Die Hakima - Kari Köster-Lösche - E-Book

Die Hakima E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Lübeck im Jahre 1209: Ein verheerendes Feuer zerstört das Elternhaus der jungen Kaufmannstochter Ymme und tötet ihre Eltern. Ganz auf sich allein gestellt, fällt sie dem adligen »Verehrer« Scharpenberg in die Hände, der sie verfolgt, verhöhnt, mißbraucht. Ihr Leben kann Ymme nur retten, indem sie den Peiniger ersticht. Auf ihrer Flucht nach Süden wird sie von einer Frankfurter Ärztin aufgenommen, die sie in der Kunst der Medizin unterrichtet. Doch Ymme verläßt das gefährliche Pflaster Frankfurt bald, um in der berühmten Schule von Salerno ausgebildet zu werden. Aber die religiösen und politischen Wirren des Mittelalters verschlagen sie nach Südfrankreich, wo der Ritter Cornelius von Fischbach sie vor den fanatischen Nachstellungen eines Zisterziensermönches und den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Katharern rettet. Er bringt sie nach Toledo. Am arabischen Hospital wird Ymme zur Hakima – der Heilerin von Toledo. Da fallen die Kreuzfahrer über Toledo her, und erneut muß Ymme fliehen …

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Das Buch

Lübeck im Jahre 1209: Ein verheerendes Feuer zerstört das Elternhaus der jungen Kaufmannstochter Ymme und tötet ihre Eltern. Ganz auf sich allein gestellt, fällt sie dem adligen »Verehrer« Scharpenberg in die Hände, der sie verfolgt, verhöhnt, mißbraucht. Ihr Leben kann Ymme nur retten, indem sie den Peiniger ersticht. Auf ihrer Flucht nach Süden wird sie von einer Frankfurter Ärztin aufgenommen, die sie in der Kunst der Medizin unterrichtet. Doch Ymme verläßt das gefährliche Pflaster Frankfurt bald, um in der berühmten Schule von Salerno ausgebildet zu werden. Aber die religiösen und politischen Wirren des Mittelalters verschlagen sie nach Südfrankreich, wo der Ritter Cornelius von Fischbach sie vor den fanatischen Nachstellungen eines Zisterziensermönches und den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Katharern rettet. Er bringt sie nach Toledo. Am arabischen Hospital wird Ymme zur Hakima – der Heilerin von Toledo. Da fallen die Kreuzfahrer über Toledo her, und erneut muß Ymme fliehen …

Die Autorin

Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, veröffentlichte als Tierärztin zahlreiche wissenschaftliche Bücher, bevor sie mit ihren Erfolgsromanen Die Hakima und Die Heilerin von Alexandria ein begeistertes Publikum gefunden hat. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Nordfriesland.

Kari Köster-Lösche

Die Hakima

Roman

List Taschenbuch

Alle Rechte Vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung. Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe bei Refinery Mai 2016 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2001/2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-96048-036-5

Inhalt

Personenverzeichnis

Teil I Der Weg ins Licht, 1208–1209 n. Chr.

1. Brandstiftung

2. Ketzerkreuze

3. Berthold der Deutsche

4. Der Hahn ist tot …

5. Der Schwarze Ritter

6. Die Katharer

7. Das Schlachten von Béziers

8. Der Montségur

Teil II Der bittere Brunnen, 1210–1212 n. Chr.

9. Tulaytula

10. Beseelte Sphären

11. Die Übersetzerschule des Don Zag

12. Das Mutterkorn

13. Ibn Hazms Macht

14. Die hitzigen Fieber

15. Dschihad

16. Die Kindeszerlegung

17. Auf dem Stuhl der Weisheit

18. Der Verführer

19. Asch-Schah mat, Schachmatt

Nachwort

Worterklärungen

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Hauptpersonen des Romans:

Ymme Emeken

Lübeckerin, Ärztin

Johanna Cornela

Augenärztin in Frankfurt

Berthold der Deutsche

Zisterziensermönch

Cornelius von Fischbach

Ritter bei den Johannitern

Guiraude von Cessenon

Adelige in der Languedoc

Esclarmonde

katharische Ärztin

Rodrigo Ximénez de Rada

Erzbischof von Toledo

Isa ibn Hamdus al-Dschayyani  

Philosoph

Zwerg

Diener, Koch des Isa ibn Hamdus

Chaldun

Papierhändler, Leinensammler

Don Zag ibn Yahya

Übersetzer, Vetter von Urraca

Idschaz Sarracin

Edelfrau aus Burgos, Tochter von Ibn Hazm

Ibn Hazm

Münzverwalter König Alfonsos von Kastilien

al-Walid

Arzt, Leiter des Hospitals von Toledo

Abu Bakr

Student, später Arzt

Umm Nuria

Ärztin für Frauen

Nebenpersonen in Lübeck:

Luder

Priester des Herzogs Heinrich

Hodica

weise Frau, Hebamme, Ymmes Urgroßmutter

Albert Emeken

Ymmes Vater, Kaufmann in Lübeck

Kyne Emeken

Ymmes Mutter

Volrad Emeken

Ymmes Bruder

Detlef Camerath

Ratsherr in Lübeck

Everard Scharpenberg  

Junker einer unbedeutenden Adelsfamilie

Mosse Haluca

Gewürzhändler

Nebenpersonen in/aus Frankfurt:

Ruth

Johanna Cornelas Gehilfin

Rainald zum Paradies  

Patrizier aus Frankfurt

Frau von Berleburg

Adelige

Nebenpersonen in der Languedoc:

Raimond Roger

Vicomte von Albi, Béziers, Carcassonne

Raymond

Graf von Toulouse

Améric von Cessenon  

Ehemann von Guiraude

Pierre und Jeanne

Knecht/Magd Guiraudes

Herr von Perhela

Adeliger in Saint-Gilles

Galono

Kardinaldekan

Bruder Thomas

Johanniterritter

Guido von Köln

Tempelritter

Arnold von Citeaux

Zisterzienserabt, Legat von Innozenz III.

Pedro I.

König von Aragon

Nebenpersonen in Toledo:

Don Yahya ibn Yunez

Schreiber des Erzbischofs, Vater von Don Zag

der Muhtasib

Polizeiinspektor, Marktinspektor

Juhannu al-Dschayyani

verstorbener Arzt, Bruder des Isa

Berenguela, Isabella

Dienerinnen des Isa ibn Hamdus

Ibn Daud

Schüler des Philosophen

Urraca

Schülerin des Philosophen

Petronilla

Klientin des Philosophen

al-Qurtubi

Apotheker aus Cordoba

La Roldana

Hebamme

c

Abdallah

Pförtner im Hospital

Don Abrahen

Arzt in der Judería

Don Enrique

Internist des Hospitals

Abu Chaldun

Vater des Papierhändlers

Ibn Chaldun

Sohn des Papierhändlers

Paulos, Guillem, Octavio  

Bewohner des Darb

Domingo Rojo

Spion des Erzbischofs

Hatox

Kranke, Berberin

Juan ben Omar,Sisnando Albanna,Ibn Martin

Studenten der Medizin

al-Dschamyadisch(kastilisch Juan Diaz)

Verwalter des Hospitals

Teil I

Der Weg ins Licht,1208–1209 n. Chr.

»Glaubet an das Licht, derweil ihr’s habt,auf daß ihr des Lichtes Kinder seid.«Joh. 12, 36

1. Brandstiftung

Von der Burg Alt-Lubika blickte Luder, asketischer Prediger des Herzogs Heinrich, über die tiefen Wälder des Ostens. Vor kurzem erst war er zum Priester geweiht worden, trug seitdem das härene Gewand auf bloßem Leib und aß kein Fleisch. Er war überzeugt, daß er von Gott gerufen worden sei, den Barbarenvölkern das Evangelium zu predigen.

In der Nähe der Mauer hockte schwer atmend die alte Frau, die er beim Werfen von Orakelstäben ertappt hatte, mitten im christlichen Lübeck.

Luder ging zu ihr hin und stieß sie mit dem Fuß an. »Du«, sagte er mit metallischer Stimme, »Weib, ich werde eure blutigen Opferstätten, die Eichen und die Götzenbilder zerstören. Christus wird siegen.«

Hodica sah auf. Sie verstand und sprach Sächsisch. Aber nicht einem christlichen Priester gegenüber. »Zcerneboch, der derselbe wie euer Teufel ist, soll es dir vergelten«, sagte sie. »Vergießt ihr nicht Blut an eurem Altar? Und was sind das für Götter, die du mir da anpreist? Den einen sieht man nicht – der andere hängt hilflos an einem Balken. Bei Svantevits vier Köpfen – ein Gott mit vier Köpfen ist mächtiger als einer mit einem einzigen! Aber ohne Kopf?« Sie lachte verächtlich. »Behalte du deinen Stammesgott – ich behalte meinen!« Luder verstand sie nicht, aber er hörte die Widerspenstigkeit in ihren Worten. Diese Abwehr, dieser blinde Kampf der unverständigen Menschen gegen Gott Vater und Sohn waren es, die sein unterkühltes Blut immer wieder zum Sieden brachten. Er hob die Faust gegen die Frau und schrie: »Mit Stumpf und Stiel werde ich eure Götter ausrotten!«

Die Frau erhob sich, säuberte flüchtig ihren Rock. Dann warf sie dem Priester einen kalten Blick zu und verließ den Burghof.

Der Blick der Slawin fraß sich durch das Herz des sächsischen Priesters und traf die Mauer des verfallenden Turms hinter ihm. Steine kollerten herab.

Das war der Teufel.

Luder schürzte seine Soutane und begann zu laufen. »Euch selbst muß man ausrotten, damit eure Götter sterben«, kreischte er hinter ihr her.

