Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß - E-Book

Die Schule auf dem Baum E-Book

Gunter Preuß

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Beschreibung

Schön verrückt! Da klettert ein Junge auf die alte Kastanie im Hof der neuen Schule und bringt damit alle durcheinander. Vor allem Lehrer Hausmann, der eigentlich nur noch in Ruhe auf seine Pensionierung warten wollte. Und die junge Direktorin, die auf einmal ihr ganzes Leben infrage zu stellen beginnt. Dabei kann nur ein Blödmann denken, dass der Junge die ganze Zeit auf dem Baum sitzt. Nein, in Wahrheit ist er oben auf dem Mast der Pinta und zusammen mit dem großen Admiral auf dem Seeweg nach Indien...

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Gunter Preuß

Die Schule auf dem Baum

Drei Erzählungen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DIE SCHULE AUF DEM BAUM

DER LEHRER

DIE DIREKTORIN

DER SCHÜLER

TÖDLICHES GRÜN

1

2

3

4

5

6

7

8

FRAU BUTZMANN UND IHRE SÖHNE

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Impressum neobooks

DIE SCHULE AUF DEM BAUM

- Drei Blicke ins Grün -

DER LEHRER

"Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!"

Da sitzt ein Junge auf einem Baum. Hoch über der Erde. In einer Kastanie sitzt er. Sie steht mitten auf dem Schulhof. Sie ist hundert Jahre und älter. Ihren Stamm können drei Menschen nicht mit ihren Armen umspannen. Er hat in Brusthöhe Löcher von Einschüssen. In seine Rinde sind Herzen und Namen gekerbt. Die Baumkrone ist grün und breit und dicht.

Alle Lehrer und Schüler sind auf dem Schulhof. Sie sehen nach oben. Nichts bewegt sich. Und doch sitzt da jemand im Grün.

"Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst...! Aber dann...! Du wirst was erleben...!"

Ich stehe im Lehrerzimmer am Fenster. Hinter der Gardine. Ich schließe die Augen.

Es ist September. Das neue Schuljahr hat soeben begonnen. Ich stehe im Direktorenzimmer vor dem neuen Schreibtisch. Alles ist hier neu, die ganze Schule. Nur die Kastanie stand schon vorher hier, länger auch als die alte Schule, länger als der ganze Sozialismus, der in alle Ewigkeit dauern sollte.

Hinter dem Schreibtisch sitzt die Direktorin, Frau Wendisch.

Sie ist neu hier. Alles an dieser Schule ist neu. Außer dem Baum.

Und außer mir.

Die Direktorin stößt beim Sprechen mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Sie sagt: "Der Junge auf dem Baum. Herr Hausmann, so geht das nicht weiter. Die Schule kommt noch ins Gerede. Der Junge ist aus Ihrer Klasse. Unternehmen Sie etwas."

Die Direktorin sieht noch wie eine Studentin aus. Ein kluges, oft allzu eifriges Mädchen. Hübsch ist sie, eben jung. Sie blickt mich mit dunklen zornigen Augen an. Ihr Mund spannt sich schmal. Zu bitter, zu streng für ihr Alter.

"Herr Hausmann."

Lächeln Sie doch, möchte ich ihr sagen. Lächeln Sie erst einmal. Bitte.

"Herr Hausmann!"

"Jawohl. Ja."

Tatsächlich, ich werde rot wie ein Schuljunge. Ich verschränke die Hände hinter dem Rücken und senke den Kopf.

"Hans Schorn ist Ihr Schüler", sagt Frau Wendisch. Sie stößt die Spitze des Kugelschreibers hart und schnell auf die Schreibtischplatte. "Ich frage Sie, wie lange wollen Sie sich das noch mit ansehen?"

Ich lockere meine Haltung. In diesem Ton darf sie nicht mit mir reden. Wieder meldet sich in mir der Schuljunge. Mit Trotz. Ich bin geneigt zu sagen: Was wollen Sie eigentlich von mir? Mich geht das alles gar nichts mehr an.

Die Direktorin steckt den Kugelschreiber zwischen Rotstifte in einen Keramikbecher. Sie steht auf. Sieht kurz und prüfend in einen Spiegel, der zwischen Kinderzeichnungen an der Wand hängt. Sie greift nach dem Schminkzeug. Doch dann richtet sie das Etui auf der Schreibtischplatte gerade aus. Ihre Haltung strafft sich.

Sie sagt: "Sie sind mein Ältester und erfahrenster Lehrer. Bringen Sie das in Ordnung!"

Ich verspreche, Ordnung zu schaffen. Frau Wendisch reicht mir ihre Hand. Sie ist klein, fest und kühl. Ich verbeuge mich, viel zu altmodisch, es steckt eben in mir. Ich gehe. Vorsichtig will ich die Tür schließen. Sie rutscht mir aus der Hand und fällt laut ins Schloss. Ich murmele eine Entschuldigung.

Es ist Abend. Die Sonne sticht noch immer. Ich laufe durch meinen Garten. Von einem Ende zum anderen. Tomaten müsste ich abnehmen. Verblühte Rosen abschneiden. Gießen müsste ich. Es hat lange nicht geregnet.

Ruhe kommt in die Gärten. Das Gezwitscher der Vögel verstummt. Nur ein Pirol flötet sein "düdeldüo". Dazwischen krächzt er wie ein Rabe. Vom Mühlgraben her riecht es nach Moder. Der Geruch von gegrilltem Fleisch wird intensiver. Gahlichs Dackel kläfft müde.

Aus einem der Gärten höre ich Lachen. Von hier und da bekommt es Antwort.

Jetzt wäre es Zeit, mich in den Korbsessel vor die Laube zu setzen. Unter den Apfelbaum, aus dem es summt und wispert. Die Beine könnte ich auf den Stapel Obststiegen legen. Meine allabendliche halbe Zigarre könnte ich rauchen. In der Tageszeitung blättern. Oder ich könnte in die Mückenschwärme sehen, die wie schwarze Säulen in den Himmel ragen.

Mir geht die Sache mit dem Jungen auf dem Baum nicht aus dem Kopf. Das treibt mich durch den Garten und lässt mich schwitzen.

"Verdammter Lausebengel! Verdammt! Verflucht und zugenäht!"

Ich sehe mich um. Aber ich bin allein im Garten. Seit über einem Jahr. Henni hat mich verlassen. Sie ist tot.

Seitdem Henni nicht mehr da ist, spüre ich mein Alter. Aus Beinen und Händen ist die Kraft gewichen. In meiner Brust ist etwas gewachsen. Ein Stein. Im Unterricht rede und rede ich. Ich erzähle, was der Unterrichtsplan verlangt.

Ich bin alt. Ich fühle es. Ich sehne mich nach Ruhe. Nach Sommerabenden hier in meinem Garten. Nach dem Duft der Rosen, nach ihren kräftigen Farben. Gras will ich unter meinen Füßen spüren. Erde will ich umgraben. Im Korbsessel will ich sitzen und denken, dass Henni in der Laube wirtschaftet. Ich werde auf den Augenblick warten, da sie mir ihre Hand auf den Nacken legt. Zeilen aus vergessenen Gedichten werden mir zufliegen.

Auf einmal liege ich auf der Erde. Ich bin beim Umherlaufen über etwas gestolpert und gefallen. Der Schreck war kurz. Es liegt sich angenehm, so auf dem Bauch. Gesicht und Hände spüren die warme Erde. So möchte ich liegen bleiben. Schlafen. Erst einmal schlafen. Aber da ist das Klopfen in der Brust.

Ich stehe auf und spüre den Schmerz. Ich humple zum Korbsessel und setze mich. Gebrochen ist nichts.

"Dieser dumme Junge! Welcher Teufel reitet ihn eigentlich?"

Mit zitternden Fingern zünde ich mir die halbe Zigarre an, die ich allabendlich rauche. Nach dem ersten Zug drücke ich sie aus. Noch ein paar Monate, und ich werde in Rente gehen. Zeit werde ich haben. Vergessen werde ich können. Das, was wehtut. Festhalten werde ich, was wohltut. Ich werde nicht mehr vom Bombenhagel und dem tage- und nächtelangen Verschüttet sein träumen und aufschrecken müssen, dass ich bis zum Morgen keinen Schlaf mehr finde. Ach, die Vergangenheit. Der Schwamm ist drüber. Die weiße Kreide ist weggelegt. Ich habe nichts mehr an die Tafel zu schreiben als Es ist.

