Die Grenzen der Gerechtigkeit - Martha C. Nussbaum - E-Book

Die Grenzen der Gerechtigkeit E-Book

Martha C. Nussbaum

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Beschreibung

Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise müssen wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? In sowohl kritischer als auch konstruktiver Absicht lotet Martha Nussbaum die Grenzen klassischer Gerechtigkeitstheorien aus, unterzieht politische Prinzipien einer gründlichen Revision und lässt eingefahrene Konzepte der sozialen Kooperation, der Würde und der transnationalen Gerechtigkeit in neuem Licht glänzen. Mittels ihres berühmten Fähigkeitenansatzes entwirft sie eine veritable Utopie globaler Gerechtigkeit.

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Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise müssen wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? In sowohl kritischer als auch konstruktiver Absicht lotet Martha Nussbaum die Grenzen klassischer Gerechtigkeitstheorien aus, unterzieht politische Prinzipien einer gründlichen Revision und läßt eingefahrene Konzepte der sozialen Kooperation, der Würde und der transnationalen Gerechtigkeit in neuem Licht glänzen. Mittels ihres berühmten Fähigkeitenansatzes entwirft sie eine veritable Utopie globaler Gerechtigkeit.

Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Im Suhrkamp Verlag liegen vor: Gerechtigkeit oder Das gute Leben (es 1739) und Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist (2014).

Martha C. Nussbaum

Die Grenzen der Gerechtigkeit

Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit

Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe:

Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership

Erstmals veröffentlicht 2006.

Copyright © 2006 by the President and Fellows of Harvard College

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Deutschen Erstausgabe, 2010 und dem suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2105

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Copyright © 2006 by the President and Fellows of Harvard College

© Martha C. Nussbaum 2006

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73976-1

www.suhrkamp.de

John Rawls zum Gedächtnis

7Inhalt

Einleitung

Kapitel I Die Idee des Gesellschaftsvertrags und drei ungelöste Probleme der Gerechtigkeit

1. Der Naturzustand

2. Drei ungelöste Probleme

3. Rawls und die drei ungelösten Probleme

4. Frei, gleich und unabhängig

5. Grotius, Hobbes, Locke, Hume, Kant

6. Drei Formen des gegenwärtigen Kontraktualismus

7. Der Fähigkeitenansatz

8. Fähigkeitenansatz und Kontraktualismus

9. Auf dem Weg zu globaler Gerechtigkeit

Kapitel II Behinderungen und der Gesellschaftsvertrag

1. Fürsorge als Bedürfnis und Gerechtigkeitsproblem

2. Prudentielle und moralische Versionen des Gesellschaftsvertrags: Öffentlich und privat

3. Rawls’ kantianischer Kontraktualismus: Grundgüter, die kantianische Konzeption der Person, ungefähre Gleichheit und gegenseitige Vorteile

4. Kann das Thema »Behinderung« aufgeschoben werden?

5. Die kantianische Konzeption der Person

6. Behinderung und Versorgung bei Kittay und Sen

7. Läßt sich der Kontraktualismus retten?

8Kapitel III Fähigkeiten und Behinderungen

1. Der Fähigkeitenansatz: Ein nichtkontraktualistischesVerständnis des Sorgens für andere

2. Die Grundlagen der sozialen Kooperation

3. Würde: Aristotelisch, nicht kantianisch

4. Der Vorrang des Guten und die Rolle der Übereinkunft

5. Warum Fähigkeiten?

6. Das Sorgen für andere und die Liste der Fähigkeiten

7. Fähigkeiten oder Tätigkeiten?

8. Der Vorwurf des Intuitionismus

9. Der Fähigkeitenansatz und Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien

10. Arten und Grade der Würde: Die Speziesnorm

11. Praktische Politik: Die Frage der Vormundschaft

12. Praktische Politik: Bildung und Einbeziehung

13. Praktische Politik: Das Sorgen für andere als Arbeit

14. Liberalismus und menschliche Fähigkeiten

Kapitel IV Gegenseitige Vorteile und globale Ungleichheit: Der transnationale Gesellschaftsvertrag

1. Eine Welt voller Ungleichheiten

2.Eine Theorie der Gerechtigkeit: Die Einführung des zweistufigen Vertrags

3.Das Recht der Völker: Die Wiederaufnahme und Modifikation des zweistufigen Vertrags

4. Rechtfertigung und Durchsetzung

5. Eine Beurteilung des zweistufigen Vertrags

6. Der globale Vertrag: Beitz und Pogge

7. Die Erfolgsaussichten eines internationalen Kontraktualismus

9Kapitel V Fähigkeiten jenseits nationalstaatlicher Grenzen

1. Soziale Kooperation: Der Vorrang von Ansprüchen

2. Warum Fähigkeiten?

3. Fähigkeiten und Rechte

4. Gleichheit und Angemessenheit

5. Pluralismus und Toleranz

6. Ein internationaler »übergreifender Konsens«?

7. Die Globalisierung des Fähigkeitenansatzes: Die Rolle von Institutionen

8. Die Globalisierung des Fähigkeitenansatzes: Welche Institutionen?

9. Zehn Prinzipien für eine globale Struktur

Kapitel VI Jenseits von »Mitleid und Menschlichkeit«: Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere

1. »Wesen mit Anspruch auf eine Existenz in Würde«

2. Kantianische Theorien des Gesellschaftsvertrags: Indirekte Pflichten, Pflichten des Mitleids

3. Der Utilitarismus und das Wohlergehen der Tiere

4. Arten der Würde, Arten des Wohlergehens: Die Ausweitung des Fähigkeitenansatzes

5. Methodologie: Theorie und Einbildungskraft

6. Spezies und Individuum

7. Eine Bewertung der Fähigkeiten von Tieren ohne Verherrlichung der Natur

8. Positive und negative Pflichten, Fähigkeiten und Tätigkeiten

9. Gleichheit und Angemessenheit

10 Tod und Schädigung

11 Ein übergreifender Konsens?

12. Auf dem Weg zu politischen Grundprinzipien: Die Liste der Fähigkeiten

13.10Die Unüberwindbarkeit von Konflikten

14. Auf dem Weg zu wirklich globaler Gerechtigkeit

Kapitel VII Moralische Gefühle und der Fähigkeitenansatz

Danksagung

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

11Meiner Meinung nach steht also der Satz fest: Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, in Kombination mit der knappen Fürsorge, die die Natur für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung.

David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, III.2.2

Vielleicht ist es auch seltsam, den Glückseligen zu einem Einsamen zu machen. Der Mensch ist nämlich ein Wesen, das auf die staatliche Gemeinschaft angewiesen und von Natur aus auf das Zusammenleben angelegt ist.

Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX.9

13Einleitung

Theorien der sozialen Gerechtigkeit sollten abstrakt sein. Sie sollten eine Allgemeinheit und theoretische Kraft besitzen, die ihnen über die politischen Konflikte ihrer Zeit hinaus Gültigkeit verleihen, selbst wenn sie aus solchen Konflikten heraus entstehen. Auch für politische Rechtfertigung ist diese Art von Abstraktion erforderlich: Um eine politische Theorie zu rechtfertigen, müssen wir zeigen können, daß sie auch längerfristig Stabilität besitzt und von den Bürgerinnen und Bürgern nicht allein aus im engen Sinn auf die Selbsterhaltung ausgerichteten oder instrumentellen Gründen unterstützt wird.[1] Ob eine Theorie diesen Anspruch erheben kann, läßt sich aber nur entscheiden, wenn wir vom unmittelbaren Geschehen Abstand nehmen.

Andererseits müssen Theorien der sozialen Gerechtigkeit auch auf die Gegenwart und ihre drängendsten Probleme eingehen. Sie müssen in ihren Formulierungen und sogar in ihren Strukturen für Veränderungen offenbleiben, wenn diese aufgrund von neuen oder bereits bekannten, bisher aber sträflich vernachlässigten Problemen notwendig werden.

Um ein Beispiel für eine solche sträfliche Vernachlässigung zu nennen: Die meisten Gerechtigkeitstheorien der westlichen Tradition haben weder den von Frauen erhobenen Forderungen nach Gleichheit noch den zahlreichen Hindernissen, die dieser Gleichheit (noch immer) im Wege stehen, die notwendige Beachtung geschenkt. Ihr in mancher Hinsicht zu begrüßender Abstraktionsgrad hat verdeckt, daß sie nicht dazu in der Lage waren, eines der gravierendsten Probleme 14unserer Welt in Angriff zu nehmen. Wenn man dem Problem der Geschlechtergerechtigkeit die ihm angemessene Aufmerksamkeit widmet, zieht das jedoch erhebliche theoretische Konsequenzen nach sich. Unter anderem wird man nämlich anerkennen müssen, daß es sich bei der Familie um eine politische Institution und nicht um einen Teil der gegenüber Gerechtigkeitsforderungen immunen »Privatsphäre« handelt. Dieses Versäumnis der klassischen Theorien kann man demnach nicht einfach korrigieren, indem man sie auf dieses neue Problemfeld anwendet; vielmehr bedarf es einer Revision der theoretischen Struktur selbst.

Heute sind wir mit drei ungelösten Problemen der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert, deren Vernachlässigung durch die existierenden Theorien als besonders problematisch erscheint. (Ohne Zweifel werden noch mehr Probleme dieser Art ans Licht kommen, die wir einfach noch nicht erkannt haben.) Als erstes ist das Problem der Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu nennen. Niemand spricht diesen Menschen heute ab, zur Menschheit zu gehören, aber in unseren Gesellschaften sind sie noch immer nicht als Bürgerinnen und Bürger anerkannt, für die das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit gilt. Die Gewährleistung von Erziehung und Ausbildung, Krankenversorgung, politischen Rechten und Freiheiten sowie gleicher Staatsbürgerschaft auf diese Menschen auszudehnen, scheint ein besonders drängendes Problem der Gerechtigkeit zu sein. Um es zu lösen, bedürfen wir einer neuen Auffassung von Bürgerschaft, eines neuen Verständnisses des Zwecks sozialer Kooperation (jenseits einer primären Ausrichtung auf gegenseitige Vorteile) und einer neuen Wertschätzung der Fürsorge (care)[*] als soziales Grundgut. Es geht also nicht einfach nur darum, bereits vorhandene Theorien auf neue Bereiche an15zuwenden: Eine Revision der theoretischen Struktur selbst scheint unumgänglich.

