Politische Emotionen - Martha C. Nussbaum - E-Book

Politische Emotionen E-Book

Martha C. Nussbaum

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Beschreibung

Wie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Nicht viel, könnte man meinen und auf die Gefahren politischer Instrumentalisierung von Ängsten und Ressentiments verweisen. Emotionen, so eine verbreitete Ansicht, setzen das Denken außer Kraft und sollten deshalb keine Rolle spielen. Martha C. Nussbaum hingegen behauptet: um der Gerechtigkeit politisch zur Geltung zu verhelfen, bedarf es nicht nur eines klaren Verstandes, sondern auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die gemeinsame Sache. Manche sprechen von Hingabe, Nussbaum nennt es Liebe. Sie zeigt, welche Ausdrucksformen diese und verwandte Politische Emotionen annehmen können und wie sie sich kultivieren lassen.

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Wie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Nicht viel, könnte man meinen und etwa auf die Gefahren verweisen, die mit der politischen Instrumentalisierung von Ängsten und Ressentiments verbunden sind. Emotionen, so eine weitverbreitete Ansicht, setzen das Denken außer Kraft und sind daher im politischen Kontext generell schädlich.

Dem widerspricht Martha C. Nussbaum in ihrem neuen Buch. Um der Gerechtigkeit politisch zur Geltung zu verhelfen, so ihre These, bedarf es nicht nur eines klaren Verstandes, sondern auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger an diese gemeinsame Sache. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von Hingabe. Nussbaum nennt es Liebe. Persönlichkeiten wie Lincoln, Gandhi und Martin Luther King haben davon ebenso gewußt wie die Vordenker einer »Zivilreligion«, Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel oder Rabindranath Tagore.

In beeindruckender Weise erforscht Nussbaum diese Art Liebe und damit verwandte politische Gefühle. Sie zeigt, welche Ausdrucksformen – auch in der Musik oder der Dichtung – sie annehmen können und wie sie sich kultivieren lassen. Dabei erweist sie sich einmal mehr als eine der vielseitigsten Denkerinnen unserer Zeit: als bedeutende Theoretikerin der Emotionen, als herausragende politische Philosophin und nicht zuletzt als große Kennerin und Interpretin der Künste.

Martha C. Nussbaum ist Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden und zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Prinz-von-Asturien-Preis in der Kategorie Sozialwissenschaften.

Zuletzt erschienen: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, es 1739, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, 2010 und stw 2105

Martha C. Nussbaum

Politische Emotionen

Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist

Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2013 bei The Bellknap Press of Harvard University Press unter dem Titel: Political Emotions. Why Love Matters for Justice

© 2013 by Martha Nussbaum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Getty Images

eISBN 978-3-518-73742-2

www.suhrkamp.de

In Erinnerung an Terence Moore

1953-2004

7Inhalt

1. Ein Problem in der Geschichte des Liberalismus

I. Geschichte

2. Gleichheit und Liebe: Rousseau, Herder, Mozart

3. Religionen der Menschlichkeit I: Auguste Comte, John Stuart Mill

4. Religionen der Menschlichkeit II: Rabindranath Tagore

II. Ziele, Mittel, Probleme

Einleitung zu Teil II

5. Eine Gesellschaft mit hohen Zielen: Gleichheit, Inklusion, Verteilung

6. Mitgefühl: Bei Menschen und bei Tieren

7. »Das radikale Böse«: Hilflosigkeit, Narzißmus, Beschmutzung

III. Öffentliche Emotionen

Einleitung zu Teil III

8. Patriotismus lehren: Liebe und kritische Freiheit

9. Tragische und komische Feste: Mitgefühl wecken, Ekel überwinden

10. Die Feinde des Mitgefühls: Angst, Neid und Scham

11. Wie Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist

Anhang: Theorie der Emotionen, Emotionen in der Musik: Upheavals of Thought

8Danksagung

Literatur

Namensregister

9Diesen Tag der Qualen,

der Launen und der Tollheit

kann nur die Liebe enden

in Zufriedenheit und Freude.

Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte, Die Hochzeit des Figaro (1786)

111. Ein Problem in der Geschichte des Liberalismus

Seht, Leib und Seele – dieses Land,

Mein eigenes Manhattan mit Türmen, schaumfunkelnden raschen

Gezeiten und Schiffen,

Das vielgestaltige weite Land, der Süden und der Norden im Licht,

Die Ufer des Ohio und der blitzende Missouri,

Und immer die ausgedehnten Prärien, mit Gras und Korn bedeckt.

Seht, die vortrefflichste Sonne, still und stolz, der purpurviolette Morgen

Mit lindesten Brisen, das sanfte mildgeborene unermeßliche Licht,

Das Wunder, das ausstrahlend alles badet, der erfüllte Mittag,

Der anbrechende Abend, köstlich, die willkommene Nacht und die Sterne,

Über meiner Stadt scheinen sie alle, umhüllen Mensch und Land.

Walt Whitman, Als jüngst der Flieder blühte im Garten vorm Haus

My Bengal of Gold,

I love you.

Forever your skies,

Your air, set my heart in tune

As if it were a flute.

Rabindranath Tagore, Amar Shonar Bangla, heute die Nationalhymne von Bangladesh

In allen Gesellschaften spielen Emotionen eine große Rolle. Liberale Demokratien bilden da keine Ausnahme. Beschriebe man einen Tag oder eine Woche im Leben einer relativ stabilen Demokratie, stieße man auf viele Emotionen – Wut, Angst, Mitgefühl, Abscheu, Neid, Schuldgefühle, Trauer sowie viele Formen von Liebe. Manche dieser Emotionen haben wenig mit politischen Prinzipien oder der öffentlichen Kultur zu tun, doch bei einigen ist es anders: Sie gelten der Nation, den Zielen der Nation, ihren Institutionen, ihrer Führungselite, ihrer Geographie und den eigenen Mitbürgern, mit denen man sich in einem gemeinsamen öffentlichen Raum 12bewegt. Wie die vorangestellten beiden Texte zeigen, haben Emotionen, die die geographischen Merkmale eines Landes zum Gegenstand haben, häufig die Funktion, die Hauptanliegen dieses Landes zu befördern – Inklusion, Gleichheit, Milderung von Not und Elend, das Ende der Sklaverei. Whitmans Text ist Teil eines Gedichts, das den Tod Abraham Lincolns beklagt und die Mischung aus Vaterlandsliebe, Stolz und tiefer Trauer zum Ausdruck bringt, die der Sprecher über den Zustand seines Landes empfindet. »Amar Shonar Bangla« drückt Tagores großartigen Humanismus und sein Streben nach einer allumfassenden »Religion der Menschlichkeit« aus, die alle Kasten und Religionen seiner Gesellschaft verbindet. Als Nationalhymne eines armen Landes beschreibt das Lied sowohl Stolz und Liebe zur Schönheit des Landes als auch (in den folgenden Versen) Besorgnis über die noch zu leistende Arbeit.

Derartige öffentlich wirksame und häufig intensive Emotionen haben weitreichende Folgen für das Erreichen der Ziele, die sich ein Land gesteckt hat. Sie können der Verfolgung dieser Ziele eine neue Dynamik und Tiefe verleihen, können sie aber auch behindern, indem sie Spaltungen und Hierarchien, Gleichgültigkeit oder Borniertheit schaffen oder verstärken.

Mitunter gibt es die Auffassung, nur faschistische oder aggressive Gesellschaften seien von starken Gefühlen beherrscht und nur solche Gesellschaften hätten es nötig, sich auf die Förderung und Pflege von Gefühlen zu konzentrieren. Derartige Ansichten sind so falsch wie gefährlich. Sie sind falsch, weil alle Gesellschaften über die langfristige Stabilität ihrer politischen Kultur und die Sicherheit der ihnen teuren Werte in Krisenzeiten nachdenken müssen. Alle Gesellschaften müssen folglich über Mitgefühl bei Verlusten, Zorn über Ungerechtigkeit, die Eindämmung von Neid und Scham zugunsten eines umfassenden Mitgefühls nachdenken. Überläßt man die Prägung von Gefühlen antiliberalen Kräften, erlangen diese 13einen gewaltigen Vorsprung bei der Gewinnung der Herzen der Menschen, und dann besteht die Gefahr, daß Menschen liberale Werte für lasch und langweilig halten. Ein Grund, weshalb Abraham Lincoln, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru für ihre liberalen Gesellschaften so große politische Führungspersönlichkeiten waren, ist der, daß sie die Notwendigkeit erkannten, die Herzen der Bürger anzusprechen und starke Gefühle für die gemeinsamen Aufgaben zu wecken. Alle politischen Prinzipien, gute wie schlechte, bedürfen der emotionalen Unterfütterung, damit sie langfristig Bestand haben, und alle gut funktionierenden Gesellschaften müssen Schutzmauern gegen Spaltungen und Hierarchien errichten, indem sie Emotionen wie Mitgefühl und Zuneigung fördern und pflegen.

In einer liberalen Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle strebt, steht die politische Förderung von Emotionen vor zwei Aufgaben. Die eine besteht darin, ein starkes Engagement für die guten Projekte zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die Anstrengungen und Opfer erfordern – wie etwa soziale Umverteilung, die vollständige Inklusion von vormals ausgeschlossenen oder marginalisierten Gruppen, Umweltschutz, Entwicklungshilfe und nationale Verteidigung. Die meisten Menschen beschränken ihr Mitgefühl auf einen kleinen Kreis. Sie lassen sich schnell für narzißtische Projekte gewinnen und vergessen die Bedürfnisse von Menschen, die außerhalb ihres engen Umfelds leben. Gefühle, die sich auf die Nation und ihre Ziele richten, können sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, Menschen einen weiteren Denkhorizont zu vermitteln und sie dazu zu bringen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen.