Hodica, mittlerweile am Fuß des Burgbergs angekommen, inmitten von Händlern und Bauern, die von oder zur Travefähre strömten, drehte sich um und sah dem fremden Priester entgegen. Sie konnte nicht fortlaufen, das Stechen in ihrer Brust kam immer öfter und gegenwärtig zusammen mit einem wilden Pochen ihres Herzens. Sie streckte ihm die gespreizten Finger wie einem wilden Wolf entgegen, um ihn zahm zu machen. Wie versteinert blieb er stehen. »Dein Kleid und deine Hände werden vor Blut triefen, wenn du vor deinen Gott geladen wirst«, keuchte sie und griff sich an die schmerzende Brust. »Deine Kinder bis ins zehnte Glied wird man an ihren blutigen Händen erkennen. Gewalt werden sie säen, und durch Gewalt werden sie umkommen …« Langsam sackte Hodica zwischen die Karrenspuren auf der Straße.

Der Priester wagte sich nicht näher heran. Während die Lübecker die Frau in einem dichten Kreis umstanden, schritt Luder wie benommen davon. An diesem Tag hatte die slawische Vielköpfigkeit über die christliche Dreifaltigkeit gesiegt.

Ymme Emeken, Tochter des Kaufherrn Albert Emeken zu Lübeck, wurde am selben Februartag siebzehn Jahre alt, an dem Lothar Conti im Jahre 1198 des Herrn zum Papst gekrönt wurde. »Gott hat mich über die Völker und Königreiche gesetzt, um auszureißen und zu vernichten, aber auch um aufzubauen und zu pflanzen«, verkündete Lothar Conti, als Stellvertreter Gottes nunmehr Innozenz III., in seiner ersten richtungweisenden Rede, aber davon wußte Ymme nichts. Sie wußte auch nicht, daß sie vom Ausreißen und Vernichten mehr zu spüren bekommen würde, als ihr lieb sein konnte.

Heute hatte sie ganz andere Sorgen. Zur Feier ihres siebzehnten Geburtstags aus dem Kloster nach Hause entlassen und erst vor wenigen Minuten angekommen, verbarg Ymme sich hinter dem dichtgewebten braunen Vorhang des Fensters ihres Elternhauses und starrte durch die Dunkelheit hinunter auf die Straße. Sehen konnte sie niemanden. Aber sie hatte das Gefühl, daß die Sache mit Everard noch nicht ausgestanden war.

Everard Scharpenberg entstammte einer adeligen Familie und versäumte nie, lauthals darauf hinzuweisen. Aber er war nur der fünfte Sohn in einer Reihe von sieben und hatte dazu noch vier Schwestern, die standesgemäß zu versorgen waren. Bargeld war bei den Scharpenbergs knapp. Sich selber innerhalb der reichen Kaufmannsschicht von Lübeck standesgemäß zu versorgen, hatte Everard deshalb für das zweckmäßigste gehalten. Aus verschiedenen Gründen paßte gerade Ymme Meeren ihm gut.

Ymme, nicht nur auf den slawischen Namen ihrer Großmutter getauft, sondern auch mutig und widerspenstig wie ihre Urgroßmutter, hatte seinen Antrag kurz und bündig abgelehnt. Als sie durch die Klosterpforte von Preetz getreten war, hatte Everard ihr den Weg versperrt und sie zum drittenmal im Abstand von wenigen Wochen gebeten, seine Frau zu werden, worauf sie wortlos zu ihrem Pferd geeilt und in scharfem Galopp nach Hause geritten war.

Er war zurückgeblieben. Sein unzufriedenes Lachen hatte sie noch im Ohr, und es ängstigte sie.

Ymme lauschte nach unten. Die Eltern unterhielten sich leise und ein wenig beunruhigt. Es war keine leichte Sache, die Ehre einer adeligen Verbindung auszuschlagen. Aber sie würden ihre Tochter nicht zwingen.

Auf der Straße dröhnten Hufschläge, und Ymme zog den Fensterrahmen mit dünngeschabter Ochsenhaut ein wenig auf. Es war ein feuchter Februarabend, ungewöhnlich, fast beängstigend warm, und graue Schwaden wäßriger Luft krochen auf das Fenster zu. Sie sah nur einen Schatten von Mann und Pferd.

Der Reiter mußte in eine der schmalen Seitenstraßen hinter Sankt Marien oder zur Fronerei abgebogen sein; das Geräusch ebbte ab und wurde vom Nebel verschluckt. Erleichtert atmete Ymme auf und begann sich wieder auf den morgigen Tag zu freuen, den sie in Ermangelung eines richtigen Namenstags festlich begehen würde.

Summend stieg sie die Treppe hinunter.

»Eines weiß ich gewiß: Selbst wenn Volrad sonst nichts zu berichten gewußt hätte – was ich mir gar nicht denken kann –, zum Geburtstag seiner Schwester hätte er geschrieben«, sagte der Vater mit besorgter Stimme.

Während Ymme ihre Eltern mit einem tiefen Knicks grüßte und dabei die Augen ihrer bekümmerten Mutter suchte, mußte sie ihm im stillen zustimmen. Ihr Bruder hatte es nie versäumt, sie zu umarmen oder ihr einen mündlichen oder schriftlichen Gruß zum Geburtstag zu schicken. Aber galt das auch für einen jungen Mann, der versuchen wollte, Geschäfte ganz neuer Art zwischen Lombarden und Dänen anzubahnen?

Kyne Emeken streifte ihre Tochter, die äußerlich ihrem Mann nachschlug, innerlich aber ihr selber, mit einem zärtlichen Blick und nickte. Dennoch sagte sie zuversichtlich: »Briefe können verlorengehen, selbst wenn man mehrere mit verschiedenen Überbringern befördert. Wir wollen auf Gott vertrauen, daß er unseren Volrad stets behütet.« Albert Emeken, der Kaufmann, der wie so viele Kaufleute auf den Ruf des Herzogs hin aus seiner sächsischen Heimat nach Lübeck eingewandert war und der so hellhaarig war wie seine Frau dunkel, zog wortlos die Augenbrauen hoch. Seine Frau, die ihm die spöttischen Gedanken vom Gesicht ablas, lächelte ein wenig. »Ja«, sagte sie dann in eigensinnigem Ton, »Gott erwartet viel von uns, wie der Bischof stets betont, wenn er uns Altlübecker von der Kanzel besonders ins Auge faßt. Ich darf dann wohl auch etwas von ihm erwarten!« Albert lachte von Herzen und umarmte seine Frau, die er nach so langer Zeit immer noch wie am ersten Tag liebte. Für einen Moment schienen seine Sorgen verschwunden. »Gott ist kein Kaufmann, Kyne. Hat dir das noch niemand gesagt?«

»Manchmal habe ich den Eindruck«, murmelte Kyne.

Der Vater erwiderte nichts, aber Ymme wußte genau wie er, daß die Mutter unter einer Vergangenheit litt, die nicht ihre eigene war, sondern die ihrer Großmutter Hodica, was jedoch für ein slawisches Herz keinen Unterschied macht.

Kyne war verstummt, und Ymme faßte sie sanft an der Hand. »Mein Geburtstag«, erinnerte sie leise, denn es wurde Zeit zu besprechen, welche Vorbereitungen getroffen worden waren, was noch zu erledigen war und welche Festkleidung sie anziehen sollte. Und dann vor allem: Welche Kaufmannsfamilien und welche ihrer Söhne waren geladen worden? Ymme brannte darauf, endlich zu erfahren, mit wem sich ihr Vater über eine verwandtschaftliche Verbindung geeinigt hatte. All das war schon lange bedacht und geplant und immer wieder verworfen worden, Ymme jedoch nur in groben Zügen durch die Briefe ihrer Mutter bekannt, allerdings ohne die Namen, die Ymme besonders interessierten. Die Nonnen waren berechtigt, die Briefe zu lesen, sie auch zurückzuhalten, wenn es nötig schien, um das Seelenheil ihrer Zöglinge zu schützen. Kyne mochte weder die Nonnen noch deren Neugier und hatte Ymme mehr verschwiegen als mitgeteilt.

Ymme zog ihre Mutter aus dem Vorderzimmer.

Das Haus Albert Emekens war nicht sehr groß und auch nicht so prächtig wie die steinernen Kemenaten, die sich die Strahlendorps und Gossenbodes zwischen Markt und Domkapitel hatten bauen lassen, kaum war die kaiserliche Vogtei fertig geworden. Aber Ymme liebte rauchgebeizte Balken und weißverputzte Gefache – im Gegensatz zu den kalten Steinwänden der Klosterschule, und in dieser Abneigung traf sie sich mit ihrer Mutter, obwohl sie sonst wie ihr Vater gut katholisch war. Frau Kyne sah ihr lächelnd nach und stieg dann hinter ihrer Tochter ins Obergeschoß, das die Familie in seiner ganzen Ausdehnung bewohnte. Keine Ware lagerte dort, aber der fremdartige, geheimnisvolle und lockende Geruch von Waren aus fernen Ländern durchzog das ganze Haus und konnte niemanden im Zweifel lassen, womit Albert Emeken reich geworden war.

Während Ymme vorauseilte, waren draußen vor dem Haus scharfe Hufschläge zu hören, die abrupt verstummten, und kurz danach klopfte jemand an die Tür, daß sie erzitterte.

Eine erschrockene Magd lief herbei, um die Pforte zu öffnen; Frau Kyne und ihre Tochter wandten sich verwundert um.