Das zweite drängende Problem betrifft die Ausweitung der Gerechtigkeit auf alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. In diesem Kontext muß theoretisch gezeigt werden, wie sich eine Welt einrichten ließe, die als ganze gerecht ist und in der die Kontingenzen der Geburt und der nationalen Herkunft die Lebenschancen der Menschen nicht durchgängig und von Beginn an verzerren. Da alle vorherrschenden westlichen Gerechtigkeitstheorien vom Nationalstaat als grundlegender Einheit ausgehen, werden vermutlich auch hier neue theoretische Strukturen erforderlich sein, wenn wir dieses Problem in angemessener Weise angehen wollen.

Und schließlich müssen wir uns jenen Gerechtigkeitsfragen stellen, die sich aus unserem Umgang mit nichtmenschlichen Tieren ergeben. Obwohl oft zugestanden wird, daß es sich bei der Tatsache, daß Menschen Tieren Leid zufügen und sie ihrer Würde berauben, um ein ethisches Problem handelt, wird dieser Umstand selten als Frage der sozialen Gerechtigkeit betrachtet. Wenn wir anerkennen, daß es sich aber tatsächlich um eine solche handelt (und die Leserinnen und Leser dieses Buches werden selbst beurteilen müssen, ob ich hierfür überzeugende Argumente anführe), wird deutlich, daß auch dieses neue Problem ein Umdenken in der Theorie erfordert. So müssen etwa Konzeptionen der sozialen Kooperation und der Reziprozität, die bei allen beteiligten Parteien Rationalität voraussetzen, überprüft und neue Ansätze auf der Grundlage eines anderen Typs von Kooperation entwickelt werden.

Die westliche Tradition kennt zahlreiche Herangehensweisen an das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Eine der einflußreichsten und beständigsten ist die Idee des Gesellschaftsvertrags, mit dem sich rationale Menschen aus Gründen des gegenseitigen Vorteils zusammenschließen und entscheiden, den Naturzustand hinter sich zu lassen und sich im Medium 16des Rechts selbst zu regieren. Diese Theorien sind historisch äußerst einflußreich gewesen und wurden in jüngster Zeit im herausragenden Werk von John Rawls auf philosophisch sehr tiefgründige Weise weiterentwickelt. Bei ihnen handelt es sich vermutlich um die überzeugendsten Gerechtigkeitstheorien, über die wir verfügen. Rawls hat jedenfalls plausibel gezeigt, daß sie unsere wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile besser als die verschiedenen Varianten des Utilitarismus artikulieren, überprüfen und systematisieren können.

Eine Theorie kann aber eine große Errungenschaft sein und zugleich in bestimmten Bereichen an ihre Grenzen stoßen. Die klassischen Theorien, denen die Unterscheidung von privat und öffentlich zugrunde liegt, sind in ernsthafte Probleme geraten, als sie der Gleichheit von Frauen Rechnung tragen mußten, und selbst Rawls’ sehr scharfsinnige Behandlung dieser Frage hat ihre Schwächen.[2] Wie er selbst eingesteht, stellen die drei erwähnten Probleme seine kontraktualistische Theorie vor eine besondere Herausforderung. Er hielt das zweite Problem für lösbar und widmete ihm gegen Ende seines Lebens einen großen Teil seiner Arbeitszeit; das erste und das dritte hingegen bezeichnete er als Probleme, »an denen die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß scheitern mag« (PL 88). Ihm zufolge müßten diese Fragestellungen genauer untersucht werden, um herauszufinden, wie schwerwiegend sie sind und wie man sie in den Griff bekommen könnte (ebd.). Auch wenn das vorliegende Buch nicht direkt auf diese selbstkritische Aussage von Rawls zurückgeht, bringt sie meine Absichten doch sehr gut zum Ausdruck.

Meine Überlegungen gründen in der festen Überzeugung, daß es sich bei diesen drei genannten Problemen tatsächlich um gewichtige und bisher ungelöste Fragen der Gerechtigkeit handelt und daß selbst die überzeugendste Theorie in der Tradition des Gesellschaftsvertrags an ihnen scheitern muß. 17Um das zu zeigen, werde ich mich im folgenden immer wieder mit der Theorie von Rawls auseinandersetzen, in der die klassische Idee des Gesellschaftsvertrags meines Erachtens am überzeugendsten zum Ausdruck kommt und die ihre Überlegenheit gegenüber anderen Theorien am plausibelsten verteidigt. Wenn Rawls’ herausragender Theorie in diesen drei Bereichen erhebliche Unzulänglichkeiten nachgewiesen werden können – und genau das werde ich versuchen –, so werden a fortiori auch andere, weniger ausgereifte oder überzeugende Varianten der Vertragstheorie mit diesen Problemen konfrontiert sein.[3] Ich hoffe zeigen zu können, daß man der Schwierigkeiten, die hier auftreten, nicht Herr werden kann, indem man einfach die bereits vorhandene theoretische Struktur auf diese neuen Fälle anwendet. Vielmehr sind die Schwierigkeiten mit der theoretischen Struktur derart eng verknüpft, daß wir eine Alternative zu ihr ausarbeiten müssen, auch wenn zentrale Elemente der Rawlsschen Theorie beibehalten werden können, die unsere Überlegungen in die richtige Richtung lenken.

Diese Schwierigkeiten betreffen nicht allein den Bereich der akademischen Philosophie. Vertragstheorien üben einen tiefen und weitreichenden Einfluß auf die Politik aus. Vorstellungen davon, wer wir sind und warum wir uns zusammenschließen, prägen unser Nachdenken darüber, welche politischen Prinzipien wir vorziehen sollten und wer an deren Bestimmung beteiligt sein sollte. Die weitverbreitete Ansicht, daß manche Bürger »für sich selbst aufkommen« und andere nicht, daß manche Menschen parasitär sind und andere »normal leistungsfähig«, ist ein populärer Ausläufer der vertragstheoretischen Vorstellung der Gesellschaft als System der 18Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. Es ist zwar durchaus möglich, sich in der politischen Praxis gegen derartige Vorstellungen zur Wehr zu setzen, ohne ihren Ursprung zu identifizieren. Tatsächlich kann es sich aber als äußerst hilfreich erweisen, dem Problem sozusagen auf den Grund zu gehen, da wir so zu einer sehr viel klareren Vorstellung davon gelangen, wie wir in diese Schwierigkeiten geraten sind und was wir tun müssen, um hier weiterzukommen. Obwohl ich mich in diesem Buch ausführlich mit philosophischen Ideen auseinandersetzen und dabei den Komplexitäten und Nuancen der entsprechenden Theorien Rechnung tragen werde, sind meine Überlegungen daher auch als ein Beitrag zur praktischen Philosophie gedacht, der uns zu (alten und neuen) umfassenderen Vorstellungen der sozialen Kooperation zu führen vermag, die diesen Schwierigkeiten nicht ausgesetzt sind. Natürlich kann man sich mit all diesen Fragen auch im Rahmen der politischen Praxis auseinandersetzen, ohne eine derart ausführliche philosophische Untersuchung vorzunehmen, aber ich bin doch der Überzeugung, daß sie hilfreich sein kann, zum einen, weil man damit denjenigen Respekt bezeugt, die man kritisiert, und zum anderen, weil eine genauere Vorstellung davon, wo genau die Probleme einsetzen, es uns ermöglicht, an der richtigen Stelle Veränderungen vorzunehmen. Tatsächlich glaube ich nicht, daß eine weniger detaillierte philosophische Untersuchung bei derart komplexen Fragen und ausgefeilten theoretischen Strukturen überhaupt von großer praktischer Relevanz sein kann. Wenn wir uns zu schnell auf die Frage konzentrieren, welchen konkreten Gewinn unsere Überlegungen abwerfen, verlieren wir gerade jene spezifische Art der Klärung und Einsicht, die die Philosophie uns geben kann. Zweifellos verdanken die großen praxisorientierten Werke der politischen Philosophie ihre Größe nicht dem Verzicht auf detaillierte Ausführungen. John Stuart Mills Über die Freiheit ist trotz des frustrierenden Mangels an Details ein bedeutendes Werk, aber es wäre noch großartiger, hätte Mill 19mehr Mühe auf die grundlegenden Fragen verwandt, etwa auf die Frage, was Schädigung bedeutet und wie das Verhältnis zwischen Freiheit und Präferenzen sowie Freiheit und Rechten beschaffen ist. Die beiden großen Werke von Rawls haben gerade deshalb eine besonders starke praktische Orientierungskraft, weil sie schwierige Grundlagenfragen mit der nötigen Strenge und in erfreulicher Ausführlichkeit behandeln.

Mit dem vorliegenden Buch verfolge ich sowohl kritische als auch konstruktive Absichten. Ich werde zu zeigen versuchen, daß die von mir entwickelte Version des Fähigkeitenansatzes (capabilities approach)[*] in allen drei genannten Problemfeldern zu wertvollen Einsichten führt, die den Lösungsansätzen aus der Tradition des Gesellschaftsvertrags überlegen sind. (Wie wir sehen werden, vertrete ich zudem die Auffassung, daß mein Ansatz in weiten Teilen mit einer alternativen Version des Kontraktualismus konvergiert, die auf rein kantianischen ethischen Überlegungen und nicht auf der Idee gegenseitiger Vorteile beruht.) In Women and Human Development habe ich die Grundzüge meiner Theorie skizziert, Fragen der Methode und der Rechtfertigung diskutiert und bin en detail auf die Behandlung zweier besonders schwieriger Probleme eingegangen, auf das Problem der Religion und das Problem der Familie. Ebenso habe ich dort ausführlich herausgearbeitet, welche Vorteile mein Ansatz gegenüber dem präferenzbasierten Utilitarismus hat.