Die andere Aufgabe, die sich für die Förderung und Pflege öffentlich wirksamer Emotionen stellt, besteht darin, die Kräfte in Schach zu halten, die in allen Gesellschaften und letztlich auch in uns allen lauern: die Neigung, das fragile Ich durch die Herabsetzung und Diffamierung anderer zu 14schützen. (Diese Neigung bezeichne ich mit Kant als das »radikale Böse«, wenngleich ich darunter etwas anderes verstehe als Kant). Abscheu, Neid sowie das Bedürfnis, andere zu erniedrigen – all diese Gefühlsregungen sind in allen Gesellschaften und höchstwahrscheinlich auch in jedem Menschen vorhanden. Läßt man ihnen freien Lauf, können sie großen Schaden anrichten. Besonders groß ist dieser Schaden, wenn sie maßgeblichen Einfluß auf den Gesetzgebungsprozeß und die Gestaltung der Gesellschaft haben (wenn beispielsweise der Abscheu, den Menschen vor einer Gruppe anderer Menschen empfinden, als triftiger Grund gilt, jene Menschen zu diskriminieren). Auch wenn eine Gesellschaft nicht in diese Falle getappt ist, lauern diese Kräfte in der Gesellschaft und müssen entschieden zurückgedrängt werden, und zwar durch eine Erziehung, die die Fähigkeit fördert, einer anderen Person das vollwertige und gleichberechtigte Menschsein zuzuerkennen – vielleicht eine der schwierigsten und fragilsten Errungenschaften der Menschheit. Ein wichtiger Teil dieser Erziehung wird durch die politische Kultur geleistet, die das Land und seine Menschen auf eine spezifische Weise repräsentiert. Sie kann Menschen einschließen oder ausschließen, Hierarchien zementieren oder abbauen – so wie Lincoln es in seiner Gettysburg Address in bewegender Form tut, indem er die kühne These verkündet, die Vereinigten Staaten seien stets der Gleichheit der Rassen verpflichtet gewesen.

Große demokratische Führungspersönlichkeiten haben zu vielen Zeiten und an vielen Orten begriffen, daß es wichtig ist, erwünschte Emotionen zu pflegen (und jene zurückzudrängen, die die Gesellschaft daran hindern, ihre Ziele zu erreichen). Die liberale politische Philosophie hat zu diesem Thema jedoch wenig gesagt. John Locke, der für religiöse Toleranz eintrat, erkannte in der weitverbreiteten Feindseligkeit zwischen den Mitgliedern verschiedener Religionen im England seiner Zeit ein Problem; er forderte die Menschen auf, eine Haltung der »Barmherzigkeit, Güte und Freigebigkeit« 15einzunehmen, und ermahnte die Kirchen: »Wer das Lehramt auf sich nimmt, der ist auch verpflichtet, seinen Hörern die Pflichten der Friedfertigkeit und des guten Willens gegen alle Menschen, die im Irrtum befindlichen so gut als die rechtgläubigen, einzuschärfen.«[1] Locke unternahm allerdings nicht den Versuch, den psychologischen Wurzeln von Intoleranz weiter nachzugehen. Somit trug er wenig dazu bei, das Wesen verwerflicher Einstellungen zu erkennen und Wege zu ihrer Bekämpfung aufzuzeigen. Auch empfahl er keinerlei Maßnahmen von seiten des Staates und der Gesellschaft zur Beeinflussung psychologischer Einstellungen. Die Pflege guter Einstellungen bleibt den einzelnen Individuen und den Kirchen überlassen. Da verwerfliche Einstellungen gerade in den Kirchen verbreitet waren, ist Lockes eigenes Projekt in einem unsicheren Zustand verblieben. Seiner Ansicht nach sollte der liberale Staat sich auf den Schutz der Eigentumsrechte und anderer politischer Güter beschränken, wenn und falls diese Angriffen ausgesetzt sind. Folgt man seiner Argumentation, die religiöse Toleranz aus gleichen natürlichen Rechten ableitet, erfolgt diese Intervention einen Schritt zu spät.

Das Fehlen von Aussagen zur psychologischen Verfaßtheit einer guten Gesellschaft bei Locke kennzeichnet die gesamte spätere westliche Tradition der liberalen politischen Philosophie – was zweifellos teilweise daran liegt, daß liberale politische Philosophen der Auffassung waren, die Verordnung einer bestimmten Gefühlskultur könne leicht zu Einschränkungen der Redefreiheit und zu anderen Maßnahmen führen, die mit liberalen Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung nicht vereinbar wären. Diese Auffassung vertrat explizit Immanuel Kant. Kant befaßte sich intensiver mit der menschlichen Psyche als Locke. In seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft[2] legt er dar, daß ein schäd16liches gesellschaftliches Verhalten nicht nur aus den gesellschaftlichen Umständen resultiert: Es hat seine Wurzeln auch in der menschlichen Natur, in der es die Neigung gibt, andere Menschen zu mißbrauchen (sie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck zu benutzen). Diese Neigung nannte er das »radikale Böse«. Diese schlechte Neigung führt dazu, daß Menschen, sobald sie Umgang mit anderen haben, zu ihnen in Konkurrenz treten und von Neid beherrscht werden. Kant war der Auffassung, die Individuen hätten die ethische Pflicht, »ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens« zu werden, das ihre guten Neigungen (die Neigung, andere Menschen gut zu behandeln) stärkt, so daß diese Neigungen eine größere Chance haben, die Oberhand über die schlechten zu gewinnen. Er glaubte, eine »wahre Kirche« könne eine Stütze für die Sittlichkeit der Gesellschaft darstellen, und er sagte sogar, alle Menschen hätten daher die ethische Pflicht, sich einer Kirche anzuschließen. Gleichwohl gelangte Kant zu dem Schluß, daß dem liberalen Staat in seinem Kampf gegen das radikale Böse enge Grenzen gesetzt seien. Wie Locke scheint auch er anzunehmen, daß die Hauptaufgabe des Staates im gesetzlichen Schutz der Rechte aller Bürger besteht. Wo es um psychologische Maßnahmen zur Sicherung seiner Stabilität und Stärke geht, sind einem solchen Staat die Hände gebunden, da er sich der Rede- und Vereinigungsfreiheit verpflichtet fühlt. Die Regierung könne allenfalls, so Kant, jenen Gelehrten finanziell unter die Arme greifen, die an der »Vernunftreligion« arbeiten, für die Kant plädierte – eine Religion, die die Gleichheit der Menschen lehrt und Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz fordert.

Kant stützte sich auf und wandte sich zugleich gegen seinen großen Vorläufer Jean-Jacques Rousseau, der die Haupt17quelle für Kants Auffassung vom radikalen Bösen darstellt.[3] In seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag[4] legte Rousseau dar, daß eine gute Gesellschaft, um stabil zu bleiben und Projekte durchzuführen, die Opfer verlangen (wie die Verteidigung des Vaterlands), eine »Zivilreligion« brauche, die aus einer »solidarischen Grundgesinnung [besteht], die teilen muß, wer ein guter Bürger und ein treuer Untertan sein will«. Auf der Grundlage dieses öffentlichen Credos – eines moralischen, mit patriotischen Überzeugungen und Empfindungen unterfütterten Deismus – schafft der Staat Zeremonien und Rituale, die starke Bindungen an das Gemeinwesen und Pflichten gegenüber anderen Bürgern sowie gegenüber dem Land als Ganzem erzeugen. Rousseau glaubte, die »Zivilreligion« könne in der Gesellschaft, die ihm vorschwebt, sowohl das Problem der Stabilität als auch das der altruistischen Motivation lösen.

Sie wird dieses Ziel seiner Ansicht nach jedoch nur erreichen, wenn sie über Zwangsmittel verfügt, die entscheidende Freiheiten wie Redefreiheit und Religionsfreiheit außer Kraft setzen können. Der Staat sollte nicht nur Verhaltensweisen bestrafen, die anderen Menschen Schaden zufügen, sondern auch abweichende Überzeugungen und Äußerungen, wobei die eingesetzten Mittel Verbannung und sogar die Todesstrafe einschließen können. Für Kant war dieser Preis zu hoch: Kein guter Staat sollte einen derartigen Zwang ausüben und Kernbereiche menschlicher Autonomie ausschalten. Die Überzeugung (die er mit Rousseau zu teilen scheint), daß eine »Zivilreligion« nur dann wirksam sein kann, wenn sie mit Zwang durchgesetzt wird, stellt er nicht in Frage.

Hier liegt die Herausforderung, der sich dieses Buch stellt: Wie kann eine gut funktionierende Gesellschaft für Stabilität 18und Motivation mehr tun als Locke und Kant, ohne so illiberal und diktatorisch zu werden wie bei Rousseau? Die Herausforderung wiegt noch schwerer, wenn man hinzufügt, daß meine Konzeption der guten Gesellschaft eine Variante des »politischen Liberalismus« ist; ihr zufolge sollten politische Prinzipien nicht auf einer umfassenden Theorie über Sinn und Bedeutung des religiösen oder säkularen Lebens basieren, und der Gedanke, daß alle Menschen den gleichen Respekt verdienen, impliziert, daß der Staat es tunlichst vermeiden sollte, eine bestimmte religiöse oder umfassende ethische Auffassung zu unterstützen.[5] Solch eine liberale Sichtweise lehnt nicht nur diktatorisch durchgesetzte Maßnahmen ab, sondern sorgt auch dafür, daß nicht zu viel dezidierte Parteinahme beziehungsweise die falsche Parteinahme stattfindet, indem zwei Gruppen von Bürgern geschaffen werden: diejenigen, die dazugehören, und diejenigen, die ausgegrenzt werden, also Bürger zweiter Klasse sind. Da Emotionen meiner Auffassung nach nicht nur Affekte sind, sondern Einschätzungen und Bewertungen beinhalten, sollte sichergestellt werden, daß die erwünschten Emotionen nicht an eine spezifische umfassende Konzeption gebunden sind, die im Gegensatz zu anderen steht.

