Julia - Gunter Preuß - E-Book

Julia E-Book

Gunter Preuß

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Beschreibung

Julia ist zauberhaft! Von den Mädchen wird sie beneidet, von den Jungen begehrt. Doch plötzlich ändert sich alles: Der vertraute Lehrer Geht, eine neue kommt; in der Klasse brodelt's. Zu Hause streiten sich die Eltern. Pit, der gute alte Freund kapselt sich ab. Und da ist noch der gutaussehende Werner, den alle Mädchen anhimmeln… Julia ist voller Unruhe, und eine unbekannte Sehnsucht verwirrt sie. Wie wird sie sich entscheiden?

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Gunter Preuß

Julia

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

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19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

Impressum neobooks

1.

Es war ein hochsommerlich heißer dritter Septembermorgen. Julia schlief noch. Sie hatte das Klingeln des Weckers nicht gehört. Als von der Straße her ihr Name gerufen und dreimal anhaltend schrill gepfiffen wurde, erwachte sie. Im ersten Moment glaubte sie, noch im Zelt zu liegen. Sie griff automatisch links neben sich, um ihre Mutter zu wecken; aber sie fand nur Romeo, ihren großen plüschenen Bären.

»Julia! - Julia, bist du noch da?! Antworte doch! - Juliaaa!!« Pit!, erinnerte sich Julia. Heute ist der dritte September. Erster Schultag. Du liegst in deinem Bett. Nicht im Zelt. Was so gewaltig rauscht, ist nicht die Ostsee, sondern die Stadt.

Julia sprang auf, zog eilig die Gardine zurück und beugte sich aus dem Fenster. Fünf Meter unter ihr stand Pit zwischen den zur Arbeit hastenden Menschen. Der gute alte Pit - Lederhosen, enger Seemannspulli, kräftige Gestalt, das Haar kurz und schwarz - struppig, ruhige Augen in dem etwas breiten gutmütigen Gesicht.

»Grüß dich, Pit!«

»Morgen. Julia.« Pit lächelte verlegen, als er Julia in ihrem dünnen Nachthemd sah.

»Drei Sekündchen, Pit! Bin sofort unten!«

Julia mochte Pits Schüchternheit ihr gegenüber. Sie liebte nicht die prahlerischen, oft anzüglichen Reden und Blicke der Jungen ihres Alters. Sie rannte singend in die Küche, fand neben der Flasche Milch und ihren Broten einen Zettel: Viel Glück zum Schulanfang! Mutsch

Julia musste lachen. Mutters Glückwunsch klang so, als würde für sie das erste und nicht das achte Schuljahr beginnen. Sie stellte das Radio auf volle Lautstärke, nahm einen Apfel, duschte kalt, aß dabei und dachte daran, dass Herr Rohnke, ihr Klassenlehrer, nun wieder mit Strenge und Disziplin über ihre Zeit gebieten würde. Aber es war gut so, dass nun wieder alles auf Hochtouren laufen sollte. Die Faulenzerei war ihr in den letzten Ferientagen langweilig geworden.

Julia stellte sich nackt vor den Spiegel und freute sich über ihre dunkle Bräune, die sie viel Sonnenöl und Schweiß gekostet hatte.

»Julia! Wir kommen zu spät! Juliaaa!«

Sie kämmte ruhig ihre weit über die Schultern fallenden braunen Haare, lachte über das ungeduldige Pfeifen, rundete ihren Mund und sagte: »P-i-t ...«

Schnell zog sie sich an, rannte, ihre Tasche unterm Arm, aus der Wohnung. Auf halber Treppe musste sie noch einmal umkehren. Sie hatte vergessen, die Wohnungstür abzuschließen.

»Na endlich! Los schon! Wir müssen spurten! Bei dir sagt Rohnke nichts, wenn wir zu spät kommen. Aber ich darf mir was anhören.«

Julia hatte sich die Begrüßung anders vorgestellt. Manchmal, wenn sie mit ihren Eltern abends am Strand gesessen hatte und der Mond auf den Wellen entlangglitt, hatte sie sich ausgemalt, wie Pit ihr am heutigen Morgen eine Blume überreichen würde. Als sie dann im Bett lag und der ganze Mondscheinzauber vorbei war, hatte sie darüber lächeln müssen.

Nun rannten sie die Elsbethstraße hinunter. Die Sonne hieb heiß auf sie herunter.

An der Kreuzung stauten sich die Autos. In der Ferne ertönte ein Sirenenlaut, schnell näher kommend. Eine Straßenbahn hielt kreischend. Neben ihnen schrie ein Junge. Eine Frau lachte. Die Schornsteine der Brauerei stießen wieder ihre schwarzen Abgase ins Viertel. Und für den Bruchteil einer Sekunde konnte man einen Sperling tschilpen hören.

Die große Stadt! Julia war froh, dass sie wieder hier war, und es tat ihr gut zu rennen. Sie dachte daran, was Pit eben über Herrn Rohnke gesagt hatte. Irgendwie hatte Pit nicht unrecht, wenn er sich in letzter Zeit vernachlässigt fühlte. Julia hatte manchmal das Gefühl, dass Herr Rohnke sich um Pit nicht mehr genügend kümmerte. Pits Leistungen lagen weit unter dem Klassendurchschnitt. Es war fraglich, ob er die 8. Klasse schaffen würde.

In letzter Zeit hatte Julia öfter über Pit nachdenken müssen. Warum war er so verschlossen und schwer zugänglich. Sie sagte sich aber schnell: Alles würde wie immer gut gehen. Auch mit Pit. Herr Rohnke hatte es immer geschafft.

Für Julia und die 8b war Herr Rohnke so etwas wie ein Hexenmeister, der nicht nur traumhaft sicher mit Zahlen und Worten umgehen konnte und im Sportunterricht ein As war, der auch, wenn die Klasse etwas angestellt hatte, alles wieder in Ordnung brachte.

2.

Am Ende der Elsbethstraße, entfernt vom Lärm der Hauptstraße, liegt die Schiller-Oberschule, ein großes putzbröckliges Gebäude. Zur Straße hin stehen vor dem Fenster drei mächtige Kastanien, die den jüngeren Kindern als Klettergerüst und den Sperlingen als Versammlungsort dienen. Zur anderen Seite des Gebäudes dehnt sich der grasbewachsene Schulhof, in dessen Mitte sich ein Fahnenmast wie ein gutmütig drohender Zeigefinger erhebt.

An den Schulhof grenzt die Kleingartenanlage »Heuweg«, Die nahe gelegenen Gärten werden von den Schülern der Schiller-Oberschule fleißig und unentgeltlich abgeerntet. Daraufhin greifen alle Jahre wieder die Kleingärtner zu Feder und Papier und beschicken die Direktion der Schule und die zuständige Polizeistelle mit Beschwerdebriefen und Anzeigen.

Als Julia und Pit atemlos das Schulgebäude erreichten, hingen noch ein paar verspätete Kletterer in den Kastanien. Jemand rief: »Der Pit und die Jule, die komm' zu spät zur Schule!«

Pit war stehengeblieben. Er schaute gegen das Licht in die Kronen der Bäume.

»Nun komm schon!« drängelte jetzt Julia. »So was hört man doch gar nicht.«

Pit hatte seinen kleinen Bruder Olaf erkannt, der in der Spitze eines Baumes wippte.

Pit wölbte die Hände vor dem Mund und rief: »Olaf Komm sofort herunter!«

Die Antwort war ein Hagel von Kastanien. »Lass ihn doch sitzen!«, rief Julia ärgerlich. »Es wäre das erste Mal, dass er auf dich hört.«

Pit schaute hilflos zu Julia, dann zu seinem Bruder.

»Von mir aus klettere zu ihm hoch und lege ihn trocken!«

Julia lief wütend in die Schule und erreichte noch vor Herrn Rohnke das Klassenzimmer.

Sie ärgerte sich über Pit, wie immer, wenn er sich ihren Wünschen widersetzte.

Die 8b begrüßte Julia mit »Hallo!«

Liebscher schien gerade eine Episode aus seinen Ferienerlebnissen zum Besten gegeben zu haben.

Ellens Blicke hingen noch bewundernd an Liebschers schmalen Händen, die durch ihre beschwörende Gestik seinen Erzählungen große Lebendigkeit verliehen. Schon seit dem Kindergarten war Ellen Julias Freundin. Ellen hatte immer etwas zum Schwärmen gebraucht. Erst war es ein luxuriöser Puppenwagen gewesen, dann ein roter Luftroller, ein Sportrad, später dann war es ein Jugendbild des französischen Filmschauspielers Alain Delon, und nun war es seit einem Jahr Liebscher. Ellen hatte Julia gestanden, dass sie in Liebscher »völlig weg« war. Ellen glaubte, dass ihr neuer Schwarm ihr großes Geheimnis war, dabei wusste die ganze Klasse davon, aber niemand witzelte darüber. Pele hatte es einmal versucht, da hatte Liebscher ihn in einen seiner Judogriffe genommen, einen Armhebel. Pele hatte vor Schmerz aufgeschrien und um Entschuldigung gebeten.