Die Tür flog auf, im Eingang stand breitbeinig Junker Everard, mit dem fordernden Blick seiner aquamarinhellen Augen, den Ymme nun schon so gut kannte. Erschrocken versuchte sie sich hinter der Mutter zu verbergen. An ihren Quälgeist hatte sie nicht mehr gedacht. »Gott zum Gruß, Kaufmann Albert«, rief Everard, als wollte er verhindern, daß ihm jemand zuvorkam. »Und ich grüße auch die edle Frau Kyne! Und besonders herzlich Jungfer Ymme, der ich allerdings heute schon meine Aufwartung gemacht habe. Ich bedauere, daß sie meinen Begleitschutz ablehnte. Ihrem Knecht traue ich keine große Gegenwehr zu, wenn es hart auf hart kommt. Die Wälder am Brackrader Mühlenberg sind nicht mehr die sichersten …« Sein Kopfschütteln über die Zustände ließ seine modisch gelockten Haare um das bartlose Kinn flattern, und er machte den Eindruck eines aufrichtig besorgten Mannes.

Aber Ymme konnte er nicht täuschen. Sie hatte sich durch ihn bedroht gefühlt, und die Zustände, von denen er sprach, entsprangen nicht der Armut der Bauern, sondern der Langeweile beschäftigungsloser Adelssöhne.

Albert, der mittlerweile aus seinem Warenlager im rückwärtigen Teil des Hauses zurückgekehrt war, trug seine Wachstafeln unter dem Arm. Sein Körper war immer noch der eines kampfgewohnten Mannes, auch wenn sein Haar schon grau wurde, und in seine Hände schien ein Schwert eher zu passen als ein Rechnungsbuch. Everard mußte das gespürt haben, denn seine nervöse Geschwätzigkeit verstummte beim Anblick des Kaufmanns. Ymme schmiegte sich an ihre schlanke Mutter und dankte ihrem Schöpfer, daß sie dem hartnäckigen Junker endlich nicht mehr allein gegenübertreten mußte.

»Ich danke Euch für den freundlichen Gruß, Everard Scharpenberg«, erwiderte Albert und neigte höflich den Kopf. »Hinrich ist gewandter, als man ihm ansieht. Meine Tochter war bei ihm immer gut aufgehoben. Dennoch: Auch für Eure Fürsorge Dank.«

»Wollt Ihr mir nicht einen Becher Wein anbieten, Albert? Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit – gewissermaßen.« Everard tat einen Schritt in die Diele, zog aber nicht einmal seine wappenverzierte Kappe vom Kopf.

Kaufmann Albrecht blieb reserviert und kühl und wies mit der Hand zu den Stühlen hin, auf denen er seine Besucher zu empfangen pflegte. »Ich wußte nicht, daß Ihr unter die Händler gegangen seid.«

»Das ganze Leben ist ein Geschäft«, versetzte Everard verächtlich und warf sich auf den Stuhl, daß sein kurzes Schwert auf dem Steinboden klirrte. Als die Schlitze seines Rockes auseinanderfielen, wurden seine geradezu frivol engen Beinkleider mit dem Rautenmuster sichtbar.

Kyne setzte ihren Weg nach oben fort; wenn sie sonst auch gleichberechtigt an allen kaufmännischen Unternehmungen der Familie teilhatte – dieses unnütze Glied einer Adelsfamilie interessierte sie wenig. Sie bemerkte nicht, daß Ymme ihr nicht folgte, sondern sich auf eine Treppenstufe kauerte. Aus ihrer Position konnte sie die Männer beobachten, selber aber hinter dem geschwungen ausgesägten Treppengeländer nicht gesehen werden.

Albert klatschte in die Hände, und die Magd, die bereits auf seinen Befehl gewartet hatte, beeilte sich, aus einem großen blauglasierten Krug einzugießen. Everard schluckte, als hätte er in seinem Becher ein hausgebrautes Bier und nicht einen guten trockenen Wein. Beim nächsten Mal den sauren, dachte Albert verärgert, wenn’s noch ein nächstes Mal gibt.

»Ich will nicht lange herumreden«, sagte Everard und wischte sich mit dem bunten Ärmel seines Rocks die verschwitzte Stirn. Ymme konnte seine Augen nicht erkennen, aber sie ahnte, daß sie nun diesen eigentümlichen Ausdruck haben mußten, bei dem sie stets das Gefühl bekam, Everard erhebe einen Besitzanspruch. »Worte sollen andere machen. Ich bin ein Mann des Kriegshandwerks mit der Aussicht auf die Reichtümer, die sich jeder Mann erwerben kann, der eine schlagkräftige Hand und das Ohr seines Lehnsherrn hat. Ich biete Euch an, Eure Tochter zu heiraten.«

Ymme schlug die Hände vor den Mund, um ihr Entsetzen zu ersticken. Dieser Wüstling, der mindestens doppelt so alt war wie sie! Einen Handel hatte er vorgeschlagen – und sie war die Ware.

Albert Emeken mußte Ähnliches erwartet haben. Er verzog keine Miene und nickte bedächtig. »Ich habe keine Zweifel an Eurer aussichtsreichen Zukunft, selbst wenn Ihr keinen Anspruch auf die Ländereien Eures Vaters habt. Man hört von hohen Preisgeldern bei Turnieren …«

»Oh, was das betrifft«, fiel Everard mit der Rechtschaffenheit des wahren Gläubigen ein, »ich beabsichtige, mich am nächsten Kreuzzug zu beteiligen. Seine Heilige Eminenz, Papst Innozenz, wird die Ritter des Abendlandes demnächst wieder zur Verteidigung der Christenheit aufrufen, hört man. Jerusalem wird endlich aus der Hand der Ketzer befreit werden!« Er klopfte auf die Schwertscheide, und sein Gesicht nahm einen selbstgefälligen Ausdruck an.

»Ohne Zweifel. Wie beabsichtigt Ihr, in diesen ein oder zwei Jahren Eure Frau standesgemäß zu ernähren?«

Ymme rang die Hände. Sollte ihr Vater allen Ernstes auf diesen Vorschlag eingehen wollen? Vor wenigen Minuten noch war sie der festen Überzeugung gewesen, ihr Geburtstag würde durch die Verlobung mit einem Kaufmannssohn der Stadt gekrönt werden.

Everards Lächeln verlor sich, während er den Kaufmann zunehmend nachdenklich betrachtete. »Auch das ist Teil meines Geschäfts mit Euch. Ich möchte, daß Ihr Ymme während meiner Abwesenheit versorgt, als wäre ich selber anwesend. Außerdem möchte ich, daß Ihr Jungfer Ymmes Mitgift in ein kräftiges Streitroß für mich umwandelt, zuzüglich zweier Knechte mit Pferden à fünf Mark lübisch. Für meine und ihre Bewaffnung sorge ich selbst. Als Gegenleistung werde ich Euch das Lösegeld dreier gefangener Ungläubiger ausliefern, sobald ich wieder hier eintreffe. Das ist ein großzügiges Angebot, das müßt Ihr zugeben. Ich denke, später könnte ich in Euer Geschäft einsteigen.« Der Junker wippte ungeduldig mit dem Schwert, als könne er des Kaufmanns Zustimmung dadurch beschleunigen, und die Spitze gab ein helles »Ding-ding« von sich wie ein fernes Kirchenglöckchen. Ymme biß sich vor Nervosität auf die Fingerspitzen. Sie wußte nicht, wieviel ein arabischer Gefangener von vornehmer Abkunft kostete, aber ihr Vater hatte nicht sofort abgelehnt.

Der Kaufmann nahm sich Zeit. »Ich weiß Euer Angebot zu schätzen«, sagte er schließlich. »Jedoch kommt Ihr zu spät. Die Heirat meiner Tochter ist beschlossene Sache, der Ehevertrag ist aufgesetzt.«

»So?« fragte Everard mit einer Stimme, die um einiges heller als gewöhnlich war. »Die ganze Stadt weiß, daß Ihr Euch aus Hochmut mit Detlef Camerath nicht habt einigen können.« Er beugte sich vor und starrte Albert ins Gesicht, während er hämisch fortfuhr: »Ihr zählt eben doch nicht zu den angesehensten Kaufleuten, mögt Ihr auch reicher als mancher andere sein.«

Ymme, die ihren Vater gut kannte, sah, wie er innerlich steif wurde. Seine unstandesgemäße Heirat war noch nach fünfundzwanzig Jahren nicht vergessen, und Leute wie Everard und seine Familie, die zuweilen nicht wußten, wie sie ihre adeligen Kinder durchbringen konnten, sorgten dafür, daß es so blieb.

»Und doch wären die Emekens Euch gut genug, Junker? Liegt es am Geld oder daran, daß Ihr nicht so wählerisch seid?«

Die Lippen des Ritters zuckten. Er schwankte zwischen Verachtung, Wut und seinem Nutzen. Schließlich entschied er sich für den Nutzen, aber sein Tonfall war endlich so kalt, wie es seinem Angebot entsprach. »Also gut«, sagte er. »Ich will offen sein. Ihr braucht einen Schwiegersohn, und ich brauche eine passable Ausrüstung. Sagt, ob Ihr das Angebot annehmen wollt. Es wäre für uns beide von Vorteil.« Albert Emeken erhob sich. »Nein«, sagte er, und Ymme sank vor Erleichterung in sich zusammen.

In diesem Moment kam Frau Kyne wieder herunter, entdeckte ihre Tochter auf der Treppe und den unliebsamen Gast immer noch auf dem Besucherstuhl. Sie spürte auch die kühle Atmosphäre, die zwischen den beiden Männern herrschte, und trat rasch zu ihnen. »Nun, Junker von Scharpenberg«, sagte sie freundlich, »mag es heute noch zu keinem Geschäft gekommen sein, dann ganz gewiß beim nächsten Mal. Grämt Euch nicht; mancher Anfang ist schwer.« Sie legte ihre Hand begütigend auf des Junkers Arm.

Everard Scharpenberg blähte die Nasenlöcher wie der Drache des Ritters Georg, fand Ymme, als sie seine Wut sah, und hätte beinahe gelacht. Frau Kyne aber, die auf diesen Ausbruch keineswegs vorbereitet gewesen war, trat rasch zurück und sah ihn betroffen an.