Die Lösung dieses Problems liegt für mich darin, Wege zu finden, durch die Emotionen die Grundprinzipien der politischen Kultur einer Gesellschaft stützen können, die sich hohe Ziele setzt und dennoch unvollkommen ist. Ich stelle mir einen Lebensbereich vor, zu dem die Bürger übereinstimmende Ansichten haben, wenn sie sich das Grundprinzip der gleichen Achtung vor allen Menschen zu eigen gemacht haben: Diesen Bereich hat Rawls den »übergreifenden Konsens« genannt.[6] So wäre zu beanstanden, wenn eine Regierung starke Gefühle für die religiösen Feiertage einer bestimmten 19Gruppe mobilisierte; doch es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Geburtstag von Martin Luther King gefeiert wird, handelt es sich doch um einen zutiefst emotionalen Feiertag, der die Prinzipien der Gleichheit von Menschen aller Hautfarben bekräftigt, denen sich unser Land verschrieben hat, und um das erneute Bekenntnis des Landes zu diesem Ziel. Diese Denkweise sollte sich über das Spektrum der »Fähigkeiten« erstrecken, die den Kern der politischen Konzeption ausmachen: Wie kann eine öffentliche Gefühlskultur die Bindung an all diese Normen stärken? Ins Negative gewendet: Eine gute Gesellschaft kann verhindern, daß Gefühle des Abscheus gegenüber bestimmten Gruppen von Mitbürgern entstehen, da diese Form der Ablehnung und die damit verbundene Bildung von Hierarchien gemeinsame Prinzipien wie die Achtung vor der Menschenwürde aller untergraben. Eine Gesellschaft kann Mißbilligung und Zorn über die Verletzung der grundlegenden politischen Rechte von Menschen erzeugen. Die Forderung, die Menschen sollten sich an gute politische Prinzipien gebunden fühlen, sollte eigentlich keine Einwände hervorrufen; jede Gesellschaft mit einer tragfähigen Vorstellung von Gerechtigkeit hält ihre Bürger an, diese Vorstellung zu bejahen. Der Antirassismus nimmt in öffentlichen Schulen nicht den gleichen Raum ein wie Rassismus. Die Neutralität, die ein liberaler Staat in bezug auf religiöse Angelegenheiten und eine umfassende Gesellschaftskonzeption übt – und üben sollte –, erstreckt sich nicht auf die Kernelemente seines Konzepts von Gerechtigkeit (wie etwa die Gleichwertigkeit aller Bürger, die Bedeutung bestimmter Grundrechte und die Verwerflichkeit verschiedener Formen von Diskriminierung und Hierarchie). Man kann sagen, daß ein liberaler Staat die Bürger, die unterschiedliche Auffassungen von Sinn und Bedeutung des Lebens haben, auffordert, in einem gemeinsamen öffentlichen Raum, dem Raum von Grundprinzipien und von in der Verfassung festgeschriebenen Idealen, zu einem Konsens zu finden. Wenn diese Prinzipien wirksam sein sollen, 20muß der Staat dazu beitragen, daß die Menschen sich an diese Ideale gebunden fühlen und für sie eintreten.

Soll diese Bindung mit liberaler Freiheit vereinbar sein, wird es von entscheidender Bedeutung sein, eine belastbare kritische politische Kultur zu schaffen, um die Rede- und Vereinigungsfreiheit zu schützen. Sowohl die Prinzipien als auch die durch sie hervorgerufenen Emotionen müssen ständig überprüft und der Kritik unterzogen werden, und abweichende Meinungen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den wahrhaft liberalen Charakter der Konzeption zu bewahren und sie den Bürgern zu vermitteln. Auch Rebellisches und Humorvolles muß seinen Platz haben: Spott über übersteigerte patriotische Gefühle sorgt am besten dafür, daß diese ihre Bodenhaftung nicht verlieren und sich von den Bedürfnissen unterschiedlicher Frauen und Männer nicht abkoppeln. Dabei werden Spannungen nicht ausbleiben: Nicht jeder Spott über Ideale ist mit Achtung vor der Gleichwertigkeit aller Bürger verbunden. (Man stelle sich zum Beispiel rassistische Witze über Martin Luther King vor.) Aber der Raum für Widerspruchsgeist und Dissens sollte so groß sein, wie es mit der gesellschaftlichen Ordnung und mit Stabilität vereinbar ist – und dieser Raum wird ein wichtiger Gegenstand dieses Buches sein.

Eine Möglichkeit, die der Staat hat, um mehreren dieser Anliegen gleichzeitig gerecht zu werden, besteht darin, Künstlern einen großen Freiraum zu gewähren, in dem sie ihre eigenen unterschiedlichen Vorstellungen von zentralen politischen Werten präsentieren können. Whitman und Tagore sind als freie Dichter viel wertvoller denn als Marionetten einer politischen Elite in sowjetischer Manier. Selbstredend kann es nicht ausbleiben, daß die Regierung einem künstlerischen Werk den Vorzug vor einem anderen gibt. So hat sie beispielsweise Maya Lins Entwurf für das Vietnam War Memorial mit seiner gewundenen schwarzen Mauer voller Namen, die auf die Gleichwertigkeit zahlloser unbekannter Kriegstoter verweist, den 21Vorzug vor hurrapatriotischen Entwürfen gegeben; sie hat den Beiträgen von Frank Gehry, Anish Kapoor und Jaume Plensa für den Millennium Park in Chicago den Vorzug vor anderen eingereichten Entwürfen gegeben. Während der großen Weltwirtschaftskrise, auf die wir noch eingehen werden, ließ Franklin Delano Roosevelt Künstler für die Regierung arbeiten und gewährte ihnen einen beträchtlichen Freiraum – wählte allerdings auch die Fotos über Armut, die dem amerikanischen Publikum präsentiert wurden, sorgfältig aus. Zwischen Auswahl und künstlerischer Freiheit besteht ein echtes Spannungsverhältnis, aber es gibt gute Möglichkeiten, damit umzugehen.

Die Frage der emotionalen Unterstützung einer guten politischen Kultur wurde von liberalen Denkern nicht völlig ausgeblendet. John Stuart Mill (1806-1873), für den die Kultivierung von Gefühlen ein wichtiges Thema war, stellte sich eine »Religion der Menschlichkeit« vor, die anstelle der bestehenden religiösen Lehren vermittelt werden sollte; sie sollte die Grundlage für Gesinnungen bilden, die persönliche Opfer und einen umfassenden Altruismus beinhalten.[7] Auch Rabindranath Tagore (1861-1941), der indische Dichter, Pädagoge und Philosoph, stellte sich eine »Religion des Menschen« vor, die Menschen anregen sollte, für alle Erdenbewohner eine Verbesserung der Lebensbedingungen anzustreben. Beide betrachteten ihre jeweilige »Religion« als Theorie und Praxis, die in einem Bildungssystem sowie in Kunstwerken ihren Niederschlag finden konnten. Tagore widmete einen Großteil seines Lebens der Gründung einer Schule und einer Universität, die auf seinen Prinzipien basierten, und er komponierte etwa zweitausend Lieder, die noch heute im öffentlichen Raum Emotionen auslösen. (Er ist der einzige Dichter/Komponist, der Lieder schrieb, die zu den Nationalhymnen von zwei Ländern wurden: Indien und Bangladesh.) Die Ähnlichkeit zwischen den Ideen von Mills und Tagore ist nicht überraschend, waren 22beide doch stark von dem französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857) beeinflußt, dessen Ideen über eine »Religion der Menschlichkeit«, die öffentliche Rituale und emotional aufgeladene Symbole beinhalten sollte, im 19. und früheren 20. Jahrhundert einen gewaltigen Einfluß ausübten. Sowohl Mill als auch Tagore nehmen Anstoß daran, daß Comte eine rigide Durchsetzung seines Projekts vorschwebte, und beide betonten die Bedeutung von Freiheit und Individualität.

Das Thema politisch wirksamer Emotionen wurde auf faszinierende Weise im größten politisch-philosophischen Werk des 20. Jahrhunderts behandelt, nämlich in Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) von John Rawls.[8] Rawls’ wohlgeordnete Gesellschaft verlangt ihren Bürgern viel ab, da die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen nur dann geduldet wird, wenn sie auch die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessert. Das Eintreten für gleiche Freiheitsrechte für alle, das bei den von Rawls entwickelten Prinzipien an erster Stelle steht, wird von den Menschen in unterschiedlicher Weise geschätzt. Obwohl Rawls eine Gesellschaft entwirft, die am Nullpunkt beginnt und nicht die Hierarchien und Ausgrenzungen aufweist, die es in früheren geschichtlichen Phasen gab, stellt er hohe Ansprüche an die Menschen. Er weiß, daß er darüber nachdenken muß, wie eine solche Gesellschaft Bürger heranbilden kann, die ihre Institutionen langfristig unterstützen und Stabilität sicherstellen. Zudem muß Stabilität »aus den richtigen Gründen«[9] gesichert werden – mit anderen Worten, nicht durch bloße Gewohnheit oder widerwillige Akzeptanz, sondern durch ein aufrichtiges Bekenntnis zu den Prinzipien und Institutionen der Gesellschaft. Da der Nachweis, daß eine gerechte Gesellschaft stabil sein kann, ein notwendiges Element ihrer Rechtfertigung ist, ist die Frage der Emotionen ein wesentlicher Bestandteil der Argumente, mit denen die Gerechtigkeitsgrundsätze begründet werden.