Als sich Julia neben Ellen setzte, fiel die Freundin ihr um den Hals.

»Grüß dich, Julia! Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen! Findest du nicht auch? Erzähl schon, wie war es an der Ostsee? Bei mir war's langweilig. Dresden. Mein Vater schleifte uns von einem Museum ins andere. Abends waren wir vielleicht kaputt, kann ich dir sagen ... «

Auch Julia freute sich, Ellen wiederzusehen.

»Beträufelst du dich neuerdings etwa mit Parfüm?« fragte Julia.

»Parfüm? Nur mal probiert. Nur einen Tropfen. - Java!«, flüsterte Ellen. Sie verdrehte ihre großen grauen Augen; dann fuhr sie sich verlegen mit den Händen durch ihr kurzes blondes Haar, das einen von allen Mädchen beneideten Glanz hatte.

»Na, Schönste?«, rief Liebscher jetzt zu Julia. »Ist unsere knusperbraune Südseekönigin wieder im Sachsenlande««

Erst jetzt bemerkte Julia, dass die Jungen sie lächelnd ansahen und die Mädchen neidisch guckten.

Liebscher stellte einen Fuß auf seinen Stuhl, imitierte eine Gitarre in seinen Armen, sah sie herausfordernd an und sang: »Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Julia seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ... «

Affe!, dachte Julia. Und doch fühlte sie sich geschmeichelt. In Liebscher waren fast alle Mädchen der Klasse ein bisschen verliebt. Julia machte sich manchmal vor den anderen Mädchen lustig über ihn und seine Verehrerinnen, sagte, dass Liebscher aussähe wie in einer Filmfabrik produziert. Dann sagte sie unter dem Gekicher der Mädchen Liebschers Merkmale wie ein Rezept auf: »Man nehme einen sportlich schlanken Körper, groß und gut durchwachsen, dazu einen schmalen Kopf, gepflegte schwarze Haare, braune Augen, einen schmalen Mund und zwei Portionen Verstand, schüttele alles dreimal kräftig durcheinander, stelle es eine halbe Stunde in die Sonne - und man hat einen gut aussehenden, gebräunten Werner Liebscher, Klassenbester und Lehrer Rohnkes Lieblingsschüler.«

Liebschers Ständchen wurde durch das Schrillen der Klingel und durch das Eintreten Rohnkes unterbrochen.

Liebscher sprang auf seinen Platz und hatte jetzt nur noch Augen und Ohren für Herrn Rohnke.

Auch alle anderen standen erwartungsvoll. Das achte Schuljahr würde ein entscheidendes Jahr werden.

Julia wollte bis zum Abitur in der Schule bleiben und später Pädagogik studieren. Das war noch ein weiter und mühsamer Weg. Doch sie war überzeugt: Mit Herrn Rohnke war das zu schaffen.

Herr Rohnke lief mit langen energischen Schritten zu seinem Tisch, auf den die Mädchen einen Strauß bunter Astern gestellt hatten.

»Guten Morgen, Freunde!«, sagte der Klassenlehrer mit Bassstimme, die eigentlich gar nicht zu seinem schlanken, durchtrainierten Körper passte.

Die Klasse donnerte ein »Guten Morgen, Herr Rohnke!«, zurück.

Herr Rohnke packte seine Unterlagen aus. Er kam immer sorgfältig vorbereitet zum Unterricht. In seiner heutigen ersten Stunde unterrichtete er Geschichte.

Julia freute sich auf diese Stunde. Geschichte war bei Rohnke besonders interessant und spannend. Es war immer ein Ausflug in die Vergangenheit, bei dem der Lehrer sich und die ganze Klasse in die aufregendsten weltgeschichtlichen Abenteuer stürzte. Als sie die Französische Revolution von 1789/94 behandelt hatten, waren nach dem Unterricht alle erschöpft gewesen, als hätten sie selbst mit Robespierre, Marat, Danton und dem Volk von Paris um Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft.

»Legt mal die Bücher noch einen Moment zur Seite«, sagte Herr Rohnke. »Ihr wisst, ich bin kein Freund von großen Vorreden, aber zu Beginn dieses für alle wichtigen Schuljahres will ich euch zwei, drei Sätze sagen.«

Herr Rohnke nahm die Blumen von seinem Tisch, sie störten ihn beim Sprechen. Er liebte nichts Unnützes, nichts, was ihn hätte ablenken können, auf seinem Arbeitsplatz.

Liebscher hatte Herrn Rohnkes Unwillen erkannt, war aufgesprungen, nahm ihm die Blumen ab und sagte laut zu den Mädchen gewandt: »Gemüse!« Er stellte die Blumen in die äußerste Ecke unter ein Fenster.

Herr Rohnke nickte Liebscher zu und schnürte sich den lästigen Binder vom Hals. Für gewöhnlich trug er karierte Sporthemden, dunkle Manchesterhosen, eine abgetragene Wildlederjacke und Sommer wie Winter eine lederne Schildmütze, die sein lichtes Haar vor Hitze und Kälte schützen sollte. Seine Kleidung und sein strenges, eckiges Gesicht mit den prüfenden Augen ließen nicht den Lehrer vermuten. Eher dachte man an einen Jockei oder an einen Kriminalkommissar.

Der Lehrer steckte den Binder in die Tasche seiner Lederjacke, und er lächelte, als er merkte, dass die Klasse amüsiert diesen Vorgang beobachtete.

»Na, dann wollen wir mal«, begann er. »Übrigens - wo ist Pit Janko?«

Die Klasse schwieg.

»Julia, weißt du etwas?« Herr Rohnke sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.

Julia überlegte. Sollte sie erzählen, dass Pit wahrscheinlich auf die Kastanie gestiegen war, um von dort seinen Bruder Olaf herunterzuholen? Herr Rohnke würde sich nur wieder über Pit ärgern. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.

Liebscher sah Julia vorwurfvoll an. Sein Blick befahl: Nun Julia, sag endlich etwas.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Julia atmete auf. Es war Pit, der schmutzig und verschwitzt, mit Laub behangen und eine Kratzwunde im Gesicht, ins Klassenzimmer trat.

Herr Rohnke musterte ihn kurz und sagte: »Du hast wohl deine Ferien im Urwald verbracht?«

Die Klasse lachte.

Pit wollte eine Entschuldigung vorbringen, aber Herr Rohnke forderte ihn auf: »Setz dich. Du störst den Unterricht.«

Julia fand es ungerecht, dass Pit nicht erklären durfte, warum er zu spät kam. Sie hatte das Gefühl, dass es den Lehrer nicht interessierte, was Pit ihm sagen wollte.

Sie knuffte Pit, der eine Reihe vor ihr saß, in den Rücken und flüsterte: »Red doch! Sag schon was! Bist doch nicht zum Spaß auf den Baum gestiegen!«

Julia wusste, es war bei Pit keine Feigheit, dass er sich wortlos auf seinen Platz gesetzt hatte. Es war ihr unverständlich, dass Pit sich oft von seiner Umwelt absperrte.

Pit machte noch einen Versuch zu sprechen, aber Herr Rohnke bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.

Der Lehrer hatte begonnen, mit Leidenschaft und Begeisterung, die sich bald auf die Klasse übertrugen, seine Unterrichts- und Leistungsziele für die 8b vorzutragen. Den Klassendurchschnitt, der auf 1,8 stand, wollte er auf 1,5 verbessern. Er sprach mit jedem der Schüler, sagte, in welchen Fächern noch mehr als bisher zu tun wäre. Das alles schien für jeden klar und leicht erreichbar. Rohnke demonstrierte es ihnen vor wie eine Mathematikaufgabe, deren anfänglicher Schweregrad bei seiner Erklärung zu einer einfachen Additionsaufgabe zusammenschrumpfte.

Auch Julia war bald von Rohnkes Eifer und Bestimmtheit gefangen, da gab es keinen Zweifel mehr, nur noch klares Ja und Nein, und es machte Spaß, sich seinen Forderungen unterzuordnen.

Jetzt war Herr Rohnke bei Julia angelangt. Sie hörte gespannt, was er ihr zu sagen hatte. »Julia, dein Hauptkampfgebiet wird die Mathematik sein. Halte dich da an Liebscher. Er kann dir viel beibringen. Eine Eins ist drin!«

Herr Rohnke war schon beim nächsten. Julia bemerkte, dass Liebscher sich umdrehte und lächelnd zu ihr sah.

Sie tat, als hätte sie außerhalb der Fenster, hinter dem Schulhof in den Gärten etwas Wichtiges entdeckt. Es machte sie nervös, wenn Liebscher sie so ansah.

Der Name »Janko« fiel.

Pit!, dachte Julia. Was wird Herr Rohnke zu ihm sagen?! Sie blickte auf Pits breite Schultern, über die sich der blauweiß gestreifte Pulli spannte, die sich nun abwehrend nach oben zogen.

