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Nadine, genannt N Punkt, ist auf der Suche: nach einem Lebenssinn, nach der Wahrheit, die ihre Eltern vor ihr zu verbergen suchen, und vor allem nach Joker, dem geheimnisvollen Todesfahrer und Zauberer. In der Nacht des Big Crash ist er verschwunden. Hat N Punkt selbst ihn etwa getötet? Zusammen mit M. S., dem Krüppel aus der Betonurne, zieht sie kreuz und quer durch Deutschland, findet Spuren von Joker beim Zirkus Allez hopp, unter den Aussteigern in den Grünen Bergen und bei Rübchen, der merkwürdigen Wirtin vom Blauen Wunder...
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Gunter Preuß
Zwei im Spinnennetz
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1.
3.
4.
5.
6.
8.
9.
10.
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43.
Impressum neobooks
Alle Täler sollen voll werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll richtig werden, und was uneben ist, soll schlichter Weg werden.
Lukas 3, 5.
„Nadine, warte doch! Wo läufst du denn nun schon wieder hin, Mädchen!“
Die Stimme der Frau, die meint, dass sie meine Mutter ist.
„Nadine! Du kommst sofort zurück! Wir haben miteinander zu reden! Ich bin noch nicht fertig!“
Die Stimme des Mannes, der meint, dass er mein Vater ist.
Ich hab mir antrainiert, wenn es zwischen mir und den anderen nicht läuft - es läuft zurzeit nicht umwerfend viel -, still zu sein, nichts zu fragen, nichts zu antworten. Die Stille hält kaum einer aus, vor allem nicht der Mann und die Frau, die sich deine Eltern nennen.
Ich bin wieder mal davongerannt, raus aus der Millionenlaube, weg von der Gartenzwergsiedlung. Ich bin gerannt, dass ich staunen muss, wie weit und schnell ich rennen kann, obwohl ich mich eben noch alt und müde gefühlt habe. Sie sagen mir immer wieder, ich sei sechzehn, da könnten sie schon einiges von mir erwarten, sie berechnen mich nach meinem Alter. Aber ich bin keine Zahl, ich lass mich nicht mit einem Namen abstempeln, sie rufen mich Nadine, doch ich bin N Punkt, N wie Nuss, nass, nah, nirgendwo, niemals, namenlos, nein, noch nicht...
Nun stehe ich vor einem Hochhaus, so einer kilometerhohen Betonurne mitten im zementierten Stadtfriedhof, der sich Neubaugebiet nennt. Die Roten, so habe ich mir erzählen lassen, waren ziemlich stolz auf diese Begräbnisstätte am Rande der Stadt, obwohl hier eine Urne aussieht wie die andere, das Grau den Umsatz für alle möglichen Müde- und Wiedermuntermacher sagenhaft erhöht.
Im Vorraum des Hauses finde ich auf einem riesigen Puzzle den Namen Steinrück. Die Adresse habe ich aus dem Anzeigenteil einer Zeitung, manchmal lese ich das Kleingedruckte, als könnte ich vielleicht hier eine Nachricht finden, nur für mich gedacht. Zwischen der Suchmeldung nach dem entflogenen Wellensittich Bubi, diversen Massageangeboten, stand da: Herzschmerzen? Ich bringe in Worte, was Du fühlst und Deinem Liebsten schon immer sagen wolltest. Lass uns im Dunkel ein Licht anzünden.
Ich drücke kurz meinen kleinen Finger auf den schmutzigen Klingelknopf, es meldet sich keiner, ich will schon wieder abziehen, weiß ohnehin nicht, was ich hier soll.
„Ja, bitte.“
Eine betont ruhige, leicht zerkratzte Stimme aus der Sprechanlage.
„Ja“, sage ich in Richtung Mikrofon. „Ja.“ Mehr fällt mir nicht ein, ich finde mich ziemlich debil.
„Ja, bitte. Sprechen Sie doch.“
„Ja“, sage ich, schon wieder ist mein Wortvorrat verbraucht.
Ich halte den Atem an, als könnte ich mich verraten, aus der Sprechanlage rauscht es wie aus einem Tunnel. Nun wird auch am anderen Ende geschwiegen, da spannen sich zwischen mir und Jemand surrende Fäden.
Ich würde gern abdrehen, doch ich komme nicht weg, halte verbissen den Atem an. Schließlich verschaffe ich mir Luft, rufe: „Bin ich hier richtig - bei - bei Steinrück...?“
„Richtig.“ Die Stimme klingt erleichtert. „Wollen Sie hochkommen?“
„Ja.“
Der Summer ertönt, das Türschloss knackt, ich rühre mich nicht, setze wieder meine Atmung außer Betrieb. Was soll das eigentlich, ein neues Spiel: Zwei im Spinnennetz?, ich warte.
Die Sprechanlage rauscht wieder, die zerkratzte Stimme fragt: „Sind Sie noch da?“
„Ja.“ Wieder dieses debile Ja, das nie was sagt, immer alles offen lässt. Aber irgendwie ist man entschuldigt, wenn man Ja sagt; es ist wie ein Rentnerausweis, man kommt fast überall um die Hälfte verbilligt rein.
„Wollen Sie denn nicht hochkommen?“
„Ja.“ So ein Ja nennen die Seelenentwirrer wohl Manie oder Tick.
„Ja? Wie denn nun? Ja oder Nein?“
„Keine Ahnung.“
Ein kurzes Schweigen meines unsichtbaren Gegenüber, dann vorsichtig, wie zu einer Kranken: „Möchten Sie - dass wir uns über die Sprechanlage unterhalten?“
„Ja.“
„Sie wollen etwas sagen - und Sie finden dafür keine Worte. Ist das so?“
„Keine Ahnung.“
„Wollen Sie mir sagen, wer Sie sind?“
„Keine Ahnung.“
„Sagen Sie mir doch, wie Sie heißen.“
„N Punkt.“
„N - was sagten Sie?“
„N Punkt.“
Jemand gibt sich große Mühe, sagt: „Also N Punkt. Du – Sie - sind noch ziemlich jung?“
„Wollen Sie vielleicht verdammte Zahlen hören und mich ausrechnen?“
„Machen Sie es sich doch nicht so schwer, N Punkt.“
Jemand nennt mich N Punkt.
