Die Häldengilde - Marcel Schmickerath - E-Book

Die Häldengilde E-Book

Marcel Schmickerath

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Beschreibung

Der adlige Von Ausbildung gründet im Königreich Sacre die "Häldengilde". Sein ganzes Leben hatte er von einer Ausbildungsstätte geträumt, in der junge Helden heranwachsen können. Endlich konnte er diesen Traum in einer prunkvollen Villa inmitten einer bunten Stadt verwirklichen. Doch der Zeitraum könnte kaum schlechter gewählt sein. Ein tobsüchtiger Banshee sucht die Stadt heim. Scheinbar wahllos sucht er seine Opfer aus, um sie auf möglichst skurrile Weise zu erlegen. Als wäre das nicht schon Bedrohung genug, zeigen die Sterne noch viel größeres Unheil an: die ewige Finsternis, in der Tote aus ihren Gräbern auferstehen, Werwölfe ihren Trieben verfallen und der Fürst der Finsternis höchstpersönlich erscheinen soll.

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Prolog
Von Ausbildung und Berufung
Hälden und wahre Helden
Machtwechsel
Schwein gehabt
Ewige Finsternis und Zombiebauanleitung
Ein lodernder Funke Hoffnung
Epilog

Die Häldengilde

Von Marcel Schmickerath

Buchbeschreibung:

Der adlige Von Ausbildung gründet im Königreich Sacre die „Häldengilde“. Der Zeitpunkt könnte kaum schlechter gewählt sein. Ein tobsüchtiger Banshee sucht die Stadt heim. Scheinbar wahllos sucht er seine Opfer aus, um sie auf möglichst skurrile Weise zu erlegen. Als wäre das nicht schon Bedrohung genug, deuten die Sterne auf ein noch viel größeres Unheil hin. Die ewige Finsternis, in der die Toten aus ihren Gräbern auferstehen, Werwölfe ihren Trieben verfallen und der Fürst der Finsternis höchstpersönlich erscheinen soll. Sacre und die gesamte Welt von Tunuss liegt in dieser humoristischen Fantasy in den Händen tapferer Recken.

Über den Autor:

Marcel Schmickerath, geboren 1988 in Düren, studierte Mathematik und Informatik an der RWTH Aachen. 2014 erschien sein erster Roman "Die Häldengilde" im Laufe seines Studiums. 2021 erschien sein Roman "Zahlen der Magie", in dem die Welt der Zahlen mit der Fantasywelt - genannt Tunuss - verschmolz.

Obwohl man annehmen könnte, sein Hintergrund sei "trocken" und "theoretisch", erschafft Marcel Schmickerath in seinen Büchern außergewöhnliche Charaktere, die in einer fantasievollen und humorvollen Welt leben. Die Reihe "Die Reisen des Phil", basieren auf Theologie, Mythologie und Dämonologie.

Die Häldengilde

Von Marcel Schmickerath

Marcel Schmickerath

Im Jagdfeld 17

52353 Düren

[email protected]

www.tunuss-fantasy.de

5. Auflage, 2022

© 2013 Alle Rechte vorbehalten.

Marcel Schmickerath

Im Jagdfeld 17

52353 Düren

Coverart by Insta: @Schmipsy

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

[email protected]

www.tunuss-fantasy.de

ISBN: 9783844252842

Gewidmet all den großen und kleinen Helden, die ihre Prinzessin immer und immer wieder retten müssen.

Prolog

Nichts. Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Warum Sie nichts sehen, sehen Sie gleich. Aber was Sie sehen sollten, sehen Sie hier:

Wir weilen in den endlosen Weiten des Weltalls, das vermutlich gar nicht so endlos ist, sondern dort anfängt, wo es aufhört. Oder umgekehrt. Oder weder noch.

Stille. Wie Sie hören, hören Sie nichts. Warum Sie nichts hören, hören Sie nicht. Aber was Sie hören sollten, werden Sie hören.

Unumstritten war zu Beginn der Zeit der Urknall, der vermutlich gar nicht so ein richtiger Knall war, sondern eher ein leises Ploppen. Oder ein kurzes Brummen. Oder weder noch. Wer kann das schon sagen? Es war wohl niemand von uns dabei, als es passierte. Wer dann? Die Götter? Die Götter hüllen sich in Schweigen. Das schon seit unzähligen Jahren. Vielleicht war das gut so, vielleicht auch nicht.