Herr Rohnke schaute Pit an. Pit sah an ihm vorbei. Der Lehrer runzelte ärgerlich die Stirn. Er holte geräuschvoll Luft und sagte nur: »Tja, Nun, wir werden sehen ... «

Herr Rohnke rief Gerda Munkschatz auf, die neben Pit saß. Pit hatte alle seine Muskeln fest anspannen müssen, um nicht zusammenzuzucken oder aufzuspringen, als der Lehrer ihm nichts zu sagen wusste.

Julia hatte für Pit ein Wort erhofft, das ihm für dieses Jahr Mut gemacht hätte; obwohl Herr Rohnke im vergangenen Schuljahr eine Menge Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte.

Für Julia hatten Rohnkes Worte wie eine vorzeitige Verabschiedung Pits aus der 8b geklungen.

Pit versuchte, wieder ruhiger zu werden und sich auf die bunte Glaskugel in seinen Händen zu konzentrieren, die Olaf ihm vorhin in dem Wipfel der Kastanie geschenkt hatte, um einer Strafpredigt seines großen Bruders zu entgehen.

Der Unterricht begann.

Der Lehrer eröffnete mit Vehemenz die Schlacht bei Waterloo, und bald befand sich die 8b mitten im Kriegsgetümmel. Blücher, Wellington und Rohnke gelang es, die preußischen und britischen Truppen und die 8b zum endgültigen Sieg über Napoleon I. zu führen.

Julia war diesmal nicht so recht dabei. Sonst stand sie bei solchen Auseinandersetzungen immer an vorderster Front, wo es am heißesten herging. Sie sah Pit vor sich sitzen, als hätte er sich in seine Schultern eingesperrt.

Sie war froh, als die Klingel eine Pause ankündigte.

3.

Die 8b scharte sich um Liebscher. Alle außer Julia und Pit waren von dieser ersten Geschichtsstunde begeistert.

Liebscher rief: »Das könnt ihr mir glauben, Leute, so einen Lehrer wie Herrn Rohnke gibt es nicht wieder!«

Pele stöhnte: »Für die nächste Stunde bin ich schon geschafft.«

Ellen nahm zwei Äpfel aus ihrer Tasche, in der alles ordentlich seinen Platz hatte. Sie nahm den größeren, sonnengelben Apfel und warf ihn Liebscher zu.

Julia saß nachdenklich auf ihrem Tisch. Ihre linke Hand drehte unruhig die Spitze ihrer Haare, und in der rechten Hand hielt sie ihr Frühstücksbrot. Sie hatte keinen Appetit. Sie war enttäuscht von Herrn Rohnke, von Pit, von der 8b. Und von sich. Hatten sich alle schon damit abgefunden, dass Pit die achte Klasse nicht schaffen würde?

Julia war aufgeregt. Was sollte sie tun? Sollte sie aufspringen, ins Lehrerzimmer rennen und Herrn Rohnke sagen: Haben Sie es nicht bemerkt? Es ist etwas passiert! Jetzt eben. In Ihrem Unterricht. Mitten in der Schlacht bei Waterloo!

Ellen rief: »Komm her, Julia! Hör dir das an! Da ist Werner etwas passiert in Bulgarien!«

Julia winkte ab. Bulgarien! Liebscher war mit seinen Eltern drei Wochen in Nessebar gewesen. Er hatte Julia eine Karte geschickt, auf der das lichtblaue Meer zu sehen war. Also in Nessebar war etwas passiert. Dafür interessierten sich alle. Und dass hier etwas passiert war, hier, in der eigenen Klasse - das merkte keiner!

»Geht es dir nicht gut, Julia?«, fragte Liebscher. »Wie war es eigentlich bei dir? Hast du dir einen angelacht an der Ostsee? Einen flotten Matrosen? Oder einen alten Seebären?«

»Lass sie doch in Ruhe damit«, sagte Ellen.

»Misch du dich nicht ein«, entgegnete Liebscher.

Julia trat zu Pit ans Fenster. Pit lehnte weit nach draußen, als wollte er so weit als möglich weg vom Klassenzimmer.

Auf dem Schulhof machte eine erste Klasse mit viel Geschrei Pausengymnastik. Den dicken Lehrer konnte man hier im ersten Stock noch schnaufen hören. Drüben, im Gartenverein »Heuweg«, stieg eine Rauchsäule steil in den Himmel.

»Es wird Herbst«, sagte Pit. Er biss in einen Apfel, dass er knackte. »Die Heuweger beginnen schon, das Laub zu verbrennen.«

Er fühlte, dass Julia mit ihm über das kommende Schuljahr reden wollte. Doch darüber wollte er nicht sprechen, am allerwenigsten mit Julia, vor der er sich wegen seiner schlechten schulischen Leistungen schämte. Julia war eine der Besten der Klasse, ihr fiel das Lernen leicht, überall hatte sie Erfolg.

Pit warf den Apfelrest bis an das Ende des Schulhofs. Er fragte: »Wie waren die Ferien? Bist ja toll braungebrannt.«

»Sieh mich nicht so an«, sagte Julia. Sie dachte: Jetzt hat er mich angesehen wie Liebscher. Oder war es nur ihr Ärger, der sie das denken ließ?

Sie ging zu Liebscher und den anderen und sagte mitten in das Gespräch hinein: »Es ist also beschlossene Sache, dass Pit die achte Klasse nicht schaffen wird!«

Das Gespräch brach augenblicklich ab. Nach einer Weile sagte Pele: »Sag mal, spinnst du? Hast du an der See verdorbenen Fisch gegessen oder was ist?«

Gerda Munkschatz, die immer dabei war, wenn sich etwas gegen Julia richtete, warf ihr vor: »Du willst dich doch nur wieder interessant machen! Sie will die Hauptrolle spielen in diesem Jahr! Julia sucht ihren Romeo!«

Gerda Munkschatz sah dabei zu Liebscher, und sie verzog ihr breites, sommersprossiges Gesicht zufrieden, als sie sah, dass einige zustimmend lachten.

Julia achtete weder auf Pele noch auf Gerda Munkschatz. Sie sah Liebscher fest an, und es fiel ihr sehr schwer, zu sagen: »Ich glaube, Herr Rohnke hat in der vergangenen Stunde einen Fehler gemacht!«

Julia hatte das leise, wie nebenbei sagen wollen, aber es war laut und vorwurfsvoll herausgekommen.

Das Schweigen war beklemmend. Erst schauten alle aneinander vorbei, blickten dann zu Liebscher, als müsste er für sie die Antwort geben. Sie waren es gewohnt, dass Herr Rohnke oder Liebscher für sie sprach. Obwohl Julia nicht gesagt hatte, welchen Fehler Herr Rohnke gemacht hatte, wussten alle, dass Pit gemeint war.

Liebscher sah Julia betroffen an. Er wollte einfach nicht wahrhaben, was sie da gesagt hatte. Er war Julia gegenüber immer nachsichtig gewesen, wenn sie wieder einmal etwas Verrücktes getan hatte, aber bei Herrn Rohnke hörte der Spaß auf!

Liebscher rekelte sich vom Stuhl hoch. Er spürte eine wachsende Wut in sich, und hätte er jetzt einen Jungen vor sich gehabt, hätte er zugeschlagen.

Julia stand vor ihm über einen Stuhl gebeugt, sie atmete heftig, und sie kam Liebscher vor wie eine zum Sprung bereite Katze.

Ellen versuchte mit kläglicher Stimme zu schlichten: »Julia ... lass doch das Streiten!«

Pit stand noch immer am Fenster, aber jetzt zur Klasse gewandt. Es war ihm unangenehm, dass Julia sich für ihn stritt. Er stand mit hängenden Armen, und er kam sich hilflos, zu groß und zu plump vor.

Er wünschte sich weit weg.

Liebscher überragte Julia um einen ganzen Kopf. Langsam sagte er: »Das nimmst du zurück, was du eben über Herrn Rohnke gesagt hast!«

Die Mädchen und Jungen der 8b hatten das Klingelzeichen überhört.

Herr Rohnke kam mit eiligen Schritten ins Klassenzimmer. Er war bereit zu neuen weltgeschichtlichen Taten. In der ersten Stunde hatte er Napoleon endgültig in der historischen Versenkung verschwinden lassen, nun wollte er die Gründung der »Heiligen Allianz« nachvollziehen und über den zweiten Pariser Frieden sprechen.

Der Lehrer, besessen von seiner Arbeit, spürte nicht die Unruhe in der Klasse. Er ertappte Liebscher bei einer Unaufmerksamkeit, aber er schob dessen Zettelschreiberei einem kleinen nachsommerlichen Flirt zu, den er nachsichtig belächelte. Erst gegen Ende der Stunde gelang es ihm, die Klasse für seinen Stoff gefangen zu nehmen.

Liebscher hatte einen Zettel geschrieben, den er an Julia weiterreichen ließ. Sie las: WIR SPRECHEN UNS NOCH!