In meinem Garten soll es grünen und blühen.

Der Pirol krächzt wie eine Krähe im tiefsten Winter. Ich klatsche in die Hände. Das stört den Vogel nicht. Ich greife nach einem Stein. Da fliegt er davon.

Ich habe Hans Schorn nach dem Unterricht in das Lehrerzimmer bestellt. Zuerst wollte ich ihn zu einem Spaziergang einladen. Das hätte er falsch auffassen können. Als Schwäche von mir. Wenn man sich schwach fühlt, kann man sich keine Schwäche leisten.

Ich habe von unserer jungen Direktorin gelernt. Ich sitze am Tisch, einen Kugelschreiber in der Hand. Auf der anderen Seite des Tisches steht der Junge. Ich blättere im Klassenbuch. Dann sehe ich ihn an.

Ich atme durch. Das wird nicht schwer werden. Der Junge gehört nicht zu diesen Burschen, die ihren Lehrern Prügel androhen.

So, wie er nun vor mir steht, tut er mir fast leid. Es ist nichts Auffallendes, nichts Besonderes an ihm. Schmal und blass ist er. Mittelgroß. Er hat dunkle und lockige Haare. Sein Gesicht hat etwas Mädchenhaftes. Sein Körper wirkt weich, ja unfertig. Und doch, er ist ein Junge. Ich sehe es, als er mich kurz mit seinem Blick misst und mich mein Alter spüren lässt.

Ich bemerke, wie meine Hand den Kugelschreiber auf die Tischplatte stößt. Ich schiebe den Stift weg. Der Junge hat den Kopf gesenkt, die Hände hinter dem Rücken.

"Hans Schorn", sage ich. "Ich muss mit dir reden."

Mir ist heiß. Ich öffne das Fenster. Aber da sehe ich die alte Kastanie. Ich schließe das Fenster. Ziehe den Vorhang zu.

"Hör mal", sage ich. "Hör mal. Wir haben uns das lange mit angesehen. Du sitzt auf diesem Baum. Zwanzig Meter über dem Erdboden. Mitten auf dem Schulhof. Hast du etwas dazu zu sagen?"

Ich höre meine Stimme fremd und aggressiv. Ich wische mir mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Der Junge schweigt. Wieder hat er mich kurz und prüfend angesehen. Wie soll ich es ihm nur begreiflich machen, diesem Grünling, dass ein alter Mann keinen Ärger gebrauchen kann. Ich will Ruhe haben. Ich will mich vorbereiten. Auf das, was kommt. Ich will mich nicht überraschen lassen. Ich habe mich oft bücken und manchmal sogar kriechen müssen. Das letzte Stück Weg will ich aufrecht gehen.

Diese Hitze. Die Trockenheit seit Wochen.

"Hans Schorn", sage ich. "Der Baum. Junge, was willst du da oben?"

Wieder dieser Blick. Keine Antwort. Ich packe das falsch an.

Ich weiß es. Ich erinnere mich, wie ich vor der jungen Direktorin gestanden habe.

"Du wirst mir jetzt antworten, Schorn!"

Wieder halte ich den Kugelschreiber in den Händen. Der Junge schweigt. Mir ist, als drücke sich das Grün der Kastanie in den Raum.

Ich muss aus diesem Zimmer. Aus dieser Schule. Meine Hände zittern. Hart und rhythmisch klopft die Spitze des Kugelschreibers auf die Tischplatte. Dazu höre ich eine Stimme. "Wir tragen die Verantwortung…! Zwanzig Meter über dem Erdboden...! Die ganze Schule in Verruf...! Ich spreche dir hiermit einen Verweis aus..."

Allein. Sekunden? Tage? Jahre?

"Hans Schorn!" rufe ich. "Hans!"

Es ist niemand mehr in der Schule. Meine Schritte hallen im Flur. An der Kastanie schließe ich die Augen. Endlich erreiche ich die Straße. Ich renne, vorbei an all den Leuten.

Kein Wind ist zu spüren. Es ist, als stünde die Sonne zum Greifen nahe über der Stadt. Der Staub bildet bunte Nebel. So muss es in der Hölle riechen.

Die Schule hat ihre Ruhe wieder. Der Junge sitzt nicht mehr auf dem Baum. Alle, Lehrer und Schüler, sind irgendwie erleichtert. Die Spannung ist raus. Jeder bewegt sich wieder sicher.

Seit drei Tagen nickt Frau Wendisch mir zu, wenn wir uns im Treppenhaus der Schule begegnen. Achtungsvoll und wie entschuldigend. Als hätte sie mich falsch beurteilt.

Mit mir geschieht Eigenartiges. Es hat mich erst überrascht, und nun erschreckt es mich. Ich begreife es nicht.

Anfangs, als der Junge nicht mehr auf dem Baum saß, war ich erleichtert. Mein weiteres Leben würde so verlaufen, wie ich es mir vorstellte. Mein Ziel war der Garten. Nun ja, Rückkehr ins Paradies.

Aber bald hat sich mein Befinden geändert. Ich bin unzufrieden, ohne zu wissen warum. Ich bin todmüde und kann nicht schlafen. Das Herzklopfen, das mich geängstigt hatte, fehlt mir. Lustlos absolviere ich meinen Unterricht. Ich esse kaum etwas. Hatte immerzu Durst.

Im Schulhof ertappe ich mich oft, dass ich vor der Kastanie stehe. Ich betrachte sie genau, und es kommt mir vor, als fehle ihr etwas.

"Du bist verrückt, Hausmann", sage ich mir. "Alter, was willst du eigentlich?"

Es geschieht vieles an der Kastanie. Bisher ist es mir verborgen geblieben. Die Einschusslöcher an ihrem Stamm dienen den Schülern als Briefkästen. Die unteren Löcher benutzen die Kleinen. Die oberen Löcher die Älteren. Mädchen und Jungen tauschen darin Nachrichten aus. Zettelchen und kleine Geschenke werden dort abgelegt und angenommen. Es gibt ein großes Astloch im Stamm. Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Ein Rindenstück, das sich abnehmen lässt, verdeckt es. Einer Gruppe von Jungen und Mädchen dient es als Vorratskammer. Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, versorgen sie sich aus dem Astloch mit Alkohol und Tabletten, die sie in Stimmung bringen sollen. Das Astloch habe ich mit Zement verschlossen.

Nach dem Unterricht gehe ich wie jeden Tag in meinen Garten. Die meiste Zeit sitze ich im Korbsessel, über mir im Apfelbaum sitzt der Pirol. Ich höre ihn nur noch krächzen. Die Blätter verfärben sich rot. Mir ist heiß. Mir ist kalt.

Nachts gehe ich auf den Schulhof. Richte den Strahl der Taschenlampe auf die Baumkrone.

Ich lasse Hans Schorn nicht aus den Augen. Nicht im Unterricht. Nicht in den Pausen. Ich bin neugierig, was er wohl antworten würde, wenn ich ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragte. Rot. Ist Rot deine Lieblingsfarbe? Und was er wohl gern isst? Ob die Hitze ihm auch zu schaffen macht? Liebst du Afrika? Oder möchtest du auf dem ewigen Eis leben? Ob er die Verzweiflung schon kennt? Die Sehnsucht? Das Gefühl des Alleinseins?

Ich habe Hans Schorn noch nie lachen gehört. Ich wünsche mir, er würde einmal lachen.

Bis zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal auf dem Baum saß, habe ich ihn kaum wahrgenommen. Er ist ein mittelmäßiger Schüler. Er gab bisher keinerlei Anlass zur Klage oder Freude. Er war einer von vielen. Ihr Gesicht verliert sich in einer Gruppe.

Hans Schorn sitzt im Klassenzimmer in der drittletzten Reihe. Eigentlich mittendrin. Er sitzt an einem Tisch mit Gundula Pfeiffer. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen. Ihre Hand ist fast immer oben. Sie schnippt mit den Fingern. Ihr Gesicht glüht. Die Worte sprudeln ihr aus dem Mund. Sie hat den Jungen bisher völlig verdeckt.

Hans Schorn sitzt mit aufgestützten Ellenbogen. Seine Handflächen umschließen Kinn und Wangen. Mir fällt auf, dass das dunkle Haar kurzgeschnitten ist. Wie ein gemähter Rasen, auf dem ein paar Grasbüschel dem Messer widerstanden haben und sich zu Fragezeichen aufrichten. Seine Augen sind grün. Sie blicken durch mich hindurch. Manchmal drehe ich mich um, seinem Blick zu folgen. Aber ich sehe nur die Wand.

