. Bis es dann herauskam und wir den Verein wechseln mussten. Bei mangelnden Westangeboten stellten wir dann auch im Osten auf, es war zwar nicht viel zu verdienen, aber wir waren hier Gleiche unter Gleichen.

Heute sind das Episoden. Ich glaube aber, dass man durch solche als Achtzehnjähriger mit viel Anteilnahme erlebten Dinge mitgeprägt wird. Erlebnisse, die einem Abiturienten vielleicht erspart bleiben, der ein geregeltes Ausbildungsprogramm absolviert. Dass Sie den geistigen Ausgleich suchten, ist klar. Sagen müssten wir noch, warum es gerade in diese Fachrichtung ging. Sie sprachen vorhin davon, der Sinn des Lebens habe Sie schon immer besonders beschäftigt. Hängt die Fachwahl damit zusammen, vielleicht auch mit besonderen Erfahrungen in Jugend und Kindheit?

Vieles was uns nicht wachsen lassen will oder aber zu unserer Selbstfindung beiträgt hat ja seine Ursache in frühester Kindheit. Wir Menschen sind gar nicht so unendlich entwicklungsfähig, wie wir es gern von uns behaupten. Das Fundament für das gesamte weitere Leben wird in den ersten Lebensjahren gelegt, alles was fortan dazu kommt, muss darauf seinen Platz finden.

Meine Mutter kannte ich nur krank. Die Kriegserlebnisse hatten in ihr verfestigt, was schon über die Gene und Kindheit in ihr angelegt war. Ihr Selbstwertgefühl litt wohl unter einem zu hohen eigenen Anspruch und einer angstgebremsten Umsetzung durchs Tun. Sie war bei alldem wenig gebildet und doch sehr klug, sie hatte einen „Nerv“ für Menschen und durchschaute sie mit untrüglicher Gewissheit. Sie blieb ihr Leben lang „Hausfrau“ und versuchte ihre vier Wände zu einer Burg gegen die Welt auszubauen, von der sie meinte, dass sie ihrem persönlichen Glück feindlich gesinnt war. Mein Vater dagegen war ein lebensvoller zupackender Mann, der das blutige Flei­scherhandwerk ausübte und dennoch ein „Musensohn“ war. Er hatte eine sehr schöne Tenorstimme, vor dem Krieg hatte er bei namhaften Gesangslehrern geübt, und er hätte wohl in Dresden an der Oper ein Engagement bekommen sollen. Der Krieg kam dazwischen, die Front, Flucht aus amerikanischem Gefangenenlager, in der Nachkriegszeit der fortwährende Kampf ums Überleben. Er bildete im Leipziger Schlachthof die Lehrlinge aus, die auf ihn nichts kommen ließen, weil sie seine Toleranz und sein Verständnis schätzten. Während meine Mutter sich dem „Draußen“ immer mehr verschloss und meinem Vater drohte, ihn mit den Kindern zu verlassen, wenn er doch noch zur Bühne ging, hat mein Vater seinen Lebenstraum nie aufgegeben. Er war in etlichen Gesangvereinen als „erster Tenor“ gesetzt, seine Bühne fand er in Kneipen, wo der „Caruso vom Schlachthof“ dann all die berühmten Tenorarien zum Besten gab. Mein Bruder und ich erlebten viele unschöne Szenen zu Hause, die eben auch dadurch zustande kamen, dass die Eltern nicht miteinander leben und sich nicht trennen konnten. Bei mir war es dann die Fantasie, die ich überreich geschenkt bekommen habe, mit deren Hilfe ich mich aus der Diktatur meiner Mutter in eine freundlichere und vor allem buntere Welt hinüberretten konnte. Aber „krank am Herzen“ war ich wohl schon damals, und die alten Sinnfragen nahmen wohl viel zu früh einen Platz in mir ein, der noch ganz dem kindlichen Spiel gehört hätte.

Und dennoch hat meine Mutter, selbst eine leidenschaftliche Leserin, mich zum Lesen gebracht, und Jahre nach ihrem Tod zum Schreiben. Wenn ich von meinem Vater das „trotzdem“, den Willen zum Leben habe, so habe ich von meiner Mutter das Hinterfragen und Wissen wollen, eben auch die Liebe zur Literatur. Ich bin sozusagen mit den „Geschwistern“ aus Büchern groß geworden, mit Hänsel und Gretel, mit Huckleberry Finn, Tom Sawyer, Robinson Crusoe, Kriemhild und Siegfried, dem grünen Heinrich, Gretchen und wie sie alle heißen. Sie machen mich heute noch froh, es werden derer immer mehr, und ich fühle mich sicherer, sie um mich zu wissen, und vielleicht gelingt es mir ja auch, ihnen einen Bruder oder eine Schwester hinzuzufügen, der oder die aus meiner Feder stammt.