„Ich bin total ruhig. Absolut locker. Wenn Sie verstehen, was ich damit ausdrücken will.“
Jemand sagt: „Ich verstehe. Ich verstehe Sie sehr gut.“
Ich schreie: „Hören Sie endlich auf, sich wie ein verdammter Sigmund Freud aufzuführen! Sie verstehen nichts, kein bisschen, absolut gar nichts!“
„Entschuldigen Sie. Bitte. Sie haben ja recht.“
Was denn, Jemand gibt mir recht? Jetzt sind wir beide große Schweiger vor dem Herrn, das Spinnennetz aus diesen surrenden Drähten zieht sich enger um N Punkt und Jemand. Am liebsten würde ich Jemand mein Recht zurückgeben, aber wo ich es nun schon mal habe, sage ich: „Sie wissen, was Sie mich können.“
„Angst? Wovor?“
Rauschen, der Tunnel, das Spinnennetz, der Salzgeschmack wird unerträglich, mein Seelenwasser läuft über.
„Gehen Sie nicht. Bitte. Sie wollen mir doch etwas mitteilen...“
Ich komme schnell auf Geschwindigkeit, ich bin ein Tier, auf der Flucht. Wohin?, pocht es in mir, wohin?
Ich bleibe ruckartig stehen, meine Arme verlieren langsam an Höhe.
Der Motorenlärm täuscht auf dem Garagenhof Stille vor, eine Menschenmenge starrt auf den stählernen Käfig, in dessen Rund sich zwei Todesfahrer auf ihren Maschinen jagen. Die zwei sind auf den Silberpfeilen, in der schwarzen Lederkleidung, den mächtigen Schutzhelmen nicht zu unterscheiden, doch ich fühle, wer von beiden der ist, den sie Joker nennen. Es ist erst ein paar Wochen her, dass ich ihn bei den Todesfahrern gefunden habe, aber ich brauche nicht seine Fingerabdrücke, um ihn unter fünf Milliarden Menschen zu identifizieren.
„Joker!“, rufe ich. „Joooker!“
Für ein paar Augenblicke werde ich ruhig, als ich Joker im stählernen Käfig seine Runden drehen sehe. Ich denke an ein Modell eines Planetensystems, in dem Gestirne umeinander kreisen. Dahinein wünsche ich mich, in den Käfig, der das All ist, auf Jokers Maschine, die ein Stern ist, der auf seinem Weg Kreise und Ellipsen zieht.
Der Garagenhof hat mich gleich von Anfang an, auf meiner Suche nach weiß nicht was, fasziniert, ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene, etwas abseits vom Stadtbeton, an einem Gartenverein und dem schwindsüchtigen Stadtwald, den sie Rosental nennen, gelegen.
Die schmale Straße zum Garagenhof ist von den Lastkraftwagen und Wohnwagen der Todesfahrer zugeparkt. Vor zwei Hallen, die unverputzt jede Sorte Stein sehen lassen, denen stellenweise das Dach fehlt, liegt herum, was viele wegwerfen und einer zusammenträgt: Eisenträger, Sand, eine Feuerwehr, Feldsteine, ein kompletter uralter Tante-Emma-Laden, ein Bagger ohne Räder, Verkehrsschilder, eine Theke, Großmutters Sofa ... das geht so weiter in den Hallen. Über allem spannt sich ein Hochseil von Mast zu Mast, auf den Podesten stehen zwei nackte Kleiderpuppen, die Indianerstutz tragen und Piratenflaggen wehen lassen.
Joker ist ein Jäger, er jagt seinen Partner, es muss der Doktor sein, den sie Marx nennen. Oder hetzt Marx Joker?
Die Geschwindigkeit der Motorräder ist zu hoch, der Vorderreifen von Jokers Rakete klebt förmlich an der Maschine von Marx' Hinterreifen. Marx versucht sich zu lösen, rast auf und ab, um Joker vor sich hertreiben zu können. Die Motoren röhren, spucken, es stinkt großartig nach Benzin. Bleigraue Wolken stehen im Garagenhof, mir wird übel, ich kann da nicht mehr hinsehen, ich kann auch nicht die Augen schließen.
Rings um den Käfig, in achtungsvollem Abstand, haben sich Zuschauer eingefunden. Vielleicht ist mir schlecht von ihrem fauligen Schweißgeruch, es sind allesamt Stinker, die bei jeder Volksbelustigung wie Autounfälle, Großbrände, Überschwemmungen zu finden sind.
Aus dem Käfig kracht es, Schreie aus dem Publikum, der Geruch nach heißen Reifen.
„Aufhören!“
Um mich dreht sich der Garagenhof, schneller, enger ziehen sich die Kreise, jeden Moment kippe ich in die Horizontale, wo denn festhalten?
Vor dem Käfig entdecke ich die anderen von der Mannschaft, konzentriere mich auf sie: Irre Wanda, ganz in schwarz, hautenges Lederkostüm, die Augen hinter einer monströsen Sonnenbrille verborgen, an den schwarzen Rasterlocken jede Menge schwarze Plastikspinnen; sie ist hochgewachsen, Beine, die von der Erde bis in den Himmel reichen, steht einmalig lässig, dabei doch gerade, ein First Class Model, wenn andere gehen, schreitet sie. In Griffnähe, Lolito, schöner Mann, fetter Buddha mit Froschkönigblick, finsteres Mittelalter, mindestens schon über die dreißig, ehemalige Lachgröße beim Wrestling, ungemein beweglich, scharfzüngig. Ein zweites Pärchen bilden Kongo und Rübezahl. Kongo ist Schwarzer, Muskelpaket, spricht brutales Sächsisch, gutmütig wie Onkel Toms Hütte, liefert Tanznummern ab wie ehemals Patrick Swayze. Rübezahl ist der Mechaniker der Mannschaft, Pole, Bergmännlein ganz aus braunen Sehnen und Falten, blaue Kinderaugen, Gorillapranken, mindestens tausend Jahre alt, eisgrauer Vollbart, Kettenraucher, ein großer Schweiger vor dem Herrn.