»Gegen Euresgleichen wurde vor noch nicht vielen Jahren ein Kreuzzug geführt«, fauchte der Ritter. Ein Geschäft war ihm entgangen, und er hatte sich unter seinesgleichen lächerlich gemacht. »Kaum seid Ihr zum wahren Glauben bekehrt, macht Ihr Euch in der Kaufmannschaft breit, als hättet Ihr den christlichen Seehandel Lübecks selber aufgebaut!«

Albert Emeken atmete tief ein. Er war zu beherrscht, um den Ritter wegen einer solchen Beleidigung zu fordern, und auch zu alt. Aber es konnte nicht angehen, daß ein Lübecker Kaufmann sich von den kleinen Adelsleuten der Umgebung in seinen Rechten beschneiden ließ. Sämtliche Kaufleute Lübecks würden auf seiner Seite sein. »Wenn Ihr die Verunglimpfung nicht auf der Stelle zurücknehmt, werde ich vor König Waldemar klagen«, sagte er schneidend. »Wir sind gute Christen, wie hier jeder bezeugen kann.«

Everard Scharpenberg lachte kalt. »Ich konnte mir ja denken, daß Ihr es mit den Dänen haltet. Meint Ihr übrigens, Eure Frau würde die Feuerprobe bestehen, wenn es hart auf hart käme?«

Ymme konnte einen Schluchzer nicht unterdrücken. Die Feuerprobe! Niemand konnte sie heil an Geist und Seele überstehen. Entweder der Geprüfte war erwiesenermaßen Christ, jedoch tot – oder lebendig und Ketzer.

»Hinaus!« keuchte der Kaufmann. Ymme sah, wie er die Faust hinter der Schreibtafel ballte, und sah seinen Kopf tiefrot werden. Sie bekam Angst um ihren Vater. »Hinaus! Ich verbiete Euch, jemals wieder dieses Haus zu betreten!«

Everard öffnete seine fleischigen Lippen, als wollte er etwas sagen, doch er besann sich eines Besseren. Er wandte sich zur Treppe um und blickte an ihr hinauf. Ymme hatte das Gefühl, als ob er sie durch das Gitterwerk hindurch fixierte, und jäh wurde ihr klar, daß er die ganze Zeit gewußt hatte, daß sie da oben saß und lauschte. Und noch eins wurde ihr klar: Er würde nicht aufgeben.

Während Albert Emeken zornschnaubend selber die Tür aufriß und ungeduldig darauf wartete, daß der Ritter ging, ließ dieser sich Zeit. Sein Blick schweifte von der Treppe über die hölzerne Decke und die warme Holzvertäfelung und blieb schließlich an Frau Kyne hängen. Sie war ungeachtet ihres Alters immer noch wunderschön – ein Mann wie Everard konnte das trotz der Feindschaft, die er ihr entgegenbrachte, nicht leugnen. Ihre unverhohlene Angst gefiel ihm; das bleiche Gesicht ergab einen interessanten Kontrast zu ihrem tiefschwarzen Haar, das ein feiner Schleier bedeckte, und zu ihrem roten Kleid.

Frau Kyne hatte eine instinktive Angst vor diesem Mann, den sie bis zu diesem Tag persönlich nicht gekannt hatte. Schreckensstarr hoffte sie, daß er nun endlich ginge.

»Euer Haus«, sagte Everard mit hoher Stimme, die seine verhaltene Wut verriet, »werde ich nicht mehr betreten. Aber Ihr werdet von mir hören.«

Endlich rührte er sich, und Frau Kyne atmete auf, als er das Haus leiser verlassen hatte, als er gekommen war. Dafür aber schmetterte Albert die Tür hinter ihm zu, und mit lautem Krachen fiel sie ins Schloß. Die beiden Eheleute sahen sich stumm an.

Ymme flog beinahe die Treppe hinunter und umarmte ihren Vater. Sie war so erleichtert, daß sie nichts sagen konnte, aber er verstand sie und strich ihr begütigend über das blonde Haar. »Er ist fort«, sagte er sanft, »glaubtest du, ich könnte einen solchen Menschen für dich auch nur in Erwägung ziehen?«

Ymme schämte sich wegen ihrer Panik, aber sie konnte nicht verhindern, daß in ihrem Herzen Angst zurückblieb und erneut auftauchte, als sie zwei Stunden später vor ihrem Bett stand und sich für die Nacht fertigmachte. Sie war dankbar, daß die Mutter ihrer Bitte zugestimmt hatte, ausnahmsweise nicht bei der Magd im Bett zu schlafen. Sie wäre mit all ihrer Aufregung wegen des Festes und dazu noch der Beunruhigung wegen des Ritters für niemanden eine gute Schlafgenossin gewesen.

Ymme Emeken sank auf die Knie vor ihrem Lager und sprach ein inbrünstiges Vaterunser, wie sie es bei den Schwestern im Kloster gelernt hatte, aber je mehr sie sich auf den Text konzentrierte, desto mehr drängte sich das wütende Gesicht des Junkers zwischen Gott und sie. Schließlich kroch sie verzweifelt in die ausgekühlten Wolldecken und versuchte zu schlafen.

Später in der Nacht erwachte Ymme durch ein Knattern, das sie sich nicht erklären konnte; dazwischen brauste der Wind fast mit Sturmstärke. Sie sprang auf, um aus dem Fenster zu sehen; aber sie hatte ganz vergessen, daß sie im Warenlager schlief, in dem es kein einziges Fenster gab. Einen Moment zögerte sie, dann warf sie sich einen Umhang über, tastete sich auf nackten Füßen zwischen Tonnen, Kisten und Ballen hindurch, bis sie die Hintertür gefunden hatte. Noch während sie sich mit dem Riegel abmühte, spürte sie, daß das seltsame Geräusch etwas mit dem Haus zu tun hatte.

Ihre kalten Finger fanden endlich den Sperrhebel.

Als Ymme die Bohlentür aufgezerrt hatte, starrte sie ungläubig in die gelblichrötlichen Wolkenschwaden, die neben dem Haus in die Höhe gewirbelt wurden. Sie stolperte hinaus und blickte nach oben. Ein Feuer hatte beide obere Stockwerke erfaßt, das mittlere am ausgiebigsten. Unten stand nur der Fensterladen des Vorderhauses in Flammen, und ihr Schein warf flackerndes Licht auf zwei gelbe Kreuze, die in den Putz eingeritzt waren.

»Zu Hilfe!« Ymmes Hilfeschrei erstickte im Rauch glimmender Reetbündel, die vom Dach herabfielen und denen sie gerade noch ausweichen konnte, bevor sie funkensprühend auf dem Erdboden zerstoben. Blindlings sprang sie wieder ins Haus zurück, rannte durchs Lager nach vorn und versuchte, die Treppe zu erreichen. »Vater, Mutter!«

Der obere Teil der Treppe brannte bereits. Dort oben konnte sie niemanden mehr warnen oder gar herunterholen. Schluchzend und hustend machte sie kehrt, ergriff von ihren Kleidern, was sie ertasten konnte, und suchte nach der Schatulle ihres Vaters. Er würde erwarten, daß sie sie rettete.

Endlich hatte sie das eisenbeschlagene Kästchen gefunden und in die Kleider eingewickelt. Dann hastete sie ins Freie.

Dort hatten sich inzwischen Männer eingefunden, die unter Gebrüll Befehle gaben, Wasser orderten, Leitern, Sand und Decken. Ymme wurde beinahe umgerannt; benommen ließ sie sich schubsen, bis sie irgendwo im Obstgarten hinter dem Haus auf den nassen Boden sank. Noch immer loderten die Flammen in den Himmel. Es zischte, wenn ein Eimer voll Wasser in die Flammen geschüttet wurde und mit Geprassel verdampfte. Von ihren Eltern, den zwei Mägden und dem Knecht war keiner zu sehen. Der schreckliche Gedanke, daß der Vater sich womöglich nicht schon längst an den Löscharbeiten beteiligte, durchfuhr Ymme.

Im Schutz des uralten Apfelbaums, der zu allen Jahreszeiten ihr Lieblingsbaum gewesen war, streifte Ymme notdürftig einige Kleidungsstücke über. Bruchstücke aller Gebete, die sie kannte, kamen ungeordnet über ihre Lippen, während das Wiehern und das Hufeschlagen der verängstigten Pferde im Nebengebäude, das Geschrei der nervöser werdenden Männer und das Brausen des Feuers immer lauter wurden.

Als ganze Reetbündel, vom Aufwind getragen, glimmend durch die Äste ihres Apfelbaums herabstürzten, floh Ymme aus dieser letzten Zuflucht nach vorn auf die Straße. Dort waren jetzt viele Menschen: ihr bekannte Männer aus der Nachbarschaft und deren halbwüchsige Söhne, hilfswillige oder nur neugierige Handwerker und Kerle aus den hafennahen Gassen, deren gierige Gesichter bereits von der Hoffnung auf Beute sprachen, vielleicht auch auf Plünderung. Hastig suchte Ymmes Blick weiter.

Bei den Männern, die löschten, waren weder Albert Meeren noch Hinrich, der Knecht.

Aber sie sah Everard Scharpenberg – wie ein paar Stunden zuvor hatte er sich breitbeinig aufgebaut und die Hände im Gürtel eingehakt. Er stand so nah an der brennenden Wand des Vorderhauses, daß ihm Schweißtropfen über das gerötete Gesicht liefen. Eimer auf Eimer ließ er an sich passieren; er rührte keine Hand, um zu helfen. Und genau wie im Hause wandte der Junker langsam sein Gesicht und schien in der Menschenmenge nach jemandem zu suchen, und als sein Blick auf Ymme liegenblieb, wußte sie jäh, daß er sie meinte.