Vieles von dem, was Sie jetzt erzählt haben, erklärt Haltungen und Handlungen im „Muzelkopp“, Ihrem ersten Theaterstück. Beispielsweise findet nicht nur Bruno Jäger, sondern auch sein Spannemann Kauer dann zu seiner Identität und damit zu einem produktiven Neuansatz, wenn er die Übereinstimmung mit der eigenen Kindheit herstellen kann. Kindheit spielt für Sie offenbar eine große Rolle. Vielleicht kommt daher auch Ihre Neigung zum Kinderhörspiel, zum Kinderbuch, zur Bildergeschichte - eine Eigenart übrigens, die Sie mit anderen Bühnenautoren, etwa Peter Hacks, teilen. Vielleicht braucht man gerade für das Theater eine gehörige Portion Naivität, Kindlichkeit, Illusion, Fantasie, alles das, was noch nicht fertig und restlos nachrechenbar ist, wo man noch fragen und seinen Spaß daran haben kann, wo vieles von diesen Träumen angerissen wird oder sich zum Teil fantastisch verwirklichen lässt. Von daher scheint mir jetzt, dass Ihr Gang zum Theater, der im Einzelnen ja gar nicht konkret zu motivieren ist, doch irgendwo Gründe haben kann.

Nun sagten Sie eben, Sie seien früh mit dem Tod konfrontiert worden, auch Angstgefühle hätten sich da und dort eingestellt. Da scheint es mir eine starke Gegenreaktion von Ihnen zu sein, dann diesen gewaltigen Sprung von der Ausbildung an einem Institut in das Dasein eines freischaffenden Autors zu wagen. Gewiss muss man da eine ganze Portion Angst oder Befürchtung überwinden. Ist das der Mut der Verzweiflung gewesen, der Versuch, einmal alle Bedenken beiseite zustellen, oder hat sich das aus anderen Gründen so ergeben? Ist das eine ganz überlegte Handlung gewesen? Vielleicht keine Zeit mehr zu verlieren?

Ich habe oft das ungute Gefühl, als hätte ich nicht ausreichend Zeit zur Verfügung, um mich so weit wie möglich zu vervollständigen. Daraus entspringt natürlich eine Lebenshaltung, die das Risiko des Scheiterns erhöht. Ich habe einfach keine Zeit, mir bei jedem Schritt ein Hintertürchen offen zu lassen, um gegebenenfalls auf sicheres Terrain zurückzuflüchten. So macht man sich natürlich angreifbar, man wird leichter verwundet und steht eben oft auch allein da. Andererseits hat es den Vorteil, den Überraschungseffekt für sich zu haben und vieles unverstellt zu erleben. Der evangelische Theologe und Philosoph David Friedrich Strauss trifft in seiner „Theologischen Streitschrift“ den Punkt, in dem er die Möglichkeit mit dem Ideal verbindet: Wer möchte nicht ein Ganzer sein? und wer bliebe doch nur immer ein Halber? Gewiss, keiner von uns kann seiner Länge einen Zoll, geschweige eine Elle zusetzen; aber sein natürliches Maß ausfüllen wollen, seine Kraft vollständig in Anwendung bringen, die Dinge festen Blickes anschauen, und das Erkannte ganz und rückhaltlos aussprechen, - das kann jeder. In diesem Sinne ein Halber zu sein, ist Schmach, ein Ganzer immer mehr zu werden, unbedingt Mannes- (Menschen-)pflicht. Ich denke, dass ist ein ebenso individuelles wie gesellschaftliches Problem, es birgt in sich den schmerzlichen wie lustvollen Weg von der Wirklichkeit zur Wahrheit. In dieser Spanne bewegt sich ja menschliche Entwicklung; aber meistens tritt sie eben auf der Stelle.

Ich habe eine kleine Geschichte für ein Bilderbuch geschrieben, die niemand haben will. Margit kann sich mit ihrer „gottgegebenen“ Stupsnase nicht anfreunden. Und als sie mit ihrem Freund Peter streitet, wird sie von ihm damit auch noch geärgert. Sie beschließt: Das Ding muss weg. Sie geht zu ihren Freunden und bietet ihre Nase zum Tausch an. Doch keiner will auf die eigene Nase verzichten und sich mit Margits Stupsnase belasten. An einem Teich schließlich tauscht ein noch dummes Entchen seinen Entenschnabel gegen die Stupsnase. Jetzt hat Margit aber einen Entenschnabel im Gesicht, der sie auch nicht froh macht. In ihrer Verzweiflung geht sie in den Zoo und tauscht immer wieder die Nase, Storchenschnabel gegen Elefantenrüssel, usw.. Dabei wird sie immer unzufriedener, sie tauscht nun auch andere Körperteile, trifft so auf ihren Freund und ist zutiefst betroffen, als der sagt: „Du bist nicht Margit! Meine Freundin hat eine Stupsnase!“ Sie rennt zurück in den Zoo, wo die Tiere schon auf sie warten, denn jeder will zurückhaben, was zu ihm gehört. Zu guter Letzt machen Margit und das Entchen ihren Tausch rückgängig. Und als die Kleine ihrem Freund begegnet, macht er sie froh, in dem er ruft: „Nun bist du ja endlich wieder da – Margit mit der Stupsnase!“