Julia überlegte: War sie zu weit gegangen? Pit hatte kein Wort gesagt. Jetzt rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Warum regte sie sich wegen Pit so auf? Nun gut, sie war mit ihm befreundet, aber das war sie auch mit anderen. Das war nicht der Grund. War vielleicht etwas dran an Gerda Munkschatz' Gerede? Nein, auch das war es nicht. Es war etwas anderes, eine gewisse Unzufriedenheit darüber, wie das neue Schuljahr begonnen hatte. Genauso hatte das alte Schuljahr geendet. Es war doch kein Zufall gewesen, dass Herr Rohnke bei der Verabschiedung in die Ferien für Pit kein Wort gefunden hatte. Vielleicht war sie auch nur überempfindlich, gereizt.

Julia wurde immer unsicherer, zumal sie den Widerstand der ganzen Klasse gegen sich spürte. Sie führte ein Streitgespräch mit sich selbst. »Du bist undankbar und egoistisch! Deine guten Leistungen hast du doch zum großen Teil Herrn Rohnke zu verdanken! Vergiss das nicht!«

»Soll ich etwa meine Zensuren mit meinem Schweigen erkaufen?«

»Warum willst du denn unbedingt reden? Willst dich wohl großtun? Hast doch bisher keine Sorgen gehabt. Herr Rohnke hat dir alles abgenommen.«

»Aber ... «

»Nichts aber!«

»Was faselst du denn da?«, wollte Ellen wissen. Sie legte Julia ihre kühle Hand auf die Stirn. »Fühlst du dich nicht gut? Du bist doch nicht etwa krank, Juli?«

Julia riss sich aus ihrem Selbstgespräch. »Es ist nichts, Ellen. Lass nur, ich bin ganz in Ordnung.«

Julia bekam nichts mit von Rohnkes Unterricht. Auch über die folgenden Stunden bei Frau Täuscher hätte sie kaum etwas zu sagen gewusst. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie erfasst. Sie lag mit sich selbst im Streit.

Sie atmete tief auf, als der Unterricht beendet war, sie Ellen und ihre Geschwätzigkeit abschütteln und eilig das Schulgebäude verlassen konnte.

4.

Julia ging durch den Heuweg. Anfangs schaute sie sich oft um, ob ihr auch niemand folgen würde. Im Schulhaus war ihr Liebscher hinterhergerannt, aber sie war durch die Hausmeisterwerkstatt in die Gartenkolonie entschlüpft. Sie wollte jetzt keine endlosen Diskussionen.

Ja, was wollte sie eigentlich?

Julia zog sich an einem Zaun hoch, pflückte einen Apfel. Sie hatte vergessen, sich umzusehen, ob »die Luft rein war«. Aber die Kleingärtner kamen meist erst abends und zu den Wochenenden in ihr Zehnquadratmeterparadies, das sie mit hohen Zäunen und dichten Hecken gegen die Außenwelt abzusperren versuchten.

Julia störten diese Zäune nicht, im Gegenteil, sie forderten auf zum Drübersteigen. Manchmal kam ihr der Appetit auf einen Apfel nur, wenn er schwer zu erreichen war.

Vom grauen Himmel senkte sich ein heißer Dunstschleier auf die Gärten. Das Bunt der Blumen flimmerte vor Julias Augen. Es roch nach Rosen, nach trockener Erde und Ruß.

Julia lief auf eine Wiese, die mitten in den Gärten zum Niederlegen einlud.

Sie warf ihre Tasche an den Stamm eines Baumes und sah müde zu dem verlassenen Klettergerüst und den Sandkästen. Auch in dem barackenförmigen Flachbau der Gartenkantine war niemand zu sehen.

Julia wollte allein sein - aber sie hätte jetzt auch gern mit jemandem gesprochen. Mit jemandem, der nicht gleich selber losplapperte, sondern zuhören würde.

Sie legte sich, den Kopf auf ihre Tasche gebettet, die Beine ins warme Gras gestreckt. Sie schloss die Augen und befahl sich: »Du bist ganz ruhig. Du bist ganz ruhig.« Herr Rohnke hatte diese Methode der Klasse beigebracht. Sie hieß Autogenes Training und sollte ihnen die Angst und die Aufregung vor Prüfungen nehmen.

Herr Rohnke! Immer wieder: Herr Rohnke!

Unruhig setzte sie sich auf. Dieser erste Schultag war unerträglich. Die ganze Stimmung war ihr verdorben. Am liebsten hätte sie den Tag mit einem Radiergummi ausgelöscht.

Julia hörte Stimmen. Sie sah Pit und seinen kleinen Bruder Olaf auf die Wiese treten. Sie stritten, setzten sich in den Sandkasten und ließen den Sand durch ihre Hände rinnen.

Julia hatte rufen wollen: Hallo, Pit! Aber sie schwieg, versteckte sich hinter dem breiten Stamm des Baumes.

»Aber du musst ihm gehorchen!«, hörte sie Pit eindringlich sagen. »Er ist jetzt dein Vater ... «

»Ach - und deiner wohl nicht?« Olafs Stimme klang trotzig. »Du sprichst ja auch nicht mit ihm. Und für die Ohrfeige soll ich wohl noch danke schön sagen, was?«

Es war eine Weile nichts zu hören. Nur die Hitze knisterte in den Gräsern. Julia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was war denn da passiert?

Leise sagte Pit: »Schlagen - schlagen darf er dich nie wieder - sonst, sonst ... «

Olaf weinte. Er stieß mit tränenerstickter Stimme hervor: »Was die nur an ihm findet, die ...!«

Pits Stimme klang böse. »Spricht nicht so, hörst du! Die - ist deine Mutter. Sie tut alles für uns.«

»Nichts tut sie! Nichts! Nichts!« schrie Olaf. Julia hörte ihn mit irgendetwas auf die Sitzplanke des Sandkastens schlagen. »Sie gehört zu uns und nicht zu ihm!«

Die Stille lag heiß und schwer auf Julia. Sie hätte sich am liebsten die Sachen vom Leib gerissen und wäre in eiskaltes Wasser gesprungen, um dieses beängstigende Gefühl des Bedrücktseins abzuschütteln. Sie verstand nicht, was Pit und Olaf so aufregte. Hing es etwa mit dem Vater zusammen, warum Pit so verschlossen, so eigenartig, so allein war?

Julia wollte nichts mehr hören. Sie wollte weg hier. Unter Menschen. Die Stadt hören, Autos, Straßenbahnen, Stimmen.

Sie nahm ihre Tasche und ging vorsichtig rückwärts, vom Baum verdeckt, von der Wiese. Als sie hinter der Kantine war, rannte sie, bis sie die Straße erreichte.

Der Lärm beruhigte sie und lenkte sie ab. Sie fand in ihrer Rocktasche noch zwei Markstücke, kaufte sich dafür Eis und schlang es hinunter.

An der Kreuzung lehnte sie sich auf das Geländer unter der Ampel. Sie hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Zu Hause würde sie auch nur allein sein. Sie könnte an den Auensee baden fahren. Aber dort würde sie Liebscher und den größten Teil der Klasse treffen. Liebscher würde eine Antwort haben wollen. Er würde verlangen, dass sie zurücknehmen sollte, was sie über Herrn Rohnke gesagt hatte.

Julia beobachtete die Menschen, die beim Grün der Ampel über die Straße hasteten. Bei Rot trippelten sie aufgeregt wartend. Die Ampel konnte sie anhalten und in Bewegung versetzen, ganz wie sie es wollte.

War nicht Herr Rohnke die Ampel der 8b? Bestimmte er nicht, wann angehalten und wann losgegangen wurde?

Ein Auto bremste kreischend. Fast wäre es bei Rot über die Kreuzung gefahren. Die Fußgänger sprangen erschrocken zurück. Sie schimpften auf den Fahrer.

Julia schlenderte nach Hause, erschöpft von diesem ersten Schultag. Schon auf der Treppe hörte sie: Die Eltern waren zu Hause.

Die Badezimmertür knallte ein paarmal ins Schloss. Gab es etwa Ehekrieg? Gleich am ersten Arbeitstag?

Julia versuchte, ungesehen in ihr Zimmer zu huschen. Aber da hörte sie Vaters Stimme, kratzig, wie immer, wenn etwas nicht in Ordnung war. »Komm doch mal, Tochter! Kannst dir ganz für umsonst das Theater mit anhören!«

Julia warf ärgerlich ihre Tasche aufs Bett. Sie mochte nicht, dass die Eltern sich stritten und sie den Schiedsrichter spielen sollte. Sie ging in die Stube, ließ sich in den Drehsessel fallen, brummte »Tag auch« und begann, sich mit dem Sessel nach links und nach rechts zu drehen.

»Sitz ruhig«, sagte der Vater. »Du drehst noch mal den Sessel durch die Dielen.«

Er saß groß und schwer auf der Liege. Die muskulösen Arme hatte er auf den Couchtisch gestützt. Die Zigarette in seinen Händen zitterte. Er hatte seinen geliebten abgetragenen Manchesteranzug an, war wie immer schlecht rasiert, und in seinem grimmig-lustigen Gesicht flackerten unruhig die hellen Augen. Das Haar hatte er sich selbst zentimeterkurz geschnitten.