Einen Moment lang war sie wie gelähmt.

Dann schlüpfte sie zwischen den Kutten zweier Mönche hindurch, die vom Domkapitel zum Markt hinaufeilten, dankbar für deren flatternde Gewänder, und floh blindlings im Schutze der nächsten Häuser.

Everard, der die Eimerkette umgehen mußte, verlor Zeit, und als er sich umschaute, war Jungfer Ymme von der Dunkelheit verschluckt. Sein Mund erstarrte in einem gehässigen Grinsen; gemächlich schob er sich Schritt für Schritt aus der Zuschauermenge hinaus und suchte dann nach seinem Knecht.

Dieser hatte inzwischen das Pferd des Ritters geholt und wartete gleichmütig in der Fleischhauerstraße auf seinen Herrn. Die Zügel des schweren ritterlichen Pferds und seiner eigenen abgearbeiteten Mähre in den Fäusten, spähte er zum Markt hinauf und konnte zu seinem Bedauern außer dem rötlichen Schein über den Buden der Fleischhauer nichts sehen.

»Es stinkt hier wie in einer Abdeckerei.« Everard suchte in der Sattelrolle nach einem Stück Süßholzwurzel und schob es sich zwischen die Zähne.

»Aber bei Nacht ist es immer schön einsam«, gab der Knecht ohne Unterwürfigkeit zurück und bestieg sein eigenes Pferd.

»Wir gehen auf Jagd«, bemerkte Everard Scharpenberg kauend, und danach war nur noch der Hufschlag ihrer Pferde zu hören, die sie zum Johanniskloster hinunterlenkten, fort vom Marktplatz, auf dem vom Haus des Kaufmanns Albert Emeken schon längst nichts mehr zu retten war und wo die Männer sich inzwischen verzweifelt bemühten, die Häuser der Nachbarschaft und damit ganz Lübeck vor einer Feuersbrunst zu schützen.

Ymme Emeken schlug blindlings den Weg zur Wakenitz ein. Erst als sie die Mühlenbrücke hinter sich und die Stadtgrenze auf der anderen Seite des Flusses erreicht hatte, wurde ihr bewußt, daß der Torwächter nicht anwesend gewesen war. Vielleicht wohnte er mit seiner Familie in der Nähe des Brandherdes und war zum Löschen gelaufen.

Sie nahm die Bardowicker Straße nach Süden, ohne viel darüber nachzudenken. Nur fort mußte sie – fort von der Stadt, in der ihre Familie außer den Cameraths kaum Freunde hatte. Mit ihnen aber hatte sich der Vater zerstritten … Und Vater und Mutter waren tot. Oder nicht? Ymme preßte ihre Fäuste vor den Mund.

Mühsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Allmählich wußte sie überhaupt nicht mehr, ob sie noch vorwärts kam. Schließlich brach sie zusammen.

Immer wieder wurde das Haus erschüttert, aber sooft sie die Tür erreicht hatte, zog eine gewaltige Kraft sie wieder zurück. Mit einem letzten Aufbäumen gelang es ihr endlich, sich zu befreien, und sie stieß einen lauten Hilferuf aus.

Der Ruf war weder laut gewesen, noch war Ymme gefangen. Als sie zu sich kam, saß sie aufrecht in einem überdeckten Kasten, dessen rumpelndes Rollen ihr die Gewißheit gab, daß sie sich in einem Fahrzeug befand. Ihr sollte es recht sein, sofern es nur nach Süden rollte. Noch benommen, sah Ymme sich um. Über ihr baumelten an einer Art Holzgerüst Wurzeln von Pflanzen, Bündel getrockneter Kräuter, Beeren an verholzten Ästen, Säckchen neben Säckchen, gefüllt oder halb leer. Die Düfte aller dieser Gewürze und Arzneimittel überlagerten sich, manche kannte sie, andere nicht. Aber sie beruhigten sie unendlich: Everard Scharpenberg war gewiß nicht am Arzneimittelhandel beteiligt.

Plötzlich blieb der Karren stehen. Eine blasse Hand griff um die Kante der Lederschürze, die das vordere Halbrund verdeckte, und zog sie beiseite.

Ymme schlug die Hände vor den Mund. »Der Leibhaftige«, wimmerte sie.

Der Mann, von dem sie nur den Kopf sah, kümmerte sich nicht um sie. Er beugte sich mit geschlossenen Augen vor und küßte ein kleines hölzernes Kästchen, das am Gestell der Wagenplane befestigt war. Sein Bart war lang und schwarz wie Kohle, und schwarze Schläfenhaare setzten sich beiderseits seiner Ohren in gedrehten langen Locken fort.

Nach seiner kurzen Andacht schlug er die Augen auf und lächelte Ymme freundlich an. »Geht es dir besser?« fragte er langsam, wie überhaupt seine Bewegungen allesamt behutsam waren.

Ymme beruhigte sich allmählich. Nun erkannte sie hinter ihm das Maultier, das vor den Wagen gespannt war, einen schmalen Fahrweg und zu beiden Seiten Wald. Der Mann sprach wie ein Christenmensch, und es gab nichts, was sie im Moment hätte ängstigen müssen. »Danke«, sagte sie erleichtert. »Ihr müßt mich gerettet haben.«

Der Mann, der weder alt noch jung schien, nickte – mehr aus seinen unergründlichen Augen heraus als mit dem Kopf. »Du bist aus Lübeck gekommen. Trotzdem konnte ich dich nicht in die Stadt zurückbringen. Wo es brennt, läßt sich ein Jude besser nicht sehen …«

Ymme war verwirrt. Was war ein Jude, und was hatte er mit Bränden zu tun? Aber sie wagte nicht zu fragen.

Der Mann wandte sich um, ergriff sein Maultier am Zügel und zog es weiter über den grasbewachsenen Weg, der nicht die große Fahrstraße nach Süden sein konnte. Aber für den Augenblick war es Ymme gleichgültig. Hauptsache, sie legten viele Meilen zwischen sich und die Stadt. Wie sie wieder zurückgelangen und sich nach ihren Eltern erkundigen sollte, war eine andere Sache, und sie würde später darüber nachdenken.

»Auch auf der Hauptstraße läßt ein Jude sich besser nicht sehen«, fuhr der Mann in ruhigem Ton fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und mit einem so hellblonden jungen Mädchen wie dir erst recht nicht. Es ist besser, du schlägst den Vorhang zu. Ich werde dir sagen, wann du still sein mußt.«

Ymme begriff allmählich, daß die Gefahr für sie noch nicht vorüber war. Hinzu kam, daß sie offenbar auch ihren Retter in Gefahr brachte. »Bitte, haltet an!« rief sie, rutschte über die Kante nach hinten und lief an dem zweirädrigen Karren vorbei nach vorn, wo sie dem Juden in den Weg trat. Er war auch mit seinem spitzen Hut kleiner als sie, wirkte aber trotz allem kräftig, was auch von dem langen schwarzen Mantel herrühren konnte, der ihm bis zu den Füßen reichte. Er zuckte die Schultern und brachte sein Maultier mit einem Ruck am Zügel zum Stehen. »Erklärt mir, was das alles zu bedeuten hat!«

Der Mann seufzte. »Was habe ich mir nun angetan? In deinem Alter ist eine Frau meines Volkes verheiratet und hat zwei Kinder. Sie kann die Thora sche-be-Ktaw lesen, über die Mischna und vielleicht sogar die Gemara reden, die Bedika bei Geflügel durchführen und es porschen. Denn es steht geschrieben: ›Rabba, Raw Addas Sohn, sagte, und andere sagen, Rabbi Sala sagte, Raw Hamnuna habe gesagt: Jeden, der eine Frau heiratet, die seiner nicht würdig ist, bindet Elia, und der Heilige, gelobt sei Er, geißelt ihn.‹«

»Ich verstehe Euch nicht sehr gut«, bekannte Ymme verlegen, »aber wenn Ihr wollt, daß es anders wird, müßt Ihr mir erklären, was Ihr meint. Erraten kann ich es nicht.«

Der Jude sah sie aufmerksam an und nickte ernst, als sie geendet hatte. Dann hob er den Kopf und lauschte. Ymme kam es so vor, als ob seine Bereitschaft, ihr zu antworten, von den Geräuschen des Waldes abhinge, und unwillkürlich hielt sie den Atem an und horchte ebenfalls. Wind bewegte die Äste, und ein Bach murmelte irgendwo zwischen den Bäumen. Aller Lärm der Natur wurde gedämpft durch den dicken Morgennebel, aber dieser Morgen war friedlich.