Ihre letzten Bemerkungen ebenso wie die Bilderbuchgeschichte weisen darauf hin, wie Sie Muzelkopp verstanden wissen möch­ten und wie Sie gleichzeitig wünschten, dass unsere Gesellschaft mit jedem einzelnen ihrer Mitglieder umginge. Nicht ich mache mir ein Bild von mir, das ich nie erreichen kann, und gehe an der Differenz zugrunde, sondern ich sehe das Bild in mir, das ich wirklich erfüllen kann und erfülle das also. Deshalb ist der Muzelkopp auch keine so völlig außergewöhnliche, exorbitante oder gar Außenseitergestalt, sondern einer, der sich selber sucht in seinem relativ alltäglichen Leben und dabei glücklicherweise nicht nach dem ersten Nichtfinden aufgibt, sondern weiter sucht. Schließt das nicht einen optimistischen, konstruktiven Lebenszug ein, das Prinzip der Entwicklung und Veränderung, und verhindert gleichzeitig Tendenzen des Scheinoptimismus? Welches Verhältnis des Autors zu seiner Gesellschaft setzt das voraus?

Einer meiner Kollegen sagte: „Wer sich selbst in den Mittelpunkt der Welt stellt, wird die Welt nie erkennen.“ Ich meine, man muss sich gerade in den Mittelpunkt der Welt stellen, um sie erkennenzu können.Nur von dem, was man selbst gesehen, berührt, gefühlt und durchdacht hat, was uns also eigen geworden ist, kann man „verarbeitet“ dann auch wiederzurückgeben. Erst einmal bezieht man doch alles auf sich selbst, und erst im Lauf des Lebens lernt man Abstand zu gewinnen, zu konzentrieren, zu sortieren, um nicht an der Vielfalt zu scheitern oder sich durch allzu große Nähe den Blick zu verstellen.

Die Welt kann man nur bessern, wenn man sich selbst bessert. Und sich selbst bessern kann man nur, wenn man an sich arbeitet. Und an sich arbeiten kann man nur, wenn man sich nicht als fertig und gegeben nimmt, sondern sich mit sich selbst auseinandersetzt. Ich denke, dass gerade die Beschäftigung mit den Künsten, die ja vom Künstler eine ausgeprägte Individualität, also Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit, verlangt, ohne Egoismus nicht auskommt, in dem der Künstler vieles zurückstellt, das seiner Arbeit, die ihm ja zugleich Berufung ist, hinderlich ist. Sonst hätten ja die recht, die sagen, es ist in den Künsten eh schon alles meisterlich gesagt, gemalt und komponiert worden und alles Dazukommende könne doch nur eine Kopie sein. Ja, die Themen sind immer wieder dieselben, die Probleme auch, sie lassen sich an einer Hand abzählen, aber die Menschen sind neu, und ihr ganz persönliches Erleben von Welt, in deren Mittelpunkt sie sich gestellt haben, findet dann auch einen ganz eigenen künstlerischen Zugang zu den Menschen und Dingen. Darum kann ich auch die Eifersüchteleien unter Kollegen nicht verstehen; sie können sich gar nichts wegnehmen, sie arbeiten zwar alle mit demselben Stoff, aber das, was dabei entsteht, kann unterschiedlicher nicht sein.

Ihre Frage nach dem Optimismus, der ja in der Tat oft ein Scheinoptimismus ist, stellen Sie an einen eingefleischten Pessimisten. Und dennoch begehre ich beständig gegen meine Unbekehrbarkeit auf, das hält mich am Leben und Schreiben. Aber wenn ich auch selbst in der Negation versinken würde, nähme ich mir nicht das Recht, andere in mein Dilemma hineinzuziehen. Ich muss ja kein Komödienschreiber sein, um selbst in tragisch angelegten Geschichten eine lebensbejahende Haltung erkennbar werden zu lassen. Aber aller Scheinoptimismus ist mir im Leben wie in der Kunst zuwider, er verhöhnt das Dasein und verhindert jede positive Entwicklung. Der Optimismus hat ein Problembewusstsein, er begründet sich im Pessimismus, wie das Komische im Tragischen seine Wurzeln hat. In diesem Sinn darf ich mich und meinen Protagonisten Muzelkopp wohl als Optimisten sehen.

Wir haben über eine Reihe inhaltlicher und biografischer Voraussetzungen für Ihr Stück gesprochen. Wir sollten jetzt überlegen, welche künstlerischen, vielleicht auch handwerklichen Voraussetzungen erforderlich oder vorhanden waren, um sich an ein solches Stück zu wagen. Immerhin ist ja zu berücksichtigen: Es handelt sich um Ihr erstes Stück für das Theater, nicht aber um Ihre erste dramatische Arbeit überhaupt. Welche Arbeiten in anderen dramatischen Bereichen gingen voraus, und was hat sich von da an Kenntnissen, an Erfahrungen auf das Theaterstück anwenden lassen?