Der nächste logische Schritt auf dem Weg, der uns letztendlich vielleicht zu einem »Überlegungsgleichgewicht«[4] führen wird, ist der Vergleich meiner Herangehensweise mit einer weiteren überzeugenden theoretischen Alternative – dem Kontraktualismus –, um zu belegen, daß sie auch diesem An20satz überlegen ist, zumindest in bestimmten Bereichen. Im folgenden werde ich diesen Schritt zumindest in Angriff nehmen, indem ich darlege, inwiefern der Fähigkeitenansatz mit Bezug auf die drei ungelösten Probleme besser abschneidet. Ich beanspruche nicht zu zeigen, daß mein Ansatz insgesamt überlegen ist, da es andere Fragen geben könnte, die die Vertragstheorien vielleicht besser beantworten können. Ich konzentriere mich vor allem deshalb auf die Theorie von Rawls, da diese in den von ihr behandelten Fragen meines Erachtens zu im Grunde richtigen Antworten kommt (auch wenn ich eine in einigen Details abweichende Theorie der Grundgüter vertrete). Daher ist es interessant herauszufinden, warum sie sich, auch in Rawls’ eigener Einschätzung, mit diesen drei ungelösten Problemen so schwer tut. Die Frage, ob der Fähigkeitenansatz der Rawlsschen Theorie insgesamt vorzuziehen ist, werde ich hier also nicht angehen; sie bedarf einer weiteren und umfassenderen Untersuchung. Vorerst muß die Entscheidung jeder Leserin und jedem Leser selbst überlassen bleiben (wie das letztlich ja immer der Fall ist).

Die Leserinnen und Leser werden bemerken, daß ich in meiner Darstellung des Fähigkeitenansatzes, wie schon in Women and Human Development, einige zentrale Ideen von Rawls übernehme: die Idee des politischen Liberalismus (einer Form des Liberalismus, die nicht in konfliktträchtigen religiösen oder metaphysischen Prinzipien begründet ist) und die Idee eines übergreifenden Konsenses (die besagt, daß Menschen mit unterschiedlichen metaphysischen und religiösen Überzeugungen dennoch den Kern der politischen Konzeption akzeptieren können). Rawls hat insbesondere gegen Ende seines Lebens betont, daß es in seinem Politischen Liberalismus nicht so sehr um seine eigene Gerechtigkeitskonzeption, sondern eher um eine Familie liberaler Konzeptionen geht, unter denen seine eigene nur eine unter mehreren möglichen ist. Ich hoffe, es wird deutlich, daß mein Fähigkeitenansatz zu dieser Familie gehört und daß mein Versuch, ihn der Rawlsschen 21Konzeption zur Seite zu stellen, Rawls’ eigenes Anliegen eher vorantreibt als ersetzt.

Im Rahmen meines Versuchs, zu zeigen, daß der Fähigkeitenansatz die drei genannten Gerechtigkeitsprobleme erfolgreich anzugehen vermag, arbeite ich ihn weiter aus und nehme auch einige Veränderungen vor – am deutlichsten in den Kapiteln V und VI, in denen ich ihn auf die Fragen der internationalen Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit im Umgang mit nichtmenschlichen Tieren ausweite. Neben diesen größeren Modifikationen finden sich eine Reihe subtilerer Veränderungen und Weiterentwicklungen, die vielleicht für Leserinnen und Leser von Interesse sind, die sich mit der Entwicklung meiner Theorie befassen:

1. In den Kapiteln I, III und V diskutiere ich den intuitiven Ausgangspunkt meines Ansatzes und wie aus ihm folgt, daß bestimmte Fähigkeiten in die Liste aufzunehmen sind; vgl. insbesondere meine Ausführungen zu Erziehung und Ausbildung in Kapitel V.1.

2. Die in meinem Ansatz verwendete Idee der Menschenwürde wird in Kapitel III.4 und III.9 diskutiert (vgl. auch V.3). Hier setze ich mich mit der Rolle der Speziesnorm innerhalb der Würdediskussion auseinander und argumentiere, daß Würde nicht auf einer tatsächlichen Eigenschaft von Personen basiert, wie etwa der Vernunft oder anderen besonderen Fähigkeiten; in dieser Hinsicht gibt es eine Veränderung im Vergleich mit meinen früheren Überlegungen zu »grundlegenden Fähigkeiten«. Zudem versuche ich zu zeigen, daß Würde kein von den Fähigkeiten unabhängiger Wert ist, sondern daß die Entwicklung der politischen Prinzipien, in denen es um Fähigkeiten geht, (partielle) Artikulationen der Vorstellung eines menschlichen Lebens in Würde sind.

3. Dem Verhältnis zwischen dem Fähigkeitenansatz und dem Utilitarismus wende ich mich (ein weiteres Mal) im ersten Kapitel zu, aber auch in V.2 und VI.3. Meine dortigen Ausführungen sind nicht wirklich überraschend, aber ich füge 22einige weitere Argumente hinzu und organisiere die bereits bekannten Argumente neu.

4. Das Verhältnis zwischen Fähigkeiten und Rechten wird in V.3 diskutiert. Hier stelle ich klar, daß der Fähigkeitenansatz eine Version eines menschenrechtszentrierten Ansatzes ist, und präsentiere eine verbesserte Darstellung der Überlegenheit des Vokabulars der Fähigkeiten gegenüber dem (bloßen) Menschenrechtsvokabular.

5. Das Verhältnis zwischen dem Fähigkeitenansatz und Fragen des Pluralismus sowie der kulturellen Diversität wird (ein weiteres Mal, aber vielleicht etwas prägnanter) in V.5 und I.6 diskutiert.

6. Mit der Bedeutung des Begriffs der Gleichheit für den Fähigkeitenansatz befasse ich mich in V.4 und VI.9. Weil es sich hier um neue und äußerst komplexe Argumente handelt, werde ich an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung verzichten.

7. In welchem Verhältnis die Rawlssche Idee des »übergreifenden Konsenses« zum Fähigkeitenansatz steht, diskutiere ich in III.4, V.6 und VI.11. Hier wende ich mich zudem der Frage zu, ob es einen übergreifenden Konsens zwischen verschiedenen Nationen mit unterschiedlicher Geschichte und verschiedenen Traditionen geben kann, sowie der noch schwierigeren Frage, ob wir einen übergreifenden Konsens bezüglich der Ausweitung einiger grundlegender Rechte auf Tiere erwarten dürfen.

8. Das Verhältnis zwischen Fähigkeiten als Ansprüchen (Rechten) und den Pflichten, diesen Ansprüchen zu entsprechen, diskutiere ich in V.1.

Das vorliegende Buch rekapituliert also nicht einfach den konstruktiven Vorschlag, den ich in Women and Human Development vorgelegt habe, indem es ihn auf die angeführten neuen Problembereiche ausweitet. Ich betrete in einigen Bereichen gänzlich neuen Boden, präzisiere bereits bekannte Unterscheidungen und gehe auf von Lesern und Kritikern aufge23worfene Fragen ein. Da ich meinen Ansatz bisher nur unvollkommen ausgeführt habe und er wesentlich auf die Welt hin ausgerichtet ist, kann ein solches Vorgehen nicht überraschen: Neue Probleme führen zu Veränderungen in der theoretischen Struktur selbst. Aus diesem Grund dürften meine Ausführungen auch für Leserinnen und Leser von Interesse sein, denen die drei Probleme, die im Zentrum des Buches stehen, nicht so wichtig sind – ich kann mir jedoch nur schwer vorstellen, daß sich jemand für Fragen der Gerechtigkeit interessiert, diesen Problemen aber gleichgültig gegenübersteht.

25Kapitel I Die Idee des Gesellschaftsvertrags und drei ungelöste Probleme der Gerechtigkeit

Da die Menschen, wie schon gesagt wurde, von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuß ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören.

John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung

1. Der Naturzustand

Stellen wir uns eine Zeit vor ohne Regierung und ohne Souverän, ohne Gesetze, Gerichte, anerkannte Eigentumsrechte oder Verträge. Menschen könnten durchaus unter solchen Bedingungen existieren, aber ihr Leben wäre nicht besonders gut. Thomas Hobbes bringt diesen Gedanken in einer berühmten Passage jenes Werkes zum Ausdruck, das am Anfang der klassischen westlichen Tradition des Gesellschaftsvertrags steht:

In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, 26hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.[1]

Vor diesem Hintergrund schließen die Menschen untereinander einen Vertrag, in dem sie sich darauf einigen, auf die private Gewaltanwendung und auf die Möglichkeit, sich das Eigentum anderer einfach zu nehmen, zu verzichten, um auf diese Weise Frieden, Sicherheit und die Erwartung gegenseitiger Vorteile zu ermöglichen. Was für ein Vertrag würde in einer solchen Ausgangssituation von in John Lockes Worten als »frei, gleich und unabhängig«[2] vorgestellten Menschen geschlossen? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, verschafft uns Einblick in die Rechtfertigung politischer Prinzipien. Wenn wir uns die Struktur einer politischen Gesellschaft als das Ergebnis eines Vertrags vorstellen, der in einer Ausgangssituation geschlossen wurde, die in entscheidender Hinsicht fair bzw. ausgeglichen ist, dann kann uns das bei der Bestimmung der Forderungen der Gerechtigkeit helfen.[3] So gelangen wir über ein Verfahren, das auf seiten der beteiligten Individuen keinerlei vorgängige Vorteile als gegeben annimmt, zu einer Reihe von Regeln, die die Interessen aller auf angemessene Weise schützen.