23Rawls stellt sich vor, wie Gefühle, die zunächst in der Familie entstehen, sich zu Gefühlen entwickeln können, die auf die Prinzipien der gerechten Gesellschaft gerichtet sind. Seine bestechende und kenntnisreiche Darstellung, die in dieser Hinsicht ihrer Zeit voraus ist, arbeitet mit einer ausgefeilten Konzeption von Gefühlen; sie ist meiner Konzeption nicht unähnlich, der zufolge Gefühle kognitive Bewertungen enthalten.[10] Später revidierte Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit in wichtigen Punkten, da sie seiner Auffassung nach zu eng mit seiner (kantianisch geprägten) umfassenden ethischen Theorie verbunden waren. In seinem Werk Politischer Liberalismus scheint er nicht mehr hinter allen Details jener Arbeit zu stehen. Er betont jedoch, daß er Raum läßt für eine notwendige Darstellung einer »vernünftigen Moralpsychologie«.[11] Das vorliegende Buch möchte diesen Raum ausfüllen, wobei meine Darstellung einer guten Gesellschaft sich von der Rawlsschen zwar in philosophischen Details, aber nicht in ihrer grundlegenden Ausrichtung unterscheidet – wenngleich sie den Schwerpunkt auf Gesellschaften legt, die nach Gerechtigkeit streben, und nicht auf bereits verwirklichte wohlgeordnete Gesellschaften. Dieser Unterschied wirkt sich insofern auf den Inhalt meiner normativen Thesen aus, als ich mich mit den Problemen von Exklusion und Stigmatisierung auseinanderzusetzen habe, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft als gelöst gelten können. Gleichwohl werde ich aufzeigen, daß die Neigung zu Stigmatisierung und Ausgrenzung anderer in der menschlichen Natur angelegt und nicht das Resultat einer geschichtlichen Fehlentwicklung ist. Rawls hat zu dieser Frage keine Stellung bezogen, jedoch gesagt, seine Darstellung sei sowohl mit dieser pessimistischen als auch mit einer optimi24stischen Sichtweise vereinbar. Bei allem Unterschied besteht ein enger Zusammenhang zwischen meinem Projekt und dem von Rawls, da es sich bei ihm um eine Gesellschaft von menschlichen Wesen und nicht von Engeln handelt, und er weiß sehr gut, daß Menschen nicht automatisch nach dem Gemeinwohl streben. Obwohl in seiner wohlgeordneten Gesellschaft die Probleme von Ausgrenzung und Hierarchie gelöst wurden, wurden sie von Menschen gelöst, die genau die Neigungen in sich tragen, welche die genannten Probleme erzeugen. Auch hier erfordert Stabilität die Auseinandersetzung mit der komplexen Struktur der realen menschlichen Psyche.

Rawls’ Ausführungen zeugen von einem eindrucksvollen Verständnis für Emotionen und deren Wirkungsmacht. Seine Forderung, Emotionen sollten die Prinzipien und Institutionen der Gesellschaft stützen, und zwar nicht nur als nützlichen Modus vivendi, sondern in Form eines engagierten Eintretens für die grundlegenden Vorstellungen von Gerechtigkeit, ist eine vernünftige Forderung. Eine Gesellschaft, die nur durch die Zustimmung zu einem für nützlich erachteten vorübergehenden Kompromiß zusammengehalten wird, wird ihre Stabilität nicht lange bewahren können. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Emotionen, die Rawls vor Augen hat, auf Prinzipien und nicht auf partikulare Merkmale gerichtet sind: Wenn die Gesellschaft aus den richtigen Gründen stabil sein soll, dann benötigen ihre Grundprinzipien eine engagierte Zustimmung. Man kann jedoch durchaus annehmen, daß die moralischen Empfindungen, die Rawls meint, nicht nur rational begründet sein können – nicht lediglich eine Zustimmung zu abstrakten Prinzipien darstellen können –, wenn sie die Aufgabe erfüllen sollen, die er ihnen zuweist. In seinem kurzen schematischen Abriß sagt Rawls nicht (leugnet allerdings auch nicht), daß indirekte Appelle an Gefühle durch Symbole, Erinnerungen, Dichtung, Erzählungen und Musik im Zusammenspiel mit der Bejahung gerechter Institutionen eine starke motivierende Rolle spielen müssen. Durch 25sie wird das Denken und Fühlen der Menschen auf die Prinzipien gelenkt, und in sie sind diese Prinzipien oftmals eingebettet. Dem könnte Rawls meiner Ansicht nach beipflichten, und ich werde zu zeigen versuchen, daß eine solche Rolle des Partikularen voll und ganz mit der prinzipiellen Zustimmung vereinbar ist, die er für erstrebenswert hält. Reale Menschen hegen mitunter positive Gefühle für gerechte Prinzipien, auch wenn diese in eine abstrakte Form gekleidet sind. Der menschliche Geist ist jedoch eigenwillig und bevorzugt das Partikulare; er ist zu einer starken Bindung fähig, wenn hehre Prinzipien mit bestimmten Wahrnehmungen, Erinnerungen und Symbolen verknüpft sind, die tief in der Persönlichkeit und in der Art und Weise verankert sind, in der Menschen ihre eigene Geschichte sehen. Damit könnte man allerdings leicht auf ein falsches Gleis geraten und Stabilität aus den falschen Gründen erreichen (beispielsweise, um die Überlegenheit einer spezifischen historischen oder sprachlichen Tradition sicherzustellen). Sind die Quellen der Erinnerung jedoch fest an politische Ideale gebunden, sind derartige Probleme überwindbar, und Symbole können eine motivierende Kraft entfalten, die bloße Abstraktionen nicht haben können. Dies würde selbst in der wohlgeordneten Gesellschaft gelten, da ihre Bürger immer noch Menschen mit einem begrenzten Vorstellungsvermögen sind; aber in unvollkommenen, nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaften sind spezifische Narrative und Symbole noch dringender erforderlich.

Dieser Gedanke, auf den ich noch häufig zurückkommen werde, läßt sich auch anders formulieren: Alle wichtigen Gefühle sind »eudämonistisch«, was bedeutet, daß sie die Welt vom Standpunkt des einzelnen Individuums aus bewerten, wobei dieser Standpunkt die Vorstellung des Individuums von einem lebenswerten Leben widerspiegelt.[12] Wir sorgen uns um Menschen, an denen uns etwas liegt, nicht jedoch um völ26lig Fremde. Wir ängstigen uns vor Schäden, die uns und unsere Lieben bedrohen, und nicht vor Erdbeben auf dem Mars. Eudämonismus ist nicht gleichbedeutend mit Egoismus: Wir können durchaus der Ansicht sein, daß andere Menschen einen intrinsischen Wert besitzen. Aber diejenigen, die tiefe Gefühle in uns wachrufen, sind jene, mit denen wir durch unsere Vorstellung von einem wertvollen Leben verbunden sind – dies werde ich von jetzt an »Betroffenheitsradius« nennen. Sollen fremde Menschen und abstrakte Prinzipien uns anrühren, müssen diese Gefühle dafür sorgen, daß sie in unseren »Betroffenheitsradius« einbezogen werden, muß »unser« Leben diese Menschen und Ereignisse als Teile von »uns« und unserer eigenen gedeihlichen Entwicklung einschließen. Dafür sind Symbole und Dichtung von entscheidender Bedeutung.

Betrachten wir die beiden Texte, die ich diesem Kapitel vorangestellt habe. Whitman hat sich vorgestellt, wie Lincolns Sarg durch das von ihm geliebte Land getragen wird. Jetzt fragt er, was er seinem toten Präsidenten geben kann, welche Bilder »sollen es sein, die ich an die Wände hänge, um das Totenhaus dessen zu schmücken, den ich liebe?«. Die Antwort lautet: Wortbilder von der Schönheit Amerikas. Die vorangestellte Strophe ist eines jener Bilder. Es beschreibt die Schönheit Manhattans und dann der anderen Regionen Amerikas – die Schönheit der Landschaft und die Schönheit menschlichen Tuns. Bilder von natürlicher Schönheit sind immer herzzerreißend, weil sie mit Sterblichkeit und dem Vergehen der Zeit verknüpft sind. Hier gehen sie noch mehr zu Herzen, weil Whitman sich das Trauerritual um Lincoln vorstellt und weil die Bilder mit allem verbunden sind, wofür Lincoln stand: ein Land, in dem sich jeder frei betätigen kann und alle Amerikaner unter der Sonne gleich sind. Diese Gedanken verdichten sich zu einer nahezu unerträglichen Liebe und Trauer. (Aus irgendeinem Grund ist die Zeile »Seht, die vortrefflichste Sonne still und stolz« für mich die schmerzlichste 27der englischsprachigen Dichtung, und jedesmal, wenn ich sie lese, muß ich weinen – das Nebeneinander der majestätischen Sonne, der Ewigkeit und des Strahlens und des Bildes von Lincoln, der unbeweglich in einer kleinen schwarzen Kiste liegt.)

Whitman möchte ein öffentliches Trauerritual darstellen, das eine erneute Besinnung auf die noch nicht vollendete Aufgabe zum Ausdruck bringen soll: die Verwirklichung der besten Ideale Amerikas; eine »öffentliche Dichtung« soll Freiheit und Gleichheit mit Leben und Inhalt erfüllen. Hier wird der Leser aufgefordert, sich einen bestimmten Menschen vorzustellen, der den schwierigen Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit symbolisiert – »die weite sanfte Seele, die fort ist«; das Gedicht verbindet diese moralisch-symbolhafte Person auf geschickte Weise mit den geschätzten und bewunderten Merkmalen des Landes und den unterschiedlichen Menschen, die es bewohnen. Das Gedicht weckt Empfindungen, die die schwierige Suche nach Gerechtigkeit tragen und inspirieren. Es würde nicht eine so starke Wirkung erzielen, wenn es nicht Bilder entwerfen würde, die etwas Geheimnisvolles haben und den Menschen tief berühren, da sie Gedanken über Sterblichkeit und Sehnsucht, Verlust und große Schönheit evozieren. Lassen sich die Leser emotional auf Whitmans Gedicht ein, ergeht an sie die Aufforderung, aus vollem Herzen nach dem Amerika zu streben, das es noch nicht gibt, das jedoch Wirklichkeit werden könnte.