Von einem gewissen, wennauch begrenzten Nutzen für die Theaterarbeit ist für mich das Hörspiel. Ich habe mehrere Hörspiele für Kinder und Jugendliche geschrieben, dabei habe ich gelernt, auf das erzählende Moment zu verzichten und mich auf Dialoge zu beschränken, was ja nicht gleich Verlust bedeutet. Für das Fernsehen habe ich nach einer meiner Erzählungen ein Treatment und Drehbuch erarbeitet, das dann auch verfilmt wurde. Der Film hat ja nunwieder seine ganz eigene Spezifik. Im Grunde bin ich wohl ein Prosaschreiber, mir reicht der Dialog oft nicht, um das auszudrücken, was ich sagen will. Beim Film mag das angehen, dort schlage ich ja zum Dialog auch Bilder vor. Aber für das Theater kann ein Erzähler tödlich sein, es braucht die Leerstellen im Dialog, um die Schauspieler spielen zu lassen. Am Theater muss wohl weniger gesagt und mehr gezeigt werden, und wenn der Autor seinen Text abgeliefert hat, braucht es ihn nur noch als Zuschauer. Zu meiner ersten Arbeit für das Theater ist es ja auch mehr zufällig gekommen. Als erstes stand die Erzählung, ich fuhr in die Ferien und langweilte mich, wollte die Prosaarbeit in ein Hörspiel umsetzen. Ich schrieb also Dialoge, und dann dachte ich, das könnte doch auch für das Theater passen.

Das war natürlich genau der Eindruck, den wir als Theaterleute beim ersten Kennenlernen des Stückes auch hatten: Ein Stück voller Dialoge. Und zwar voll nicht nur vom Anteil des Dialogs am Gesamtgeschehen her, sondern auch im Hinblick auf den Umfang. Das Stück hatte ursprünglich ungefähr 130 Seiten, und zwar durchweg Dialog. Nun ist das Dialogschreiben ganz gewiss eine der ersten Proben, die ein Schriftsteller bestehen muss, der für das Theater schreiben will. Insofern ist Dialog eine Grundvoraussetzung, allerdings eine, die allein dann wieder nicht ausreicht. Wo haben Sie im Laufe der Arbeit über den Dialog hinaus die größten Schwierigkeiten gehabt, „theatergerecht“ zu arbeiten, also von der Prosa auf das Stück zu kommen? Vom Dialogschreiben hin zum szenischen Gestalten.

Ich kannte das Theater ja nur als Zuschauer. Und als solcher schrieb ich auch den Text, was ziemlich flüssig vonstattenging, da ich ja mit der Erzählung eine Vorlage hatte. Die Schwierigkeiten fingen mit unserer Zusammenarbeit an, als mir die Dramaturgie des Leipziger Theaters sagte: „Wir werden mit Ihnen an dem Stück weiterarbeiten.“ Einesteils war ich froh über das Interesse an meiner Arbeit, andererseits dachte ich mir: Was wollen die eigentlich? Sie brauchen es doch nur noch auf die Bühne bringen.

Erst im Verlauf der Zusammenarbeit, mit dem Blick hinter die Kulissen sozusagen, bekam ich eine Vorstellung, was denn Theater eigentlich ist und wie es „gemacht“ wird. Anfangs ist mir die Teamarbeit schwergefallen, ich war ja die Einsamkeit am Schreibtisch gewöhnt; andererseits gefiel mir die Auseinandersetzung um eine gemeinsame Sache, die jeder auf seine Weise auf die Bühne bringen wollte. Allein hätte ich wohl aus den Dialogen kein aufführbares Stück zustande gebracht. Da waren gerade auch Sie mit all ihrer Theatererfahrung ein geduldiger, aber unnachsichtiger Lehrmeister. Es ist in der Tat nicht einfach, vom Zuschauer zum Mitwirkenden zu werden.

Wäre es möglich, jetzt an dieser Stelle zu sagen, worin die vom Theater geforderten, dann mit dem Autor abgesprochenen und letzten Endes zwischen beiden vereinbarten Veränderungen bestanden, die vom ersten Manuskript, was Sie ganz allein gemacht hatten und was dann im Theater vorlag, sich vollzogen bis zum endgültigen, dann aufgeführten Stück? Wo lagen diese wesentlichen Veränderungen?