Auch der Mann kam zu diesem Schluß und setzte seinen Hut wieder auf den Kopf. »Es heißt: ›Wenn ein Waisenknabe und ein Waisenmädchen kommen, um sich versorgen zu lassen, so versorge man das Waisenmädchen, und dann versorge man den Waisenknaben, weil es einem Mann eher ansteht, von Tür zu Tür zu gehen, aber einer Frau steht es nicht an, so herumzugehen.‹ Als ich dich fand, hatte ich die Wahl, in dir eine Diebin oder ein Waisenmädchen zu sehen. Ich entschied mich für das zweite, denn es steht auch geschrieben …«

Ymme kam das ganze Elend der vergangenen Nacht zu Bewußtsein, als ihr das Kästchen wieder einfiel. »Bitte«, unterbrach sie ihn, »hatte ich etwas im Arm?«

»Du hattest einen kleinen Kasten bei dir, den du selbst in der Bewußtlosigkeit nicht hergeben wolltest. Erst als ich ein wenig energisch wurde, ging es … Er liegt gut versteckt unter dem Heu.«

Ymme war erleichtert. »Ich will Euch jetzt nicht mehr unterbrechen. Sagt mir nun, was ich wissen muß.«

Geduldig begann der Jude seine Erklärung. »Am Vorabend des Pessachfestes wurde Jesus, den ihr Christus nennt, gesteinigt. Er war Jude und wurde nach jüdischem Recht bestraft. Und doch werft ihr Christen uns dies bis zum heutigen Tage vor und verfolgt uns, wo immer ihr uns trefft. Sag selbst: Wie kann ein beschnittener Mann euer Gott sein und alle anderen Beschnittenen des Todes?« Er schüttelte den Kopf, immer wieder aufs neue verwundert über diesen Widerspruch des Christentums; aber das war seine eigene Angelegenheit, nicht die eines unwissenden Mädchens. »Sollten wir zusammen gesehen werden, ein schwarzer Jude mit einer blonden Christin, werden sie mich erschlagen. Was sie mit dir machen, weiß ich nicht. Für dich wird es schlimmer werden als für mich.«

»Dann ist es besser, ich verlasse Euch«, beschloß Ymme spontan, die endlich begriffen hatte, daß dieser Jude zu dem unglücklichen Volk gehörte, das die Schwestern so unermüdlich beschimpften. Die Schwarzen beleidigen Gott, hatten sie gesagt, hütet euch vor Slawen und Juden, sie wollen euch von eurem Glauben abbringen! Wahrscheinlich hatten die Nonnen niemals einen Juden aus Fleisch und Blut gesehen. Aber sie selber wollte die Gutherzigkeit des Juden keinesfalls mit seiner Furcht erkaufen.

»Wie oft hast du schon einen Wolf erschlagen? Weißt du, wie du dich am Leben hältst, wenn später Frost über das Land hereinbricht? Was willst du überhaupt essen? Kannst du giftige Pflanzen von nährenden unterscheiden?« Er lächelte wieder still, tippte mit dem Zügelende auf den Hals des Maultiers und setzte seinen Weg fort, ohne sich nach Ymme umzusehen. Nach einer Weile sagte er: »Man nennt mich Mosse Haluca. Wie ist dein Name?«

Ymme sah ein, daß er recht hatte. Schweren Herzens beschloß sie, seine Gastfreundschaft anzunehmen, bis sie ein Dorf oder ein Anwesen erreicht hatten, in dem sie gefahrlos eine Weile bleiben und Erkundigungen über den Verbleib ihrer Familie einziehen konnte.

Während sie langsam neben Meister Haluca und seinem grauhaarigen Maultier einherging, erzählte sie ihm von ihrem Leben in der Klosterschule, von ihrem Geburtstag, der heute war und der ganz anders hätte verlaufen sollen, und endlich auch von der vergangenen Nacht. Als sie auf Everard Scharpenberg zu sprechen kam, sah sie, daß Mosse Haluca seine Zähne in die Unterlippe grub.

»Vielleicht ist es ein Fehler, der uns beide viel kosten wird«, bemerkte er endlich. Von dem Augenblick an machte er längere Schritte, und das Maultier mußte seine ungewohnte Eile büßen.

Mosse Haluca und Ymme Meeren wanderten Stunde um Stunde durch dichten Wald; unterbrochen wurde dieser nur von nebelbedeckten Sümpfen, die gesäumt waren von lichteren Birkenhainen. Sie trafen weder auf Dörfer noch auf einzelne Häuser. Der Jude wurde ruhiger, je weiter sie Lübeck hinter sich ließen. Ymme nahm zumindest an, daß sie sich von der Stadt entfernten; sie selber war hilflos ohne die Sonne. Ihr Beschützer mußte sich mit dem Instinkt eines Mannes der Straße zurechtfinden können.

Mit der Zeit wurde Ymme immer beklommener zumute. Mußten sie wirklich durch diese menschenleere Gegend? Sogar über einen halbwilden Köhler wäre sie jetzt froh gewesen. Wohin führte sie der Jude? Sie stolperte immer öfter. Allmählich fühlte sie sich völlig verausgabt, spürte weder ihre Füße noch den Hunger vom Morgen, den sie nicht hatte stillen können. Jegliches Gespräch zwischen dem schwarzgelockten Mann und ihr war versiegt. Ymme wußte voll Scham, daß es nicht die Müdigkeit war, sondern das Mißtrauen, das ihr den Mund verschloß. Willenlos taumelte sie hinter ihm her.

Erst am späten Nachmittag, als es bereits dämmerte, wurde Mosse Haluca langsamer. Ymme, die aus ihrer Lethargie aufwachte, begriff, daß er sich nach einem Lagerplatz umsah. Plötzlich war ihr Mißtrauen verschwunden, und der Hunger stellte sich nagend ein, während ihre Augen dem Juden folgten, der ohne Maultier und Wagen das Gelände abschritt.

Endlich war er zufrieden, holte sie und den Wagen von der Straße und schirrte das Maultier ab. Ihr Lagerplatz war nicht weit vom Weg entfernt, dennoch durch dichtes Buschwerk nach drei Seiten abgeschirmt, und die vierte öffnete sich zu einem der vielen Bäche, die die Moore der Gegend speisten.

In kurzer Zeit hatte Meister Haluca einen wohnlichen Platz für die Nacht bereitet und ein Feuer angezündet. Ymme schickte er zum Holzsammeln, als sie darauf bestand, etwas Nützliches zu tun, aber von selbst gar nicht wußte, was das Leben in der Wildnis einem Menschen abverlangt.

»Morgen weiß ich besser Bescheid«, sagte sie mit einem trotzigen Unterton, als sie einen Armvoll Holz neben ihrem knienden Beschützer abwarf.

»Morgen, ja«, wiederholte Mosse Haluca melancholisch, während er behutsam in dürres Gestrüpp über glimmendem Zunder blies. »Wer weiß, was morgen ist?«

Er hat Angst, dachte Ymme verwundert, aber das vergaß sie sofort über den Essensvorbereitungen von Meister Haluca, bei denen sie nur zusehen durfte. Er erlaubte ihr noch nicht einmal Handreichungen, als er verschiedene Töpfe vom Wagen lud und neben dem Feuer abstellte.

Ymme lief das Wasser im Munde zusammen, während er einen großen Vogel, den sie für einen Fasan hielt, penibler als jede Hausfrau zubereitete. Es dauerte lange, bis er ihn geöffnet und ausgenommen hatte, weil er sich viel Zeit nahm, die Schnittstelle des Messers zu mustern, jede Verfärbung der Haut, das Herz, die Leber. Dann schnitt er die Halsadern heraus, wusch das Fleisch am Bach, wässerte und wusch es erneut, salzte es ein und ließ es stehen. Als er zurückkam, sagte er aufmunternd: »Es gibt ein Festmahl heute. In Seiner unendlichen Güte hat Er uns ein makelloses Tier geschickt, gelobt sei Er.« Ymme, die im Kloster selten Geflügel bekommen hatte, freute sich von Herzen mit Meister Haluca über die Festmahlzeit, die erst fertig war, als es schon stockdunkel war. Zu dem geschmorten Vogel reichte der Gastgeber ihr wohlschmeckendes Pastinakengemüse und einen Becher mit rotem Wein. Das Tischgebet verstand sie nicht, aber sie fügte bescheiden ihr eigenes »Amen« hinzu und war danach sicher, daß auch die Nonnen ihre Gesellschaft gebilligt hätten. Fast sorglos fragte sie mitten im Kauen: »Tut es Euch nicht leid, den Fasan mit mir zu teilen? Allein hättet Ihr daran wohl noch zwei Tage essen können.«

Mosse Haluca strählte sorgfältig seinen Bart, weil er es nicht liebte, wenn sich darin Krümel verfingen, bevor er antwortete: »Rabbi Elieser, der Große, sagt: ›Jeder, der ein Stück Brot in seinem Korb hat und sagt: Was werde ich morgen essen? – der ist nichts als einer von den Kleingläubigen.‹«

Ymme nickte beklommen. Die Wirkung des Weins verflog bei seinen frommen Worten. Selbst die Nonnen hatten ihr nie wie dieser Jude das Gefühl gegeben, bei allem, was sie taten, nach Gottes Wort zu leben. Und andere christliche Geistliche kannte sie kaum.

Meister Haluca ließ Ymme auch bei der Reinigung der Kochtöpfe nicht helfen, aber er verstand allmählich, daß sein junger Schützling sich zurückgestoßen fühlte. »Es sind meine Speisegesetze«, erklärte er. »Es hat nichts mit dir zu tun.«

Ymme sah ihn dankbar an, ohne das geringste zu begreifen.

Mosse Haluca schüttelte ein wenig den Kopf. Konnte die Klosterausbildung so dürftig sein? Offenbar stammte Ymme Meeren doch aus guter Familie. »Der Unendliche, gelobt sei Er, hat uns Juden nicht erlaubt, alle Tiere zu essen, die die Erde bevölkern. Und für die erlaubten gab Er uns Vorschriften.« Er machte eine Pause, während er über einen brauchbaren Ausweg nachsann. »Wenn du glaubst, daß du ein wenig zu unserer Fahrt beitragen möchtest, würde ich dich bitten, einen Riß in meinem Rock zu nähen. Meine Finger sind nicht sehr gelenkig …« Ohne es eigentlich zu wollen, drehte er die geschwollenen Hände und betrachtete sie. Er handelte schon viele Jahre mit Kräutern und Gewürzen zwischen Venedig und dem Frankenland, und doch hatte er noch nie einen Arzt gefunden, der ihn vom Wasser in den Gelenken befreien konnte. Vielleicht würde er nicht an diesem Wasser, aber doch mit ihm sterben. Gelobt sei Er.