27Der Vorschlag, sich grundlegende politische Prinzipien als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags vorzustellen, gehört zu den wichtigsten Beiträgen der liberalen politischen Philosophie westlicher Tradition. Wir haben den verschiedenen Varianten dieser Tradition zwei herausragende Errungenschaften zu verdanken: Erstens führen sie den ebenso leicht nachvollziehbaren wie gründlichen Beweis, daß eine politische Gesellschaft, in der alle ihre eigene Macht zugunsten des Rechts und einer rechtmäßig konstituierten Autorität aufgeben, tatsächlich im Interesse der Menschen ist – selbst wenn man von einem künstlich vereinfachten Verständnis dieser Interessen ausgeht. Zweitens zeigen sie – und das ist sogar noch wichtiger –, daß Menschen einem Vertrag eines bestimmten Typs zustimmen würden (der von den verschiedenen Theorien dann in unterschiedlicher Weise ausbuchstabiert wird), wenn wir sie der künstlichen Vorteile berauben, die einige von ihnen in allen tatsächlich existierenden Gesellschaften genießen – Wohlstand, sozialer Rang und Klasse, Erziehung und Bildung und so fort.[4] Ausgehend von einer in diesem Sinne fairen Situation werden die sich aus der Verhandlung ergebenden Prinzipien ebenfalls fair sein. Die vertragstheoretische Tradition vermacht uns demnach ein prozedurales Verständnis der politischen Gesellschaft,[5] zu dessen wesentlichen Annahmen der gleiche Wert der Personen und die Idee der Reziprozität gehören.

Das soeben skizzierte Verständnis der politischen Gesellschaft ist ein zentraler Bestandteil des Angriffs, den der klassische Liberalismus gegen die Traditionen des Feudalismus 28und des Monarchismus geführt hat.[6] Aus der Tatsache, daß wir im Naturzustand alle ungefähr gleichgestellt sind, folgt eine fundamentale Kritik jener Regime, die Wohlstand, Rang und Status zur Grundlage einer Ungleichverteilung sozialer und politischer Macht machen. Demnach umfaßt die Vorstellung eines im Naturzustand geschlossenen Vertrags nicht nur eine substantielle Auffassung der politischen Prinzipien, sondern auch einen Maßstab politischer Legitimität. Insofern die Prinzipien einer gesellschaftlichen Ordnung von jenen abweichen, die freie, gleiche und unabhängige Personen in einem Naturzustand festlegen würden, wird deren Legitimität in Frage gestellt.

Da die vertragstheoretische Tradition eine gleichermaßen anschauliche, exakte und erhellende Weise des Nachdenkens über Gerechtigkeit unter Gleichen darstellt, hat sich ihre philosophische Produktivität bis heute erhalten. So kann die überzeugendste und einflußreichste Theorie der Gerechtigkeit des 20. Jahrhunderts, diejenige von John Rawls, ohne Einschränkungen dieser Tradition zugeordnet werden. Rawls hat die Implikationen der Idee des Vertrags vermutlich auf präzisere und umfassendere Weise ausbuchstabiert als jeder andere Denker.

In Eine Theorie der Gerechtigkeit betont er von Beginn an, daß er seinen Ansatz in die Tradition des Gesellschaftsvertrags stellt: »Ich möchte eine Gerechtigkeitsvorstellung darlegen, die die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages etwa von Locke, Rousseau und Kant verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt.«[7] »Der Leitgedanke ist […], daß […] die Gerechtigkeitsgrundsätze […] diejenigen Grundsätze [sind], die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen 29Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit […] annehmen würden.« (TG 27f.) Um seine Verwendung des Begriffs des Vertrags gegen mögliche Einwände zu verteidigen, fügt Rawls hinzu: »Und schließlich: die Vertragstheorie hat eine lange Tradition. Betont man die Verbindung zu dieser Denkrichtung, so fördert das die Bestimmtheit der Gedanken und entspricht einer natürlichen Pietät.« (TG 34, vgl. 143f.) (Die seltsame Bemerkung über »natürliche Pietät« ist ein Beispiel für den Respekt, den Rawls den Theorien seiner Vorgänger zeit seines Lebens gezollt und der sowohl seine Lehre als auch sein Schreiben geprägt hat.)

Freilich sind Rawls’ historische Bezugnahmen in Wirklichkeit komplexer, als es diese Bemerkung nahelegt. So macht er von David Humes Überlegungen zu den »Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit« (circumstances of justice) Gebrauch, um jene Bestandteile seiner Theorie herauszustellen, die im klassischen Kontraktualismus eine weniger explizite Rolle spielten, obwohl Hume selbst kein Vertragstheoretiker war. Dies macht die Dinge zwar etwas komplizierter, stellt jedoch deshalb kein Problem dar, weil Humes Ansichten in dieser Frage ziemlich genau zu jenen von Locke und Kant passen. Zur Erklärung seiner Bezugnahme auf Hume verweist Rawls darauf, daß dessen Darstellung der »Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit« »besonders klar« (TG 150) und viel detaillierter sei als die entsprechenden Überlegungen von Locke und Kant.

In zwei zentralen Hinsichten unterscheidet sich Rawls’ Theorie allerdings von allen vorangehenden Konzeptionen eines Gesellschaftsvertrags. Erstens will er elementare politische Prinzipien auf äußerst sparsame Annahmen gründen. Da es sich bei seiner Theorie um eine Theorie »reiner Verfahrensgerechtigkeit« handelt, in der das richtige Verfahren die richtigen Ergebnisse festlegt, weicht er von der historischen Tradition insofern ab, als er gerade nicht voraussetzt, daß den Menschen im Naturzustand irgendwelche natürlichen Rechte 30zukommen. Seine Sichtweise unterscheidet sich demnach auf grundlegendere Weise von den naturrechtlichen Theorien von Grotius und Pufendorf, als dies für die Theorien von Locke und Kant gilt.

Ein zweiter Unterschied betrifft die Rolle moralischer Überlegungen für das kontraktualistische Verfahren. Rawls’ Entscheidungssituation umfaßt moralische Annahmen, die Hobbes, Locke und selbst Kant (in seinen politischen Schriften) vermeiden.[8] Der Schleier des Nichtwissens ist ein Instrument zur Sicherung moralischer Unparteilichkeit und eng verwandt mit der Kantischen Vorstellung, daß eine Person nicht bloß als Mittel zu Zwecken anderer benutzt werden darf.

Aus Rawls’ doppelter Treue – gegenüber der klassischen Lehre des Gesellschaftsvertrags und gegenüber den Kernideen von Kants Moralphilosophie – ergibt sich sowohl eine Reihe von Einsichten als auch eine grundlegende Spannung in seiner Theorie. Es steht jedoch trotz seiner tiefen Verbundenheit gegenüber den moralischen Ideen der gleichen Achtung und der Reziprozität außer Frage, daß Rawls niemals davon abgerückt ist, sein Projekt als Teil der Tradition des Gesellschaftsvertrags, wie er sie rekonstruiert und interpretiert hat, zu verstehen.[9] Auch dort, wo es scheinbar zu gravierenden Abwei31chungen kommt, weist Rawls seine Leser auf tieferliegende Ähnlichkeiten hin. So setzt er die Leser davon in Kenntnis, daß er die Fiktion des Naturzustands sehr wohl verwendet, auch wenn das zunächst nicht der Fall zu sein scheint: »In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags.« (TG 28) Im allgemeinen läßt sich, wie wir sehen werden, ein Gutteil seiner Ansichten nur dann wirklich verstehen, wenn wir diese Verbindungslinien im Blick behalten. In Gestalt von Rawls’ Werk hat die vertragstheoretische Tradition den ausgereiftesten Beitrag zur Diskussion darüber geleistet, was die Gerechtigkeit verlangt, wenn wir von der Vorstellung gleicher Personen, ihres Werts und ihrer Fähigkeiten ausgehen.

Der kritische Teil meiner Argumentation wird sich hauptsächlich auf Rawls und, in einem geringeren Maße, auf andere zeitgenössische Vertreter der Vertragstheorie (wie etwa David Gauthier) beziehen. Stärker kantianische Formen des Kontraktualismus, die sich vollständig von der Tradition des Gesellschaftsvertrags und seiner Ausrichtung an gegenseitigen Vorteilen ablösen, werde ich nicht behandeln – auch wenn ich im zweiten Kapitel die mögliche Konvergenz zwischen meinem Fähigkeitenansatz und diesen kontraktualistischen Theorien (etwa jener von Thomas Scanlon im Bereich der Ethik und jener von Brian Barry im Bereich der Politik) diskutieren werde. In unserer Zeit hat die Tradition des Gesellschaftsvertrags eine spezifische Gestalt angenommen, was zum Teil auf den weitgehenden Einfluß ökonomischer Vorstellungen des Aushandelns auf unsere politische Kultur als ganze zurückzuführen ist. Philosophische Kontraktualisten kritisieren diese Ideen, sind aber zugleich von ihnen beeinflußt, insofern sie die klassische Vorstellung des Gesellschaftsvertrags interpre32tieren und neu fassen. Rawls wendet sich gegen den in den Wirtschaftswissenschaften und darüber vermittelt auch in der Politik vorherrschenden Utilitarismus; aber er verwendet die klassische Vorstellung des Gesellschaftsvertrags, um seine Leser (an vorderer Stelle auch seine ökonomisch orientierten Leser) davon zu überzeugen, daß das richtige Nachdenken über politische Prinzipien reichhaltiger und moralischer zu sein hat.