Es gibt da ein Mädchen. Christa Mällmann. In den Hofpausen hält Hans Schorn sich in ihrer Nähe auf. Er sieht sie nie direkt an. Sie lässt ihn rot und blass werden. Seine Lippen öffnen sich, wenn sie lacht. Sie werden schmal, wenn sie sich ärgert. Ein Junge aus einer elften Klasse interessiert sich für sie. Und er ist ihr nicht gleichgültig. Betritt Horst Rappke den Schulhof, werden Hans Schorns Augen dunkel. Er steht steif. Reibt sich mit der Faust über die Stirn.

Ist Hans Schorn wegen Christa Mällmann auf die alte Kastanie gestiegen? Will er ihre Aufmerksamkeit erregen?

Das kann nicht sein, sage ich mir. Das allein ist es nicht. Was will ich eigentlich da oben? Treffe ich da etwa in meinen späten Jahren noch auf ein Geheimnis? Wohl gar auf ein Wunder? Da muss ich nun doch Lächeln. Ich bin Lehrer. Spezialist für Erkennen und Erklären.

Es passiert, da folge ich Hans Schorn nach dem Unterricht. Ich fühle mich nicht gut dabei. Ich tue etwas Unrechtes. Aber ich kann nicht anders.

Ich beobachte. Der Junge holt seine Mutter von der Arbeit ab. Er trägt die vollen Einkaufstaschen nach Hause. - Der Junge fährt auf einem klapprigen Fahrrad davon. - Der Junge spielt mit anderen Jungen Fußball. - Der Junge schleift sein Taschenmesser an einem Stein. - Der Junge spuckt aus einem Fenster auf die Straße. Der Junge sitzt neben seinem Vater in einem Auto.

"Der Junge! Der Junge! Der Junge!"

Nichts Ungewöhnliches kann ich beobachten. Und doch tritt der Junge aus der Menschengruppe heraus. Manchmal ist er mir so nahe - da brauchte ich nur die Hand auszustrecken. Ich könnte ihn berühren. "Du", könnte ich sagen. Er würde mich ansehen. Den alten Hausmann. Seinen Lehrer. Ob er erschrecken würde?

Es geht etwas in mir vor, das ich nicht beherrsche. Ich muss aufpassen. Ich bin aus dem Gleichgewicht.

Wer ruft mich zur Ordnung? Wer spricht mir für mein Verhalten einen Verweis aus?

Ich fliehe in meinen Garten. Dort sperre ich mich ein. Mein Paradies: ein Gefängnis. Kein Blick über den Zaun. Im Apfelbaum der Pirol. Sein Gekrächz.

Diese Hitze. Keine Fenster. Keine Tür.

Es soll regnen. Endlich regnen.

"Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!"

Ich stehe mit Lehrern und Schülern auf dem Schulhof. Bei der alten Kastanie. Wir schauen nach oben. In das bunte Laub des Baumes.

Hans Schorn sitzt wieder auf dem Baum.

Ich könnte es hinausschreien. Als die Nachricht des Tages.

Die Stimme der jungen Direktorin klingt sehr erregt. "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst...! Aber dann...!"

Frau Wendisch sieht mich an. Hilflos und zornig. Ihr Blick sagt: Nun tun Sie etwas! Ihr Mund ist viel zu schmal. Er passt nicht in ihr Mädchengesicht. Es ist der Mund einer alten Frau, die Bitteres erlebt hat.

Ich zucke mit den Schultern. Nicke. Lächle. Aber sie will sich nicht beruhigen. Sie will Ordnung. Jetzt. Sofort.

"Mädchen", sage ich leise. "Mensch, Mädchen."

"Wenn du jetzt nicht sofort....!"

Die junge Direktorin verstummt mitten im Satz, dreht abrupt dem Baum den Rücken zu. Sie geht los. Mit kleinen schnellen Schritten. An mir vorbei. Sie sagt: "Kommen Sie in mein Zimmer. Sofort."

Wieder stehe ich im Direktorenzimmer vor dem Schreibtisch. Wieder sitzt die junge Direktorin dahinter. Zwischen ihren Augen ist eine steile Falte entstanden. Kaum zu sehen. Aber sie ist da. Meine Finger tasten die Stelle zwischen meinen Augen ab.

So neu erscheint mir auch das Zimmer nicht mehr. Die ganze Schule nicht. Scheiben, Treppengeländer und Wände zeigen deutliche Fingerabdrücke. Der Fußboden ist voller Fußspuren, die nicht mehr wegzuwischen sind. Die ersten Strichmännlein und Strichweiblein sind ins Türholz geritzt. Auf den Schülertoiletten sind männliche und weibliche Geschlechtsteile abgebildet und hässliche Sprüche zu lesen. Und auf dem Schreibtisch der Direktorin gibt es Flecke von verschüttetem Kaffee. Die Gardinenstange ist abgerissen. Holzreste vom Bleistiftspitzen liegen zwischen Heften und Ordnern.

Frau Wendisch spricht schnell. Sie stößt den Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Um im Rhythmus zu bleiben.

"Herr Hausmann, ich bin unzufrieden. Ja, empört. Ich dachte, die Angelegenheit ist erledigt. Solche Dummheiten wie die von Schorn bringen den Kindern nur Verwirrung. Sie haben doch mit dem Jungen gesprochen?"

"Ja", sage ich. "Ich habe mit ihm gesprochen."

"Mit allem Nachdruck?"

"Er hat einen Verweis erhalten!"

"Die Eltern", sagt Frau Wendisch. "Kümmern sich denn seine Eltern nicht um ihn?"

"Doch. Ja", sage ich. "Ich habe den Eindruck."

"Aber was sollen wir denn tun?" Der Kugelschreiber bohrt sich in das Holz.

"Tja", sage ich. "Vielleicht sollten wir den Baum fällen." Ich lache, die Hand vor dem Mund.

Frau Wendisch sieht mich erstaunt, dann misstrauisch an. Sie sagt: "Für Späße habe ich jetzt nicht die Nerven, Herr Hausmann. Warum steigt der Junge nur immer wieder auf den Baum? Was - was will er denn da oben?"

"Tja", sage ich. "Das ist die Frage. Was will er da oben?"

Frau Wendisch malt mit dem Kugelschreiber Blumen auf ein Blatt Papier. "Ist Ihnen in Ihrem langen Lehrerdasein schon einmal so etwas passiert?", fragt sie. "Setzen Sie sich doch!"

Ich setze mich auf den Besucherstuhl. Der ist hart. Sie reicht mir ein Kissen. Ich sage: "Nein. Das ist es ja. Ich fühle mich wie ein Anfänger. Nach all den Jahren. Jahrzehnten. Da geschieht etwas. Ich finde keine Erklärung."

Frau Wendischs Stimme ist jetzt weich und fragend. Ihre Lippen sind voller und etwas geöffnet. Sie sagt erleichtert: "Es beunruhigt Sie also auch?"

"Ja", sage ich. "Es verschafft mir Herzklopfen. Eine heiße Stirn und kalte Hände."

"Hier", sagt Frau Wendisch. Sie streckt mir über den Schreibtisch ihre Hand entgegen.

Ich zögere. Dann berühre ich ihre Hand.

"Aber Ihre Hand ist warm", sage ich. "Ganz warm".

"Ja?" Frau Wendisch ist überrascht. Sie sagt: "Aber Ihre Hand ist es auch. Sie ist heiß."

"Heiß", sage ich. "Mein Gott, heiß, sagen Sie."

Für ein paar Augenblicke halten wir über den Schreibtisch hinweg gegenseitig unsere Hände.

Wir sitzen ruhig auf den Stühlen. Durch das Fenster ist die alte Kastanie zu sehen. Im dichten grünen Laub sitzt der Junge.

"Eine verrückte Welt", sage ich.

"Ja", sagt Frau Wendisch. "Ja, manchmal ja."

"Immer", sage ich. "Immer".

"Aber...", sagt die Direktorin.

Wir stehen auf. Der Abstand zwischen uns wächst wieder. Ich will das nicht.

Ich sage: "Sagen Sie jetzt nichts. Ich bitte Sie."

Sie antwortet: "Das geht so nicht. Auch wenn ich es wollte. Sie wissen es selbst."