Nach dem großen Urknall und einiger Zeit - einige Zeit, die im Knall oder Ploppen erst entstanden, aber schon zu einem Bruchteil verstrichen war - entstanden die Gestirne. Die Sterne. Die Monde. Die Planeten. Die Sonnensysteme. Kurz gesagt: die gesamte Galaxie inklusive aller Multiversen unseres Universums. Formen und Farben entstanden scheinbar willkürlich. Tauchten hervor aus der matschig, schleimigen und geschmacksneutralen Ursuppe. Nichts schien unmöglich. Alles schien möglich.

Sie kennen unsere Sonne? Sie kennen unseren Mond? Unsere Erde? Die runden Planeten? Doch rund ist kein Zwang. Kenntnis keine Erkenntnis. Sonne kein Name. Mond keine Persönlichkeit. Erde kein Sinn. Und eine Milchstraße enthält keine Milch. Doch es gibt eine Ecke unseres runden Multiversums, in der all dies anders ist.

Kommen Sie mit. Und Sie werden verstehen, was Sie verstehen sollten.

Man sagt, das Weltall sei allumfassend. Galaxie an Galaxie reibend, erstreckt sich das Universum endlos weit in die endlosen Weiten des dunklen Nichts. Dehnt es sich endlos aus oder endet es irgendwo? Vielleicht beginnt es dort, wo es endet. Vielleicht endet es auch dort, wo es beginnt.

Jede dieser Galaxien ist einmalig in Form, Größe und der Planeten, die sie beherbergen. Ob geradlinig oder in sich selbst gekrümmt. Ob verzerrt oder von schwarzen Löchern verzehrt. Nichts scheint unmöglich.

Die Planeten unterscheiden sich in ihrer Gestalt und Materie. Ob rund oder oval. Ob bipolar oder mannigpolar. Ob gefaltet oder gestreckt. Ob lebensfreundlich oder lebensfeindlich. Ob von keinem Mond oder von beliebig Vielen umgeben. Nichts scheint unmöglich.

Und wie viele Dimensionen hat das Universum? Ob vier oder siebenundzwanzig. Ob ein Universum oder ein Multiversum. Nichts scheint unmöglich.

Wie soll man den Überblick bewahren in einer Welt, die man selbst nicht einmal kennt? Wenn wir ehrlich sind: ohne ein Navigationssystem, wären wir in den endlosen Weiten Hals über Kopf verloren. Würden uns hilflos verlaufen zwischen Milchstraße und Asteroidengürtel. Blindlings in ein schwarzes Loch rennen. Vor Einsamkeit in der finsteren Kälte erfrieren.

Dabei sind wir gar nicht allein.

In einer weit entfernten Galaxie, fernab jeglicher Vernunft - also gleich hinter unserem Sonnensystem um die Ecke - existiert ein merkwürdig geformter Planet. Ungewohnt ist sein Anblick für Augen und Sinne. Kaum vorstellbar, dass sich dort Leben regt. Er hat die Gestalt eines Torus. In sich gerollt und geschlungen. Wie ein gewaltiger, blauer Donut gleitet er durch das All.

Die anderen Planeten in seinem Sonnensystem mochten ihn nicht, wegen seiner außergewöhnlichen Art und Weise. Daher durfte er nicht beim Asteroiden-Staffellauf oder Fang-den-Meteorit mitspielen. Diejenigen, die ihn kannten oder zumindest von ihm gehört hatten - zu denen er sich selbst zählte- nannten ihn Einfach Tunuss. Sein Vorname war Einfach, der Nachname Tunuss. Oder kurz einfach nur Tunuss.

Er zieht gemütlich seine Bahn um die Sonne, welche den Kern seines Sonnensystems bildet. Seine Bewohner nennen sie Sol. Sein Mond, sie nennen ihn Luna, schwirrt in der Bahn einer umgelegten Acht immer wieder durch seine Mitte.

Mit der modernsten Technik ist es uns möglich, näher an ihn heranzuzoomen.

Große Ozeane werden immer deutlicher. Sie sind es, die den Planeten in einem blauen Gewand kleiden. Kleinere grüne und braune Punkte in den blauen Weiten werden allmählich größer und lassen den Eindruck von Kontinenten zu. Während wir über eine Wüste hinwegzoomen und in eine grünliche bewaldete Landschaft gleiten, schrecken wir ein Löwenpärchen auf. Sie taten das, was man von einem Pärchen majestätischer Löwen in freier Wildbahn erwarten würde. Sie schliefen. Im Glanz der Sonne.

Kommen wir zu unserer Geschichte. Eine Legende, die man sich auf Tunuss erzählt. Eine mündliche Überlieferung, die bisher von niemandem niedergeschrieben worden war. Was nicht heißen soll, dass niemand dazu fähig war. Sie lag nur nicht allzu weit in der Vergangenheit, als dass sie jemand hätte niederschreiben können. Es ist die Legende um einen Haufen tapferer Helden, die sich zusammenschlossen, um… Nun gut, ehe wir alles verraten, beginnen wir von vorne.