Hinter dem gegenwärtigen Kontraktualismus stehen also vielschichtige Einflüsse. Mit Ausnahme von Rawls werde ich keine detaillierte Auslegung einzelner historischer Vertreter dieser Doktrin vorlegen, aber ich werde versuchen, die wesentlichen Einflußlinien aufzuzeigen, die die wichtigsten Vertreter mit Rawls’ Theorie verbinden. Ungeachtet der Feinheiten und Komplexitäten ihrer einzelnen Versionen kann man meines Erachtens jedoch behaupten, daß die vertragstheoretische Tradition uns eine allgemeine Vorstellung von der Gesellschaft vermacht hat, in der diese als Ergebnis eines zum gegenseitigen Vorteil geschlossenen Vertrags unter Menschen erscheint, die »frei, gleich und unabhängig« sind (und die, indem sie kooperieren, etwas erreichen, was sie auf sich allein gestellt nicht erreichen würden). Diese tief in unsere politische Kultur eingelassene Vorstellung ist der Gegenstand meiner kritischen Untersuchung.

2. Drei ungelöste Probleme

(1) Beeinträchtigung und Behinderung.[10] Trotz der bedeutenden Beiträge dieser Tradition und ihres bleibenden Werts erweisen sich ihre gegenwärtigen Varianten als ungenügend, wenn es um die drei drängendsten Probleme der Gerechtigkeit in unserer Welt geht. Ihre klassischen Vertreter sind alle davon aus33gegangen, daß die Vertragsparteien Männer sind, die in etwa über die gleichen Fähigkeiten verfügen und zu produktiver ökonomischer Tätigkeit in der Lage sind. Dementsprechend wurden Frauen (die nicht als »produktiv« galten), Kinder und alte Menschen nicht als Teilnehmer der Verhandlungssituation verstanden – auch wenn die Vertragsparteien deren Interessen durchaus repräsentieren konnten.[11] Diese auch schon für das 17. und 18. Jahrhundert erstaunlichen Auslassungen sind in gegenwärtigen Vertragstheorien zu einem gewissen Grad korrigiert worden, obwohl die Vorstellung der Familie als Teil einer gegenüber Recht und Vertrag immunen Privatsphäre nicht immer so gründlich kritisiert worden ist, wie es geboten wäre.[12]

Menschen mit starken oder atypischen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen werden jedoch in keiner Variante des Gesellschaftsvertrags zur Gruppe derjenigen gezählt, die die grundlegenden politischen Prinzipien festlegen. Wie wir wissen, sind diese Menschen in den meisten modernen Gesellschaften bis vor kurzem auch nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet worden. Sie wurden ausgeschlossen und stigmatisiert, und es gab keine politische Bewegung, die für ihre Inklusion gekämpft hat. Insbesondere Menschen, die unter schweren geistigen Beeinträchtigungen litten, wurden sogar Erziehung und Bildung vorenthalten. Sie wurden in speziellen Einrichtungen weggesperrt oder dem Tod durch Vernachlässigung überlassen;[13] zu keinem Zeitpunkt wurden sie als 34Teil der Öffentlichkeit betrachtet.[14] Deshalb kann es kaum überraschen, daß die Vertreter der klassischen Vertragstheorie diese Menschen nicht als an der Wahl der politischen Prinzipien beteiligt sahen und daß sie bereit waren, von fundamentalen Annahmen (etwa der ungefähren Gleichheit in bezug auf Macht sowie auf körperliche und geistige Fähigkeiten) auszugehen, die ihre Beteiligung auf der ersten und grundlegenden Entscheidungsebene unmöglich machten.

Im Fall vieler Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen, die ohne Einschränkungen dazu in der Lage sind, an der politischen Entscheidungsfindung teilzunehmen, erscheint schon dieser Ausschluß aus der grundlegenden Entscheidungssituation als Mangel an Gerechtigkeit. Sie werden im Verhältnis zu anderen Bürgerinnen und Bürgern nicht als im vollen Sinne Gleiche behandelt; ihre Stimmen werden bei der Wahl der grundlegenden Prinzipien nicht gehört. Dieses Problem erscheint noch gravierender, wenn wir zugestehen, daß in vielen Fällen einige der Faktoren, die Menschen mit Beeinträchtigungen von der Teilnahme an politischen Entscheidungen ausschließen, sozial kontingent und keineswegs unvermeidbar sind. So gibt es etwa keinen prinzipiellen Grund, warum diese Menschen nicht Teil einer Entscheidungssituation sein sollten, die keine bestimmte gesellschaft35liche Institutionenstruktur vorauszusetzen behauptet. Sicher, manche Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen können nicht direkt zur Gruppe der die politische Wahl Treffenden gehören, wie wohlwollend wir ihr Potential zu einer solchen Teilnahme auch einschätzen mögen. In diesem Fall erscheint es nicht als Ungerechtigkeit, wenn sie nicht an der Entscheidung teilnehmen, solange es einen anderen Weg gibt, ihre Interessen miteinzubeziehen.

Der Ausschluß von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen aus der Vertragssituation wird noch problematischer, wenn wir uns ein frappierendes Merkmal aller Gesellschaftsvertragstheorien vor Augen führen. Die Tradition des Gesellschaftsvertrags identifiziert zwei Fragen, die prinzipiell zu unterscheiden sind: »Von wem werden die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft formuliert?« und »Für wen werden die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft formuliert?«[15] Die Vertragsparteien werden als identisch mit den Bürgern vorgestellt, die zusammenleben werden und deren Leben durch die gewählten Prinzipien reguliert werden soll. Die zentrale moralische Idee der Tradition ist die des gegenseitigen Vorteils und der Reziprozität unter Menschen, die einen solchen Vertrag zu schließen gezwungen sind. An erster Stelle regeln die gewählten Prinzipien die Beziehungen dieser Menschen untereinander. Andere Interessen und Personen (oder andere Lebewesen) können entweder auf abgeleitete Weise einbezogen werden, etwa dadurch, daß sich die Vertragsparteien selbst dafür zuständig und verpflichtet fühlen, oder zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Prinzipien bereits gewählt sind. Die primären Subjekte der Gerechtigkeit sind jedoch diejenigen, die auch die Prinzipien festlegen. Werden in der Tradition demnach bestimmte Fähigkeiten (Vernunft, Sprache, in etwa gleiche körperliche und geistige Fähigkeiten) als Bedingungen der Teilnahme an jenem Verfahren ange36nommen, in dem die Prinzipien gewählt werden, so haben diese Anforderungen massive Konsequenzen für die Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen und für ihre Stellung als Empfänger oder Subjekte der Gerechtigkeit in der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Ordnung. Die Tatsache, daß sie aus der Gruppe derjenigen, die die Wahl treffen, ausgeschlossen werden, bedeutet, daß sie (außer abgeleitet oder zu einem späteren Zeitpunkt) auch nicht zur Gruppe derjenigen gehören, für die diese Prinzipien gewählt werden.

Rawls’ Theorie ist in dieser Hinsicht etwas subtiler, weil er explizit unterscheidet zwischen den Parteien des Urzustands und den Bürgern der Gesellschaft, die letztlich von ersteren eingerichtet werden soll. (Die Bürger unterliegen nicht den Informationsbeschränkungen des Schleiers des Nichtwissens; statt dessen verfügen sie über eine umfassende moralische Bildung, die so angelegt ist, daß sie zu gesellschaftsstabilisierenden Gefühlen führt.) Wenn es um die von uns aufgeworfenen Fragen der Behinderung und der Spezieszugehörigkeit geht, ist dieser Unterschied jedoch ohne Bedeutung. Die Parteien wählen Prinzipien, als würden diese für eine Gesellschaft gelten, in der sie selbst leben und ihre Pläne verfolgen. Die Bürger leben unter den von jenen Parteien im Rahmen des Gedankenexperiments gewählten Prinzipien. Obwohl sie praktische Vorkehrungen zugunsten der Bedürfnisse von Menschen und Tieren treffen können, die nicht zur ursprünglichen vertragsschließenden Gruppe gehören, steht es ihnen nicht frei, die Prinzipien der Gerechtigkeit selbst im Lichte ihrer Kenntnis dieser Probleme umzuformulieren. In Politischer Liberalismus gibt Rawls eine etwas andere Darstellung, die seine grundlegende Treue gegenüber der historischen Tradition verdeutlicht: Die Parteien im Urzustand werden nun als »Repräsentanten« oder als Treuhänder der Bürger verstanden. In die Charakterisierung der Bürger, um deren Treuhänder es geht, werden allerdings explizit jene Eigenschaften 37aufgenommen, die schon in der Darstellung von Eine Theorie der Gerechtigkeit mit Bezug auf die Frage der Behinderung in Schwierigkeiten geführt haben: Von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten heißt es, wie schon für die Parteien aus Eine Theorie der Gerechtigkeit, daß diese »im Bereich des Normalen« liegen (PL 384). Letztlich formulieren die Parteien demnach Prinzipien für Bürger, die, wie sie selbst, Menschen ohne schwere geistige oder körperliche Einschränkungen sind.

Die Fragen »von wem?« und »für wen?« müssen jedoch nicht auf diese Weise miteinander verknüpft werden. Man könnte eine Theorie vertreten, der zufolge zahlreiche menschliche und nichtmenschliche Lebewesen als primäre Subjekte der Gerechtigkeit gelten, auch wenn sie nicht dazu in der Lage sind, an dem Verfahren teilzunehmen, in dem die politischen Prinzipen ausgewählt werden. Wenn man von der Überlegung ausgeht, daß vielen verschiedenen Arten von Leben Würde zukommt und Achtung entgegenzubringen ist, könnte es starke Gründe dafür geben, nach einer solchen Theorie zu suchen und die beiden Fragen auseinanderzuhalten. Mit dieser Auffassung geht unmittelbar die Einsicht einher, daß die Fähigkeit, einen Vertrag zu schließen, und der Besitz jener Fähigkeiten, die in der zu gründenden Gesellschaft zu gegenseitigen Vorteilen führen, keine notwendigen Bedingungen dafür sind, ein Bürger zu sein, dem Würde zukommt und dem wir eine respektvolle Behandlung auf der Grundlage seiner Gleichheit mit allen anderen schulden.