»Du rauchst zu viel!«, bemerkte Julia angriffslustig. »Deine Hände zittern.«

Julia drehte weiter ihren Sessel. Der Vater sah auf seine Hände. Er versuchte sie ruhig zu halten.

Die Mutter kniff lächelnd die Lippen zusammen und nickte Julia zu. Sie war eine zierliche Frau, die sogar in ihrer Straßenbahneruniform aussah, als wollte sie gerade zum Tanz oder zum Konzert gehen. Sie war sehr hübsch, sah noch aus wie ein Mädchen, hatte lange schwarze Haare und warme dunkle Augen.

Sie stand in der Verbindungstür zur Küche und trocknete Geschirr ab. »Wie war der erste Schultag, mein Kleines?«, fragte sie.

»Sehnsucht nach Wasser und Sonne?«

»Wie ihr jetzt von solchem Zeug reden könnt!«, fuhr der Vater hoch. »Wasser und Sonne! Wasser hat sie unter der Dusche! Und dreißig Grad im Schatten reichen wohl für einen Sonnenstich!«

Die Mutter warf Julia ein Geschirrtuch zu.

Julia sagte: »Papsch, du könntest wieder einmal abwaschen. Verlernst es sonst noch ganz.«

Julias Vater erhob sich stöhnend. Unter der Deckenleuchte musste er sich bücken. Er kam in die Küche, streifte sich missmutig die Hemdsärmel hoch und begann mit viel Geklapper das Geschirr zu spülen.

Julia und ihre Mutter trockneten ab. Sie wussten: Gleich würde Vater herausplautzen.

Es dauerte nur Sekunden, bis er sich aufrichtete, Spüllappen und Suppenteller in den Händen. »Das ist doch kein Familienleben!«, polterte er los. »Eine Ehe - dass ich nicht lache! Du Frühschicht, ich Spätschicht! Du Spätschicht, ich Frühschicht! Die paar Minuten, in denen wir uns sehen, die reichen gerade für:- Na, wie geht's denn, Frau Leißner? Hat Ihre Straßenbahn den Rostfraß, oder ist eine Schraube locker?-«

Julia und ihre Mutter lachten gleichzeitig los.

Die Mutter fiel ihrem Mann um den Hals und zog sich an ihm hoch. »Du übertreibst mal wieder. Schließlich kommen wir sogar noch dazu, gemeinsam den Abwasch zu erledigen.«

»Es ist doch wahr. Mit geht das gegen den Strich! Drei Jahre geht das nun schon! Mir reicht es! Na, Julia, nun sag du mal was! Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen! Heute sagt deine Mutter mir so nebenbei, dass die Verkehrsbetriebe keinen triftigen Grund sehen, sie nur in der Frühschicht arbeiten zu lassen! Ist denn unsere Ehe kein triftiger Grund. Himmelherrgottnochmal!«

Julia trocknete noch immer die erste Tasse ab. Sollte denn der Streit heute überhaupt nicht enden? Erst in der Klasse und jetzt zu Hause.

»Was soll ich sagen«, antwortete Julia. »Mutschs Kollegen sind alle verheiratet. Jeder will nur Frühschicht fahren. Von mir aus. Da fährt eben ab Mittag keine Straßenbahn mehr. Laufen soll ja so gesund sein.«

»Du kannst wohl nie ernst bleiben«, rügte der Vater. »Immer diese Verallgemeinerungen. Ich wünschte mir, du würdest bald einmal ein bisschen erwachsener.«

»Wie soll denn das aussehen? Dass ich dir recht gebe? Warum versuchst du eigentlich nicht, nur Frühschicht zu arbeiten? Da gibt es weniger Bier. Und wenn es weniger Bier gibt, gibt es auch weniger Betrunkene. Und wenn es weniger Betrunkene gibt, gibt es auch mehr Ruhe.«

Julias Vater ließ den Suppenteller geräuschvoll in das Spülbecken gleiten. »Das sind ja eigenartige Rechnungen, Tochter. Eigenartige Rechnungen, sage ich ... « Er hatte aufbrausen wollen, war aber unsicher geworden. Die Mutter versuchte zu schlichten, zu vermitteln. Sie mochte keinen Streit. Und vor allem mochte sie nicht, dass ihr Mann verärgert war, dass er die Augen zusammenkniff und zwischen seinen Augen eine steile Falte lag. Sie wollte ihn lustig, immer zu einem Scherz aufgelegt, voller Kraft und Hoffnung, so dass sie sich an ihn lehnen und etwas von seiner Stärke aufnehmen konnte. Sie war oft unsicher, was die Beziehungen zu Menschen anging. Selbst Julia gegenüber fühlte sie sich manchmal als Mutter zu jung, zu unerfahren. Nur wenn sie die Straßenbahn durch den Stadtverkehr fuhr, spürte sie Sicherheit, denn sie wusste, dass ihre Augen und Ohren ihr gut gehorchten und sie die Bahn und die Tücken der Stadt gut kannte.

Sie wollte jetzt ablenken von dem Problem Schichtarbeit und fragte Julia, deren Unruhe ihr nicht verborgen blieb: »Hat Pit dich heute morgen wach bekommen? Oder hast du etwa verschlafen?«

Der Vater versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Das Streichholz zündete nicht. Seine Hände waren zu nass. Ärgerlich sah er auf seine Frau und Julia.

»Ich habe nicht verschlafen« beruhigte Julia ihre Mutter.

»Aber irgend etwas stimmt doch nicht«, bohrte die Mutter. »Ich sehe es deiner Nasenspitze an.«

»Es ist ... «, sagte Julia. »Es ist nichts. Überhaupt nichts.«

Der Vater forderte: »Die Wahrheit, Tochter! Soll ich es erst von der Schule erfahren? Hast du einen Jungen verprügelt? Oder dem Lehrer die Kreide geklaut?«

Julia schwieg. Sie hätte gern mit den Eltern über Herrn Rohnke, über die Klasse, über Pit gesprochen. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, die Angelegenheit morgen mit Liebscher zu regeln.

»Es ist wirklich nichts. Alles ist in bester Ordnung«, sagte Julia.

Die Eltern schauten sie nachdenklich an, ließen es aber dabei bewenden.

Julia war froh, als sie den letzten Teller in den Schrank stellte. Dann ging sie schnell in ihr Zimmer, um die Hausaufgaben zu erledigen.

5.

Der Spätsommer behauptete sich noch immer gegen den Herbst. Ein Tag war schöner als der andere. Im Heuweg fackelte das Bunt der Blumen und Blätter.

Die Mathestunde hatte begonnen. Ellen flüsterte Julia zu: »Juli, ich habe einen tollen knallroten Bikini gesehen. Im Sportgeschäft auf der Schumannstraße. Nun rate mal, was die dafür haben wollen?«

»Kannst du nicht mal einen Moment still sein.«

»Warum bist du nur so nervös«, antwortete Ellen spitz. »Du hast doch bestimmt wieder eine Eins oder eine Zwei. Also, was regst du dich auf?«

Julia winkte ab. Sie sah wie gebannt auf Herrn Rohnke, der die Mathearbeiten zurückgab. Sie hörte ihren Namen. Herr Rohnke lächelte. »Julia - eine fabelhafte Eins!«, sagte er. Der Lehrer war guter Stimmung. Die Klasse hatte in dieser Arbeit ausgezeichnete Ergebnisse erreicht.

Die Spannung in Julia nahm nicht ab. In den letzten Tagen hatte sie versucht, mit Pit Mathe zu üben. Aber Pit begriff schlecht. Nicht, dass er nicht begreifen wollte. Es ging einfach nicht in seinen Kopf hinein. Julia hatte oft das Gefühl, dass der Junge mit seinen Gedanken weit weg war.

Sie sah jetzt zu Liebscher hinüber, der ihr zunickte und sagte: »Gratuliere.«

Julia lächelte schwach zurück. Gleich am nächsten Tag nach ihrem Streit hatte sie mit Liebscher gesprochen. Er hatte es ihr leicht gemacht. Hatte so getan, als wäre alles längst vergessen. Auch in der Klasse sprach man nicht mehr darüber.

»Pit Janko!«

Herr Rohnke knöpfte sich den Hemdkragen auf. »Kann nicht mal jemand das Fenster öffnen? Ist doch wieder verdammt warm heute.«

Julia zuckte zusammen, sah, wie auch Pit erschrak.

Herrn Rohnkes Stimme hatte gestockt, war bei Pits Namen von ihrem Höhenflug abgestürzt. Der Lehrer hielt das Blatt Papier, als getraute er sich nicht, es aus den Händen zu geben. Seine Lippen bewegten sich. Die Augenbrauen waren eng zusammengezogen. Es sah so aus, als rechnete er noch einmal Pits Arbeit durch.

Pit war aufgestanden. Es hielt ihn einfach nicht mehr auf seinem Stuhl. Er spürte aller Augen auf sich. Unruhig rieben seine Fäuste am Hemd.