Ich riskiere einen Blick zum Käfig. Marx und Joker jagen einander noch immer, sind nicht mehr zu unterscheiden, nur noch Blitze, die umeinander zucken. Marx, Doktor, Professor gar, Todeskandidat, alle wissen, dass er den schmalen Grat zwischen freien Flug und Absturz sucht, soll Mitte dreißig sein, macht aber den Eindruck, als hätte er das Doppelte auf dem Buckel. Er ist das Abbild eines intellektuellen Mickerlings, eine Fundgrube für Magenspezialisten, er fühlt sich immer noch im grauen Anzug wohl, mit weißem Hemd, schwarzem Schlips; bei den Roten war er an der Uni Dozent für Philosophie und Parteisekretär, die Kapitalisten haben ihn nach der Wende mit seinem Doktorhut per Eilpost nach Hause geschickt.
„Joooker!“
Ich erlebe den Schock ein paar Sekunden vorher - dann ein Kratzen, das wie kantiges Eis unter die Haut geht, Motoren heulen auf, würgen ab, ich sehe in eine Stichflamme.
Kein Finger will sich rühren, alles außer Betrieb, die Zuschauer rennen in Deckung. Auch die Mannschaft prallt zurück, keine Schreie, nichts, absolute Stille, der Käfig ist in einer schwarzen Rußwolke verschwunden.
Rübezahl, Berggeist ohne Nerven, kommt mit einem Feuerlöscher gehinkt, das Ding funktioniert nicht, natürlich nicht, hier ist alles nur Attrappe. Was denn nun?! Was denn jetzt?!
Die schwarze Wolke hebt sich, langsam, wie ein Vorhang, die Käfigtür dreht auf - heraus treten Joker und Marx. Die beiden sehen topfit aus, sie ziehen die Schutzhelme wie Zylinder vom Kopf, vollbringen eine einwandfreie Verbeugung.
„He, hallo!“, ruft Joker, der Zauberer, lacht, dass man ihm jede Schandtat vergibt und sich selbst gleich viel besser fühlt. Marx steht gebeugt daneben, als trüge er die ganze Welt auf den Hähnchenschultern; sein gelbsüchtiges Gesicht erscheint wie eine knittrige chinesische Maske mit trüben blauen Augen.
Jetzt rieche ich den Beschiss, er stinkt gewaltig. Nichts als Feuerwerk, Theatergewitter, für ein paar Mark zu haben. Ich renne los, da ich weder Schwinger noch Haken schlagen kann, hole ich zu einer bewährten Ohrfeige aus.
Jokers Hand umspannt meinen Unterarm, er sagt, noch immer lachend, zur Mannschaft: „Na, wie waren wir?“
Als ich mich beruhigte habe, lässt er mich los.
Die schwarze Wolke zieht ab, gibt den Käfig frei, in dem die beiden Silberpfeile in altem Glanz nebeneinanderstehen. Das Publikum verzieht sich enttäuscht, die Stinker haben wohl auf ein paar Liter Blut und ein paar abgerissene Arme und Beine gehofft.
Die Todesfahrer sind nun unter sich, mich dulden sie als Fan, den man Kaffee kochen lassen und Brötchen holen schicken kann. Sie wissen nichts von mir, keiner fragt mich was, keine Ahnung, ob sie mich vermissen würden, wenn ich weg wäre.
„Big Crash“, sagt Joker. „So könnte die neue Nummer heißen. Da ist Marx doch was eingefallen. Den Knaller kann man ausbauen. Ich verspreche euch, damit kommen wir in die Schlagzeilen und ins große Geschäft. Nun sagt schon was, Leute.“
Joker, der Zauberer, steht im Garagenhof vor der Mannschaft, die es sich auf einem Stapel alter Autoreifen bequem gemacht hat. Obwohl Joker tiefer steht, als die anderen sitzen, ist es, als schauten sie zu ihm hinauf. Joker steht wie immer auf großer Bühne und hat seinen Auftritt. Das wirkt bei ihm nicht eitel und mittelpunktsüchtig, denn er muss nicht in Panik geraten, übersehen zu werden. Joker ist einfach Number One, er wäre es auch in Hollywood, ohne Schminke und Toupet. Dabei ist er kein Schönling, aber er ist selbst von einem Blinden nicht zu übersehen, obwohl er weder einen aufgeblasenen Body noch Dackelaugen hat. Ich denke mal, Joker ist im besten Alter, so über die zwanzig, er ist schmal, aber kein Hänfling, er hat umwerfend graugrüngelbe Augen, einen Mund, der eine Frau zum Lächeln zwingt, schulterlange braune Haare, in denen man seine Hände wärmen kann. Wenn er nicht in der Motorradkluft steckt, ist er ganz Cowboy, er trägt einen Hut, der von Indianerpfeilen durchlöchert ist. Nur ein pickeliger Spießer wird auf den Gedanken kommen, dass die Kopfbedeckung unter den Motten gelitten hat. Das ungefähr ist Joker.
Irre Wanda langt sich aus dem Tante-Emma-Laden eine Sektflasche, lässt den Korken knallen. Sie gibt dem Zauberer die Flasche - so muss Eva dem Adam den Apfel überreicht haben - Joker gönnt sich einen Schluck, dann geht die Buttel von Mund zu Mund. Als alle getrunken haben, hält Rübezahl mir die Flasche hin, ich nehme einen langen Schluck, obwohl ich auf das Schwindelwasser leicht verzichten kann. Das Prickeln steigt mir aus dem Bauch in den Kopf, ich setze mich auf ein Trapez, lasse mich sanft schwingen, höre den Todesfahrern zu, die über die neue Nummer reden.
„Kostüme“, meint Irre Wanda. Sie flüstert, ihre Stimme ist heiser, die Sätze sind zerhackt. „Richtige Verpackung, schon halb verkauft. Schwarz, alles in Schwarz. Darauf: phosphoreszierende Skelette. Die Helme als Totenköpfe.“
„Power, vor allem Power müssen wir zwischen die Seile bringen. Das Publikum nimmt alles ab, was einfach nicht zu fassen ist“, ruft Lolito neben Irre Wanda, hampelt mit Armen und Beinen. „Also Feuerwerk, dann Finsternis, holladihidiii!“
Man könnte meinen, Irre Wanda knabbert an den Fingernägeln, wenn sie noch einen aufzuweisen hätte. „Meinung, Joker?“
„Okay, Schwarz sticht!“
Kongo springt auf, lässt seine Muskelpakete anschwellen, bis er blauschwarz anläuft. Rübezahl, eine Selbstgedrehte im Bartgestrüpp, legt Kongo eine Gorillapranke auf die Schnürstiefel. Die Berührung war kurz und sanft, doch Kongo geht sogleich in die Hocke, lächelt verlegen, sagt in seinem unnachahmlichen Afrikan-Sächsisch: „Nu-uuh, isses doch wohhr.“
Marx doziert: „Nun ja, bei der Wahrheit kann man nicht bleiben, man muss sich ihr immer wieder neu nähern. Es ist eben so: Die lautesten Trommler gelten als die besten Musikanten.“ Der Doktor hält mangels Studenten nur noch Selbstgespräche, keine Ahnung, wovon er sich überzeugen will.