Aufgrund der für Vertragstheorien charakteristischen Struktur hat der Ausschluß von Menschen mit Behinderungen von der ursprünglichen Festlegung grundlegender politischer Prinzipien massive Konsequenzen für deren Status als gleiche Bürgerinnen und Bürger. Da die Frage der Gerechtigkeit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen heute ganz oben auf der Agenda einer jeden anständigen Gesellschaft steht, erscheint der Ausschluß all dieser Menschen von der Teilnahme 38an der grundlegenden politischen Entscheidungssituation als äußerst problematisch, wenn man in Rechnung stellt, daß viele, wenn nicht die meisten von ihnen, offensichtlich in der Lage wären, an einer solchen Entscheidung teilzunehmen; und ihr Ausschluß aus jener Gruppe von Personen, für die die grundlegenden Prinzipien der Gesellschaft gewählt werden, ist noch problematischer. Selbst wenn ihre Interessen abgeleitet oder zu einem späteren Zeitpunkt Berücksichtigung finden können, fragen wir uns doch verständlicherweise, warum diese Verschiebung notwendig sein sollte und ob sie nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit die umfassende Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigt – selbst wenn es sich nicht an und für sich um eine Form der Ungleichbehandlung handelt. Wie wir sehen werden, gibt Rawls zu, daß es hier eine Lücke in seiner Theorie gibt, die ihm Sorgen bereitet. Ich werde zu zeigen versuchen, daß Rawls’ Auseinandersetzung mit dem Problem der Behinderung ungenügend und doch nicht einfach zu korrigieren ist. Die umfassende Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen wirft Fragen auf, die den Kern der klassischen kontraktualistischen Auffassung von Gerechtigkeit und sozialer Kooperation berühren.

(2) Nationalität. Ein zweiter Bereich, in dem die Tradition des Gesellschaftsvertrags in Schwierigkeiten gerät, betrifft den Einfluß der Nationalität bzw. des Geburtsortes auf die grundlegenden Lebenschancen der Menschen. In unserer durch zunehmende Interdependenzen gekennzeichneten Welt müssen wir uns jenen Fragen der Gerechtigkeit zuwenden, die durch die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Nationen aufgeworfen werden, denn diese beeinträchtigen die Lebenschancen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das Modell des Gesellschaftsvertrags wird typischerweise verwendet, um eine einzelne Gesellschaft zu konstruieren, die als autark und unabhängig von anderen Gesellschaften vorgestellt wird. Sowohl Kant als auch Rawls erkennen die Bedeutung von Fragen der 39Gerechtigkeit zwischen Nationen durchaus an. Die Logik ihrer Theorien führt sie jedoch dazu, diese Fragen nur auf einer zweiten, abgeleiteten Ebene aufzuwerfen. Beide stellen sich vor, daß die Beziehungen zwischen Staaten nach deren Etablierung noch immer dem Naturzustand ähneln; aus diesem Grund bedarf es dann weiterer Prinzipien, um die internationalen Beziehungen zu regulieren.

In diesem zweistufigen Modell werden Staaten demnach als strukturgleich mit den »freien, gleichen und unabhängigen« Personen auf der ersten Stufe der Argumentation vorgestellt. Selbst wenn wir auf dieser zweiten Stufe den Ausgang aus dem Naturzustand kontraktualistisch zu begreifen haben, müssen wir demnach auch hier wieder fragen, wer zur Gruppe der Vertragsparteien gehört und welche Bedingungen der Unabhängigkeit, der Freiheit und der ungefähren Gleichheit als gegeben vorausgesetzt werden müssen, damit das Modell des Gesellschaftsvertrags überhaupt Anwendung finden kann. Nun mag freilich bezweifelt werden, daß die Annahme der Unabhängigkeit und ungefähren Gleichheit der Staaten überhaupt sinnvoll ist in einer Welt, in der ein mächtiger globaler Markt alle ökonomischen Entscheidungen voneinander abhängig macht und arme Nationen häufig Bedingungen unterwirft, die bestehende Ungleichheiten verstärken und vertiefen. Zudem impliziert diese Annahme, daß jene Nationen, die sehr viel weniger Macht haben als die mächtigsten Nationen, vor allem wenn sie sich (zumindest teilweise) auf einer vorindustriellen Entwicklungsstufe befinden, von der den ursprünglichen Vertrag schließenden Gruppe ausgeschlossen werden müssen. Ihre Bedürfnisse müssen an späterer Stelle berücksichtigt werden, nachdem bereits Prinzipien gewählt und festgelegt worden sind, die das Leben ihrer Bevölkerungen tiefgreifend beeinflussen – und diese Bedürfnisse werden aus Wohltätigkeit und nicht als Teil der grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit berücksichtigt. (Die Lage ärmerer Nationen entspricht in dieser Hinsicht derjenigen von Perso40nen mit Beeinträchtigungen auf der ersten Stufe des Gesellschaftsvertrags.)

Bereits im 17. Jahrhundert hat Hugo Grotius eine nuancierte Darstellung der gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Nationen vorgelegt und die Ansicht vertreten, daß moralische Normen die Aktivitäten aller Nationen und Individuen in der »internationalen Gesellschaft« einschränken. Grotius zufolge rechtfertigen die individuellen Menschenrechte unter bestimmten Umständen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen. Noch bedeutsamer ist jedoch seine Ansicht, daß die Beantwortung der Frage, wem welches Eigentum gehört, von einer genauen Untersuchung der Bedürfnisse und des Überschusses abhängt, wobei die Armen einer Nation in manchen Fällen Eigentumsrechte an dem Überschuß einer anderen Nation haben.[16] Grotius war allerdings kein Gesellschaftsvertragstheoretiker, und er wäre nicht zu diesen Schlußfolgerungen gelangt, wäre er von den Ideen ausgegangen, die später für die Tradition des Gesellschaftsvertrags zur Norm wurden. Die Logik eines um gegenseitiger Vorteile willen geschlossenen Vertrags legt nämlich schon nahe, daß man jene Akteure, deren Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohlergehen vermutlich dramatisch geringer ausfallen wird als derjenige der anderen, nicht an erster Stelle miteinbezieht. Wenn es um einen Vertrag zwischen Nationen geht, befinden sich sehr bedürftige Nationen in genau dieser Position: Warum sollten wohlhabende Länder, denen es um gegenseitige Vorteile geht, diese in die Gruppe der Vertragsparteien aufnehmen, wenn sie die Beziehungen mit diesen Nationen auch auf andere Weise regeln können, nachdem die grundlegenden Prinzipien bereits gewählt worden sind? Da zudem die betreffenden Staaten die Eigentumsansprüche bereits festgelegt haben, und zwar lange bevor sie den auf der zweiten Stufe angesiedelten internationalen Vertrag eingehen, 41und da diese Prinzipien als unveränderbar verstanden werden, wird ein radikaler Vorschlag wie Grotius’ Überlegung zu Eigentum und Bedürfnis nicht einmal in Erwägung gezogen werden können.

Die Frage der internationalen Gerechtigkeit ist in der Welt der klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrags in gewisser Hinsicht unausweichlich gewesen. Schließlich waren die wichtigsten Theoretiker aufs engste vertraut mit zwischenstaatlichen Kriegen sowie Handel und kolonialer Expansion. Dennoch schien es möglich, mit Bezug auf die internationalen Beziehungen eine »dünne« Herangehensweise zu wählen, die sich auf die Fragen von Krieg und Frieden beschränkte und Fragen der ökonomischen Umverteilung oder des Schutzes grundlegender Menschenrechte einfach ausblendete. (Man beachte jedoch, daß schon Grotius die Ansicht vertrat, daß es einen dauerhaften Frieden nur geben könne, wenn man auch die Notwendigkeit ökonomischer Umverteilung berücksichtigt.) Heute erweist sich diese »dünne« Herangehensweise, die tief in die Praxis der wohlhabenden Nationen und in unser System des Völkerrechts eingelassen ist, zunehmend als unangemessen. Zwischen reichen und armen Nationen bestehen in all jenen Bereichen, die die grundlegenden Lebenschancen am stärksten betreffen – Sterblichkeit, Gesundheit, Bildung usw. –, extreme Unterschiede. Selbst wenn wir die durch das Erbe des Kolonialismus aufgeworfene Frage historischer Gerechtigkeit ausklammern, sind wir mit drängenden zukunftsgerichteten Fragen der Gerechtigkeit konfrontiert, sobald wir kritisch über die Funktionsweise des globalen Wirtschaftssystems nachdenken, das von einer kleinen Anzahl von Nationen kontrolliert wird, aber einen entscheidenden Einfluß auf alle hat. Auch die überzeugendsten Versuche, diese Probleme im Rahmen der Tradition des Kontraktualismus anzugehen – John Rawls’ Das Recht der Völker sowie verwandte Arbeiten von Thomas Pogge und Charles Beitz –, erweisen sich als unzureichend angesichts der Komplexität der Fragen, mit denen 42wir es zu tun haben. Der Fähigkeitenansatz, der in verschiedenen Hinsichten die an Grotius anschließende naturrechtliche Tradition wiederbelebt, verschafft uns hier eine bessere Orientierung.