Tagores Gedicht (das wir leider nur in einer Übersetzung lesen können)[13] hatte ursprünglich zwar keinen Bezug zu Bangladesh, aber viele seiner Gedanken haben eine implizite politische Bedeutung. Wie wir von ihm selbst wissen, entstand sein Gedicht »Jana Gana Mana«, das später zur Nationalhymne Indiens wurde, aus dem Wunsch, den britischen 28Monarchen bei dessen Besuch in Indien nicht zu ehren. Tagore, der gebeten wurde, einen Beitrag zur Verherrlichung des Empire zu leisten, schrieb dieses Lied, mit dem er deutlich machen wollte, daß alle Inder einer höheren Macht, nämlich dem Sittengesetz, Gehorsam schulden. In diesem Sinne ist es ein stark kantianisch geprägter Text, der eng mit seiner »Religion des Menschen« verbunden ist. »Amar Shonar Bangla« (1906) ist zwar indirekter, aber ebenfalls politisch ausgerichtet. Eng mit Whitmans Dichtung verwandt, drückt dieses Gedicht eine ekstatische und geradezu sinnliche Freude über die landschaftliche Schönheit Bengalens aus. Der Sprecher stellt sich sein Land als eine verführerische Geliebte vor, verlockend und faszinierend. Das Lied wurde durch die Musik eines Baul-Sängers inspiriert, der zu einer Gemeinschaft von fahrenden Sängern (Vaishnava-Hindus und Sufi-Muslimen)[14] gehörte, die für ihre ekstatische und gefühlsbetonte Auffassung von Religion, ihre poetische Verklärung der sexuellen Liebe und ihre unkonventionellen Sexualpraktiken bekannt sind. Wie Kapitel 4 zeigen wird, stellte Tagore die Baul in den Mittelpunkt seiner »Religion des Menschen«. Die Musik von »Amar Shonar Bangla«, die Assoziierung der Worte und der Musik mit den Baul, sowie die Worte selbst stellen den Sprecher – einen repräsentativen Bewohner Bengalens – als eine Person dar, deren Sexualität nicht aggressiv, sondern spielerisch und freudvoll ist; es ist die Form von Sexualität, die in vielen klassischen Werken der indischen bildenden Künste in der Gestalt des Krischna sowie in Jayadevas großem erotischen Gedicht Gitagovinda (12. Jahrhundert) beschrieben wird. (Indem Tagore dem repräsentativen Bewohner Bengalens eine androgyne Gestalt gibt, zielt er auch auf die Stärkung der gesellschaftlichen und politischen Stellung der Frauen ab. Sein lebenslanges Engagement in dieser Frage wird ausführ29licher in Kapitel 4 beschrieben.) Tagore schwebt eine Form von Sexualität vor, die er an anderer Stelle dem britischen Imperialismus und dem aggressiven indischen Nationalismus, der diesen nachäfft, entgegensetzt.

Was hat all dies zu bedeuten? Das Gedicht wurde 1906 geschrieben, kurz nach der Entscheidung der Briten, Bengalen aus verwaltungstechnischen Gründen zu teilen. Diese Teilung, die in etwa der späteren Teilung zwischen dem Staat Westbengalen und Bangladesh (dem ehemaligen Ostpakistan) entsprach, hatte zum Ziel, Hindus und Muslime zu trennen, und brachte die übliche britische Politik des »Teilens und Herrschens« zum Ausdruck, wobei ein unterworfenes Volk durch Spaltung geschwächt wurde. Tagore fordert seine Leser auf, sich die Schönheit des ungeteilten Bengalens vorzustellen – geographisch nicht geteilt und nicht von religiöser Feindseligkeit zerrissen –, es zu lieben und tief betrübt zu sein, wenn es ihm schlechtgeht. Er entfacht bei seinen Lesern einen Widerstandsgeist, der sich gegen das Empire richtet. Dabei handelt es sich allerdings um einen mitfühlenden und unmartialischen Nationalismus, der nichts mit dem gewalttätigen Nationalismus zu tun hat, den Tagore in seinen Schriften den europäischen Traditionen anlastet, und auch nichts mit dem Hindu-Nationalismus, den er zeit seines Lebens kritisierte.[15] Mit seinem Rückgriff auf die synkretistische Baul-Tradition betont er ein gutes Einvernehmen zwischen den Religionsgruppen, das niemanden ausschließt. Das Lied will den Geist pflegen, der diesen neuen indischen Nationalismus tragen könnte – einen Geist der Liebe, der Nicht-Ausgrenzung, der Fairneß und der menschlichen Selbstvervollkommnung.

Die Musik, die Tagore zu »Amar Shonar Bangla« schrieb, ist dementsprechend sinnlich, ein langsamer, gemessener, erotischer Tanz. Auf YouTube gibt es mehrere gute Versionen, die wunderschöne Landschaftsbilder mit Bildern von Frauen und 30Männern verbinden, welche auf verführerische Weise tanzen – und damit zeigen, wie die Bürger des Landes den Geist des Stückes verstehen. Tagore und Whitman sind geistesverwandt, wenngleich Tagores Beitrag multidimensional ist, da er nicht nur den Nobel-Preis für Literatur gewonnen hat, sondern auch ein Komponist und Choreograph von Weltgeltung war.

Was hat es zu bedeuten, wenn ein Lied wie »Amar Shonar Bangla« zur Nationalhymne eines Landes wird? Das heutige Bangladesh beklagt eine Geschichte des Imperialismus, die Pakistan von Indien und »Ostpakistan« von Bengalen abspaltete, mit dem es kulturell eng verbunden ist. Aber es besingt auch die Unabhängigkeit einer jungen bengalischen Nation, einer pluralistischen Demokratie. Das Lied fordert alle Bürger auf, einen mitfühlenden Geist der Liebe und Sorge um das Schicksal dieses Landes und seines Volkes zu entwickeln und dabei Güte, Spiel und Staunen nicht zu vernachlässigen.

Wie Whitmans Gedicht ist auch das von Tagore von einer spezifischen Kultur geprägt und verwendet Bilder, die tiefe bengalische Wurzeln haben. Diese Besonderheit macht einen Teil ihres Erfolgs aus. Es ist sinnlos anzunehmen, die starke Motivation, die von Kunst, Musik und Rhetorik ausgehen kann, sei in allen Ländern die gleiche, also eine Art Esperanto des Herzens. Klugerweise versuchen sich beide Dichter daran nicht. Tagores Lieder werden einen Amerikaner nicht anrühren – zumindest so lange nicht, bis er sich jahrelang in die indische und speziell bengalische Kultur vertieft hat. Und selbst dann können die Baul-Tradition und ihre Musik befremdlich und unzugänglich wirken. Whitmans Dichtung ist zwar etwas leichter zugänglich, aber ihre Erinnerungen und Bilder sprechen in erster Linie Amerikaner an, die mit der Atmosphäre dieses Landes vertraut sind und den Bürgerkrieg als ein bedeutendes nationales Ereignis betrachten. Die Werke beider Dichter verweisen darauf, daß jede erfolgreiche Formung politisch erwünschter Emotionen sich auf Geschichte 31und Geographie des fraglichen Landes stützen muß. Martin Luther King war zwar stark von Gandhi beeinflußt, wußte aber, daß Gandhis Ideen einer vollständigen kulturellen Umformung bedurften, um Amerikaner anzusprechen.

Beide Dichter sind auch in kultureller Hinsicht radikal, da sie die Menschen auffordern, sich von liebgewonnenen Denkweisen über das soziale Gefüge (das religiöse, kastenmäßige und geschlechtsbedingte Hierarchien enthält) zu verabschieden. Sie fesseln ihr Zielpublikum durch ihre Vertrautheit mit Kultur und Geschichte: Es ist in der Tat bemerkenswert, daß so radikale Persönlichkeiten wie Whitman und Tagore sich einer so breiten Anerkennung und Wertschätzung erfreuen. Sie konfrontieren ihre jeweilige Kultur mit der Forderung, ihre besten Kräfte zu entfalten und sich stetig zu vervollkommnen. Somit kann ein in spezifischen Traditionen verankertes politisches Engagement vorwärtsweisend und sogar radikal sein. Whitman schreibt: »Ich bin einer, der Männer, Frauen und Nationen voller Spott zwingt, der ruft: Springt von euren Sitzen und kämpft um euer Leben!«[16]