Ymme hatte bereits bemerkt, daß er zuweilen Schmerzen zu haben schien. »Gern«, sagte sie eifrig. »Ich war zwar nicht die beste Altartuchstickerin des Klosters – um ehrlich zu sein, ich war zu ungeduldig –, aber flicken konnte ich recht ordentlich.«

Mosse lächelte in seinen Hart hinein. »Du wirst mir noch ganz unentbehrlich werden. Was habt ihr denn außer Stikken und Flicken gelernt?«

»Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen und, wer wollte, Latein. Die Rechenkünste der Nonnen schienen meinem Vater nicht ausreichend, er hat mich zu Hause zusätzlich über kaufmännische Rechnungslegung und Kredite unterrichtet; mit dem Latein war er zufrieden: ich war die beste von allen Schülerinnen.«

Mosse Haluca war so verblüfft, daß er eine ganze Weile schwieg. Von den Frauen in Venedig, Genua und Marseille war bekannt, daß sie Geschäfte gewissermaßen über die Köpfe ihrer Ehemänner hinweg führten, wozu sie nach Gottes Gebot nicht auf diese Welt gestellt worden waren – aber sie waren Christinnen, und für die galt Sein Gebot nur eingeschränkt. Daß sich jedoch im finsteren Norden, den er selber nur alle paar Jahre und mehr oder minder zufällig aufsuchte, auch solche Bräuche breitmachten, war ihm neu. Und obwohl er also endlich bei diesen Menschen etwas entdeckt hatte, das er verstehen konnte, zitierte er ihr zur Warnung: »Raw Nachman sagte: ›Überhebung ziemt den Frauen nicht.‹«

Ymme senkte den Kopf. Sie fühlte sich erneut abgewiesen, nachdem sie gerade geglaubt hatte, einen Zugang zu seinem verschlossenen Wesen gefunden zu haben. Niedergeschlagen fing sie an, sich einen eigenen kleinen Schlafplatz aus Reisig und Laub zu bauen, und erbat sich dann eine Decke, falls eine übrig sei.

Mosse Haluca schüttelte stumm den Kopf, aber in seinem Verdacht bestätigt wegen ihrer Unwissenheit, was Überleben betraf; er richtete ein Zeltdach aus dickem gewalktem Filz über ihrem Laubbett auf und packte eine Lederdecke darauf. Zum Schlafen gab er ihr einen warmen Fellsack, den sie zunächst ablehnte, weil sie dachte, es sei sein eigener. Wortlos deutete er auf einen zweiten Sack.

Ymme nickte, kniete in ihrem Zelt auf dem Lager nieder und verrichtete ein Abendgebet, das ihr so niemand beigebracht hatte und für das die aufsichtführende Nonne wohl die Peitsche angewandt hätte. Denn in ihrem christlichen Gebet kam ein mitleidiger Jude vor, der ihr das Leben gerettet hatte, und Ymme sah darin überhaupt nichts Erstaunliches, seitdem sie erfahren hatte, daß Christus beschnitten gewesen war.

Als sie am nächsten Morgen durch ein gleichmäßiges Murmeln einer menschlichen Stimme erwachte, schimmerte durch die braune Zeltbahn die Sonne hindurch, und Vögel zwitscherten im nahen Gebüsch. Irgendwo wieherte leise ein Pferd. Wäre sie nicht so unruhig gewesen wegen des Schicksals ihrer Familie, hätte sie den Vorfrühlingsmorgen gewiß genossen. So befreite sie sich nur gespannt aus dem Schlafsack, kroch zum Eingang ihres Zelts und spähte durch die Öffnung hinaus.

In der Nähe stand Mosse Haluca und las mit ehrfürchtigem Gesicht laut in einem Buch, das er zwischen den Händen aufgeschlagen hielt. Auf seiner Stirn war eine kleine Kapsel mit Hilfe eines Riemens befestigt, und seinen Kopf bedeckte ein gestreiftes Tuch mit Fransen an den Kanten.

Noch während sie ihn still in seiner Andacht betrachtete, zerteilte direkt neben ihm ein Mann mit dem Schwert das Gebüsch und starrte sie an. Auf seinem Gesicht breitete sich ein triumphierendes Lächeln aus.

Everard Scharpenberg hatte Ymme gefunden.

2. Ketzerkreuze

Der Ritter schlug den betenden Mann im Vorübergehen nieder. Während Ymme Junker Everard anstarrte wie ein Kaninchen, auf das die Kreuzotter zukriecht, liefen die vermeintlich letzten Sekunden ihres Lebens ab: mit quälender Langsamkeit drangen Geräusche und Bilder in ihren Kopf.

Mosse Haluca sackte auf die Erde; mit geschlossenen Augen stimmte er sein Sterbegebet an, und Ymme verstand daraus nur das Wort »… Israel«. Während an ihrem Arm eine Ameise entlanglief, verstummte er. Auch die frühen Vögel waren nun still.

Dann fiel der Junker wie der Leibhaftige über sie her.

Nachdem er sie aus dem Zelt gezerrt und ihr die Kleider heruntergerissen hatte, verspürte sie noch einen scharfen Schmerz und danach nicht mehr viel. Die Angst und das zufällige Auftreffen ihres Kopfes auf einem Stein ließen sie den Tag ohne Bewußtsein, aber lebend überstehen.

Es gab die Sonne noch, als Ymme wieder zu sich kam, aber sie stand schon sehr tief über den Bäumen. Auch die Welt war nicht untergegangen, aber Ymme wollte es nicht wahrhaben. Sie lag auf dem Rücken, und zwischen den gespreizten Beinen war ihr Unterleib gefühllos. Fassungslos wagte sie erst nach langer Zeit zu ertasten, ob sie überhaupt noch einen Unterkörper hatte.

Zwischen ihren Fingern war plötzlich Schleim und Blut – abgrundtiefer Ekel ließ sie den Kopf abwenden und die Hand zurückziehen. Scharfer Gestank drang in ihre Nase, und als sie die Augen aufschlug, entdeckte sie zu ihrem erneuten Entsetzen, daß die Quälerei immer noch nicht vorüber war. Neben ihr lag hingestreckt der Schänder in lautem Schlaf. Mit jedem Schnarchton blies er weingetränkte Atemluft aus.

Ymme fühlte Panik in sich aufsteigen.

Sie drückte den Nacken auf den kalten Boden und zwang sich zur Ruhe. Trotzdem wäre sie beinahe in Entsetzensschreie ausgebrochen, als jemand an ihrem Ärmel zupfte.

Dicht neben ihrem eigenen Gesicht preßte sich das verschwollene von Meister Haluca auf die Erde. »Bist du jetzt wach? Wenn du dich bewegen kannst, komm«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Ymmes Herz klopfte verzweifelt. Sie würde es vielleicht nicht schaffen. Was, wenn Scharpenberg aufwachte?

Ihre Mutter hatte ihr von Urgroßmutter Hodica erzählt. Sie war steinalt gewesen und war trotzdem gelaufen. Sie hatte sich nicht dem Feind in die Hände gegeben … Ymme ballte die Fäuste und nickte.

Es war leichter, als sie gedacht hatte. Nachdem sie erst einmal auf den Knien lag, konnte sie sich mit Hilfe von Mosse Haluca erheben.

Vor ihren Augen schwankte die Welt und wollte nicht damit aufhören. Aber das Pendel schlug so langsam aus, daß Ymme ihm gut folgen konnte, und an seinem Umkehrpunkt befand sich Everard Scharpenberg. Mit blubbernden Lippen lag er entleert in tiefem Schlaf, neben sich die offene Zinnflasche. Und im dürren Gras sein Schwert …

»Nicht!« flüsterte Mosse Haluca und warf entsetzt die Hände in die Höhe.

Ymme hatte das Schwert bereits in den Händen; mit ungeheurer Kraftanstrengung hob sie es hoch über den Kopf und ließ es auf Everard Scharpenberg niederfallen. »Gelobt sei Er«, murmelte sie und sank zu Boden.

Dasselbe dachte auch die braunhaarige Frau, als Ymme sich erstmals im Bett ein wenig rührte, aber sie sagte es nicht laut. Sie hatte durchaus anderes zu tun, als zu beten, denn sie war eine gefragte Ärztin. Johanna Cornelas Kenntnisse in Augenheilkunde waren so berühmt, daß sie sich dank ihrer ein Haus außerhalb der Judengasse von Frankfurt am Main hatte kaufen können.

Vor einer Woche war Meister Haluca bei ihr eingetroffen, viel früher als sonst und darum auch ohne Fenchel, Apfelblätter und Schafgarbe. Ein wenig Alant hatte er auf halber Höhe des Taunus trotz seiner eigenen Verletzung gegraben, um nicht mit ganz leeren Händen zu erscheinen. Aber Bertramwurzel, Buchsbaumsaft, Rosenöl, Olivenöl und viele andere kostbare Extrakte und Essenzen waren mit dem Wagen verloren gewesen, den er auf der Flucht hatte stehenlassen müssen. Er war niedergeschlagen, aber er ging schnell darüber hinweg.

Dieses Mal war er hauptsächlich gekommen, um ihr eine Patientin anzuvertrauen, die Christin Ymme Meeren, die an Körper und Geist so verletzt war, daß sie nicht ansprechbar war.

Danach hatte Mosse Haluca sich von ihr die Schläfe verbinden lassen und war in seine Heimatgemeinde Mainz zurückgekehrt. Das Leben war gefährlich, aber es ging weiter; er mußte sich neu ausrüsten und wieder in den Süden ziehen. Er und Ymme würden sich wiederbegegnen, ließ er ausrichten …

Frau Cornela saß des öfteren am Bett dieses blonden geschundenen Mädchens, das sich der Welt verweigerte. Kurz vor dem Passahfest sei es geschehen, hatte Mosse Haluca gesagt und dann die Augen bedeckt; unter Tränen hatte er erzählt, daß Ymme einen Mann erschlagen hatte. Er hatte ihr auch das wenige berichtet, was er über sie wußte. Nun war April nach dem christlichen Kalender, den Frau Cornela aus praktischen Erwägungen lieber verwandte, und die Kranke war immer noch nicht endgültig aus ihrem Zustand zwischen Ohnmacht, Traum und Verweigerung aufgewacht.