Es gab eine Vielzahl von Einwänden, die dann eben auch Veränderungen nach sich zogen. Im Wesentlichen ging es um das Begreifen des Autors, dass das Theater eben seine eigenen Gesetze hat, die sich zur Prosa manchmal geradezu diametral verhalten. Das erste Problem hatten wir mit der Länge des Stückes. Das Manuskript hatte 130 Seiten, war also viel zu lang. Ich hatte mir darum keine Gedanken gemacht, wie ich auch beim Schreiben von Erzählungen und Romanen nicht vorher die Seitenzahl festlege. Nun ist das Kürzen, das Verdichten, das Auf-den-Punkt-bringen, damit Leerstellen entstehen, die dem Rezipienten genügend Raum zur Mitarbeit lassen, für jedes Genre der Literatur eine unverzichtbare Arbeit. Aber hier ging es nicht nur darum Text zu streichen, sondern herauszufinden, was alles nicht gesagt werden musste, um „vorgeführt“, also gezeigt werden zu können. Mir tat es schon weh, gelungene erzählende Passagen herauszustreichen und das freie Feld dem Regisseur, Bühnenbildner und den Schauspielern zu überlassen. Ich erlebte das anfangs wie einen Kampf – der allmächtige Prosaautor gegen eine aufmüpfige Theatergruppe, die mir meine „Schöpfung“ aus der Hand nehmen will. Da gab es im Text Personen, die im späteren Verlauf der Handlung auftauchten, ohne jede vorherige Funktion. In einer Erzählung ist das in zwei, drei Sätzen erklärt, im Stück fragt man sich: Wo kommt der plötzlich her? Am ehesten ist ein Theaterstück mit einer Kurzgeschichte zu vergleichen, wo nach Tschechow das Gesetz gilt: „Wenn auf der ersten Seite eine Flinte an der Wand hängt, muss sie am Schluss losgegangen sein.“ Mein Problem lag also nicht im Hinzuerfinden, sondern im Weglassen, um die Balance zwischen so wenig wie möglich und soviel wie notwendig an Sprache zu finden. Auch ein paar mir lieb gewordene Personen musste ich im Verlauf unserer Zusammenarbeit über den Jordan gehen lassen, wobei Platz geschaffen wurde, um die Charaktere und Lebensläufe der „Überlebenden“ zu vertiefen. Firat, der Meister zum Beispiel, ist eine ganz andere, tiefere Figur geworden. Ursprünglich hatte er die Rolle des Bösen zu verkörpern, einer, den die gesellschaftliche Anpassung verkrümmt hat, der jedes Problem fürchtet und seine Brigademitglieder vor der „Obrigkeit“ ducken lässt und vor allem auch den neu hinzugekommenen Muzelkopp unterkriegen will. Man wusste nicht so recht, warum er so war, wie er nun ist. Er bekam seine differenzierte Lebensgeschichte, aus dem Bösen wurde kein Guter, er bewegt sich wie wir alle dazwischen, und wer ihn sieht und ihm zuhört, der wird ihn, wenn auch mit Widerspruch, akzeptieren können.

Erforderlich waren äußerliche und inhaltliche Veränderungen. An diesen Veränderungen waren zunächst einmal Sie mit viel Einsatz und viel Fleiß am Werke. Nun haben daran auch noch gedanklich oder unmittelbar mitgewirkt ein Dramaturg, ein Bühnenbildner, ein Regisseur. Haben Sie diese Zusammenarbeit, die in verschiedenen Stadien, verschiedenen Abständen sich vollzog, in dieser Komplexität für erforderlich und für richtig gehalten? Dass die drei sehr unterschiedlich gelagerten Theaterleute auch jeder aus seiner Sicht beitragen konnten oder beigetragen haben, das Stück so gut wie möglich zu machen?

Aus den Verlagen kannte ich ja Gespräche mit Lektoren ums bestmögliche Manuskript. Da gab es manchmal auch recht unterschiedliche literarische Ansichten und heftigen Meinungsstreit. Aber am Theater tat alles ein bisschen mehr weh, es galt, sich von der Position allein schaffender Herrlichkeit zu verabschieden. Und dann war das Umfeld ja auch neu, ich musste erst verstehen lernen, was am Manuskript noch zu tun und wo meine weitere Mitarbeit überhaupt noch gefragt war. Hinzu kam die politische Brisanz des Stoffes. (Plenzdorf hatte unlängst in Halle mit „Die neuen Leiden des jungen W.“ ein ähnliches Thema auf die Bühne gebracht und einen geradezu sensationellen Erfolg gehabt. Würde man überhaupt ein zweites Stück mit ebenso deutlich gesellschaftskritischem Charakter über die Bühne gehen lassen?) Nun, wir haben uns erst einmal wenig darum gekümmert und einfach gearbeitet. Dann waren wir mit dem Text in der Dramaturgie endlich so weit, dass wir meinten, ihn so dem Regisseur und seiner Mannschaft anbieten zu können. Wir trafen uns zum ersten gemeinsamen Gespräch; es war ein Glücksfall, dass wir vier Leute – Dramaturg, Autor, Regisseur und Bühnenbildner - Sympathie füreinander hatten und gleich den verbindlichen Ton fanden, ohne erst lange mit der Stimmgabel hantieren zu müssen. Wir waren auch gleich bei der Sache, konzentriert und doch recht locker. Dabei ging die Arbeit am Stück nun noch mal los, auf einer anderen, schon praktischeren Ebene nämlich. Was wir gedacht hatten, nahm mit dem Bühnenbild und in den ersten Proben mit den Schauspielern Gestalt an. Es war für mich ein gutes Gefühl, aus meinem Text im „Theaterzauber“ etwas Lebendiges entstehen zu sehen. Natürlich kam der Autor in mir immer wieder zum Vorschein, der auch immer wieder ins Geschehen hineinreden wollte. Bei aller Nachsichtigkeit mit dem Prosaschreiber, gab man mir doch zu verstehen, dass das, was jetzt auf der Bühne passierte, nicht mehr meine Sache war. Nun, ich habe manchmal wütend die Probe verlassen, ich fürchtete, dass von dem, was ich zu Papier gebracht hatte, schließlich nichts übrig bleiben würde. Aber letztendlich habe ich es dann doch geschafft zu vertrauen, die Arbeit am Stück war wohl auch Arbeit an mir selbst.