„Big Crash - der totale Horror!“, flüstert Irre Wanda. „Plakate, in alle Welt. Die Show, abheben ins Nirwana. „
Ich sitze auf der Schaukel, lasse mich tragen vom Singsang. Ich höre den Todesfahrern gern zu, freue mich, wie sie in die Luft greifen, sich etwas zusammenspinnen, Geschichten, die in den nächsten Tag tragen.
„Joker“, sage ich lockend, ich singe es fast. „Joker.“
„Was liegt denn an, Hühnchen?“
„Nichts, Joker, gar nichts, nur so.“
Jokers Hände, die Figuren in die Dämmerung malen wie zu Urzeiten an Höhlenwände. Ein Hauch, ein Kitzeln, warm, leicht, auf meinem Gesicht, den Nacken hinunter, über die Arme, die Brüste, es nimmt sich den ganzen Körper, ich lasse es zu. Die Dunkelheit rückt den Sommer nahe, sie nimmt die lästige Schwere, es ist die Stunde der Schatten. Mitten im Wohlgefühl erschrecke ich, etwas packt mich, Angst. Jetzt spüre ich die Kühle der Nacht, ich gleite von der Schaukel, beginne zu rennen, weiß eine Zeit lang nicht, wo ich zu Hause bin.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
Eine Frage, die müde macht, nicht nur zur Geisterstunde, als Zugabe noch ein Zeugnis elterlicher Genialität: „Sag mal, was denkst du dir eigentlich?“
Schweigen hat keinen Sinn, der Mann und die Frau würden nicht locker lassen, ich gähne, sage: „Sorry, ich bin absolut todmüde.“ Ich kenne diese Verhöre, wenn ich mal nichts Besseres zu tun habe, werde ich eins als Schlafmittel patentieren lassen.
„Wo bist du denn wieder gewesen?“
„Dort und da.“
Wir sitzen in der guten Stube der Millionenlaube, Fabian, Eva, N Punkt. Nur noch ein paar Möbel aus unserer alten Wohnung sind übrig geblieben. Ich erinnere mich noch, wir wohnten in einem Abrissviertel im Osten der Stadt, alles fiel auseinander, war alt und hässlich. Aber ich habe mich gut gefühlt, das war, als Fabian noch als Pfarrer und Eva in einem Kulturhaus arbeitete.
Die alte Standuhr tickt laut und hart, seit ich denken kann, tickt sie so. Der goldene Perpendikel schwingt im Glaskasten, er eignet sich zur Meditation, ich konzentriere meinen Blick auf ihn, folge den Schwingungen, hin - her, so kann man sich völlig vergessen.
„Was soll das wieder heißen? Du willst immerzu provozieren. Was ist nur in letzter Zeit in dich gefahren, Nadine? Was nur?“
„Könnt ihr mich denn nicht verschonen. Von mir aus reden wir morgen.“
„Du warst wieder bei den Zirkusleuten?“
„Was suchst du denn dort?“
Ich kann es ihnen nicht sagen, nicht der Frau, nicht dem Mann, sie würden es nicht begreifen.
Eva: „Was eigentlich wirfst du uns vor?“
Das kann endlos so weiterlaufen, wie bei den Kernseifenopern im TV, dagegen hilft nur Schocktherapie.
Fabian: „Die Verhältnisse sind inzwischen andere. Es ist nicht gestern, Nadine, es ist heute. Begreife das doch endlich: Die Herausforderung annehmen.“
„Ja“, sage ich, „ja“, mein debiles Ja geht in einen Ton über, einen immer schriller werdenden Pfiff, der schnell die Schmerzgrenze erreicht. Fabian und Eva drücken sich die Hände auf die Ohren, ich entwische aus der guten Stube die schmale Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich schließe mich ein, obwohl mein Zimmer geschützte Zone ist, weder die Frau noch der Mann dringen hier unerlaubt ein, ihre Erziehung hört vor meiner Zimmertür auf.
Ich werfe mich aufs Bett, bekomme kein Auge zu, in mir rumort es, nicht im Bauch, viel tiefer, ich nenne das Blähungen der Seele. Ich reiße das Fenster auf, sehe auf einen Teil der Siedlung, Bäume, Dächer, auf ein Stück Himmel, in dem sich hinter einer Wolke der Vollmond vordrängt, wie bestellt fängt sogleich ein Hund nach dem anderen zu jaulen an. Obwohl mir knochenkalt ist, lasse ich das Fenster offen, laufe herum, nehme alles in die Hände, suche etwas, ich suche immer etwas. Vertrautes anzufassen tut mir gut für den Augenblick. Ich habe darauf bestanden, dass nach dem Umzug keine neuen Möbel in mein Zimmer kommen.
Der Raum ist ziemlich groß, doch nur eine Liege steht darin, ein Stehpult noch, alles andere ist auf dem Fußboden zu finden: Klamotten, Bücherstapel, Schulutensilien, eben der ganze Schwachsinn, den man so braucht. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, die von meiner Steinzeit bis ins Atomzeitalter reichen, auf denen jeder, außer mir, nur Farbenkleckserei erkennen kann. Ich behaupte nicht, dass ich eine Picassi des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts bin, aber manchmal bin ich nicht ganz unzufrieden mit meinen Werken.
Leicht zu erkennen, in meinem hohen Alter leide ich an Infantilismus, überall sitzen Stofftiere herum, denen irgendein Körperteil fehlt. Auf der Liege findet sich unter dem zur Formlosigkeit zerquetschten Bündel, das mein Kopfkissen ist, eine Bibel. Als Fabian noch mein Vater war und sie mir vor etlichen Jahren schenkte, war sie eine nagelneue Prachtausgabe aus dem Westen. Jetzt ist sie ein zerlesener Schmöker, das spannendste Buch, das ich kenne.