Herr Rohnke sagte etwas. Niemand hatte ihn verstanden. Nun wiederholte er lauter: »Eine - eine Fünf.«

Julia saß wie benommen. Eine Fünf hatte sie nicht erwartet. So hatte ihr gemeinsames Üben also überhaupt nichts geholfen. Im Gegenteil: Pits Leistung hatte sich noch verschlechtert.

Der Lehrer und Pit standen sich gegenüber. Beide hielten eine Hand an der Mathearbeit.

Herr Rohnke suchte Pits Augen. Er wollte etwas sagen. Etwas wie: Na, Kopf hoch. Wird schon werden. Aber er bekam es nicht über die Lippen.

Pit sah an Rohnke vorbei aus dem Fenster. Er fühlte Julias enttäuschte Blicke, vermutete Gleichgültigkeit in der Klasse.

Der Lehrer empfand sekundenlang Hilflosigkeit Pit gegenüber. Mit diesem Jungen kam er nicht zurecht. Der konnte oder wollte nicht. Es waren also nicht alle Schüler zu guten Leistungen zu führen. Dieser hier nicht. Rohnke war Sportler. Ein Kämpfer. Überall im Leben. Er fühlte sich von Pits Abwehrhaltung, von seiner Verschlossenheit und Sturheit besiegt.

Herrn Rohnkes Haltung straffte sich. Er zog Pits Arbeit zurück. Sagte: »Hör mal, Pit. Du könntest wieder jeden Freitag zu mir kommen. Wir sind wohl in letzter Zeit beide etwas außer Tritt gekommen.« Er hielt Pits Arbeit hoch. »Junge, das ist doch Spielerei hier. Menschenskind, das wäre doch gelacht, wenn wir es nicht schaffen würden!«

Für einen Moment sah Pit Herrn Rohnke an. Julia glaubte so etwas wie Dankbarkeit und Hoffnung in Pits Blick gesehen zu haben, als er sich kurz nach ihr umschaute.

»Übrigens«, sagte Herr Rohnke, jetzt zur Klasse gewandt, »ich habe eine Exkursion geplant. In zirka drei Wochen. In der Köhraer Genossenschaft.«

Die Klasse trommelte Beifall auf die Tische.

Nach der Schule zog Ellen Julia mit zu dem Sportgeschäft, wo sie den knallroten Bikini entdeckt hatte. Julia ließ es willig geschehen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, zu Hause aufzuräumen. Aber sie war in guter Stimmung. Sie hätte heute jeden Blödsinn mitgemacht.

Immer wieder fragte sie Ellen: »Ist Herr Rohnke nicht großartig? Also ich finde ihn einfach phantastisch! Es ist überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass er aus Pit noch einen Rechenkünstler macht!«

»Das stimmt, Juli.« Ellen war ganz aufgeregt. Ihr Gesicht glühte. Am liebsten wäre sie zum Sportgeschäft gerannt. »Genauso ist Werner. Mit ihm könnte ich - könnte ich die Sterne vom Himmel holen.«

»Liebscher.« Julia winkte ab. »Der ist doch gegen Herrn Rohnke nur ein kleiner Fisch.«

Ellen wollte etwas entgegnen. Aber sie stand sprachlos vor dem Schaufenster des Sportgeschäfts.

»Hier hat er gelegen«, sagte sie verzweifelt. »Siehst du, genau hier.«

»Der hier ist blau«, sagte Julia gelangweilt. Sie hatte einen Bikini. Ihr war es gleichgültig, ob der blau, rot oder grün war. Sie forderte: »Na beeile dich doch, Ellen. In einem blauen Bikini schwimmt es sich auch nicht schlechter.«

Ellen schluckte. Sie sagte leise: »Es geht doch nicht ums Schwimmen. Weißt du ja genau, dass ich nicht schwimmen kann. Aber Werner mag rot. Es ist seine Lieblingsfarbe.«

»Und was ist deine Lieblingsfarbe?«, wollte Julia wissen.

»Grün - nein, warte - blau. Blau ist meine Lieblingsfarbe.«

»Komm!« Julia schob Ellen in den Laden. Es roch nach Leder und Parfüm.

»Na, meine Damen, was soll's denn sein?«, fragte die Verkäuferin.

Sie hatte sich gerade mit Parfüm die Schläfen eingerieben. Sie schimpfte: »In diesem Loch hier kann man kaum noch Luft holen. Dann der Gestank von der Brauerei. Man kann nicht einmal die Tür offenstehen lassen!«

»Zeigen Sie uns den blauen Bikini«, sagte Julia. Sie stand an der Tür, sah den Rauch der Brauereischornsteine durch die Straße ziehen. Vater hatte zu Hause erzählt, das würde sich bald ändern, wenn die neue Heizanlage stehen würde. Aber das war vor einem Vierteljahr gewesen.

Julia hielt den Bikini hoch. »Na, gefällt er dir?«, fragte sie ungeduldig.

»Wenn ich ihn kaufe, bin ich völlig blank«, sagte Ellen unsicher.

Julia griff sich an die Stirn. »Das ist zum Verrücktwerden! Mit dem roten Bikini hättest du auch keine Mark gespart!«

»Der rote Bikini ist leider verkauft«, sagte die Verkäuferin.

»Dachten wir uns«, bemerkte Julia. Sie war wütend auf Ellen. Beide gingen schließlich ohne den Bikini aus dem Laden. Die Hitze glühte von den Pflastersteinen die Beine hoch.

»Entschuldige, Julia ... « Ellen drehte verlegen in ihrem funkelnden Haar.

Julia fuhr auf. »Entschuldige, entschuldige! Ich will dir mal was sagen, du Unschuldsengel! Seitdem du in Liebscher verknallt bist, hast du überhaupt keine eigene Meinung mehr!«

Ellen fasste Julias Hände. »Bist du etwa eifersüchtig, Julia?«

Julia riss sich los. Sie schüttelte wütend den Kopf. »Du begreifst einfach überhaupt nichts, Ellen.«

Eine Straßenbahn hielt knirschend. Die Klingel ertönte heftig. Julia hörte ihren Namen. Sie sah hoch, erkannte ihre Mutter. Julia stieß Ellen in die Hüfte. »Komm schon! Fahren wir zum Auensee!«

»Tag, Julia. Tag, Ellen. Schon wieder ins Bad?« Julias Mutter klingelte ab, fuhr an. »Nun bezahlt erst einmal.«

Julias Laune hatte sich durch die Auseinandersetzung mit Ellen verschlechtert. Sie beachtete Ellen nicht, die dauernd auf sie einredete: »Ich will überhaupt nicht an den Auensee. Habe keinen Badeanzug mit, Juli. Nun hör doch mal, Juli ... «

»Schlechte Laune, Julia?«, fragte die Mutter. »Hat es heute nicht die Mathearbeiten zurückgegeben?«

»Hat es«, sagte Ellen. »Julia hat natürlich eine Eins.«

Julia lehnte am Fensterglas. Sie mochte es, wenn sie in den Füßen die Bewegungen der Räder spürte und vor ihren Augen sich die Bilder veränderten: Zwei Männer beluden einen Lastwagen mit leeren Kisten; ein Mädchen rannte einem Ball hinterher; das Sonnenlicht schoss für eine Sekunde wie ein bunter Blitz durch die Blätter eines Baumes; auf einem Dach montierte ein Mann eine Antenne; ein Mann und eine Frau schoben einen Kinderwagen, sie waren stehengeblieben und küssten sich.

»Juli! Deine Mutter fragt dich etwas!«

Ellen wiederholte: »Wie Pit abgeschnitten hat, will sie wissen.«

»Das hättest du doch auch sagen können«, sagte Julia.

»Ich habe in dem Moment wohl nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Ellen.

»Ihr müsst aussteigen«, sagte Julias Mutter. »Erfahre ich nun noch Pits Zensur?«

»Fünf«, sagte Julia beim Aussteigen.

Sie lehnte sich noch einmal zur Tür hinein. »Aber das wird sich bald ändern«, versicherte sie. »Herr Rohnke wird jetzt wieder mit ihm üben.«

Julia und Ellen liefen schweigend die abschüssige Straße zum Auensee hinunter.

Im Altersheim standen alle Fenster offen. Die alten Leute lehnten, von der Hitze müde, in den Fenstern. Das Brückenholz roch teerig. Die Elster zog pechschwarz und schaumig zwischen ihren mit meterhohen Brennnesseln bestandenen Ufern dahin. Dahinter, vor der geschlossenen Schranke der Kindereisenbahn, die den See umfuhr, mussten Julia und Ellen stehenbleiben.

»Du hast doch etwas?«, fragte Ellen. »Juli, wir wollen uns doch nicht streiten.«

Julia hatte ihre Tasche abgestellt. Sie kämmte ihre langen Haare, flocht sie und steckte sich die Zöpfe hoch.

»Es ist eigenartig«, begann Julia, »es ist höchst eigenartig, dass du die Zensur von Pit nicht ... Aber lassen wir das.«

Ellen atmete erleichtert auf, dass Julia dieses Gespräch abbrach. »Du bist heute aber empfindlich. Überhaupt - du bist nicht mehr so lustig wie früher, Juli«, lenkte sie rasch ab.