Irgendetwas zerbricht zwischen meinen Händen. Ich taumle in einen Nebel hinein.

Frau Wendisch ruft: "Beruhigen Sie sich. Bitte beruhigen Sie sich. - Es hat keinen Sinn, sich so aufzuregen. Sind Sie – sind Sie wieder in Ordnung?"

"Ja", sage ich, zurückgekehrt in diese Dingewelt. "In Ordnung."

Frau Wendisch sagt: "Für nächste Woche hat sich der Schulrat angesagt. Was ist, wenn der Junge dann auf dem Baum sitzt?"

"Das kommt in Ordnung", sage ich. Wir haben einen Moment lang geträumt. Was wohl? Aber Lehrer sind keine Träumer. Sie sind Realisten. "Ich bringe das in Ordnung."

Ich spreche zu Hans Schorn. Wieder und wieder. Er schweigt. Manchmal sieht er mich kurz an. Dann schreie ich: "Was denkst du dir eigentlich?" Sein Gesicht erinnert nicht mehr an das eines Mädchens. Es ist das eines Jungen geworden. Was passiert denn da, wovon ich nichts weiß?

Ich bitte ihn. Ich drohe ihm. "Du must vom Baum herunter."

Ich spreche mit Hans Schorns Eltern. Ich spreche mit ihnen über dieses und jenes, über alles. Nur nicht darüber, dass ihr Sohn auf dem Baum sitzt. Sie könnten mir dazu nichts sagen. Beide sind praktische Menschen, den Kopf voller Alltagssorgen.

Ich sehe zu, wie ein paar ältere Schüler Hans Schorn verprügeln. Ich bin gegen Gewalt, und doch steckt sie in mir wie in jedem Menschen. Unbegreifliches hatte starke Anziehungskraft, es macht zuerst neugierig und bald aggressiv. Hans Schorns Gesicht ist blutverschmiert. Ein Clownsgesicht.

Horst Rappke und Christa Mällmann küssen sich auf dem Schulhof. Vor Hans Schorns Augen. Betritt Christa Mällmann den Schulhof, sucht ihr Blick Hans Schorn. Sie rümpft die Nase. Sie kämmt sich mit weichen, ausholenden Bewegungen.

Fast jeden Tag sitzt der Junge auf dem Baum. Minuten. Oder gar Stunden.

Die junge Direktorin geht mir aus dem Weg. Und ich ihr. Einmal stoßen wir im Flur zusammen. Es ist, als hätten wir einander gesucht. Wir entschuldigen uns. Und laufen voreinander weg.

Der Tag, an dem der Schulrat kommt, rückt naher. Unaufhaltsam. Hans Schorn sitzt auf der alten Kastanie.

Mitten in meinem Unterricht springen Schüler auf und rennen zu den Fenstern. Die Mädchen müssen auf die Toilette. Es wird getuschelt. Zettelchen werden hin- und hergereicht.

Die Schüler, die nach draußen gegangen sind, kommen nicht ins Klassenzimmer zurück. Türen knallen. Auf dem Flur hallen Schritte. Einer ruft nach dem anderen. Die Lehrer lassen ihre Kommandostimmen erklingen.

Hans Schorn sitzt auf der alten Kastanie. Jeden Augenblick muss der Schulrat eintreffen. Nach neuesten Meldungen mit einer Gruppe ausländischer Lehrer. Sie wollen die neue Schule sehen. Ein Modell für kommende Schulen.

In der zweiten Stunde findet kein Unterricht mehr statt. Lehrer und Schüler haben sich auf dem Schulhof versammelt. Außer der Direktorin und mir steht keiner allein. Wir blicken zur Krone der alten Kastanie. Die Sonne sticht schon. Die Blätter rascheln. Sie knistern. Hier und da blitzt es schon rot und gelb auf im Grün. Als wollte sich ein Feuer entzünden.

Frau Wendisch steht am Schultor. Jetzt erscheint sie mir besonders schmal und klein, und zum ersten Mal empfinde ich sie kindhaft zerbrechlich. Ihr Gesicht ist bleich. Die schwarzen Augenbrauen und die dunkelroten Lippen wirken wie aufgeklebt. Sie hat vergangene Nacht nicht geschlafen. Ich bin durch meinen Garten gelaufen. Am Zaun entlang. Nicht wegen des Schulrates. Ich kenne den Mann nicht. Ich fürchte sein Urteil nicht. In meinem Alter bin ich außerhalb seiner Bewertung.

Langsam löse ich mich von den anderen. Schließlich reiße ich mich los. Ich gehe zur alten Kastanie. Ich versuche, sie zu ersteigen. Die Schuhe finden in den Einschusslöchern keinen Halt. Ich ziehe die Schuhe aus. Die Strümpfe. Etwa eineinhalb Meter komme ich vom Erdboden weg. Dann fehlt mir die Kraft. Hände und Füße verkrampfen. Ich falle.

Wieder versuche ich, den Baum hochzukommen. Die Erde will mich nicht loslassen. Sie zieht mich immer wieder zurück. Ich falle hart. Noch habe ich mir nichts gebrochen.

Zwei Schüler kommen mit einer Leiter. Es sind Horst Rappke und Christa Mällmann. Sie lehnen die Leiter an den Stamm. Dann treten sie zurück.

Ich ersteige die Leiter, Sprosse um Sprosse.

Ich steige. Höher und höher. Mein Atem geht schnell. Ich spüre ihn. In der Brust. Im Kopf. Im Bauch. In den Armen. In den Beinen. Mein Atem trägt mich nach oben.

Es wird dämmrig. Gründämmrig. Blätter streifen mich. Ihre Oberseiten sind rau. Ihre Unterseiten sind weich. Kinderhände. Sie streifen meine Stirn. Meine Ohren. Meine Wangen. Meinen Mund.

Die Leiter reicht nicht höher. Ich bin jetzt in der Baumkrone. Umgeben von Ästen. Von Zweigen. Von tausenden Blättern.

"Hans Schorn", rufe ich. "Hans!"

Ich warte auf Antwort. Und dann kommt sie. Von oben. "Hier bin ich."

"Gut", sage ich.

Ich klettere. Von Ast zu Ast. Das dauert. Ich bin steif. Hände und Füße sind unsicher. Aber ich will da hinauf. Habe ich das nicht schon einmal erlebt? Mir ist, als sei das Jahrtausende her. Jahrhunderte. Jahrzehnte. Nun ist es Wirklichkeit.

Je höher ich steige, umso heller wird es. Und ich werde leichter. Als hätte ich Wind unter die Arme bekommen.

Jetzt sehe ich Hans Schorn über mir. Wieder atme ich tief durch. Dann hangle ich mich auf gleiche Höhe mit dem Jungen. Der Ast wippt. Ich kämpfe um mein Gleichgewicht. Noch einmal kommt Angst auf. Da höre ich den Jungen. "Einfach mitwippen", sagt er. "Sie können gar nicht fallen".

Ich vertraue mich den Bewegungen des Baumes an. Nun sitze ich sicherer.

Ich "öffne die Augen. Sie gewöhnen sich schnell an die Helligkeit. Ich sitze so hoch, dass der Baum mir den Blick frei gibt. Ich sehe aus der Vogelperspektive. über die Schule hinaus. Über einen Teil der Stadt. Nach Süden hin kann ich in die zerrissene Landschaft des Tagebaus sehen.

Ich lasse meine Blicke wandern. Sie überschreiten Ländergrenzen. Sie gehen über Meere. Wechseln die Kontinente. Wollte ich als Junge nicht unbedingt in die Gegend des Himalajas? In die Heimat des Grüns und des Schnees? Ich sehe die weiten Täler. Den tropischen Regenwald. Affen sehe ich. Elefanten. Tiger. Und dort wuchert der Rhododendron. Ein Meer aus weißen Blüten. Und höher hinauf geht es. Immer höher. Hinauf in das höchste Gebirge der Erde. Hinein in die Welt der Achttausender. Für einen Augenblick lichtet sich der Nebel. Ich sehe den Gipfel des Mount Everest. Ich blicke in ein Blau, wie ich es nie gesehen habe. Es ist bitter kalt. Strahlend warm. Ohne eine Spur Licht. So hell, dass es schmerzt.