Beide Dichter machen durch ihre Akzentsetzungen deutlich, daß die Probleme ihrer bedrängten Länder in einem Geist von Liebe und Verständnis angegangen werden müssen, durch Arbeiten, die tief in jene Schichten der Menschen eindringen, in denen diese mit ihrer Sterblichkeit und Endlichkeit konfrontiert werden. Darum wird sich dieses Buch im wesentlichen drehen. Welche Art oder welche Arten von Liebe durch welche Medien und Institutionen vermittelt werden – die Untersuchung dieser Frage wird uns lange beschäftigen, und ihr Ausgang ist offen. Die Untersuchung wird sich mit Gefühlen wie Mitgefühl, Trauer, Angst, Wut, Hoffnung sowie mit der Zurückdrängung von Abscheu und verwerflichem Verhalten befassen. Dem beigemischt ist eine Prise Humor, die ihren Spaß an menschlichen Kaprizen hat. Meh32rere miteinander verbundene, aber unterschiedliche Formen von Liebe und Zuwendung, die unterschiedlichen Anlässen und Problemen entsprechen, kommen dabei zum Tragen. Lincolns »Gettysburg Address« war ihrem feierlichen Anlaß angemessen, und ein Lied von Tagore hätte nicht das zu vermitteln vermocht, was Lincolns Rhetorik vermittelt. In der »Gettysburg Address« steht die Liebe zum eigenen Land im Mittelpunkt, und ich werde zeigen, daß alle entscheidenden Emotionen, die eine gute Gesellschaft tragen und zusammenhalten, ihre Wurzeln in der Liebe haben oder eine Form von Zuwendung sind – worunter ich eine starke innere Verbundenheit mit Dingen verstehe, die unser Wille nicht lenken und kontrollieren kann. Meine Beispiele machen bereits deutlich, worauf ich hinauswill: Werden die auf Prinzipien basierenden Emotionen, die Rawls vor Augen hat, nicht von dieser Liebe ergänzt und durchdrungen, bleiben sie zu kraftlos und verharren zu sehr an der Oberfläche der menschlichen Psyche, um das zu leisten, was ihm vorschwebt. Das erfordert einen Zugang zu dem eigenwilligen, spannungsgeladenen und in gewisser Weise sinnlichen Verhältnis, das wir alle in unterschiedlichen (sowohl komischen als auch tragischen) Formen zum Sinn unseres Lebens haben. Ich werde darlegen, daß Liebe die Achtung vor den Menschen mit Leben erfüllt und sie zu mehr als einer bloßen Hülse macht. Wird Liebe selbst in Rawls’ wohlgeordneter Gesellschaft gebraucht – wovon ich überzeugt bin –, dann wird sie um so dringender in realen, unvollkommenen Gesellschaften benötigt, die nach Gerechtigkeit streben.

Für die Behandlung dieses Themas habe ich einen guten Zeitpunkt gewählt, da die Kognitionspsychologen in den letzten Jahrzehnten ausgezeichnete Studien über bestimmte Emotionen vorgelegt haben, die, ergänzt durch die Arbeit von Primatologen, Anthropologen, Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern, viele empirische Daten liefern, welche für ein normatives philosophisches Projekt wie dieses sehr nütz33lich sind. Zwar beantworten derlei empirische Befunde nicht unsere normativen Fragen, lassen uns aber besser verstehen, was unmöglich und was möglich ist, welche menschlichen Neigungen schädlich oder hilfreich sein können – kurzum, mit welchem Material wir arbeiten müssen und wie es sich »bearbeiten« läßt.

Ein Teil der Rechtfertigung eines normativen politischen Projekts besteht darin zu zeigen, daß es nachweislich stabil sein kann. Emotionen sind teilweise deswegen interessant, weil wir uns Fragen der Stabilität stellen. Aber dann müssen wir auch fragen, welche Formen von öffentlich wirksamen Emotionen selbst langfristig stabil sein können und unsere menschlichen Ressourcen nicht übermäßig strapazieren. Wir müssen allem nachspüren und alles aufgreifen, was uns hilft, das ungleiche und oftmals unerfreuliche Schicksal der Menschen mit Humor, Zärtlichkeit und Freude zu betrachten, anstatt mit absolutistischem Furor eine Vollkommenheit anzustreben, die ohnehin nicht erreichbar ist. Eine politische Schwierigkeit ergibt sich aus dem allgegenwärtigen Wunsch der Menschen, die Hilflosigkeit zu überwinden, die einen großen Teil des menschlichen Lebens ausmacht – sich über die Niederungen des »bloß Menschlichen« zu erheben. Viele Formen von öffentlich wirksamen Emotionen nähren Phantasien von Unverletzbarkeit, und solche Gefühle sind schädlich. Das Projekt, das ich in Angriff genommen habe, wird nur dann erfolgreich sein, wenn es Wege findet, das Menschliche liebenswert zu machen und Abscheu und Scham zu verhindern.

Ein derartiges Projekt könnte nicht erfolgreich sein, wenn es die Frage von Emotionen im öffentlichen Raum nicht mit einigen normativen Zielen verknüpfen würde. Mir schwebt eine Form des Liberalismus vor, der moralisch nicht »neutral« ist, der einen bestimmten moralischen Inhalt hat, wobei die gleiche Achtung vor allen Menschen, Rede-, Vereinigungs- und Gewissensfreiheit sowie grundlegende soziale und wirtschaftliche Rechte an erster Stelle stehen. Diese Werte stellen 34die Grenzen dar, innerhalb deren Emotionen im öffentlichen Raum gefördert und gepflegt werden können. Die Gesellschaft, die ich vor Augen habe, muß im Rahmen eines Staates, wie ihn Kant und Locke entworfen haben, mit dem Problem Rousseaus fertig werden. Man mag annehmen, daß die Idee einer stabilen »Zivilreligion« ohne diese Zwänge nicht oder nicht auf eine interessante und einnehmende Weise verwirklicht werden kann. Warten wir es ab.

Der Schwerpunkt des Projekts liegt auf der politischen Kultur einer Gesellschaft und nicht auf den informellen Institutionen der Zivilgesellschaft. Was nicht bedeutet, daß die Zivilgesellschaft die Emotionen der Bürger nicht tiefgehend prägte; aber das ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Ich habe eine inklusive Vorstellung vom Politischen, das all jene Institutionen umfaßt, die die Lebenschancen der Menschen grundlegend und im gesamten Verlauf ihres Lebens beeinflussen (John Rawls verwendet dafür den Begriff der »Grundstruktur«). Das Politische umfaßt die Familie, wenngleich der Umgang der Regierung mit der Familie durch die bereits erwähnten Werte wie Rede- und Vereinigungsfreiheit begrenzt wird. Auf dem Gebiet der politischen Kultur wird das Projekt sich mit politischer Rhetorik, öffentlichen Zeremonien und Ritualen, Liedern, Symbolen, Dichtung, Kunst und Architektur, der Gestaltung von öffentlichen Parks, Denkmälern und öffentlichen Sporteinrichtungen befassen. Es wird auch die Prägung von Emotionen im öffentlichen Bildungswesen untersuchen. Institutionen zu schaffen, in denen sich die Erkenntnisse niederschlagen, die durch eine bestimmte Art des emotionalen Erlebens vermittelt werden, ist möglich. Das Buch ist nicht auf diesen Teil des Projekts fokussiert, erkennt dessen Bedeutung jedoch an.

Die grundlegende Analyseeinheit ist die Nation,[17] da sie 35die Lebensbedingungen für die Menschen auf der Basis der gleichen Achtung vor allen schafft und die größte uns bislang bekannte Einheit darstellt, die den Menschen Rechenschaft schuldig ist und ihren Wunsch auszudrücken vermag, sich Gesetze ihrer Wahl zu geben. Eine globale Perspektive wird ein wichtiges Thema sein: Wir bewerten eine politische Kultur zu Recht danach, welche Einstellungen gegenüber anderen Staaten und Menschen sie fördert. Ich werde mit Giuseppe Mazzini und anderen Vorkämpfern für den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts sagen, daß die Nation ein notwendiger »Hebel« für die Entwicklung einer globalen Perspektive ist, und das in einer Welt, in der das hartnäckigste Hindernis für die Sorge um andere das egoistische Gefangensein in persönlichen und lokal begrenzten Projekten ist. Ein anderer Grund für die Fokussierung auf die Nation ist, daß alle guten Vorschläge für die Förderung von politisch erwünschten Emotionen historische Besonderheiten beinhalten müssen.

Wie meine Bezugnahme auf Whitman und Tagore zeigt, wird der Schwerpunkt meines Projekts auf den Vereinigten Staaten und auf Indien liegen – zwei äußerst unterschiedliche Länder, die auf ihre Art erfolgreiche liberale Demokratien sind, welche mehr durch politische Ideale als durch ethnische Homogenität zusammengehalten werden. Da es in beiden Ländern große Ungleichheiten gibt, müssen sowohl Umverteilungsprojekte als auch global ausgerichtete Projekte initiiert werden. In beiden existieren auch tiefgehende Spaltungen hinsichtlich Religion, Rasse, Kaste und Geschlecht. Daher müssen sie die Kräfte zurückdrängen, die diese Spaltungen in abzulehnende Hierarchien oder gar in Anlässe zur Gewaltanwendung verwandeln.[18]

In meinem Buch Upheavals of Thought,[19] das von Emotio36nen handelt, habe ich die Auffassung vertreten, daß Emotionen kognitive Bewertungen, das heißt wertbezogene Wahrnehmungen und/oder Gedanken enthalten, die sich auf einen oder mehrere Gegenstände richten. Wir werden sehen, daß die Kognitionspsychologen, deren Arbeiten über Gefühle wie Mitgefühl und Abscheu von zentraler Bedeutung für meine Analyse sind, eine ähnliche These vertreten, die durch die Arbeiten von Anthropologen über den Einfluß sozialer Normen auf die Gefühle zusätzlich untermauert wird.

Teil I des Buches führt in das Problem politisch wirksamer Emotionen anhand von drei historischen Kapiteln ein.