Frau Cornela hielt Ymme nicht für geisteskrank. Sie strich ihr die blonden Haare aus der Stirn, die dringend einer Wäsche bedurften. Ymme mochte sich aus der Gegenwart zurückgezogen haben, um nicht an die Vergangenheit zurückdenken zu müssen. Sie benötigte etwas, das sie wieder hervorlockte – aber die Ärztin war sich noch nicht klar, was das sein konnte.

Vorerst rief sie Ruth herbei, die gleichzeitig ihre Schülerin war und ihr im Haus zur Hand ging. Ruth setzte sich gehorsam ans Bett der Kranken und fing leise an zu singen. Musik stieß Ymmes Lebensgeister an: manchmal hoben sich ihre Augenlider, und sie blickte für kurze Momente klar um sich. Sie schoben ihr dann schnell Brocken mit weingetränktem Brot und andere leckere Dinge zwischen die Lippen. Aber bisher war ihnen kein bleibender Erfolg beschieden gewesen.

Ruth betrachtete die Fremde trotz ihrer Krankheit mit Mißtrauen. Noch nie hatte Frau Cornela eine Christin aufgenommen. Und stand nicht auch geschrieben, daß eine Tochter Israels einer Fremden keine Geburtshilfe leisten soll, weil sie dann einem Anhänger des Götzendienstes zur Geburt verhilft? Zur Geburt – oder ins Leben zurück: der Unterschied war gering. Dennoch führte Ruth gewissenhaft aus, was Frau Cornela von ihr erwartete.

Johanna Cornela saß mehrere Abende an Ymmes Bett und las bei Kerzenschein. Dann besann sie sich plötzlich darauf, daß Mosse erwähnt hatte, Ymme sei im Kloster gewesen. Nachdenklich schlug sie das Buch zu.

Am nächsten Morgen rief sie Ruth zu sich und hieß sie sich setzen. Während Ruth beunruhigt ihre mütterliche Freundin im Auge behielt, die nervös das Studierzimmer vom Fenster zur Wand und wieder zurück durchquerte, wurde sie von Frau Cornela examiniert: »Hast du behalten, was ich dir über den wichtigsten Grundsatz für Arzt und Ärztin sagte?«

»Dem Kranken niemals zu schaden und immer das Beste für ihn zu tun.«

»Ja, so ungefähr«, stimmte die Augenärztin zu. »Nun hör zu. Ymme Meeren ist vier Jahre lang bei den Nonnen im Kloster gewesen. Ich weiß nicht, ob sie sich wohl gefühlt hat. Fest steht aber, daß sie dort nur Frauen zu Gesicht bekommen hat – diese Welt war der absolute Gegensatz zu dem brutalen Mann, dem sie begegnete. Verstehst du?« »Ja.« Ruth runzelte die Stirn.

»Ich möchte, daß du das ›Te Deum‹ der christlichen Frauen lernst und es Ymme vorsingst.«

Ruths Augen weiteten sich vor Angst. »Nein!« rief sie. »Das nicht. Das könnt Ihr nicht von mir verlangen!«

Frau Cornela ließ ihre Augen auf Ruth ruhen. Sie hatte es fast befürchtet. Ruth kam aus einem frommen Haus. Dennoch war sie enttäuscht. Die Lehrer der Medizin befinden sich zuweilen im Widerspruch zu den Lehrern des Gesetzes. Wenn Ruth wirklich Ärztin werden wollte, mußte sie das Leben des Menschen über die religiösen Bräuche stellen.

Zwingen wollte sie ihre Schülerin nicht. Aber was dann? Man konnte keinen Christen ins Haus bitten – dann wäre bekanntgeworden, daß eine jüdische Ärztin eine Christin aufgenommen hatte, oder, was noch schlimmer war, es würde sich das Gerücht verbreiten, daß sie eine Christin gefangenhielt. Sie seufzte. »Es ist gut, Ruth. Ich werde es nicht von dir verlangen. Aber sprich zu niemandem davon.«

Ruth schüttelte den Kopf und lief eilig zu ihrer Arbeit zurück.

Seit diesem Tag sang sie nicht mehr gern am Bett der christlichen jungen Frau. Sie tat es, aber sie sah nun immer den Verführer im Bett liegen. Ihre Angst, durch Ymme auf einen falschen Pfad gelockt zu werden, verringerte sich vorübergehend, als sie sie eines Morgens im Bett sitzend vorfand.

Neben Ymme stand mit strahlendem Blick Frau Cornela. An einen Rückfall glaubte sie nun nicht mehr, denn Ymme blickte sich erstmals mit Verstand um. »Ich dachte eben, ich sei in der Kirche zu Preetz. Wo …?« Sie krächzte etwas, und die Ärztin beschwichtigte sie mit einem Handzeichen. Sie durfte weder sich selber noch ihre Stimme allzusehr anstrengen.

Johanna Cornela schickte Ruth fort, setzte sich neben das Bett und sprach lange zu ihrer Patientin. Hauptsächlich erzählte sie von ihrem eigenen Leben; was Ymme geschehen war, berührte sie nicht mit Worten.

Ymmes verstörtes Herz wurde ruhig, als sie dieser Frau zuhörte, die ihr soviel Zeit widmete. Frau Cornela war älter als ihre Mutter, aber sie war trotzdem nicht alt. Obwohl sie viele durchwachte Nächte hinter sich haben mußte, hatte sie sich Frische und neugierige Aufmerksamkeit bewahrt, ohne zudringlich zu sein. Ymme fühlte sich in ihrem Haus geborgen.

Sie erholte sich nun von Tag zu Tag schneller, und bald konnte sie das Bett verlassen. Wenn Frau Cornela außer Haus gerufen wurde, setzte Ymme sich ins Studierzimmer und blickte sich um. Sie bekam die Erlaubnis, die Bücher zur Hand zu nehmen, aber dabei entdeckte sie, daß sie manche gar nicht lesen konnte: die Folianten in hebräischer Schrift, die von hinten her aufgeschlagen werden mußten; die Bücher und altertümlichen Rollen in griechischer Schrift, die von antiken griechischen Ärzten stammten.

Unermüdlich fragte Ymme abends, und Frau Cornela fand allmählich große Freude an den Fragestunden, die soviel ergiebiger als mit Ruth waren. Zuweilen fürchtete Frau Cornela bereits, ihrer jüdischen Lehrtochter zuwenig Zeit zu widmen.

Ihre Vergangenheit erwähnte Ymme nicht und fragte auch nicht nach Mosse Haluca.

So erholte sich Ymme Emeken zwei Monate im Haus der jüdischen Ärztin: während in Frankfurt der Frühling einzog, die Platanen und die Ahornbäume ausschlugen und die Meisen ihre Nester bauten, wurden Ymmes Wangen wieder voller, und ihre graublauen Augen bekamen einen Teil ihres früheren Glanzes zurück.

Aber Ymme wurde unruhig, ohne daß Worte oder Lieder sie hätten besänftigen können. Wenn die Ärztin ihre Krankenbesuche machte, lief sie die Treppe hinauf in die Kammer, schaute von oben in die Fischergasse hinunter, wo die Menschen vorbeihasteten, und traute sich nicht hinunterzugehen. Die Schusterjungen prügelten sich wie zu Hause, die Fischer winkten einladend mit einem zappelnden Aal, die Bäckerlehrlinge trugen rennend die Brote aus, und Ymme wurde von Heimweh erfaßt.

Es fehlte ihr der Mut, sich in Lübeck einer Gerichtsverhandlung zu stellen. Gerechtigkeit erwartete sie nicht – Der Junker war tot, sie lebte: das würde den Strang rechtfertigen. Statt dessen schrieb sie zwei Briefe, die sie durch Vermittlung von Frau Cornela einem Erfurter Waidhändler mitgab. Der eine ging mit vielen Fragen an ihre Eltern. Den anderen an Kaufmann Detlef Camerath adressierte sie nur widerwillig. Sie wußte sich keinen anderen Rat – in der Hoffnung, daß er ihn um der ehemaligen Freundschaft mit Albert Meeren willen beantworten würde, falls Albert selber dazu nicht mehr imstande war.

Eines Tages bat sie scheu, ob sie die Ärztin bei einem Krankenbesuch begleiten dürfe. Frau Cornela freute sich von Herzen. Irgendwann in allernächster Zeit, versprach sie.

Im Moment jedoch nicht: im Moment war es zweckmäßig, sich unauffällig zu verhalten. In den letzten Wochen waren einige Todesfälle durch Antoniusfeuer vorgekommen … Sie selbst hielt es für eine Krankheit, ausgelöst durch verdorbenes Getreide, die Frankfurter aber leider nicht. Sie glaubten an Vergiftung durch Ketzer und Juden und beteten zu einem Heiligen um Abhilfe.

Aber all das sagte Frau Cornela nicht. Statt dessen legte sie den Arm um Ymmes Schultern und drückte sie aufmunternd. Fing Ymme erst an, richtig am Leben teilzunehmen, war die vollständige Heilung nicht mehr fern. Außerdem glaubte sie zu bemerken, daß Ymmes Fragen nach medizinischen Dingen aufrichtig waren. Ymme strebte nach Erkenntnis.

Frau Cornela begann, ihr von den Schulen der Wissenschaft in Paris und Montpellier zu erzählen.

Am nächsten Abend fragte Ymme: »Dürfen Frauen dort auch studieren?«

Johanna Cornela wußte sofort, was sie meinte. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur in Salerno, dort lehren keine Mönche.«

»Das ist«, warf Ruth gehässig ein, »vom Haar abhängig, ob du studieren darfst.«