Hans lacht. Zum ersten Mal höre ich ihn lachen. Er ist neben mir. Und er war eben mit mir auf dem Himalaja. Auch ich lache. Der Schüler Hans Schorn und der Lehrer Walter Hausmann lachen. Wir sitzen auf der alten Kastanie und lachen.

Es ist, als wäre Sturm in den Baum gekommen. Frau Wendisch sitzt neben uns. Nicht weit entfernt wippt Christa Mällmann auf einem Ast. Neben ihr sitzt Horst Rappke. Mädchen und Jungen sitzen auf den Ästen. Auch Lehrer. Der Hausmeister. Der Baum schaukelt. Es wird gelacht. Gelacht.

Auf dem Schulhof steht der Schulrat. Und die ausländischen Kollegen. All die Leute von der Straße. Sie stehen. Die Köpfe im Nacken. Die Blicke auf die Krone des Baumes gerichtet. Die Münder geöffnet. Und einer nach dem anderen macht sich daran, auf die alte Kastanie zu klettern.

Zeit ist vergangen. Tage. Wochen. Die neue Schule hat in den alten Rhythmus gefunden. Es ist, als sei nichts passiert. Als hätte es diesen Tag nicht gegeben. Diese Stunde des Baumes. So nenne ich sie.

Die junge Direktorin begegnet mir nicht mehr. Manchmal sehe ich sie von weitem. Sie errötet und geht eilig weg.

Christa Mällmann hat nur noch Augen für einen jungen Lehrer. Horst Rappke flucht laut auf die Weiber und wird Kettenraucher. Die Kerben im Stamm der Kastanie nehmen zu. Namen und Herzen. Stiche und Schnitte.

Es ist Herbst geworden. Heftige Gewitter und Stürme haben die Hitze vertrieben. Manchmal kommt Sturm auf, der den Winter ahnen lässt.

Mein Garten ist schnell verwildert. Unordnung im Paradies. Im Frühjahr wird es die ersten Beschwerden geben. Der Apfelbaum steht fast nackt da. So, als schäme er sich. Und er schweigt. Der Pirol ist auf und davon. Der Korbstuhl steht noch vor der Laube. Er ist voller Laub.

Hans Schorn lebt wohl wieder in der Gruppe. Doch manchmal klettert er auf die alte Kastanie. Da sitzt der Junge auf dem Baum. Ich steige ihm hinterher. Inzwischen ohne Leiter. Aus eigener Kraft. Der Junge und ich sitzen auf dem Baum. Jeder auf seinem Ast. Der Baum wippt und schaukelt uns. Wir sprechen nicht. Wir sind auf Reisen. Immer öfter begegnen wir uns. In einer Straße in New York. Am Ufer des Baikal. Auf dem Weg zum Kilimandscharo. Auf einem der Meere. In einem der Wälder. Unser Erkennungszeichen ist ein Lachen. Wir gehen ein Stück Weges zusammen. Dann trennen wir uns wieder. Einer nimmt vom anderen etwas mit. Dies und das. So ein Gefühl von Leichtigkeit und Schwere. Es gibt kein Wort dafür. In keiner Sprache. Man muss es erleben.

DIE DIREKTORIN

Liebe Sonja!

du wirst erstaunt sein, von mir Post zu bekommen, habe ich doch alle Deine Briefe und Karten nicht beantwortet. Aber ich weiß, du bist nicht nachtragend. Vergessen habe ich dich nie, aber immer wieder weggeschoben, denn die Erinnerung war mir unbequem, sie erschien mir unpassend wie ein Kleid, das aus der Mode gekommen ist. Inzwischen trage ich lieber Männerhosen, sie vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Weißt du noch, wir trugen einmal die kürzesten Röcke, wir zeigten gern unsere Beine, und es war, als wollten wir den Beweis führen, dass wir die Grenzen unserer Kindheit überschritten hatten. Die Dozenten störten sich nicht daran. Erinnerst du dich noch an die Gruse? Sie gab Geschichte, wir nannten sie wegen ihrer Putzsucht nach so einem Scheuermittel "Meister Fleckenlos", also die Gruse fand uns wenig vorbildhaft als Studentinnen der Pädagogik. Lehrer, so sagte sie immer, sei kein Beruf, sondern eine Berufung.

Sonja, erst heute ist mir bewusst geworden, wie recht die Frau hatte, auch wenn sie ohne Lust und Liebe war und uns gern keimfrei den Schülern gegenüber gestellt hätte.

Was ich dir sagen will, entschuldige, dass ich so lange geschwiegen habe. Aber ich habe die vergangenen Jahre gebraucht, um zu begreifen, was da eigentlich passiert ist. Selbst heute kann ich es noch nicht ganz verstehen. Erinnerst dich noch? Eines Abends standen wir uns bei einer Montagsdemo gegenüber. Du unter den Demonstranten, die 'Wir sind das Volk!' riefen. Und ich unter denen, die euch fotografieren und auseinandertreiben sollten. Wir standen uns wie versteinert gegenüber. Jede hat wohl in der anderen die Verräterin gesehen. Dann haben wir einander ins Gesicht geschlagen, uns umarmt und sind voneinander weggerannt. Wir hatten geglaubt, dass wir uns alles sagten, und doch hatten wir Geheimnisse voreinander. Heute kann ich dir verzeihen, und ich hoffe, ja, ich wünsche mir, dass du mir verzeihen kannst.

Oh Himmel, wir werden alt, liebe Sonja. Wir sind jetzt Ende der Zwanzig, und mit achtzehn dachte ich, so alt wirst du nie. Wir haben Vergangenheit, Mädchen, wer hätte das einmal gedacht. Dabei ist alles nur ein paar Jahre her, rein rechnerisch, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.

Inzwischen ist viel passiert, Sonja, Weltbewegendes. Aber es hat mich nicht so sehr beunruhigt wie das, was mir jetzt passiert. Ich komme plötzlich mit allem nicht mehr zurecht. Und nur, weil eines Tages ein Junge aus meiner Schule auf dem Baum sitzt statt im Klassenzimmer, immer wieder, stundenlang. Es ist wie in den Märchen, wo man an einer Kreuzung ankommt, an der alle die Wegweiser stehen. Bisher gab es nur einen Weg für mich, keine Frage, eine Straße, schnurgerade, und die bin ich gegangen. Nun weiß ich nicht, wie weiter, und so sehe ich zurück, und was mir da alles einfällt. Wie war das doch? Und dieses? Und jenes?

Wir wohnten im Internat zu viert in diesem Zimmerchen. Gleich am Einzugstag bildeten wir zwei Parteien, die Kliemann und die Renft kannten sich von der Oberschule, sie klammerten sich aneinander, wobei ich überzeugt bin, dass sie einander nicht ausstehen konnten und bestimmt jeden Morgen schadenfroh die Pickel im Gesicht der anderen zählten. Wir nannten sie die heiligen Kühe, weil der Dekan sie bei jeder Versammlung als Zierde der Studentenschaft ausstellte und uns zur Anbetung solcher Leistungen auf die Knie zwingen wollte.

Ich weiß, ich bin ungerecht, aber ich muss es sein, mir ist danach, es hat etwas Befreiendes und schmeckt zuckersüß. Weißt du noch, weißt du noch? Ich schlief im unteren Bett und du im oberen, und wenn eine von uns großen Kummer oder große Freude hatte, schliefen wir zusammen in einem Bett, bei Freude im oberen, bei Kummer im unteren, oder war es umgekehrt? Weißt du noch, wie oft du dachtest, du wärst schwanger, du wolltest schnell Erfahrungen sammeln, damit du in dieser Männerwelt dich als Frau behaupten lernst. Du sagtest: Macht ist eine Frage des Unterleibs. Oh Himmel, Sonja, du glaubtest fest daran, Mädchen, bis zu deiner ersten Abtreibung.

Und ich redete viel von Hingabe, hoffte auf den einen Richtigen, hatte infantile Phantasien vom Märchenprinzen, trotz aller Emanzipationsideale. Und tatsächlich, eines Tages kam er, Redford in einem altersklapprigen Golf, der mir als vergoldete Luxuslimousine erschien, Jazzliebhaber, heimlicher Dichter und mit einer Schwäche für westlichen Luxus. Oh, war ich hin! Wer sich das vorstellen kann, ein halbes Jahr gab es mich nicht mehr. Von wegen Befreiung, hast du gesagt, totale Unterwerfung, völlige Selbstaufgabe wegen dieser bescheuerten Orgasmen, die einen vergessen machen, dass eins und eins zwei und zwei weniger eins immerhin noch eins ist. An mich solle ich endlich wieder denken, ich müsse bestimmen, wann, wo und wie ich Lust empfangen wolle, täglich hundertmal solle ich ICH! schreiben.