Sie würden also neben dem Fachlichen, neben der Qualifikation der Partner für durchaus wichtig halten das Atmosphärische, das da vor sich geht?

Mir ist das Klima wichtig, in dem etwas wachsen und gedeihen soll. Wenn in solch konzentrierter und angespannter Arbeitszeit, in der die Sache alle Kraft und auch Mut braucht, Animositäten die Oberhand gewonnen hätten, wäre das bestimmt für das künstlerische Produkt, an dessen Gelingen ja alle interessiert sind, schädlich gewesen. Für mich war jede neue Arbeitsphase erst einmal auch durch ein naives Staunen geprägt. Als ich das erste Modell des Bühnenbildes sah, habe ich mich wohl kindhaft gefreut. Das war, als wäre ein guter Traum in Erfüllung gegangen, da hatte ein anderer, der Bühnenbildner eben, ein kleines, aber wunderbares Stück Welt in die große, alte Welt gebracht. Und dann der Regisseur und die Schauspieler, wie sie den neu entstandenen Raum mit Leben füllten, das war für mich ein Geschenk, für das ich dankbar bin und das mir keiner wieder nehmen kann. Das hängt wohl nicht nur mit einer neuen Lebenserfahrung zusammen, vielmehr war etwas wahr geworden, was eben bisher nur in der Fantasie eine Rolle gespielt hatte. Vergessen wir aber nicht, dass es über die gesamte Arbeitszeit hinweg schwierig war, das Stück gegenüber der Leitung des Hauses überhaupt durchzusetzen. Bis zum Tag der Uraufführung war es ungewiss, ob das Stück so überhaupt zur Aufführung gelangen würde. Dabei ging es ja weniger um künstlerische als vielmehr um weltanschauliche und gesellschaftspolitische Vorbehalte und Einwände.

Sie haben über weite Strecken - eigentlich bis zur Premiere - am unmittelbaren Probenprozess teilgenommen. Immer dann, wenn es der Regisseur für erforderlich hielt oder immer dann, wenn Sie meinten, dabei sein zu müssen. Und bis zur Premiere hat es noch ziemlich grundsätzliche Gespräche, dann über Details, einzelne Szenen gegeben, die nützlich waren, und die auch der Inszenierung vorangeholfen haben. Dabei haben alle gelernt - die Darsteller, das Inszenierungsteam, aber auch der Autor. Meine Frage: Was Sie möglicherweise dort gelernt haben, hat das für Sie nun auch einen Nutzen außerhalb des Theaters, für andere Gattungen, für andere Genres, für die Arbeit in den Medien oder vielleicht für ein neues Theaterstück? Und eine zweite Frage: Was halten Sie vom Ensemble, das dieses Stück jetzt in Angriff genommen hat, vom Einsatz der Schauspieler?

Die Gattungen der Literatur sind zwar enge Verwandte und doch hat jede ein Eigenleben, das bei Strafe des Misslingens nicht verletzt werden darf. Ich habe wohl am Theater gelernt, knapper und damit genauer zu schreiben, so weit wie möglich auf Einmischung des Autors zu verzichten. Das Ungenannte kann wichtiger für den Text sein, als das womöglich literarisch gelungene Wort. Das alles habe ich zwar schon vorher gewusst, aber die Erkenntnis hat sich durch die Theaterarbeit vertieft. Dabei fällt es mir immer noch schwer, in jedem Fall dem geneigten Leser (Zuschauer) zu vertrauen. Aber inzwischen erkenne ich, wenn ich ihn wieder einmal mit der Nase auf etwas stupsen will, was er bei intensiver Mitarbeit selbst erkennen kann. Meine bisherigen Prosaarbeiten lebten hauptsächlich von der Beschreibung, auch der inneren Vorgänge der handelnden Personen, der Dialog war nur sparsam eingesetzt. Jetzt ist die Lust am Dialog groß geworden, mal sehen, wo das hinführt, vielleicht auch zu einem neuen Text für das Theater.