(3) Spezieszugehörigkeit. In den Debatten über globale Gerechtigkeit geht es typischerweise um die geographische Ausweitung unserer Gerechtigkeitstheorien, um auf diese Weise einen größeren Teil der auf der Erde lebenden Menschen miteinzubeziehen. Häufig denken wir auch darüber nach, unsere Theorien in zeitlicher Hinsicht auszuweiten, um die Interessen zukünftiger Generationen zu berücksichtigen – auch wenn ich diese Art von Fragen im folgenden aus Gründen, auf die ich zurückkommen werde, nur kurz erwähnen will. Womit wir uns weniger häufig beschäftigen – obwohl wir heute mehr darüber nachdenken, als das in früheren Generationen der Fall gewesen ist –, ist die Notwendigkeit, unsere Theorien der Gerechtigkeit über die Menschheit hinaus auszudehnen und jene Fragen der Gerechtigkeit anzusprechen, die nichtmenschliche Tiere betreffen. In diesem Bereich sind die Mängel der Vertragstheorie offensichtlich. Da ihrer Vorstellung nach ein Vertrag zwischen rationalen erwachsenen Menschen den Ursprung der Gerechtigkeitsprinzipien darstellt, ist hier, zumindest auf der Ebene fundamentaler sozialer Gerechtigkeit, einfach kein Raum für die Interessen nichtmenschlicher Lebewesen (nicht einmal für jene, die in bestimmten Hinsichten rational sind). Ein weiteres Mal führt die Tatsache, daß diese Theorien die Frage »Von wem werden die Prinzipien der Gerechtigkeit formuliert?« mit der Frage »Für wen werden diese Prinzipien formuliert?« verwechseln, dazu, daß sie Tiere nicht zur Gruppe jener Subjekte zählen können, für die die Theorie entworfen wird, da Tiere nicht am Zustandekommen des Vertrags beteiligt sind.

Die sich dieser Tradition zuordnenden Theoretiker gehen typischerweise davon aus, daß wir entweder keine direkten moralischen Pflichten gegenüber Tieren haben (Kant) oder 43daß diese Pflichten, so sie denn existieren, Pflichten der Wohltätigkeit und des Mitleids sind, nicht aber solche der Gerechtigkeit (Rawls). Diese Haltung erscheint unbefriedigend (auch wenn weitere Ausführungen zur Unterscheidung von Fragen der Gerechtigkeit und solchen der Wohltätigkeit nötig sind sowie dazu, warum das Tieren angetane Unrecht Fragen der Gerechtigkeit aufwirft). Tagtäglich beeinträchtigen wir mit unseren Entscheidungen das Leben nichtmenschlicher Spezies und fügen ihnen auf diese Weise häufig enormes Leid zu. Tiere gehören aber nicht einfach zur Ausstattung der Welt; sie sind aktive Wesen, die ihr eigenes Leben zu leben versuchen und denen wir dabei oft im Weg stehen. Das sieht eher nach einem Problem der Gerechtigkeit als nach einem bloßen Anlaß für Wohltätigkeit aus. Es ist demnach ein weiterer gravierender Nachteil, wenn eine Theorie noch nicht einmal dazu in der Lage ist, das Verhältnis von Menschen und Tieren als jene Art von Verhältnis zu bestimmen, die es zu sein scheint und die diejenigen Probleme aufwirft, die es offensichtlich aufzuwerfen scheint.

Die drei Problembereiche der Gerechtigkeit, um die es mir hier geht, müssen voneinander unterschieden und jeweils separat erörtert werden, da sie die Doktrin des Gesellschaftsvertrags auf unterschiedliche Weisen unter Druck setzen. Allerdings teilen sie ein wichtiges Merkmal: In ihnen geht es um eine problematische Asymmetrie zwischen der Macht und den Fähigkeiten jener Wesen, deren Ansprüche im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen werden, auf der einen und einer herrschenden Gruppe auf der anderen Seite. Diese Asymmetrie spielt in allen drei Fällen eine Rolle, wenn es darum geht zu erklären, warum es der traditionellen vertragstheoretischen Herangehensweise nicht gelingt, diese Fragen befriedigend zu beantworten.

Heute wird allgemein anerkannt, daß die drei Problembereiche wichtig sind, was in früheren Zeiten nicht der Fall war. Unzulänglichkeiten der Gesellschaftsvertragstheorien, 44die einst als vernachlässigenswert erschienen, werden nun als schwerwiegend erlebt. Sie veranlassen uns dazu, jenseits des Gesellschaftsvertrags nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie sich die Grundlagen einer wirklich globalen Gerechtigkeit artikulieren lassen.

3. Rawls und die drei ungelösten Probleme

Rawls gibt zu, daß seine Theorie in genau diesen Bereichen auf erhebliche Probleme stößt. In Politischer Liberalismus nennt er vier Probleme, die seiner Gerechtigkeitskonzeption Schwierigkeiten bereiten: was wir Menschen mit (temporären wie permanenten, geistigen wie körperlichen) Behinderungen schulden; die Forderungen der Gerechtigkeit jenseits nationaler Grenzen; »was wir den Tieren und dem Rest der Natur schulden« (wie wir sehen werden, bestreitet Rawls, daß es sich hierbei um Gerechtigkeitsfragen handelt); und die Frage des Sparens zum Wohle zukünftiger Generationen. Er kommt zu dem folgenden Ergebnis: »Obwohl ich alle diese Fragen letztlich gerne beantworten würde, hege ich große Zweifel daran, daß dies innerhalb der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß als einer politischen Konzeption möglich ist.« (PL 88) Seines Erachtens läßt sich über eine Ausweitung der von ihm vertretenen Konzeption eine plausible Antwort auf das Problem der zukünftigen Generationen finden (da ich dieser Einschätzung zustimme, werde ich im folgenden nicht auf diese Frage eingehen). Auch das Problem der internationalen Gerechtigkeit kann er seines Erachtens mit einer entsprechenden Erweiterung in den Griff bekommen; sein letztes Buch, Das Recht der Völker, stellt den Versuch dar, diese Behauptung einzulösen. Tatsächlich gelingt es ihm jedoch nicht, eine zufriedenstellende Analyse dieses Bereichs vorzulegen. Zudem räumt Rawls ein, daß es sich bei den beiden verbleibenden Problemen um Fragen handelt, »an denen die Konzeption 45der Gerechtigkeit als Fairneß scheitern mag«. Er sieht zwei Möglichkeiten, dieses eventuelle Scheitern zu interpretieren: Zum einen kann es sein, »daß die Idee der politischen Gerechtigkeit nicht alles abdeckt und daß wir dies auch nicht erwarten sollten«; zum anderen könnte es sich durchaus um ein Gerechtigkeitsproblem handeln, »für das Gerechtigkeit als Fairneß nicht die richtige Konzeption ist, auch wenn sie sich in anderen Fällen bewährt. Um zu beurteilen, wie schwerwiegend ein solches Scheitern wäre, müssen wir abwarten, bis wir einen konkreten Fall untersuchen können.« (PL 88)[17]

Auch wenn meine Überlegungen nicht wirklich auf diese Bemerkung von Rawls zurückgehen, läßt sich mein Argument doch als Versuch verstehen, die Herausforderung anzunehmen, die Rawls hier sich selbst und anderen stellt. Ich werde dies tun, indem ich die genannten Probleme nacheinander durcharbeite, um zu prüfen, inwiefern eine Theorie, wie Rawls sie vertritt (die sowohl kantianisch als auch kontraktualistisch ist), mit ihnen umzugehen vermag. Dabei werde ich die These vertreten, daß Rawls’ Theorie letztlich keine befriedigenden Antworten auf diese drei Probleme zu liefern vermag und daß sie insbesondere nicht dazu in der Lage ist (wie er selbst zugibt), sie als grundlegende Gerechtigkeitsprobleme zu behandeln; eine Version des Fähigkeitenansatzes, wie ich 46ihn in Women and Human Development[18] entwickelt habe, ist zur Behandlung dieser Fragen besser geeignet.

Dieses Fazit ist deshalb von besonderem Interesse, weil Rawls’ Gerechtigkeitstheorie meines Erachtens die überzeugendste Theorie der Gerechtigkeit ist, über die wir verfügen. In den von ihr behandelten Bereichen führt sie zu außerordentlich plausiblen und anregenden Einsichten. Den beiden von Rawls herausgearbeiteten Gerechtigkeitsprinzipien kommt große Überzeugungskraft zu. Auch wenn ich die Theorie der Grundgüter, auf deren Basis sie ausgearbeitet wurden, in verschiedenen Hinsichten kritisieren werde, halte ich die Prinzipien selbst für durchaus richtig. Meine eigene Theorie beginnt mit anderen Annahmen, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis. Wir sollten uns jedoch von Anfang an klarmachen, daß Rawls’ Theorie bezüglich der drei ungelösten Probleme überhaupt keine Prinzipien anzubieten hat. In späteren Beiträgen führt er zwar tatsächlich weitere Prinzipien für den Bereich der internationalen Gerechtigkeit ein, aber aufgrund von bestimmten seiner Theorie zugrundeliegenden Annahmen können die anderen beiden hier angesprochenen Probleme von seinen Gerechtigkeitsprinzipien einfach nicht erfaßt werden. Rawls ermuntert uns zu einer eingehenderen Untersuchung dieser beiden Fälle und legt nahe, daß seine Theorie ergänzt oder neu bewertet werden müßte, wenn sich nach eingehender Prüfung herausstellen sollte, daß es sich tatsächlich um ungelöste Gerechtigkeitsprobleme handelt. Die vorliegende Studie ist der Versuch einer solchen genaueren Überprüfung und Ergänzung.