Nicht ein einziges Mal hab ich Ich! geschrieben, nicht einmal ich gedacht hab ich, oh Himmel, ich war handzahm geworden, aber begriffen habe ich nichts, bis es kam, wie es mit so einer Geschichte eben immer kommen muss. Peng! hast du gesagt. Aus der Traum. Redford hat eine andere, dafür hast du dich wieder. Das ist nur gerecht. Lernen wir daraus, sagen die Pädagogen.

Weißt du noch, weißt du noch? Was wir alles wollten, nie heiraten, jede drei Kinder haben, zwei Mädchen und einen Jungen, oder doch lieber zwei Jungen und ein Mädchen, uns nie vor der Wahrheit fürchten, uns für unsere Überzeugungen einsetzen, nie Fett ansetzen, in jeden Zirkus gehen, einander ohne Parfüm riechen können, unsern Schülern ein tragfähiges Rückgrat anerziehen und ihnen ein Mundwerk bilden helfen, durch das die eigene Meinung findet ...

Ja, es ist etwas passiert, Sonja, eben das mit diesem Jungen, der auf diesem Baum sitzt, und ich kann nichts mehr begreifen. Ich will dir erzählen, was da vor sich geht, aber vorher muss ich dir noch sagen, wie ich lebe, wer und wie ich bin, oder richtiger: wie ich lebte, wer und wie ich war. Denn ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll und wer und wie ich bin. Und das alles, stell dir vor, wegen dieses dummen Jungen auf diesem Baum!

Weißt du noch, wie wir gefeiert haben, als wir unser Diplom bekommen hatten? Wir fuhren noch zusammen in die Ferien, zelten an der Ostsee, dann mussten wir an unsere Schulen, du zurück ins Thüringische, und ich blieb in der Stadt.

Ich kam in eine Schule, die sich vor Altersschwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte und sich mit Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit ein eisernes Stützkorsett angelegt hatte. Im Schulhaus und den Klassenzimmern roch es nach Rheumamittel, Baldrian und Knoblauch. Obwohl der Putz von den Wänden bröckelte und die Nässe bis in die oberen Stockwerke gestiegen war, glänzten das rissige Linoleum und die Fensterscheiben, und nirgendwo lag auch nur ein Schnippselchen Papier herum. Die Schüler blieben mir eigenartig gesichtslos, ich hatte Mühe, mir ihre Namen zu merken, und oft kam es zu Verwechslungen. Im Lehrerkollegium wurde ich "mein Mädchen" genannt, die Alten streichelten mir über die Haare, sie kochten Kaffee für mich und steckten mir Süßigkeiten zu. Ich fühlte mich ihnen gegenüber verpflichtet und auch schuldig, als würde ich sie insgeheim betrügen. Überhaupt kam mir unser Lotterleben im Internat wie ein Betrugsversuch an unseren Eltern vor. Ich war plötzlich wieder das Kind meiner Eltern, die mir mit ihrer besorgten Frage "Wie geht's?" sagten: "So geht's."

Es geriet ja gerade die Welt aus den Fugen damals im Herbst neunundachtzig. Wendezeit. Ich rief dich an, jeden Tag; aber du warst nicht zu erreichen. Ich wollte dich fragen, ob du wüsstest, was da eigentlich los sei? Am Anfang stand ich am Straßenrand und sah zu, wie die nicht enden wollende Menschenschlange durch die Stadt zog, manchmal stumm, ein andermal schreiend. Es wurde erwartet, dass auf sie geschossen würde, und doch gingen sie Montag für Montag diesen gemeinsamen Weg. Ich war fasziniert wie von einem Abenteuer, das wie ein Film vor mir ablief. Schauer kitzelten meinen Rücken, und so ein Prickeln war im Bauch und ein schwacher Schmerz hinter der Stirn. Da holten sie uns zusammen, junge Genossen, und sie sagten uns, was wir zu tun hatten: den Weltfrieden retten. Weißt du, eigentlich bin ich nur mitgelaufen, so lange ich denken kann, eben auch damals an diesen Montagabenden. Ich habe bei den Demonstrationen blind in die Menge fotografiert. Und ich habe irgendwelche Namen weitergemeldet, Müllers und Krauses. Ich habe niemand anrempeln können, und so bin ich selbst umgestoßen worden. Keine Ahnung, warum ich mich so verhalten habe. Oder doch? Vielleicht war ich feige. Vielleicht mutig. Und dann stand ich dir gegenüber. Meiner besten Freundin. So nahe waren wir uns noch nie. Und vor allem so weit voneinander entfernt. Die eine sah in der anderen die Verräterin. Ich wusste nicht, hattest du oder hatte ich den Verrat begangen. Ich war völlig durcheinander, und ich spürte nur Wut, ja Hass. Wir hatten doch beide fest an den Kommunismus geglaubt, die einzig mögliche menschenwürdige Gesellschaftsform, wie man uns gelehrt hatte. Bei den Vorbeimärschen an den Tribünen hatten wir im Chor der Tausende "Hurra!" gerufen. "Es lebe die Sozialistische Einheitspartei, die führende Kraft der Arbeiterklasse!"

Ich sagte dir doch, ich bin wohl immer nur mitgelaufen. Ich habe die Hand festgehalten, die mich mitzog. Selbstmitleid? Nein, nein, ich habe es ja gebraucht, irgendwie, die Berührung, das Führen lassen. Es hat mir nur niemand beigebracht, wie man wieder loslässt.

Die Wende passierte, ohne dass sich in mir wirklich was änderte. Ich wartete täglich auf ein tiefes Erschrecken oder eine überwältigende Freude; aber in mir passierte nichts, Sonja, ich musste mich nicht ändern, umstellen oder anpassen - ich blieb unverändert, nur das verunsicherte mich.

Ich zog wieder zu meinen Eltern. Abends dann, im Kinderzimmer, in dem die Puppen auf dem Regal saßen wie seit Ewigkeiten und hämisch auf mich herabgrinsten, habe ich versucht, dir zu schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich dir sagen wollte. Deine Briefe habe ich verbrannt. Ich hatte nicht den Mut sie zu lesen. Vielleicht würdest du mir etwas sagen, dass mein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Ich wollte aber keine Fragen hören. Ich brauchte eine Antwort, für meine Schüler, für mich selbst.

Ich trainierte das Vergessen, das Abschalten, verstehst du? Alles ist Training, alles, sage ich dir. Man muss nur die richtigen Zauberformeln kennen und sie oft genug aufsagen. Gestern und morgen ist jetzt. Zum Beispiel das. Oder das: Du bist wie ein Fels in der Brandung. Alles prallt von dir ab. Und so weiter. Bald war mir alles wieder so klar und einfach wie in meiner Kindheit, ich musste eben nur brav sein. Das Gefühl, wieder gutmachen zu müssen, eine alte Schuld zu begleichen, wurzelte wieder fest in mir. Ich bekam viel Lob, von meinen Eltern, von den Kollegen, ich wurde zu Lehrgängen geschickt, es hieß "Unsere Kleine macht sich", und ich fühlte mich gut, wirklich nicht schlecht, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich viel gelächelt, aber nie gelacht habe.

"Du bist gereift", sagte Vater und legte mir seine magere Hand auf die Schulter. Bestimmt zitterte ich und nicht er, und ich dachte: Ja, er hat recht, ich bin alt geworden. Und stell dir vor, ich war froh darüber, denn so war ich den Alten, die mich mochten und mir Sicherheit signalisierten, näher.

Eins kam zum anderen. Du, ich weiß, wovon ich rede, ich habe es erlebt, wie so etwas geht. Ich lernte einen Mann kennen auf meinem morgendlichen Weg zur Straßenbahn. Wir wären aneinander vorbeigegangen, wie bestimmt schon oft, wenn ich nicht gestolpert wäre und er mich nicht am Oberarm festgehalten hätte. Zufall oder Notwendigkeit, da war sie wieder, eine Hand, die mich hielt. Er hat den gleichen Vornamen wie Redford, Robert also, einssechsundachtzig, schlank, sportlich, Akademiker, mit Sinn für alles Schöne, ich weiß, das klingt wie aus einer Heiratsannonce. Nach drei Wochen waren wir verheiratet. Es geht uns gut, zum Glück, Robert konnte in seinem Betrieb bleiben, er hat sogar eine Leitungsposition übernommen. Das Geld reicht für Miete, Urlaub unter der Sonne, Ausgehen und was man sonst noch so braucht. Nein, Kinder haben wir keine, noch nicht, im Moment passen sie nicht in unser Leben. Ich weiß nicht. Ich weiß so vieles, was ich einmal sicher wusste, nicht mehr.