In jedem von uns ist wohl die Lust zu „schauspielern“ angelegt, zu spielen, was wir nicht sind, und wir tun es ja auch fortwährend im täglichen Leben. Auch ich würde gern einmal als Hamlet auf großer Bühne stehen und meinem Publikum zeigen und sagen, was sie sehen und hören sollten. Aber da fehlt es wohl an Begabung, vor allem aber ist die Hemmschwelle zu groß, da befinde ich mich doch sicherer hinter den Kulissen. Und nun erlebte ich Mitmenschen, die schauspielen als Beruf betrieben, die sich mit Hilfe der Dramaturgen und des Regisseurs den vorgegebenen Stoff erst aneignen und dann im „Spiel“ umsetzen mussten. Ich saß also bei den Proben im Zuschauerraum, verfolgte gespannt und aufgeregt das Geschehen auf der Bühne und geriet immer wieder in Konflikt mit der Metamorphose meiner Papierhelden zu lebendigen Menschen. Vor allem die Hauptfigur, den Muzelkopp also, hatte ich mir von Anfang an ganz anders vorgestellt. Doch mit jeder weiteren Probe, in der der Darsteller seine Figur immer überzeugender gestaltete, wurde ich offener für andere Sichtweisen. Zu guter Letzt wusste ich nicht mehr, wie weit der Schauspieler sich meiner „Wunschfigur“ angenähert oder mich sein Entwurf überzeugt hatte. Denn mein und dein war nicht mehr wichtig, weil das Ergebnis sich sehen lassen konnte. Ähnlich erging es mir auch mit den meisten anderen Figuren. Der Schluss des Stücks gefällt mir auch heute noch nicht, er ist einfach nicht konsequent genug. Figuren wie die Mutter sind nur angerissen worden und brechen dann irgendwann weg. Das fällt auch bei Gesprächen mit dem Publikum oder in Briefen an mich auf. Die Frauenfiguren, sagt die Kritik, wären alle nicht so richtig gelungen. Eine Ursache ist wohl der Zeitmangel, der uns oft in arge Bedrängnis brachte.

Das Schönste für mich ist, dass ich im Ensemble trotz manchmal sehr gegensätzlicher Meinung, viel Offenheit und menschliche Wärme erfuhr. Ich denke, bei den Schauspielern steht mir immer eine Tür offen.

Zum Schluss noch eine Frage, die ich allen Autoren, mit denen wir es am Theater zu tun haben, gerne stellen möchte. Das Theater hat gewisse Gewohnheiten und Erfahrungen, mit Autoren umzugehen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die Autoren wieder haben mit den unterschiedlichen Theatern, mit denen sie es zu tun haben, ebenso unterschiedliche Erfahrung. Gibt es jetzt aus Ihrer Sicht Wünsche, die Sie für die Zukunft hätten, wie Theater mit ihren Autoren oder wie konkret das Leipziger Theater mit seinen Autoren arbeiten sollte?

Ich würde gern in den Entstehungsprozess eines anderen Stücks hineinsehen. Wie machen das andere? Wie ist deren Arbeitsweise? Wie begegnen sie den auftretenden Problemen? Wir haben etwas allein gestanden, bestimmt auch durch den erheblichen Widerstand im Haus gegen das Stück. Ich habe das immer wieder zu spüren bekommen, obwohl sich da vieles hinter verschlossenen Türen abspielte. Sie haben ja schonend zu vermitteln versucht, weil Sie das Stück unbedingt auf die Bühne bringen wollten. Wir haben durch die Büroscharmützel und Abwürgungsversuche doch an Kraft und Zeit verloren, die wir dringend für die eigentliche Arbeit benötigt hätten. Es wäre nicht nur besser, sondern notwendig gewesen, ein Gespräch in einem größeren Kreis zu führen und die Dinge beim Namen zu nennen. Und für mich als Anfänger in der Theaterarbeit wäre ein früheres Zusammentreffen mit dem Regisseur und den Schauspielern wünschenswert gewesen; aber andererseits gab es ja auch noch viel am Text zu arbeiten und es wäre vielleicht alles zerredet worden. Vielleicht war aber auch das meiste richtig so. Wenn der Erfolg wirklich recht gibt, dann dürfen wir nicht meckern. Für die Zukunft jedenfalls habe ich genügend Theaterluft geschnuppert, um schon Suchtsymptome zu zeigen. Mal sehen, wo das hinführt.

Hielten Sie es für möglich, dass das Theater, was ja unter den Künsten die eine Eigentümlichkeit hat, eine kollektive Einrichtung zu sein, zu einem geistigen Zentrum auch für all jene wird, die von ihrer Arbeitsweise her freischaffend oder überwiegend allein schaffend sind? Dass beispielsweise Autoren, die als Dramatiker arbeiten, im Moment vielleicht gar nichts Dramatisches machen, dort Gelegenheit haben, ihre Arbeiten vorzustellen – vor Öffentlichkeit in den Räumen des Theaters, wo sie mit Publikum zusammenkommen können oder mit anderen Autoren? Dass man dort in einem ständigen Gespräch bliebe?