Es ist Nacht, ich kann nicht schlafen, ich bin allein, weiß nicht was, der vergangene Tag, mein ganzes debiles Leben lässt mich nicht los. Ich denke an Jemand in diesem Hochhaus, an mein geniales Ja, an das Gefühl, mit Jemand in einem Spinnennetz gefangen zu sein. Ich denke an die Großmutter in der Stadt, die vor sich hin pfeift und die Tauben füttert. Ich denke an den Garagenhof, an die Todesfahrer, an Joker denke ich, und das etwas passieren muss.
Ich lege mich auf den Fußboden, nehme den Handspiegel, leuchte mit der Taschenlampe hinein. Wie aus einem Brunnen, in dem sich langsam das Wasser klärt, taucht ein Gesicht auf, ein verdammtes Kindergesicht: niedlich, hübsch; schwarze Haare, eigenhändig verschnitten, mit aufgesprayter roter Flamme; Stupsnäschen wie aus dem Bilderbuch; Haut wie Milch und Schnee; ein immer leicht geöffneter Mund, als ob es ständig was zu staunen gäbe; ein rundes Kinn; das Ganze ziemlich zerbrechlich, ein paar Nummern zu klein geraten. Barbarisch.
Aber immerhin sind da noch zwei Augen, mit denen ich nicht ganz unzufrieden bin: Frauenaugen. In ihnen zeigt sich meine ganze Erfahrung, sie haben einen Blick drauf wie Ingrid Bergmann, als sie mit Humphrey Bogart in dem Café in Casablanca sitzt.
„Sorry, Joker, vielleicht bin ich kein Typ, wegen dem ein Mann Selbstmord begeht. Aber du musst endlich mal hinschauen, alter Zauberer, mir in die Augen sehen. Ich bin nicht dein Hühnchen, ich habe durchaus Erfahrungen, schätze ich mal. Ich kam in die Schule, da hatte ich meinen ersten Verehrer. Er rief mich Jasmin, keine Ahnung wieso. Er pflückte mir das ganze Unkraut, das am Rand des Schulwegs wuchs. Im dritten Schuljahr war ich mit Jens zusammen, der Junge wollte unbedingt fliegen lernen, wir sprangen mit ausgebreiteten Armen aus einem Baum in einen Haufen Müll. In der Achten war es Heiner, der mir das Küssen beibringen wollte, er schloss schon auf drei Meter Abstand die Augen, verlangte das auch von mir, sodass wir nie zusammenkamen. Ich hatte jede Menge Jungs, ich hatte nur nie viel Interesse, was meinst du, Joker ...?“
Jetzt muss ich auch noch heulen, ziehe mir die Aquarellfarben heran, mische sie mit Tränen, sehe einen Frauentyp, der Joker in den Wahnsinn treiben muss, beginne in meinem Gesicht zu malen. Ich brauche immer mehr Farbe, hektisch führe ich den Pinsel, blicke in ein Clownsgesicht, dem die Farben weglaufen.
Wieder stoße ich diesen Pfiff aus, in die Nacht hinein, über die Gartenzwergsiedlung hinweg, über Stadt und Land ins All hinein. Als ich ohne Luft bin, pfeift was zurück, weiß nicht was, leise, zart, ein Streicheln, nur für mich gedacht. Ich lege mich aufs Bett, falte die Hände auf meinem Bauch, schließe die Augen, warte darauf, dass etwas passiert.
Ich stehe tatsächlich wieder vor dem himmelhohen Betonklotz, drücke meinen ausgestreckten Zeigefinger auf den Klingelknopf unter dem Namen Steinrück.
„Ja, bitte.“
Jemands betont ruhige, leicht zerkratzte Stimme aus der Sprechanlage.
„Ja“.
„Sie? Sie sind es wieder?“
„Ja.“
Jemand hat mich wiedererkannt, obwohl es eine Woche her ist, als ich hier eine schwache Premiere abgeliefert habe.
„Haben Sie vielleicht Zeit?“
„Wollen Sie hochkommen?“
„Das wird nicht hinhauen.“
Kein Drängen, nichts, nur: „Geht in Ordnung, N Punkt.“
Barbarisch, Jemand hat es gespeichert, er nennt mich N Punkt.
Das Rauschen aus der Sprechanlage, die sirrenden Fäden, die sich zum Spinnennetz verstricken, Jemand und N Punkt hineinziehen.
„Warum sind Sie wiedergekommen?“
„Nur so.“
„Etwas bedrängt Sie doch, N Punkt? Wollen Sie nicht doch reden?“
Ich sage: „Ihre Annonce in der Zeitung - was Sie da geschrieben haben - von Herzschmerzen und so, im Dunkel ein Licht anzünden, wen wollen Sie damit aufs Kreuz legen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil jeder jeden aufs Kreuz legt. Absoluter Massensport.“
„Für Ihr Alter sind Sie sehr misstrauisch, N Punkt.“
„Mein Alter können Sie ganz schnell vergessen!“
Jemand beginnt zu nerven, zu jung oder zu alt ist für die meisten Leute: Verblödet oder todkrank.
Rauschen, sirrende Drähte, das Spinnennetz, Jemand aus der Sprechanlage: „Sie wollen etwas geschrieben haben?“
„Sind Sie vielleicht Schriftsteller?“
Ein Lachen, nicht aufgesetzt, auf kurzem Weg aus dem Bauch, hört sich gut an.
„Nein“, sagt Jemand. „Ich schreibe nur Briefe.“
„Briefe? Was für Briefe denn?“
„Ja, wollen Sie denn keine Nachricht geschrieben haben? Sie wollen doch einem Menschen etwas von sich mitteilen, für das Sie selbst keine Worte finden.“
„Kein Interesse.“
„Ich bin ein Liebesbriefschreiber“, sagt Jemand aus dem Spinnennetz. Er sagt das nicht, wie wenn er Koch, Mechaniker oder Arzt wäre. Seine Stimme klingt selbstbewusst, doch dahinter ist Unsicherheit, ich bin Spezialistin für Stimmverstecke.