Es ist etwas passiert, Sonja, ich erzähle es dir sofort, ich will nur, dass du alles weißt, denn wem sonst soll ich es sagen, ich lebe in einer Welt voller Bekannter, du aber bist meine Freundin. Bist du es noch? Ich wünsche es mir so sehr.

Also die alte Schule wurde weggerissen und auf ihren Platz eine neue gebaut, fast über Nacht, wie im Märchen. Nur ein mächtiger alter Baum ist übrig geblieben, er steht mitten auf dem Schulhof, eine Kastanie, ich hatte ihn nie beachtet. Weißt du, es lief eben, man machte mich zur Direktorin der neuen Schule, Sonja, mich, stell dir vor. Wohl weil sie gerade niemand anders fanden, der bei gleicher Qualifikation politisch unbelastet war. Man fand ja jetzt im Osten fast bei jedem irgendwelche Leichen im Keller. Und wo keine waren, da trug man sie hinein. Aber ich war ja auch in der Partei gewesen und hatte mich Kommunistin genannt. Vielleicht brauchten sie mich als Beweis ihrer demokratischen Toleranz gegenüber der gestürzten sozialistischen Diktatur.

Ich wollte mich hineinknien, Sonja, ich wollte bestätigen, dass mir zu Recht vertraut wurde - aber da passierte etwas, das mir weder in die alte noch in die neue Schule zu passen scheint, eher in unsere Studienzeit, Sonja, dort gehört es vielleicht hin, ich erinnere mich nicht, dafür bist du zuständig.

Was ich erzählen will: Mein erster Tag in der neuen Schule, ich hatte die Nacht kein Auge zubekommen und stand schon kurz nach Sonnenaufgang auf dem Schulhof mit klopfenden Herzen und feuchten Handflächen. Ich versuchte durchzuatmen und sagte mir immer wieder: "Das schaffst du schon." Ich schaute zum Himmel auf, ob neuerdings nicht doch ein Täuberich mir freundlich zublinzelte. Aber der Himmel blieb leer, ein schmutziges Taubenblau, als hätte jemand, der längst weitergezogen war, eine alte Decke ausgebreitet, auf der Essenkrümel und Papierreste herumlagen. Es würde wieder ein schwüler Tag werden, schon jetzt war die Luft schwer zu atmen. Nichts Hilfreiches zu erkennen, ich würde mich also auf der Erde zurecht finden müssen - da bewegt es sich im Wipfel des Baumes, schaukelnd, als hätte soeben ein großer Vogel darin aufgesetzt. Bald aber kam Ruhe in die Baumkrone, ich glaubte schon, mich getäuscht zu haben, als das Auf und Ab der Zweige und Blätter erneut einsetzte und ich ein paar weiße Turnschuhe, nackte Beine, einen schwarzen Pulli und schließlich den Kopf eines Jungen entdeckte.

Da saß also ein Junge im Baum, was weiß ich, wie viel Meter über der Erde, hoch genug, um sich etliche Knochen, wenn nicht gar den Hals zu brechen.

Ich erschrak, zugegeben, weniger wegen dem, was dem Jungen passieren konnte, vielmehr, was mit mir geschehen würde, wenn er nicht heil von da oben herunterfände. So eine Situation war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte darüber nie etwas gehört und gelesen, was sollte ich tun? Der Junge musste vom Baum, bevor Lehrer und Schüler kamen.

"Du", sagte ich, "du da oben." Ich sprach wie zu einem Schlafwandler, den man nicht wecken darf, wenn er auf den Dächern spazieren geht.

Aber da oben regte sich nichts. "Hallo", sagte ich etwas lauter. "Hörst du mich?"

Ich bekam keine Antwort, die Zweige und Blätter im Wipfel zitterten nur kurz. Der Straßenlärm wurde lauter, durch eine Häuserschlucht blendete mich das Sonnenlicht, ich fühlte, wie ich meine frische Bluse verschwitzte, ich verspürte das Bedürfnis zu weinen, jemandem um den Hals zu fallen, meinen Kopf an seine Brust zu lehnen, drauflos zu heulen.

"Bitte", sage ich. "Du, ich sehe dich doch da oben. Komm herunter, und langsam, und sieh nicht nach unten, du brauchst keine Angst zu haben."

Und ich stellte mich unter den Baum und breitete tatsächlich das Ende meiner Bluse aus, als könnte ich den Jungen darin auffangen. Zugleich war mir bewusst, dass der Junge auf dem Baum bleiben würde, er wollte oder konnte mich nicht hören, da kam etwas auf mich zu, von dem ich keine Ahnung hatte. Auf alles war ich vorbereitet worden, sogar auf den Abwurf einer Atombombe, nur eben nicht darauf, dass ein Junge im Schulhof auf einem Baum sitzt.

Liebe Sonja, weißt du noch, was Grützner uns lehrte als oberstes Gebot für einen Lehrer: "Niemals die Fassung verlieren." Wir sollten uns das vorstellen wie bei einer Glühlampe, käme die aus der Fassung, sei es ringsum zappenduster. Wir nannten ihn "Rotlicht", weil er jede Rede mit "Die Partei meint ..." begann und ein bedingungsloser Dogmatiker war, aber auch wegen seiner Vergleiche aus der Elektrotechnik, denn er liebte es wohl mehr, sich in komplizierte Schaltungen zu vertiefen als uns in Psychologie zu unterrichten.

Du, ich bin außer Fassung, und das Unglaubliche ist eingetreten, ich stehe nicht im Dunkeln, ganz im Gegenteil, ich sehe mehr Licht als je zuvor, verschiedene Strahlen sozusagen, die von hier und da aufblitzen, dass es mich dreht, bis mir schwindlig wird. Ich sehe Sterne, Sonja, am helllichten Tag, es ist verrückt. Aber lass dir erzählen, was weiter passierte, ich befürchte ohnehin schon, dass ich mich dir nicht verständlich machen kann, denn ich begreife mich selber nicht.

Der Junge kam nicht vom Baum herunter, Lehrer und Schüler standen inzwischen auf dem Schulhof und schauten nach oben. Ich sah sie innerlich grinsen in dieser Art Schadenfreude, die ich von mir selbst kenne, wenn ich beobachte, wie einer, der es allzu eilig hat, über seine eigenen Füße stolpert. Ich wusste genau, was sie dachten: Mal sehen, wie die Kleine damit fertig wird. Ich glaube, ich habe geschrien, zum ersten Mal in meinem Leben.

"Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"

So hilflos, so allein, so verlacht habe ich mich selten gefühlt, es war wie in einem Traum, wenn man plötzlich nackt vor all den Leuten steht.

Ich lief in mein Zimmer und suchte die Telefonnummer von Roberts Betrieb heraus, wählte sie, sagte meinen Namen und dass ich meinen Mann sprechen möchte. Als ich seine Stimme hörte, selbstbewusst und klar - "Hier Wendisch" -, legte ich den Hörer auf. Von der alten Schule aus hatte ich ihn nie angerufen, mir wäre nicht der Gedanke gekommen, ihn zu stören. Er arbeitet als Ingenieur im Fernmeldeamt, und seit wir uns kennen, meint er, er stünde kurz davor, mit einem Verstärkersystem den Weltmarkt zu erobern. Er sagt, wir hätten beide wichtige Aufgaben zu erfüllen, wobei wir uns nicht stören sollten, am Abend dann könnten wir über alles reden.