Zur Zeit der Französischen Revolution gab es heftige Auseinandersetzungen um die Einheit der Gesellschaft und den Wert von »Brüderlichkeit«. Wenn die absolute Monarchie und die Unterwerfung unter die Autorität des Königs nicht die Quellen sein sollten, aus denen sich der Zusammenhalt der zukünftigen egalitäreren Gesellschaften speiste, was dann? Philosophen wie Rousseau und der deutsche Denker Johann Gottfried Herder befaßten sich intensiv mit der Form, die ein neuer Patriotismus annehmen könnte. Kapitel 2 schließe ich mit der Betrachtung ihrer Vorschläge ab, beginne jedoch mit einem sehr andersartigen Beitrag: mit der Oper Die Hochzeit des Figaro (1786) von W.A. Mozart und Lorenzo da Ponte. Die Oper, die auf dem gleichnamigen Theaterstück von Beaumarchais basiert, gilt generell als ein wichtiger Vorläufer der Revolution, da sie vom Übergang vom Feudalismus zur Demokratie handelt und dabei den Schwerpunkt auf die Entwicklung von Gefühlen legt. Laut Beaumarchais war das Problem der alten Ordnung institutioneller Natur und ließ sich leicht lösen: Wir entthronen die feudale Obrigkeit und führen durch eine Umgestaltung der politischen Institutionen eine neue Gesellschaft gleicher Menschen ein. Meiner Auffassung nach sollte die Oper (nicht nur ihr geistreiches Libretto, sondern auch der musikalische Ausdruck von Ideen, der in 37Kernbereichen über das Libretto hinausgeht) als ein prägender philosophischer Text betrachtet werden, der seinen Teil zu den Debatten über neue Formen der öffentlichen Kultur beigetragen hat. Er präsentiert eine völlig andere Vision als Beaumarchais. Da die Oper Gefühle und die Rolle von Frauen betonte, wurde sie gewöhnlich nicht der politischen, sondern der persönlichen Sphäre zugerechnet. Ich behaupte dagegen, daß sie nicht nur politisch ist, sondern auch die richtige Botschaft aussendet: Die neue Ordnung kann ohne revolutionäre Veränderungen in den Herzen der Menschen nicht stabil sein, und zu diesen Veränderungen gehören die Übernahme neuer Normen im Rollenverhalten von Männern und Frauen sowie ein neues Verständnis des Bürgers, das ein für allemal mit den männlichen Normen der alten Feudalordnung bricht. Obwohl die Ideen, die ich in der Oper vorfinde, ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht um Lichtjahre voraus sind, lagen sie in jener Zeit des Umbruchs in der Luft: Die politische Vision der Oper weist eine starke Ähnlichkeit mit Herders Ideen über einen »geläuterten Patriotismus« aus den 1790er Jahren auf. Ich werde zeigen, daß beide Vorläufer eines Liberalismus sind, der später von John Stuart Mill und Rabindranath Tagore entwickelt wurde und in dem politische Prinzipien Schutzräume für individuelle Ausdrucksformen, Spiel und Kaprizen schaffen. Ich behandele die Oper wie einen philosophischen Text, wie den Teil eines Gesprächs, an dem Rousseau, Herder und später auch Tagore und Mill beteiligt sind. Ich sage nicht, moderne Demokratien sollten die Oper als ein Vehikel verwenden, um die richtigen im öffentlichen Raum erwünschten Emotionen zu fördern. Obwohl die Oper das bei Menschen bewirken mag, die sie lieben, kann sie ihre Werte heute nicht im großen Maßstab durchsetzen, da ihre Wirkung begrenzt ist (was auch für die Schriften von Philosophen gilt).

Im 19. Jahrhundert ging die Debatte über politisch erwünschte Emotionen weiter, diesmal allerdings mit globaler Ausrichtung. Von zentraler Bedeutung war Auguste Comte 38mit seiner Vorstellung von einer »Religion der Menschlichkeit«, die Altruismus fördern und anspruchsvollen politischen Prinzipien Stabilität verleihen sollte. Comtes Ideen übten in nahezu allen Weltgegenden einen gewaltigen Einfluß aus. In Europa war sein Freund und Kollege Mill stark von ihm beeinflußt, der Comte ein ganzes Buch widmete und zur Ausformulierung der »Religion der Menschlichkeit« seinen Beitrag leistete. Comte war auch eine bedeutende Persönlichkeit für indische Intellektuelle und eine wichtige Quelle für Tagores Idee von einer »Religion des Menschen«. Kapitel 3 und 4 untersuchen diese reichhaltige Ideengeschichte. Ich pflichte Tagore und Mill darin bei, daß die öffentliche Förderung von Gefühlen der Überprüfung durch eine kritische politische Kultur bedarf, für die der Schutz abweichender Meinungen von großer Bedeutung ist. Ihre Vorschläge bleiben wertvolle Quellen – obwohl beide, zumal Mill, einen naiven Glauben an den menschlichen Fortschritt haben, den wir heute nicht mehr teilen und der in noch wenig entwickelten psychologischen Kenntnissen gründet.

Bevor wir uns der Gegenwart zuwenden, müssen wir in groben Umrissen wissen, wohin wir gehen; wir benötigen eine normative Darstellung einer gut funktionierenden, erstrebens- und erhaltenswerten Gesellschaft. Teil II beginnt mit einer solchen Skizze in Kapitel 5. Sie hat viel mit den Bestrebungen zu tun, um die es bei meinem »Fähigkeiten«-Ansatz geht – aber auch mit Mills normativen Vorschlägen, mit der Theorie von Rawls, mit dem New Deal, mit vielen Aspekten der europäischen sozialstaatlichen Demokratien sowie mit den in der indischen Verfassung formulierten Zielen. Viele Aspekte des anvisierten Ziels gehören heute auch zur politischen Kultur der Vereinigten Staaten. Ich sage nicht, daß diese Normen der beste Weg sind, ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen; statt dessen plädiere ich für sehr allgemeine Normen. Meine Frage lautet: Wenn wir 39politische Prinzipien und Institutionen verwirklichen und bewahren wollen, die so beschaffen sind, daß allen Menschen die gleiche Achtung entgegengebracht wird und Kernbereiche von Freiheit und materieller Unterstützung gewährleistet sind, was sollen wir dann tun, um Gefühle zu fördern und zu pflegen, die diese Prinzipien und Institutionen stützen?

An dieser Stelle führe ich den »politischen Liberalismus« ein, der der öffentlichen Förderung von Emotionen zusätzliche Grenzen auferlegt und von uns verlangt, dem offen antireligiösen Humanismus von Comte und Mill eine Absage zu erteilen. Ich gehe davon aus, daß die Schaffung von öffentlich wirksamen Emotionen zwei Aspekte hat: den motivationsbezogenen und den institutionsbezogenen, die eng zusammenwirken müssen. Mit anderen Worten: Eine Regierung kann versuchen, die Psyche der Bürger direkt zu beeinflussen (etwa durch politische Rhetorik, Lieder, Symbole sowie durch den Inhalt und die pädagogische Ausrichtung der öffentlichen Erziehung); oder sie kann Institutionen schaffen, in denen sich die Erkenntnisse wertvoller Emotionen niederschlagen – ein vernünftiges Steuersystem könnte beispielsweise die Erkenntnisse eines sorgfältig ausbalancierten und unparteiischen Mitgefühls widerspiegeln. Dieses Buch konzentriert sich zwar auf die Ebene der Motivation, steht aber immer im Dialog mit der institutionellen Ebene.

Teil II gibt einen Überblick über die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen und über die psychologischen Probleme, die sich uns in den Weg stellen. Mir schien es ratsam, mit unserer Zugehörigkeit zum Tierreich zu beginnen, und Kapitel 6 zeigt relevante Aspekte unseres derzeitigen Wissensstands über die emotionalen Tendenzen und Fähigkeiten jener Tiere, die uns hinsichtlich Intelligenz und Lebensweise am nächsten stehen, wie Schimpansen, Bonobos, Elefanten und Hunde. Die menschliche Welt verfügt über einige Fähigkeiten, die diesen Geschöpfen abgehen, aber sie weist auch Probleme und Deformationen auf, von denen deren Leben 40frei ist. Reflexionen über diese Unterschiede – wobei der Schwerpunkt auf Mitgefühl liegt – führen uns zur Hilflosigkeit menschlicher Kleinkinder zurück, aus der zwar viele spätere Schwierigkeiten erwachsen, die aber den Keim wertvoller Ressourcen enthält. Kapitel 7 befaßt sich mit jenen frühen Wurzeln von Emotionen und untersucht die Entwicklung der Fähigkeit, sich um andere zu sorgen, und ihr Verhältnis zu der Fähigkeit, phantasievoll zu spielen. Diese beiden Fähigkeiten entfalten sich gleichzeitig und nähren einander; eine gute Gesellschaft kann viele Wege finden, ihre gedeihliche Entwicklung zu fördern.

Teil III wendet sich der gegenwärtigen Realität und der jüngeren Geschichte zu, wobei der Fokus weiterhin auf den Vereinigten Staaten und auf Indien liegt. Kapitel 8 behandelt das Thema patriotischer Gefühle beziehungsweise der Liebe zu einem Land, wobei eine gute politische Kultur trotz ihrer vielen Gefährdungen nicht dauerhaft gedeihen kann, wenn diese Liebe nicht in passender Weise gefördert und gepflegt wird. Ich untersuche Appelle an nationale Ideen und die Liebe zum eigenen Land in der politischen Rhetorik von Abraham Lincoln, Martin Luther King, Mohandas Gandhi und Jawaharlal Nehru – sowie Whitman und Tagore – und entwickle das Konzept eines humanen und anspruchsvollen Patriotismus, der gegen jene Gefahren gefeit ist, die Herder in den ihn umgebenden aggressiven und bellizistischen Formen des Patriotismus erkannte. Ich untersuche die verschiedenen Arten von Liebe und Zuneigung, die ihn ausmachen.