»Meinst du?«

»Ja, Juli. Du stellst jetzt oft so eigenartige Fragen. Werner meint, du - du wärst in ihn verliebt ... «

Julia musste laut auflachen. »Und wie!«, rief sie. »Ich bin ganz verrückt nach ihm!«

Der winzige Zug schnaufte vorüber. Er war bis auf den letzten Platz mit Kindern und ein paar Erwachsenen besetzt. Die Kinder pfiffen, riefen, lachten, winkten.

Julia winkte zurück. Da waren sechs Hänger, dachte sie. In jedem saßen ungefähr zehn Menschen. Sechs mal zehn: das sind sechzig Menschen. Sechzig Menschen zusammen in einem Zug. Und was wusste einer vom anderen? Zweiunddreißig Schüler waren in der 8b. Und kannten sie einander gut genug?

Die Schranke wurde mit der Hand von zwei Jungen in Eisenbahneruniform hochgedreht.

Julia und Ellen liefen weiter. Links begannen die Wiesen. Hier lagen nur wenige Menschen. Das Wasser war noch zu weit entfernt. Am Karussell tummelten sich die Kleinen. Blasmusik erklang aus dem Lautsprecher.

An der Tombola kaufte Julia ein Los. Sie kam einfach an keiner Losbude vorbei. Sie gewann eine Rolle Drops, die sie einem Jungen schenkte, der die weggeworfenen Lose noch einmal auf einen Gewinn kontrollierte. Der Stimmenlärm nahm zu. Das schmale, am Wasser langgestreckte Stück Wiese war von Badelustigen eng bevölkert. Sogar unter den Bäumen war alles besetzt.

Julia blieb stehen. Sie hielt Ellen fest. Sie sagte: »Ellen, was weißt du eigentlich über Pit Janko?«

Ellen sah Julia verständnislos an. »Was ich über Pit weiß?« Ellen hatte Liebscher gesehen. Er stand von Jungen und Mädchen der 8b eingeschlossen und balancierte einen Ball auf der Stirn. Pele hatte sie entdeckt. Er rief: »Hallo, hierher!«

Ellen wollte loslaufen. »Nun, was weißt du über ihn?«, forderte Julia eine Antwort.

»Aber Juli«, sagte Ellen, »sie rufen nach uns. Na schön - also wir kennen uns doch alle. Pit ist ein gutmütiger Junge. Er ist ein bisschen schwerfällig und ... «

»Und?«

»Er ist sonst ganz in Ordnung. Jetzt komm aber, Julia.«

Julia ging langsam hinter Ellen her, die sich sofort unter Liebschers Bewunderer mischte. Also Pit war ein gutmütiger, ein bisschen schwerfälliger Junge, sonst ganz in Ordnung. Was hatte sie da noch hinzuzufügen? Dass er sehr pünktlich war und sie jeden Morgen zur Schule abholte.

War das alles, was sie von ihm wusste?

Julia dachte an das Gespräch zwischen Pit und Olaf, das sie auf der Heuweger Wiese belauscht hatte. Pit hatte Sorgen. Niemand wusste davon. Was ist nur in mich gefahren?, dachte sie. Was ist es nur, was mich so unruhig macht?

Julia zog den Bikini an. Liebscher setzte den Ball ab, als er sie sah. Er schnalzte laut mit der Zunge.

Julia lief gleich ins Wasser. Sie kämpfte sich durch das Gewühl der Nichtschwimmer. Bis zu den Bohlen schwamm sie hinaus. Sie sah zum Strand zurück. Liebscher balancierte wieder den Ball auf der Stirn. Die anderen spielten Karten und Federball. Julia fragte sich: Warum war eigentlich Pit nie mehr am Auensee? Das war ihr bisher gar nicht aufgefallen. Anfangs, als er in ihre Klasse kam, war er immer dabei gewesen.

Julia schwamm mit ruhigen, kraftvollen Zügen. Alles um sie herum strahlte Harmonie und Ruhe aus. Und die Mädchen und Jungen der 8b sahen von Weitem aus wie eine verschworene Gemeinschaft.

Als Liebscher und Pele ans Wasser kamen, schwamm sie zurück.

»Wir dachten schon, du bist abgesoffen«, feixte Pele. »Hätten natürlich sofort Erste Hilfe geleistet.«

Liebscher sagte: »In der Mund-zu-Mund-Beatmung bin ich Spezialist. Üben wir mal, Julia?«

Julia fing den Ball geschickt auf, den Liebscher ihr zuwarf. Sie warf ihn in die Luft, trat wuchtig mit dem Bein danach. Der Ball zischte hoch, über die Bäume hinaus, und plautzte zwischen ein paar aufkreischende Kinder ins Wasser.

Pele lachte anerkennend. »Du hat ja einen tollen Schuss drauf, Julia!«

Liebscher befahl: »Mach schon, Pele, hol das Leder zurück!«

Pele gehorchte. Er rannte ins Wasser, dass es hoch aufspritzte.

Julia legte sich neben Ellen in die Sonne. Sie hatte eigentlich gleich zu Pit fahren wollen, um mit ihm zu sprechen.

Aber Julia ließ sich jetzt von der Badestimmung gefangen nehmen. Sie schloss die Augen, hörte die angenehme Lebendigkeit um sich herum: Lachen, Rufen, Radiomusik, den Aufschlag eines Balles, die Detonation, wenn ein Flugzeug die Schallmauer durchbrach. Vor allem hörte sie Liebschers Stimme.

Julia sprang auf. Sie hielt es nicht mehr aus, stillzuliegen. »Gib doch mal den Ball ab, Pele!«, rief sie.

»Spielen wir ein Halbes«, schlug Liebscher vor. Er teilte die Mannschaften ein, verscheuchte ein paar Jungen und Mädchen von den Decken, damit sie für das Spiel Platz bekamen. Julia war das einzige Mädchen, das Liebscher mitspielen ließ.

Gerda Munkschatz hetzte: »Ellen, deine saubere Freundin angelt dir deinen Werner noch vor der Nase weg!«

Ellen ärgerte sich über Gerda Munkschatz, aber auch über Julia. Und vor allem ärgerte sie sich über sich selbst. Hätte sie den blauen Bikini gekauft, brauchte sie jetzt nicht in ihren Sachen herumzusitzen und zu schwitzen.

Beim Spiel verursachte Julia drei Elfmeter. Wenn sie den Ball hatte und die anderen sie bedrängten, nahm sie wie automatisch den Ball in die Hände.

Nach dem Spiel rannten alle ins Wasser. »Spielen kannst du nicht«, sagte Pele zu Julia. »Aber im Rennen bist du einsame Klasse.«

»Stimmt«, bestätigte Liebscher. »Übrigens - Donnerstag ist Schulsportfest. Musste vorverlegt werden. Weiß nicht, warum. Irgendetwas scheint bei den Lehrern im Gange zu sein.«

Alle wollten wissen, was denn los sei.

»Ich weiß wirklich nicht, was Sache ist«, sagte Liebscher. »Herr Rohnke sagte nur, dass sich vielleicht bald etwas ändern würde.«

Sie gingen gemeinsam über den Damm, der durch unkrautüberwucherte Wiesen am Flutkanal entlangführte, nach Hause.

Der Himmel hatte sich dunkel bewölkt. Ein heißer Wind war aufgekommen. Unruhe und Nervosität überkam die Mädchen und Jungen. Es begann fein zu regnen.

Julia sprach aus, was alle bewegte: »Ob man uns Herrn Rohnke etwa wegnehmen will?«

6.

Das Sportfest fand auf dem alten Sportplatz statt. Der Platz lag hinter den Heuweger Gärten. Er hatte eine wellige rote Aschenbahn. Auf der Spielfläche stand knöchelhohes Gras, auf dem der Hausmeister der Schule seine zwei Hammel weiden ließ. Die Torbalken neigten sich seitlich. Sie waren von den schussgewaltigen Fußballern aus den Angeln gebombt worden.

Die 8b hatte ihren Platz am hinteren Tor. Ellen stöhnte zum wiederholten Mal: »Das ist ein Gewimmel wie in der Innenstadt! Da soll man sich konzentrieren können!«

Selbst Liebscher trippelte nervös auf der Stelle. Er prüfte immer wieder, ob seine neuen Spikes auch fest verschnürt waren.

Julia zog ihren Trainingsanzug an und aus. Einmal war es ihr zu warm, dann wieder zu kalt.

Pele, dem sonst nichts zu viel war, versuchte sich sogar Liebschers Anordnung: »Massiere mir doch mal die Waden!«, zu widersetzen. Alle sahen immer wieder zur Straße, von wo sie Herrn Rohnke erwarteten.

Nur Pit schien ruhig und uninteressiert wie immer. Er saß im Gras und kaute an einem Halm. Ab und zu sah er zu seinem Bruder Olaf hinüber, dessen Stimme aus dem übermütigen Geschrei der unteren Klassen herauszuhören war.