Ich erkundigte mich nach dem Jungen auf dem Baum, er heißt Hans Schorn, ist vierzehn Jahre alt, geht in die achte Klasse, hat einen Zensurendurchschnitt von zweikommaacht und ist bisher in keiner Weise auffällig geworden. Oh Himmel, Sonja, das klingt wie ein Polizeibericht, aber mehr wissen wir oft nicht voneinander, und nun weiß ich, dass das nicht reicht. Erinnerst du Dich noch an Frau Palluschke, diese Riesendame mit dem Milchkuhbusen, tortensüchtig und asthmatisch, sie unterrichtete in Vertretung Philosophie, wir nannten sie "Kügelchen" und erledigten in ihrem Unterricht die Hausaufgaben für andere Fächer. Also Kügelchen - jetzt fällt mir so manches wieder ein -, sie sagte einmal in der Pause: "Es ist unmöglich, sich wissend zu machen, wenn es einem an Glauben fehlt."

Sonja, du, ich habe Angst, dass es mir an Glauben fehlt und dass ich darum nicht ein noch aus weiß. Ich denke, man hat uns eine Menge gelehrt, nur nicht, wie man daran glauben kann, davon war nie die Rede. Aber die Geschichte von dem Jungen auf dem Baum verlangt Glauben, das Wissen darum lässt mich allein.

Also ich wusste, dass der Junge Hans Schorn heißt. Sein Klassenlehrer ist Herr Hausmann, ich kenne ihn von der alten Schule her, dort gehörte er zu den lieben Alten, die mich "mein Mädchen" nannten. In der neuen Schule ist er inzwischen ein anderer geworden; aber ich kann mir kein Bild von ihm machen, es ist so, als ließe er das nicht zu. Hausmann steht kurz vor der Pensionierung, er ist der Einzige von den Alten in der neuen Schule, und mir war anfangs so, als hätten sie ihn mir als Vaterfigur mitgegeben, damit ich jederzeit weiß, woran ich bin.

Als der Junge auch in den nächsten Tagen auf den Baum kletterte und Minuten bis Stunden auf ihm verbrachte, ließ ich mir den alten Hausmann in mein Zimmer kommen.

Ich hatte mich geschminkt und zurechtgesetzt, ich hielt den Kugelschreiber in der Hand, und ein Blatt Papier lag vor mir auf dem Schreibtisch. Ja, ich war aufgeregt, wie sollte ich reagieren, wenn er "mein Mädchen" zu mir sagen würde. Aber es kam anders, ich bekam Wut, ja Hass auf ihn, wie er so vor mir stand. Du musst dir einen Riesen vorstellen mit Gicht und Rheuma, was weiß ich, im grauen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Binder, alles zerknittert, die Hände auf dem Rücken, den schweren Kopf gesenkt und so ein Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Er erinnerte mich an meinen Vater und all die Männer, die seine Rolle übernommen haben, die sich mir immer stark zeigten und scheinbar das Richtige zu sagen wussten. Nur, dieser Hausmann zeigte mir noch eine andere Seite von sich, die mir bisher verborgen geblieben war, eine schwache Seite, gebrechlich und müde. Vielleicht war er nur ehrlich, aber gerade das verzieh ich ihm nicht, denn so sehr ich manchmal unter der Allwissenheit und Unangreifbarkeit meines Vaters gelitten habe, unsicher, vielleicht gar schwach wollte ich ihn nicht sehen.

Ich ließ Hausmann stehen wie einen Schuljungen, der Autorität zu spüren bekommen muss. Ich warf ihm vor, dass Hans Schorn, der mit seinem disziplinlosen Verhalten die Schule in Verruf bringen würde, sein Schüler sei, und ich fragte ihn, wie lange er sich den Vorgang noch mit ansehen wolle. "Bringen Sie das schnellstens in Ordnung!" sagte ich ihm. Er ging aus meinem Zimmer ohne Gegenwehr, ich schämte mich, begriff nicht warum, und wusste, dass die neue Schule nicht einfach nur ein neuer Anfang war. Ich trat an das Fenster und sah auf den Schulhof, der Baum zeigte das einzige Grün weit und breit, der Junge saß nicht darin, es war Hofpause, ich wünschte mich in eine Gruppe Mädchen der achten Klasse, die in einem Kreis zusammenstanden.

Ach, Sonja, es ist gut, dass es dich gibt, dass ich weiß, du wirst diese Zeilen lesen. Weißt du noch, weißt du noch? Ich befinde mich wie in einem Zug, der mich fährt, irgendwohin, und ich erinnere mich einer Traumhaltestelle, wo der Sommer so lang war, so warm und so bunt, dass ich glaubte, er muss ewig dauern. Mir fällt auf, dass ich beim Schreiben lange Sätze bilde, ich fürchte mich, einen Punkt zu setzen, bevor ich begreife, was an meiner Schule passiert.

Ich bin ja so klug, Sonja, dass es mir oft weh tut. Ich weiß vielleicht manches, habe aber wenig begriffen. Der Körper, nun ja, der ist so weit in Ordnung, der Geist, er arbeitet einigermaßen - aber die Seele, Sonja, mit der Seele hatten wir doch nie etwas zu tun. Dachten wir. Auch jetzt ist das so. Aber sie ist da, dieses unsichtbare Fädchen zieht wie die Spinne ein Netz um uns und lässt uns zappeln.

Jeden Tag geschieht so viel Schlimmes, und ich bedaure es pflichtgemäß, aber es tut mir nicht wirklich leid. Wenn ich lachen muss, so sagt mir das mein Denken, verstehst du, es überrascht mich nicht. Und Robert, mein Mann - ob ich ihn liebe? Was ist das eigentlich - Liebe? Wenn ich dich das frage, schäme ich mich. Es ist, als würde ich mir damit selbst alle Rechte zum Leben entziehen. Warum nur kann ich an nichts glauben? Warum nur?

Denkst du manchmal noch an Doktor Schindler, der ein Semester lang unser Schwarm war, groß, schlank, dunkelhaarig, traurige braune Augen und schmale weiße Hände? Er trug maßgeschneiderte Anzüge und kam auf einem uralten klapprigen Fahrrad in die Hochschule. Sein Spitzname war Sensibelchen, aber wir nannten ihn Felix Krull, er unterrichtete Deutsch und Literatur und mühte sich, uns Ahnungslosen die Werke von Thomas Mann nahezubringen. Vom Zauberberg und den Buddenbroocks weiß ich nicht mehr viel, aber ich mag noch immer Schachtelsätze, die den Leser nicht aus der Geschichte lassen. Also wenn ich mich richtig erinnere, hat Doktor Schindler einmal sinngemäß gesagt: Du musst Läufer sein. Das ist Bestimmung. Entweder du läufst in eine Gruppe hinein und löst dich in ihr auf, oder aber du rennst ihr davon und sitzt in dir selbst gefangen. In beiden Fällen kann dir keiner zu nahe kommen.

Ich glaube, der Mann war sehr allein, damals konnte ich mir das nicht vorstellen, heute aber doch, denn ich bin mitten in der Gruppe, zum Alleinlaufen und Davonrennen habe ich nie Lust verspürt oder den Mut aufgebracht.

Zugegeben, ich lenke von meiner Geschichte oder von dem, was ich dir erzählen will, ab, ich komme dir mit Erinnerungen, Sprüchen und Bildern.

Also weiter, weiter. Der Junge, Hans Schorn, kletterte plötzlich nicht mehr auf die Kastanie, er war zwischen den Jungen und Mädchen verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Also hatte Hausmann ihn sich vorgenommen, und der Erfolg gab mir recht. Aus und vorbei die Angelegenheit, dachte ich, und atmete tief durch, mir war, als hätte mir eine Gefahr gedroht, der ich gerade noch einmal entkommen war. Der Junge auf dem Baum, verrückt, ich wollte schnell vergessen und stürzte mich in die Arbeit, die mir kaum eine Pause gönnte, was mir ganz recht war. An den Abenden überredete ich Robert zu Kinobesuchen, so oft kamen wir sonst das ganze Jahr nicht von zu Hause weg. Anschließend gingen wir Essen oder bummelten durch die Innenstadt, bis ich dann nur noch schlafen wollte. Zum Wochenende setzten wir uns ins Auto und fuhren über vierhundert Kilometer bis zur Ostsee, sahen von der Warnemünder Mole auf die See, die wie ein Dorfteich vor uns lag, verbrachten die Nacht in einem Strandkorb oder im Auto, und am nächsten Tag rasten wir auf der Autobahn zurück. Und doch war es schön, ich kann nicht sagen warum, vielleicht weil nichts geplant war.

"Was ist los mit dir?", fragte mich Robert schließlich, er hatte sich meinen Wünschen widerspruchslos gefügt, aber ich spürte, er war beunruhigt und misstrauisch, so kannte er mich nicht.