„Ihre Stimme“, sage ich. „Sie kommen von drüben?“
„Spielt das für Sie eine Rolle?“
Jetzt kommt Schärfe in Jemands Stimme. Keine Ahnung, ob das für mich eine Rolle spielt, immerhin war Jemand aus dem Westen für Jemand aus dem Osten vor ein paar Jahren noch ein Klassenfeind. Das war damals wohl schlimmer als Serienkiller und Kinderschänder.
„Nun, was wollen Sie denn geschrieben haben?“
„Mein lieber John“, sage ich, weil ich absolut nicht weiter weiß.
„John?“, fragt Jemand. „Geht es um ihn?“
„Das können Sie vergessen!“, rufe ich. „Lassen Sie John da raus!“
Schweigen, Rauschen, im Spinnennetz, darin Jemand und N Punkt.
„Sind Sie noch da, N Punkt?“
„Ein bisschen.“
„Aber ich muss mehr wissen von Ihnen. Wenn Sie mir nicht vertrauen, kann ich Ihnen nicht helfen.“
„Alles okay da oben?“, frage ich.
„Verstehen Sie mich doch, N Punkt. Der Abstand zwischen uns ist einfach zu groß.“
„Ja“, sage ich. „Ja.“ Das Rauschen wird stärker, ein Sturm drückt uns weg voneinander, Jemand spricht, aber ich verstehe ihn nicht mehr.
Schließlich ist nicht einmal mehr ein Kratzen in der Leitung, ich schreie: „Wie sehen Sie denn aus? Können Sie sich beschreiben? Versuchen Sie es doch mal.“
„Ich...? - Kommen Sie doch hoch! Überzeugen Sie sich selbst! Aber Sie wollen doch nur ein bisschen spielen! Sie langweilen sich, was! Hauen Sie doch ab! Verschwinden Sie!“
Ich bin erschrocken, bis unter die Haut, Jemands Zorn ist echt, es ist der Schmerz, den ich selbst so oft spüre.
Ich sage: „Ich komme jetzt nach oben.“
„Nein!“
Die Verbindung ist unterbrochen, mir ist elend, warum kann ich nicht einmal schlauer gehen, als ich gekommen bin? Ich schleiche mich davon, ich bin ein Tier, eine Schnecke, die nicht vom Fleck kommt, die Füße all der Leute über sich hat.
Auf dem Garagenhof ist es ruhig, kaum zu glauben, kein Gaffer weit und breit. Hoch oben über dem Rosental steht ein einsamer Drache, täuscht mir den freien Flug vor; dann erkenne ich die Schnur, die ihn an die Erde fesselt. Aus dem Gartenverein zieht Bratwurstmief herüber. Auf der anderen Seite des Garagenhofs türmen sich bröcklige rote Steine zu Häusern. Dahinter liegt die Rennstrecke, es ist Abend, Berufsverkehr, tonnenweise scheppert Blech, aus allen Himmelsrichtungen haben die Sirenen der Rettungsfahrzeuge sich wichtig.
Ich sitze auf der Schaukel, sehe auf Jokers Hände. Der Zauberer ist völlig weggetreten, wie immer, wenn er spielen kann. Er hockt auf dem schmutzigen Hof vor einem Haufen Teile, die er wieder zu einem Motorrad zusammenbauen will. Jokers Hände sind für mich die eines Zauberers, sie brauchen keine Tricks, um mich staunen zu lassen. Es sind schmale Hände, die sogar den Hünen Kongo in die Knie zwingen können, sie haben Risse, Narben und Furchen, die schwarz sind von öligem Dreck, nicht wieder sauber zu kriegen. Sie geben mir das Gefühl, dass mit ihnen etwas anzupacken ist, das ich allein nicht zu fassen kriege, schon gar nicht in Bewegung setzen kann. Jokers Hände sind konzentriert ohne Verbissenheit, es gefällt mir, wie er manchmal in der Hocke schaukelt, sich mit dem Handrücken über die Stirn reibt, dabei nachdenkt.
Die Mannschaft ist auch beschäftigt: Irre Wanda mit sich selbst; sie dreht und wendet sich vor einem goldrahmigen fleckigen Spiegel, drückt an ihrer Larve herum, stößt Zischlaute aus. Lolito, schöner Mann, lackiert einen dreckigen Lastwagen, leistet sich immer wieder mal einen Luftsprung, ein satanisches Quieken, dass Irre Wanda ihm mit ihrem beeindruckenden Hintern zuwackelt. Rübezahl hüllt sich in eine bleigraue Nikotinwolke, hackt Holz, als stünde ein langer Winter bevor. Kongo bläst mit ein paar Eisenkugeln seinen Body auf. Marx wandelt, die Hände auf dem Rücken, gramgebeugt, durch den Müll, denkt, dass sich ihm die Adern blau aus der Stirn drücken.
Ich versuche, mich vom Abend beruhigen zu lassen, den ganzen Tag schon hat es mich herumgeworfen. In der Nachplapperanstalt, die sie Gymnasium nennen, bin ich von Typ zu Typ gerannt, habe überall „Ich, ich, ich!“ zu hören bekommen. Luisa hat gesagt, ich würde wie meine eigene Mumie herumlaufen, ich solle doch endlich Parterreakrobatik trainieren, die sei gut für die Durchblutung, die Nerven, den Teint, überhaupt für alles. Ich war nahe dran, Fabian in seinem Büro anzurufen, ihn zu fragen, ob er einen Spruch für mich übrig hat. Eva war wieder einmal mit Möbelrücken in der Millionenlaube beschäftigt. Zwischendrin telefonierte sie mit einem TV-Chef, der Fabian wieder einmal für eine Talkshow haben will.
Ich schaukle hinauf, dass es mich fast herunter bläst. Rübezahl setzt einen Axtschlag aus, sieht mich an, als wüsste er, was in mir vorgeht, von dem ich nichts weiß. Ich bremse ab, es zerreißt mich fast, ich schreie.
Joker blickt auf, schüttelt den Kopf, lächelt, nickt, beugt sich wieder über sein Puzzle. Irre Wanda lacht ihr irres Lachen, das man ihr angeblich bei einer Therapie beigebracht hat, die die Seele vom Müll befreien sollte. Die übrige Mannschaft ist von Irre Wandas Gelächter mehr beeindruckt als von meinem Schrei, sie betrachten mich wohl als ihr Garagenhofkind, dem alles erlaubt ist, vor allem ein bisschen pubertäre Verrücktheit.