Kapitel 9 wendet sich nochmals dem Mitgefühl zu, das eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung altruistischen Handelns und egalitärer Institutionen spielt; im Zusammenhang damit geht es um das Tragische im Leben der Menschen. Im Laufe ihres Reifungsprozesses müssen die Bürger lernen, schwierige Lebenssituationen sowohl auf tragische als auch auf komische Weise wahrzunehmen. Die tragische 41Perspektive gewährt Einblicke in Verletzbarkeiten, von denen alle Menschen betroffen sind; die komische Perspektive (beziehungsweise eine spezielle komische Perspektive) betrachtet die Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz mit geistiger Beweglichkeit und liebevollem Verständnis, anstatt mit Haß. (Selbsthaß wird nur allzuoft auf verletzbare andere Personen projiziert, so daß Selbsteinschätzungen ein wichtiger, wenngleich schwankender und schwer zugänglicher Bestandteil eines guten öffentlichen Umgangs mit psychologischen Sachverhalten sind.) Beginnend mit einigen bleibenden Erkenntnissen der antiken griechischen Tragödien- und Komödiendichter, frage ich, wie große moderne Demokratien etwas Vergleichbares versuchen könnten oder versucht haben.

In Kapitel 10 untersuche ich drei Emotionen, die für ein solidarisches Miteinander besondere Probleme aufwerfen: Angst, Neid und Scham. Ich analysiere jede dieser Emotionen und trenne ihre konstruktiven Beiträge von den negativen Rollen, die sie allzuhäufig spielen; sodann lege ich einige Strategien moderner Gesellschaften zur Bekämpfung dieser Probleme dar und beschreibe andere, die sie verschlimmern. Kapitel 11 enthält abschließende Bemerkungen.

Am Ende der Oper Die Hochzeit des Figaro stellt die Gräfin die Weichen für die neue Ordnung, indem sie auf eine Bitte um Mitgefühl sagt: »Ich bin gelehriger und sage: ja.« Eine mitfühlende und großherzige Einstellung zu den Schwächen der Menschen – und vor allem der eigenen Person – ist ein Angelpunkt der öffentlichen Kultur, für die ich hier plädiere, und sie ist eng mit einem Sinn fürs Komische verknüpft. Die Art von Liebe, die in dem großzügigen »ja« der Gräfin zum Ausdruck kommt, beinhaltet geistige Beweglichkeit sowie die Bereitschaft, Liebe und Verständnis über strenge Normen zu stellen. Bewundernswerte Ziele sollten in der Weise verfolgt werden, daß Frauen und Männer so genommen werden, wie sie sind, anstatt alles Unvollkommene mit Haß zu verfolgen. 42Ihr »ja« ist ein Schlüssel zu der emotionalen Akzeptanz politischer Ziele und Prinzipien, die im Zentrum dieses Buches steht.

Da es sich um ein langes Buch handelt, ist es wichtig, bereits hier Mißverständnissen dadurch vorzubeugen, daß einige besonders bedeutsame Punkte hervorgehoben und geklärt werden.

1. Die Theorie der politischen Emotionen geht von einigen normativen Festlegungen aus. Alle politischen Konzeptionen – von den monarchistischen und faschistischen bis zu den liberalen – räumen Emotionen einen Platz in der öffentlichen Kultur ein, da sie diese Kultur stabilisieren. Doch spezifische Strategien hängen von spezifischen Zielen ab. Dieses Buch postuliert eine Reihe von politischen Prinzipien, die in Kapitel 5 recht ausführlich beschrieben werden und die denen ähneln (wenngleich sie allgemeiner gehalten sind), für die ich in anderen Büchern plädiert habe; sie lassen sich den Zielen des New Deal, den politischen Vorstellungen von John Stuart Mill und John Rawls sowie vielen europäischen sozialstaatlichen Demokratien zuordnen. Sie weisen selbst heute noch erhebliche Übereinstimmungen mit den Zielen der amerikanischen politischen Kultur auf. Zwar beschreibe ich diese normativen Prinzipien, begründe sie aber nicht. Ich frage, wie solche Prinzipien durch Emotionen stabilisiert werden können. Menschen, die unterschiedlichen politischen Normen anhängen, können von diesem Konzept eine Menge lernen, wenngleich sie sich Gedanken darüber machen müssen, wie es modifiziert werden müßte, um die von ihnen befürworteten Normen zu stützen.

2. Die Theorie basiert auf dem »politischen Liberalismus«. Wie in Kapitel 5 näher ausgeführt, besteht das normative Ideal aus Prinzipien, die nicht eine spezifische religiöse oder säkulare »umfassende Weltanschauung« begründen (um den Ausdruck von Rawls zu verwenden) und die zumindest po43tentiell zum Gegenstand eines »übergreifenden Konsenses« werden können; dieser bildet sich zwischen den vielfältigen von den Bürgern vertretenen umfassenden Weltanschauungen heraus, solange diese bereit sind, einander als gleichwertige und gleichberechtigte Bürger zu achten.[20] Durch diesen politischen Liberalismus unterscheidet sich mein Konzept von der »Zivilreligion« Rousseaus sowie von der »Religion der Menschlichkeit«, für die Auguste Comte und John Stuart Mill eintraten. Für diese Denker war das Konzept der inneren Verbundenheit mit dem Gemeinwesen ein Ersatz für die bestehenden Religionen, die ihrer Auffassung nach von der Gesellschaft angeprangert und an den Rand gedrängt werden sollten.

3. Emotionen: im allgemeinen und im besonderen. Ich werde darlegen, daß Emotionen wie Mitgefühl, Angst, Neid und Scham im Kontext einer bestimmten normativen Konzeption wirksam sind. Diese allgemein-menschlichen Emotionen spielen auch in andersgearteten politischen Kulturen eine Rolle: in monarchistischen, faschistischen oder libertarianistischen Systemen beispielsweise. Insofern sind Emotionen Allzweck-instrumente. (Abscheu mag eine Ausnahme sein; ich zeige, daß »projektiver Abscheu« in einer liberalen Gesellschaft keine nützliche Rolle spielt, wenngleich sich ein »primärer Abscheu« vor Abfällen und Verwesung weiterhin als nützlich erweist.) Auf der allgemeinen Ebene kommen in der liberalen Gesellschaft, die ich vor Augen habe, ganz bestimmte Emotionen zum Zug. Sowohl liberale als auch illiberale Auffassungen setzen Scham zur Motivierung von Menschen ein, wobei es sich allerdings um unterschiedliche Formen von Scham handelt. Eine liberale Gesellschaft fordert die Menschen auf, sich für übermäßige Gier und Egoismus zu schämen, aber sie fordert sie nicht auf, sich für ihre Hautfarbe oder ihre körperlichen Defizite zu schämen.

44Auch in anderer Hinsicht haben Emotionen einen allgemeinen und einen besonderen Aspekt: Mitgefühl für die im Bürgerkrieg gefallenen Soldaten kann in ein Bekenntnis zu den grundlegenden Prinzipien der Nation münden. (Daher stellt mein Projekt eine Ergänzung und nicht einen Ersatz für Rawls’ Projekt dar.)

4. Ideal und Realität. Da meine Frage lautet, wie politische Prinzipien und Institutionen stabilisiert werden können, setzt die Untersuchung voraus, daß grundsätzlich gute Institutionen entweder bereits existieren oder in einem relativ kurzen Zeitraum geschaffen werden können, dies allerdings in einer Form, die der ständigen Verbesserung bedarf. Da wir es mit realen Gesellschaften und realen Menschen zu tun haben, liegt der Schwerpunkt auf dem Streben nach einem Gerechtigkeitsideal und nicht auf der schon erreichten Gerechtigkeit. Die historischen Beispiele beziehen sich auf tatsächliche Gegebenheiten und nicht auf ein Ideal, also auf Menschen, die versuchen, eine normative Vision zu verwirklichen, die noch nicht in jeder Hinsicht Realität ist. (Das gilt sogar für Lincoln, der behauptet, etwas zu verteidigen, was seit langem existiert, denn er entwirft ein so neues Bild von der Nation, daß es zu Recht heißt, er habe sie neu gegründet.) Folglich stellt sich immer die Frage, ob es nicht nicht-emotionale Faktoren sind, die die Realisierung der von mir beschriebenen Gesellschaft verhindern (ökonomische Faktoren zum Beispiel). Ich glaube, daß die von mir beschriebene Gesellschaft nicht nur möglich ist, sondern in vielerlei Hinsicht tatsächlich existiert und daß etwas, das dem Ganzen nahekommt, an manchen Orten und zu manchen Zeiten existiert hat. So bin ich zwar der Überzeugung, daß es derartige Hindernisse nicht gibt, doch diese Frage liegt außerhalb des vorliegenden Projekts.

45I. Geschichte

472. Gleichheit und Liebe: Rousseau, Herder, Mozart

Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden italienischen Damen gesungen haben. Um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Ich stelle mir vor, daß sie von etwas so Wunderbarem gesungen haben, daß es sich nicht mit Worten ausdrücken läßt, und es geht einem deswegen so sehr zu Herzen […] und für einen winzigen Augenblick fühlte sich jeder Mann in Shawshank frei.

Red (gespielt von Morgan Freeman) in Die Verurteilten über die »Canzonetta sull’aria« aus dem 3. Akt von Die Hochzeit des Figaro.

Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft […]. Gemäß ihrem Namen und ihrem Wesen obliegt es ihr, allen Bürgern Friedensgesinnungen einzupflanzen.

Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-1797)

I. »Ach, so sind wir alle zufrieden«

Das Ancien régime singt mit lauter und autoritärer Stimme »Nein, nein, nein, nein, nein, nein«. Kurz vor dem Ende von Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro weist der Graf, dessen Stellung unangefochten ist, die eindringlichen Bitten der anderen Personen zurück, die nacheinander vor ihm niederknien und Gnade und Mitgefühl erflehen. Für Almaviva ist die Rache für seine gekränkte Ehre das allerwichtigste (»Allein schon die Hoffnung, daß ich mich rächen kann, tröstet diese Seele und läßt mich jubeln«).[1] Den flehenden, demütig Niederknienden 48