»Wo Herr Rohnke nur bleibt?«, sagte Julia ungehalten. »Irgendetwas stimmt doch da nicht! Aber wir erfahren ja immer erst alles, wenn es zu spät ist.«

Liebscher versuchte einen Handstand zu drücken. Er kippte über, fing sich geschickt ab. »Was soll denn das heißen?«, entgegnete er. »Herr Rohnke wird es uns schon sagen, wenn es etwas Wichtiges ist!«

»Ach was!«, rief Julia. »Diese Warterei ist zum Verrücktwerden!«

Gerda Munkschatz setzte die Fingernagelfeile ab. »Diese ewige Streiterei zwischen euch beiden in letzter Zeit! Überhaupt - eine Stimmung ist das in der Klasse!«

Pele kniff die Augen zusammen. Er deutete nach oben, in die schnell ziehenden dunklen Wolkenfelder, die der Sonne immer nur für Sekunden einen Lichtblick zur Erde gestatteten: »Es wird Winter, Leute. Mich friert jedenfalls schon lange.«

Röbel, nach Monika Druskat der längste in der Klasse, stand auf der bröckligen Zuschauerterrasse zwischen verwitterten Sitzbänken. Von hier aus konnte er die Straße fast bis zur Schule übersehen. Er winkte mehrmals, pfiff dreimal kurz. Dann kam er mit schlaksigen Schritten heruntergestiegen und sagte lässig: »Habt acht, Leute, der Chef kommt.«

Sofort änderte sich das Bild der Klasse. Es kam Ordnung in das Durcheinander. Liebscher ließ antreten. Alle sahen gespannt dem Lehrer entgegen.

Herr Rohnke kam im Sturmschritt. Er sprang die Terrasse hinunter. Seine abgetragene Wildlederjacke umflatterte ihn. Die linke Hand hielt die Ledermütze fest. Als er heran war, lachte er.

Julia dachte: Er ist unrasiert, nein, er sieht müde aus.

Herr Rohnke hatte die Klasse sofort im Griff. Jede Kleinigkeit wäre ihm aufgefallen: ein kaputter Schuh, fehlende Sportkleidung, schlecht bandagierte Gelenke. Aber er fand alles in Ordnung. Lächelnd nahm er Liebschers Meldung entgegen. »Neue Spikes?«, fragte er. Dann blieben seine Augen einen Moment auf Pit haften. »Morgen«, sagte Rohnke, »nach der Schule bei mir. Sei pünktlich.«

Der Lehrer lief voran zur Weitsprunggrube. Die Jungen und Mädchen sahen sich unsicher an.

Liebscher zuckte die Schultern. Herr Rohnke hatte kein Wort der Erklärung für sein Zuspätkommen gesagt. Das war ungewöhnlich. Auch war er nicht in Sportkleidung gekommen.

Beim Weitsprung vermaß der Lehrer sich mehrmals. Seine Hinweise zur Verbesserung der Technik wirkten oft unverständlich. Einmal rief er ungeduldig, fast wütend: »Ellen! Nun heb doch den Hintern hoch, wenn du springst! Du verträumst ja den Absprung, Mädel!«

Ein kalter Wind senste jetzt über den Rasen. Bei den anderen Klassen gab es viel Spaß. Anfeuerungsrufe erklangen. In der 6a wurde ein Hochsprungerfolg besungen: »Hoch soll er leben ... !«

In der 8b war die Stimmung bedrückt. Wenn gesprochen wurde, dann nur im Flüsterton. Es gab nur mittelmäßige bis schwache Leistungen. Alle hofften auf Liebscher.

Herr Rohnke sah hoch. Liebscher stand an seiner Anlaufmarke. Er rannte nervös am Ort. Dann lief er an. Julia drückte ihm den Daumen für einen weiten Sprung. Irgendwie musste sich die Verspannung doch lösen. Aber Liebscher blieb mit seinem Sprung weit von seiner Bestleistung entfernt.

Nur Pit, von allen unbeachtet, vollbrachte einen gewaltigen Satz. Rohnke maß ihn zweimal und nickte anerkennend. Julia schüttelte Pit die Hand. Sie blickte zu den anderen, die wegsahen.

Sie gingen zur Hochsprunganlage. Plötzlich ließ Herr Rohnke abbrechen. Er setzte sich auf den aufgeschütteten Sand und sagte: »So hat das keinen Sinn. Da machen euch ja die unteren Klassen etwas vor. Also schön, ich habe euch etwas zu sagen ... « Die Klasse hatte sich eng um ihn geschart.

Julia stand zwischen Pit und Liebscher. Sie ahnte, dass Herr Rohnke ihnen jetzt etwas Unerfreuliches mitteilen würde.

Herr Rohnke versuchte einen Spaß: »Nun fallt mir nicht gleich alle um den Hals, Freunde. Lasst mir noch etwas Luft zum Atmen.«

Er machte wieder eine Pause. Es fiel ihm sichtlich schwer, zu sprechen.

Dann stand er auf, nahm seine Mütze ab, fuhr sich mit der freien Hand durchs schüttere Haar und sagte: »Folgendes: In den nächsten Tagen werden wir uns trennen müssen. Also, das ist Unsinn, was ich sage. Ich meine: Ich muss eine zwölfte Klasse übernehmen. Eine Abiturklasse. Versteht ihr? Die sind in einer dummen Situation. Herr Menzel - ihr Lehrer - er will weg von der Schule.«

Julia spürte ihre Hände kalt werden. Sie sah Liebscher neben sich zusammenzucken. Die Mädchen und Jungen blickten einander ungläubig an.

»Es ist doch nur für ein Jahr«, versuchte der Lehrer zu beruhigen. »Dann haben die aus der Zwölften ihr Abi.«

Herr Rohnke schlug sich die Mütze wieder auf den Kopf. Er legte Liebscher und Julia die Hände auf die Schultern. »Na, da wollen wir mal«, sagte er. »Übrigens: Eure neue Klassenleiterin heißt Rosen. Sie ist noch sehr jung. Also macht ihr das Leben nicht unnötig schwer. Sport haben wir weiter zusammen. Na, wird schon werden!«

Herr Rohnke lief energisch zur Aschenbahn. Die Klasse trottete hinter ihm her.

Julia hörte Liebscher leise sagen: »Das kann doch nicht wahr sein! Das kann ich nicht glauben!« Sie verstand seine Sorge und Enttäuschung. Sie konnte Rohnkes Mitteilung auch noch nicht richtig erfassen.

Julia setzte sich ins Gras neben die Aschenbahn. Die anderen machten sich lustlos zum Lauf warm. Es wurde nicht gesprochen. Herr Rohnke war mit der Stoppuhr zum Ziel gelaufen. Starten sollte Liebscher.

Julia fror. Sie zog sich über ihre Trainingsjacke den Anorak.

Sie sah in Liebschers Augen, für Sekunden nur. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, ihm nahe zu sein, ihn zu verstehen, ihn über das Äußerliche hinaus erkannt zu haben. Ihr schien es, als wäre Liebscher kleiner geworden, als spräche mit der Unruhe auch Angst aus seinen Augen. Angst? Wovor?

Auch Julia fühlte Angst vor diesem Abschied von Herrn Rohnke. Sie fühlte sich schon jetzt allein gelassen. Sie hatte ein Gefühl in sich, wie damals, als sie das erste Mal ohne die Mutter über die belebte Kreuzung laufen musste.

Julia fiel ihr Vergleich von neulich ein: Herr Rohnke als Ampel. Hatte sie sich nicht noch vor ein paar Tagen gewünscht, dass sie loslaufen könnte, wann sie es wollte? Jetzt würde sie es können. Und sie fürchtete sich davor.

Julia sprang auf. Ellen stand neben ihr. Ihre sonst sorgfältig gekämmten Haare fielen ihr in die Stirn. Sie rieb die Hände aneinander und sagte: »Juli, Juli, sieh doch nur mal zu Werner ... Wie blass er aussieht. Er wird doch nicht krank werden ... !«

Julia warf mit einem heftigen Kopfnicken ihre Haare nach hinten. Sie nahm einen Gummi aus der Anoraktasche und band sie sich zusammen. Ihre Niedergeschlagenheit hatte sich plötzlich in Wut umgewandelt.

Sie lief so schnell sie nur konnte am Fleck, ging in die Grätsche, beugte den Rumpf, kreiste die Arme, sprang in die Luft. Ihr wurde heiß. Sie sah Herrn Rohnke klein am unteren Ende der Aschenbahn stehen.

Gerda Munkschatz rief erschrocken: »Kinder, seht doch mal! Ich glaube, Julia hat's erwischt! Sie dreht wieder mal durch, das verrückte Huhn!«

Julia hörte nicht, was Gerda Munkschatz sagte. Die anderen starrten sie überrascht an. Sie waren von Julia zwar allerhand gewohnt; aber jetzt ging von ihr eine aufreizende Aggressivität aus, die sich bald auf alle übertrug.

Julia unterbrach für einen Moment ihre Übungen. Sie rief: »So einfach ist das also! Ich muss weg! Tut mir leid! Andere brauchen mich! Also Kopf hoch! Auf Wiedersehen!«