Ein Theater sollte immer ein offenes Haus sein, nicht nur zu den Vorstellungen. Da wäre eine kleine Experimentierbühne wünschenswert, wo Angefangenes, Halbfertiges eben, eine Szene oder auch zwei, drei vor einem kleinen Publikum vorgestellt und diskutiert werden könnte. Die Künstler in Leipzig wünschen sich schon lange eine Begegnungsstätte, wo über Leben und Kunst, die ja Gott und die Welt umfassen, gesprochen und dazu ein gerühmter sächsischer Kaffee getrunken werden kann. Die Kunstdisziplinen überschreitend könnten Kontakte entstehen zwischen Grafikern, Musikern, Schriftstellern und Theaterleuten, die den Kollegen und ihrer Arbeit bestimmt gut tun würden. Das fehlt einfach, aber überall fehlt es an Räumen. Haben Sie eine Idee?

4. Rigorose Frage nach unserer Identität (1982)

Zu Ullrich Hachullas Bild „Das Fest“

Das Leben: ein Fest. Es will gefeiert sein. Weihnachten gar. Mein Zuhause: eine heile Welt. Des Tages Arbeit ist getan. Die Familie sitzt zusammen. Freunde sind gekommen. Die übers Jahr verschlossene Tür steht offen. Wer kommen will, wer kommen kann, hat Zutritt. Essen und Trinken sind auf dem Tisch. Im Zimmer ist es warm. Man hat sich modisch gekleidet. Ich und du sind versorgt. Und über uns schwebt der Barlachsche Friedensengel.

Der Raum ist eng begrenzt, er hat Mauern, eine niedrige Decke (Latex-Weiß auf Raufasertapete), und unter den Füßen liegt ein roter Teppich. Das gibt doch Geborgenheit. Hierin kann sich keiner verlieren, kann uns keiner verloren gehen.

Das Leben ein Fest. Eine Idylle. Wohl kaum. Hachulla ist ein Bildermaler (Jahrgang 43), ein Mann des Auges, das aus einer beunruhigten Seele schaut. Er misstraut der Oberfläche, will das Dahinter erfahren, wenn es auch schmerzt. Sollen doch Farben und Schönheit schwinden, wenn nur eins sichtbar wird: Wahrheit. Der schmerzvolle Prozess des Werdens, der zugleich auch Lust am Dasein ist. Hachulla weiß darum, er will uns nahe bringen, was er gesehen und erkannt hat, damit wir uns im einen oder anderen wiedererkennen und Fragen in uns laut werden.

Da sitzt einer am gedeckten Tisch, die lachende Weihnachtsmannmaske vorm Gesicht. Er schaut uns an, der gütige Alte, er will uns beschenken, uns die frohe Botschaft überbringen. Haben wir anderen, die wir uns am Tisch zusammengefunden haben, nicht auch Masken auf? Und der Friedensengel, der so stark und sicher über uns hängt, ist er nicht auch maskiert?

Am Tisch wird geschwatzt. Der Witz geht um. Wir haben kräftig zugelangt. Die Mägen sind voll. Es soll gelacht werden.

Im Hintergrund des Raumes sprechen zwei miteinander. Sie haben sich etwas zu sagen. „Du?“, flüstert der eine dem anderen zu. „Wie sind wir eigentlich hier hineingeraten? Es muss doch einen Weg wieder hinaus geben...“ Neben ihnen ruft einer. Er schreit. Aber niemand hört ihn. Was soll er uns auch zu sagen haben, das wir nicht schon gehört haben. Wir feiern. Es ist Weihnachten. Himmel, wir sind Atheisten, aber lasst uns unsern Gott!

Da bläht es die Gardine. Da weht frische Luft herein. Ein Mann greift in den Vorhang. Hat er das Fenster geöffnet? Oder will er es schließen? Ängstigt ihn das Drinnen oder das Draußen? Der Friedensengel blickt zum Fenster. Es brauchte nur einer aufzustehen und dem Engel die Maske vom Gesicht zu ziehen. Warum steht denn keiner auf? Gleich wird einer rufen: „Fenster zu! Es zieht!“ Und seine Stimme wird gehört werden. Es wird die des freundlichen alten Mannes sein. Und wer behauptet, er hätte eine Maske vorm Gesicht, der ist ein böswilliger Ignorant, ein Miesmacher und Nestbeschmutzer, dem nicht einmal die heilige Sache heilig ist!

Wir feiern Weihnachten, es braucht ein Fest zur Besinnung.

„Glaube“, sagt uns Goethe, „ist Liebe zum Unsichtbaren, Vertrauen aufs Unmögliche, Unwahrscheinliche.“

5. Vergessen und Erinnern (1983)

50. Jahrestag der Bücherverbrennung

Meine Damen und Herren,