Ich will, dass was passiert, heute, jetzt, es muss, ich kann heute nicht allein sein, ich überstehe sonst nicht die Nacht. Marx schaltet die Hofbeleuchtung ein, zwei Scheinwerfer blenden auf, die Schatten werden deutlicher als die Körper. Lolito wird noch zappeliger, er erzählt Witze aus Neandertal, quiekt, zwitschert. Irre Wanda aber hypnotisiert Joker mit ihrem Schlangenblick, der Zauberer hebt wieder den Kopf, nickt ihr zu, hebt eine Hand mit zwei ausgestreckten Fingern. Irre Wanda schrillt kurz auf, schreitet davon.
Ich muss mir jetzt was einfallen lassen, auch die anderen machen ihren Abgang. Ich schaukle mich wieder hoch, lache hinunter, der Zauberer steht auf, blickt auf sein Werk, sagt: „Was ist, Hühnchen? Nicht, dass die Bullen dich schon suchen.“
„Cheerio, Joker!“
Ich springe von der Schaukel, ich bin ein Tier, eine Füchsin, verdrücke mich ins Dunkel. Jetzt muss alles schnell gehen, ich habe einfach keine Zeit mehr. Irre Wanda finde ich im Café am Eck, was so ziemlich der mieseste Schuppen der Stadt ist. Außer einem Glas Milch kann man hier alles bestellen, ein Mord steht auf der Karte gleich neben dem Jägerschnitzel.
Irre Wanda sitzt vor der Theke auf einem Hocker, die Spitze ihres Zeigefingers zwischen den Korallenlippen, einen Eckensteher vor sich, ein Gebräu, das mich einmal fast das Leben gekostet hat. Sie schaut gierig auf einen Kiffer, an dem selbst der Jeansanzug totenblass ist.
„Irre Wanda“, sage ich. „Sorry, wo ist denn Lolito?“
„Du, Kleines.“ Sie flüstert, als hätte sie nur Geheimnisse mitzuteilen, rau und doch sanft, nickt zur Hintertür, durch die es auf den Hinterhof zu den Toiletten geht. „Glas Muttermilch, Kleines?“
„Nein, danke, Irre Wanda.“
Ich muss zur Sache kommen, bevor Lolito wieder an ihr haftet.
„Ich soll dir was sagen, Irre Wanda.“
Ich mag die schwarze Spinnenfrau. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn meine Eltern so eine große Schwester zustande gebracht hätten. Ich will Irre Wanda nicht verletzen, aber ich muss es jetzt wohl tun.
Da betritt auch schon Lolito, schöner Mann, die Bühne, ich sage schnell: „Joker lässt dir sagen, das klappt heute nicht. Du weißt schon. Er - er hat was anderes vor.“
Irre Wanda beißt sich fast den kleinen Finger ab, ich spüre den Schmerz, ich weiß, wie sehr sie den Zauberer braucht, seit dem sie nicht mehr kifft.
Lolito ist heran, legt eine Hand auf Irre Wandas Schulter, blickt mich bohrend an. „Was ist denn, du Laus?“
„Nichts ist.“
Die Füchsin N Punkt verdrückt sich nach draußen, ich bleibe auf der Spur, diesmal lasse ich mich nicht jagen, ich jage selbst.
Es ist wohl alles für einen Augenblick vorbereitet, mein ganzes dummes Leben. In Luisas Künstlergarderobe, ein alter Schuppen im Garten ihrer Eltern, habe ich die Auswahl: Röcke, Hosen, Pullis, Schuhe, Stiefel, gespenstisch teure Dessous, Peitschen, Ketten, Handschellen, eben solche Behelfskonstruktionen. Ich ziehe mich schnell aus, langsam wieder an. Ich muss nicht mehr überlegen, so oft habe ich es schon in Gedanken getan. Diesmal schminke ich mir kein Clownsgesicht, das fühle ich, denn ich habe die Petroleumlampe nicht angezündet. Mein Gesicht ist das einer Frau, ich bin ganz zufrieden mit mir.
Als ich aus dem Schuppen trete, zu rennen beginne, verwandelt sich die Füchsin in eine Wölfin. Auf dem Garagenhof packt mich für einen Moment die Angst, ich lache leise Irre Wandas Lachen, taste die Stiege zum Wohnwagen hoch. Die Tür ist einen Spalt geöffnet, drinnen ist es dunkel, ich höre Musik, leise, irgendwas gespenstisch Orientalisches, wie es Irre Wanda mag.
„Nun komm schon. Oder willst du, dass ich kaputt gehe?“ Jokers Stimme, anders als sonst, mit einem Klang, brutal und zärtlich zugleich, der mich erschreckt und lockt. Einen Augenblick zögere ich, dann trete ich ein in Zauberers Reich. Ich bin wie blind, taste Joker auf der Liege, bleibe vor ihm stehen.
„Irre Wanda. Wanda?“
Joker richtet sich ruckartig auf, ich öffne die Augen, vor mir sitzt er, der Zauberer, nackt, bis auf den durchlöcherten Cowboyhut, starrt mich an, sagt: „Du?!“
Der Mann steht unter Schock, ich auch.
„Ja“, sage ich. „Ja. Ich bin es.“
„Was ist denn? Ist was passiert?“ Joker zieht den Hut, legt ihn auf seinen Schoss.
„Ja. Ja, Joker.“
„Was denn, verdammt noch mal! Nun rede schon!“
Ich möchte mich setzen, mir geht es nicht so hervorragend, was soll ich denn jetzt sagen?
„Ja“, mein debiles Ja sage ich.
„Ist was mit Irre Wanda? Was ist denn?!“ Seine Stimme klingt besorgt, viel zu besorgt.
„Irre Wanda ist okay“, sage ich. „Völlig okay.“
Joker greift aus dem Regal eine Weinflasche, lässt es gluckern, rülpst leise, fragt ruhiger: „Und warum ist sie nicht hier?“
Ich setze mich auf die äußerste Kante der Liege, sage: „Ich bin ja da, Joker.“
Der Zauberer scheint allmählich zu begreifen, er schaltet eine Wandlampe ein, wechselt von Rotlicht auf Blaulicht, sagt: „He, was soll das denn, Hühnchen?“
„Ich bin kein Hühnchen, Joker. Das siehst du falsch. Wirklich.“
„Was hast du denn da verschüttet, Hühnchen? Du riechst ja schärfer als ein französischer Puff.“
Ich muss Geduld haben mit so einem Mann, auch wenn er ein Zauberer ist, es dauert, bis er begreift, was ihm gut tut.