Gleich zu Beginn von Eine Theorie der Gerechtigkeit erwähnt Rawls, daß alle Vertragstheorien zwei Teile haben, die unabhängig voneinander bewertet werden können: zum einen die Schilderung der ursprünglichen Entscheidungssituation und zum anderen die daraus resultierenden Prinzipien. »47Man kann jeden der beiden Teile (oder eine Abwandlung davon) ohne den anderen akzeptieren.« (TG 32) Das Ergebnis meiner Überlegungen wird sein, daß es sich bei Rawls’ Prinzipien selbst (oder ihnen sehr ähnlichen Prinzipien) um gute Prinzipien handelt – nicht nur für jene Fälle, auf die Rawls sie anwendet, sondern auch für andere Fälle, für die er uns gar keine Prinzipien an die Hand gibt (vgl. Kapitel III.9). Außerdem sind die Ideen der Fairneß und der Reziprozität, die in diesen Prinzipien zum Ausdruck kommen und von ihnen konkretisiert werden, selbst äußerst ansprechende ethische Ideale (trotz der Schwierigkeiten, die aus der spezifisch kantianischen Form entstehen, die Rawls ihnen verleiht). Es wäre gut, wenn wir diese Prinzipien und Ideen auf unsere ungelösten Probleme der Gerechtigkeit anwenden könnten. Die ursprüngliche Entscheidungssituation hingegen erweist sich im Zusammenhang mit den drei Problembereichen, um die es mir im folgenden gehen wird, als ausgesprochen problematisch, auch wenn sie für Rawls’ eigene Fragestellung geeignet sein mag. Wenn wir aber auf einem anderen Weg zu Prinzipien gelangen, die denjenigen von Rawls ähneln, und uns dabei auf Konzeptionen der Reziprozität und der Würde stützen, die umfassend genug sind, dann sollte es möglich sein, die so begründeten Prinzipien auch auf jene Fälle anzuwenden, die Rawls zufolge außerhalb der Reichweite seiner Theorie liegen – ich will versuchen, einen solchen Weg aufzuzeigen. Mir geht es also nicht darum, Rawls’ Theorie oder irgendeine andere kontraktualistische Theorie einfach zurückzuweisen; vielmehr möchte ich eine alternative Theorie erarbeiten, um unser Verständnis der Gerechtigkeit voranzubringen und so vielleicht eine Erweiterung ebendieser Theorien zu ermöglichen.

484. Frei, gleich und unabhängig

Die Tradition des Gesellschaftsvertrags ist äußerst vielfältig, und einige Theoretiker, die zu ihr gehören, wie etwa Jean-Jacques Rousseau, verstehen den Gesellschaftsvertrag nicht als Vertrag zwischen unabhängigen Individuen. Im folgenden werde ich mich nicht direkt mit jenem Typ der nichtliberalen Theorie befassen, für die Vom Gesellschaftsvertrag ein Beispiel ist – Rousseau betont die Wichtigkeit des Gemeinwillens und schenkt den individuellen Freiheiten nur wenig Aufmerksamkeit. Es ist zwar richtig, daß sein Werk Rawls und andere gegenwärtige Vertreter des Kontraktualismus beeinflußt hat, aber die von ihm übernommenen Gedanken finden sich auch in den liberalen Theorien von Locke und Kant. Eine Beschäftigung mit den Besonderheiten der Rousseauschen Konzeption würde uns von einer Auseinandersetzung mit der spezifisch liberalen Tradition wegführen, die historisch gesehen ihrer Substanz nach viel eher auf Locke und in bestimmten Hinsichten auf Kant zurückgeht. Ein weiterer entscheidender Vordenker dieser Tradition ist Thomas Hobbes, dem auch für die gegenwärtige Vertragstheorie noch eine Bedeutung zukommt, insbesondere für den Ansatz David Gauthiers.[19] Hobbes selbst ist jedoch kein Liberaler, und die Diskussion seiner Souveränitätslehre würde uns ebenfalls zu weit von unserem Thema entfernen. Zudem hat sich immer wieder gezeigt, daß es außerordentlich schwierig ist, seine Ansichten wirklich genau zu fassen. Aus diesem Grund werde ich nur insofern auf ihn eingehen, als er eine einfach nachvollziehbare Darstellung einiger Merkmale des Gesellschaftsvertrags gibt, die bei den direkten Vertretern der von mir behandelten Tradition viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Obwohl David Hume selbst kein Kontraktualist ist, ist auch er von einer gewissen Bedeutung für mein Unterfangen, da Rawls auf seine Analyse der 49Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit zurückgreift und sie wichtigen Bestandteilen seiner eigenen vertragstheoretischen Konstruktion zugrunde legt.

Dieses Buch ist nicht historisch angelegt, und ich erhebe nicht den Anspruch, eine umfassende oder auch nur detaillierte Interpretation vormoderner Denker vorzulegen. Es geht mir vielmehr um eine Reihe sehr allgemeiner Vorannahmen, die das Nachdenken über Gerechtigkeit in der westlichen Tradition tiefgreifend geprägt haben, nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Politik und in den Debatten über die internationalen Beziehungen. Dennoch thematisiere ich hier eine bestimmte historische Tradition und verweise immer wieder auf die Sichtweisen ihrer wesentlichen Vertreter; und darum scheint es ratsam, zunächst die konstitutiven Bestandteile dieser Art von Theorie auf abstrakte Weise zu identifizieren.

Insbesondere die folgenden Elemente kontraktualistischer Theorien sind zu nennen: eine Vorstellung davon, in welcher Art von Situation es sinnvoll erscheint, politische Prinzipien in einem Vertrag festzulegen, also eine Konzeption der Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit; eine bestimmte Auffassung davon, welche Eigenschaften die Vertragsparteien auszeichnen; eine Vorstellung davon, was diese Parteien durch das Schließen des Vertrags zu erreichen hoffen, also vom Ziel der sozialen Kooperation; und schließlich ein Verständnis der moralischen Gefühle der Vertragsparteien. Wenn wir diese Bestandteile klarer in den Blick bekommen, kann uns das später helfen, die ihnen entsprechenden Elemente des Fähigkeitenansatzes zu identifizieren und mit der Vertragstheorie zu kontrastieren.

1. Die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit.[20] Der Ver50tragstheorie zufolge ist es nur unter bestimmten Umständen notwendig, grundlegende politische Prinzipien auszuarbeiten. Nur wenn Menschen mit einer bestimmten Art von Situation konfrontiert sind, kommen sie zu der Ansicht, daß es sinnvoll ist, sich unter Prinzipien der politischen Gesellschaft zusammenzuschließen. Diese Situation korrekt zu beschreiben, ist von größter Bedeutung für Rawls, der gleich zu Beginn seiner Schilderung des Urzustands auf sie eingeht. In Übereinstimmung mit der kontraktualistischen Tradition meint er, mit diesen Verhältnissen »die gewöhnlichen Bedingungen, unter denen menschliche Zusammenarbeit möglich und notwendig ist«, zu beschreiben (TG 148). Solange sie nicht vorliegen, gibt es »für die Tugend der Gerechtigkeit keinen Anlaß, ganz wie es beim Fehlen drohender Gefahr für Leib und Leben keinen Anlaß für körperlichen Mut gäbe« (TG 150).

Im Anschluß an Rawls (der sich dabei auf Hume bezieht) läßt sich hier zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen unterscheiden. Die objektiven Umstände der Vertragsparteien sind im wesentlichen solche, die Kooperation sowohl möglich als auch notwendig machen. Rawls stipuliert, daß die Betroffenen »gleichzeitig in einem bestimmten geographischen Gebiet« leben müssen (TG 149); ihre körperlichen und geistigen Kräften sind in etwa gleich, so daß keine Person die übrigen beherrschen kann; sie sind verletzbar durch feindliche Angriffe, und die vereinte Kraft aller anderen kann die Anstrengungen eines jeden zunichte machen. Außerdem leben sie unter Bedingungen der »mäßigen Knappheit«: Die Menge der vorhandenen Ressourcen macht Kooperation zwar nicht überflüssig, aber die Umstände sind auch nicht »so hart, daß jede Unternehmung fruchtlos bleiben müßte« (ebd.).

Was die subjektiven Bedingungen angeht, so haben die Parteien in etwa dieselben (oder zumindest komplementäre) Bedürfnisse und Interessen, so daß eine Kooperation unter ihnen möglich ist; zugleich haben sie aber unterschiedliche Lebenspläne, zu denen auch verschiedene Religionen und 51umfassende soziale und ethische Lehren gehören, was zu Konflikten führen kann. Außerdem weisen Wissen und Urteilsvermögen der Parteien gewisse Mängel auf, die, wie Rawls betont, aber »im Bereich des Normalen« (PL 93) liegen.

Gesellschaftsvertragstheoretiker gehen davon aus, daß es sich hierbei um die Beschreibung einer Situation handelt, mit der Menschen typischerweise tatsächlich konfrontiert sind – zumindest wäre das ohne die künstlichen Vorteile von Wohlstand und sozialer Klasse sowie den Einfluß der existierenden politischen Strukturen der Fall. Aus diesem Grund betrachten sie die Fiktion des Naturzustands als wahrheitsgetreue Analyse einiger wesentlicher Merkmale menschlicher Interaktion in der wirklichen Welt, obwohl sie explizit als imaginäre Hypothese und nicht als Darstellung einer weit zurückliegenden historischen Zeit verstanden wird.[21] Aus den so beschriebenen Verhältnissen sind aber all jene Menschen ausgeschlossen, deren geistige und körperliche Kräfte nicht denjenigen »normaler Menschen« entsprechen. Zudem scheinen aus ähnlichen Gründen auch jene Nationen samt ihren Bewohnern herauszufallen, deren Macht und Ressourcen nicht mit denen der herrschenden Nation oder Nationen mithalten können. Schließlich bleiben offensichtlich auch nichtmenschliche Tiere außen vor. Die Vertreter des Kontraktualismus sind sich dessen wohl bewußt, halten diese Ausschlüsse aber nicht für ein schwerwiegendes Problem für ihre Theorien, soweit es um die Festlegung der grundlegenden Prinzipien geht.

2. »Frei, gleich und unabhängig«