„Bleu Feu. So gut wie das Beste, was auf dem Markt ist.“
„Was hast du denn da übergestreift, Mädchen?“ Joker drückt seinen Hut an den Schoss, lacht. „Ist denn irgendwo Fasching oder was in der Richtung?“
Männer sind Sadisten, vor allem haben sie keinen Geschmack, was Kleidung betrifft. Luisa meint, man muss ihre Unzulänglichkeiten ignorieren.
Joker nickt zur Spüle. „Wasch dir erst mal den Farbfilm ab.“
Ich beuge mich über das Spülbecken, halte mein Gesicht unter den dünnen Wasserstrahl. In meinem Kopf ist ein Wespennest, mir ist, als hätte ich Fieber, ich fühle mich sterbenselend. Als ich mich wieder umdrehe, sitzt Joker auf der Liege, er hat ein langes Jeanshemd angezogen, den Cowboyhut in die Stirn gedrückt.
„Joker“, sage ich, „Joker.“
„Am besten, du trittst jetzt den Rückzug an“, sagt Joker. „Wir vergessen das Ganze.“
„Rede nicht so, so vorsichtig“, sage ich. „Ich bin nicht schwachsinnig, keinesfalls, Joker. Und sage nicht ständig Hühnchen zu mir, das langweilt. Vor allem bin ich kein Kind mehr, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Sorry, ich habe Vergangenheit, Joker, ich kann durchaus auf Erfahrungen zurückblicken, Joker, ich weiß Bescheid.“
„Geht schon in Ordnung“, sagt Joker, nickt, schüttelt den Kopf, lässt mich das Graugrüngelb in seinen Augen nicht erkennen.
„Ja“, sage ich. „Ja.“ Jetzt also sterbe ich.
„Kipp mir nur nicht um.“ Joker schiebt mir mit seinem Fuß einen Hocker hin. „Was ist denn eigentlich los? Du siehst verdammt grün aus, Hühnchen.“
Ich setze mich nicht, ich will das durchstehen. Des Zauberers Stimme klingt besorgt, aber nicht so, wie wenn es um Irre Wanda geht, anders eben, ganz anders klingt sie. Er ist einfach zu weit weg von mir, viel zu weit.
Ich schluchze, ich habe noch nie so geschluchzt, ich heule, so habe ich noch nie geheult, ich zittere, so gezittert habe ich in meinem Leben noch nicht.
„Verdammt“, sagt Joker. „Verdammt, verdammt.“
Joker rutscht auf der Liege hin und her, Geschluchze erschüttert mich, Tränen rinnen mir heiß und kitzelnd den Hals bis zu meinen Brüsten hinunter.
„Verdammt, verdammt!“, ruft Joker. „Noch mal verdammt!“
Er springt auf, setzt sich wieder, rutscht an mich heran, von mir weg, wieder heran, die eine Hand presst wieder den Cowboyhut auf die Oberschenkel, als hätte er dort einen Schatz zu behüten. Mit der anderen Hand umfasst er meine Hand, drückt fest zu. Ich schreie leise auf, es ist, als hätte ich einen elektrischen Zaun berührt, doch dann spüre ich den Strom warm durch meinen Körper ziehen.
„Du musst dich nicht aufregen“, sagt Joker. „Hühnchen. Soll ich dir einen Kaffee kochen? Oder brauchst du was Härteres?“
„Erzähl mir was“, bitte ich den Zauberer. Ich würde zu gern meinen Kopf auf seine Schulter legen, ich möchte, dass er seine Hand auf meiner Haut wandern lässt, dort und dahin, überall hin.
„Was soll ich dir denn da sagen, Hühnchen?“
„Erzähle mir von dir, Joker.“
„Verdammt, verdammt. Von mir? Was denn da?“
„Alles will ich wissen, Joker. Einfach alles.“
Ich habe es geschafft, tatsächlich, mein Kopf liegt auf Jokers Schulter, seine Hand, die meine Hand hält, löst sich langsam, fährt über meinen Handrücken, das Handgelenk, über den Unterarm zum Oberarm hoch. Ich spüre, wie unzählige Härchen sich auf meiner Haut aufrichten, wie ich leichter, immer leichter werde. Was da noch von mir übrig bleibt, schenke ich dem Zauberer.
Jokers Hand bleibt auf meinem Nacken liegen, als wüsste sie nicht, ob sie nach oben oder unten, da oder dort hinübergehen, ob sie überhaupt weiter wandern soll. Sie liegt heiß und schwer auf mir, sie wird immer heißer und schwerer. Ich fühle, der Zauberer ist an dem unsichtbaren Punkt angelangt, wo sich viel, vielleicht alles entscheidet.
Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür. Irre Wanda hat ihren Auftritt, sie sieht von mir zu Joker und zurück, viel Weg muss ihr Blick da nicht zurücklegen, so eine Frau begreift schnell. Sie stimmt ihr Wahnsinnslachen an, schluckt es runter, legt mir einen Arm um die Schulter. Wir sind Schwestern, für einen Augenblick sind wir Schwestern, ich lehne meinen Kopf an ihre Brust. Eben noch verbrannte ich, jetzt friert´s mich. Alles mit mir geht langsam, wie in Zeitlupe, ich denke, dass ich nur noch einen halbwegs professionellen Abgang hinkriegen muss, sonst nichts.
Irgendwie habe ich es geschafft, ich stehe auf dem Garagenhof im Scheinwerferlicht. Irre Wandas Stimme kratzt an meinem Trommelfell. „Kleines? Wird's gehen? Ach, Scheiße.“
Ich bin ein Tier, eine Katze, nicht umzubringen, ich hinke davon, wird schon gehen, es geht schon, geht.
Der Mann und die Frau haben mich in einen dieser neuen Nobelschuppen geschleppt, sie wollen wohl meine Auferstehung feiern. So weit ich mich an den Sozialismus erinnern kann, sind wir damals selten Essen gegangen. Eva sagt, wenn ein Lokal tatsächlich einmal nicht aus Technischen Gründen geschlossen hatte, musste man Schlange stehen oder dem Ober einen Geldschein zustecken, um einen Tisch zu bekommen.