Es geschah vor vielen vielen Augenblicken…

Von Ausbildung und Berufung

Weissagungen. Weissagungen sind nicht immer fröhlicher Natur. Farblich gesprochen, sind Weissagungen nicht immer weiß. Sie können finster sein. Farblich gesprochen, sind Weissagungen auch schon einmal schwarz. In diesem Sinne war das folgende Geschehen vielmehr eine Schwarzsagung anstelle einer Weissagung.

Hellseher.

Hellseher sehen alles. Selbst im Dunkeln. Bildlich gesprochen, sind Hellseher anders als Andere anders sind, weil sie eben nicht nur im Hellen sehen. Daher nennen sich diese Menschen auf Tunuss mit jener angeborenen - nicht notwendigerweise eingebildeten - Gabe auch gerne Dunkelseher. (Übrigens war die Bezeichnung als hochprozentiger Spirituose ebenso gängig als auch häufig zutreffend.)

Einer dieser Dunkelseher saß auf dem Dach seiner bescheidenen kleinen Holzhütte. (Bescheidenheit ist ebenfalls eine Gabe eines Dunkelsehers. Doch Vorsicht: Bescheidenseher verstehen sie eher als Beleidigung ihrer unantastbaren Würde.) Es war eine selbsterrichtete Hütte irgendwo auf dem Rand des Planeten Tunuss.

Der Name des Dunkelsehers war Animus. Animus Vostramus.

Animus war gelernter Überlebenskünstler. Er hatte sein Leben lang Gemälde mit dem Thema  Überleben  angefertigt und diese auf dem großen Markt von Drako verkauft. Eine recht schwierige Art und Weise sich seine eigenen Brötchen zu verdienen, doch es hatte geklappt. Irgendwie zumindest. Es hatte so lange geklappt, bis es nicht mehr geklappt hatte. Doch da entdeckte er zu seinem eigenen Glück seine ausgefallene Begabung.

Animus war dabei eines seiner letzten großen Werke zu vollenden. Es trug den Titel  Vom Regen in die Traufe zum Hasen vordem Wolf. Ein recht komplexes Werk. Mit vielen Blautönen und senkrecht gezeichneten Strichen, die den Rest des dargestellten Schauspiels - er nannte es  die Flucht des Hasen  - kaum erkennen ließen.

Animus Vostramus setzte zu einem weiteren senkrechten Strich an, als in dieser Nacht ein lauer Wind den Weg in sein Zimmer fand. Augenblicklich erloschen die Kerzen und er stand dar. Ganz alleine. In einem dunklen Raum. Mit einem Pinsel in der Rechten und der Farbpalette in seiner Linken. Die Leinwand direkt vor ihm.

Sicher wären einige in solch einer Situation vor Panik schreiend losgerannt. Hätten das Weite gesucht und vermutlich gefunden.

Nicht aber Animus. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er gar nicht aufhören konnte zu zeichnen. Und das Verblüffende daran war: Er wusste genau, was es zu tun galt. Noch viel mehr: Animus Vostramus konnte im Dunkeln sehen. Er konnte die Leinwand sehen. Seinen Pinsel. Ja sogar die Farben konnte er mühelos auseinanderhalten.

Animus vollendete sein Werk. Er betrachtete es anschließend eine Weile. Dann zündete er die Kerzen wieder an und warf erneut einen Blick darauf. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Das Gemälde sah genau so aus, wie er es im Dunkeln gesehen hatte.

Von diesem Tag an wusste Animus, dass er etwas Besonderes war. Er war ein Dunkelseher.

Animus war zwar in jungen Jahren auf den Kopf gefallen, doch er war nicht dumm. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Nein, Animus Vostramus wusste, was es zu tun galt.

Er verkaufte all seine Gemälde und all sein Hab-und-Gut und kaufte sich von dem Erlös einen Haufen Bücher. Es waren Bücher über die Astrologie, die Macht des Sehens im Dunkeln und eines trug den Titel  Warum Gummientchen so lustig quieken.

Aus den gebundenen Werken baute er sich ein Floß, auf dem er der Strömung des Flusses folge, bis er eine menschenleere grüne Landschaft erreichte, von wo er mühelos und ungehindert in die Sterne sehen konnte. Dort errichtete Animus seine kleine bescheidene Hütte und ernährte sich von dem, was die Natur ihm darbot. - Wovon genau, möchte man gar nicht wissen. -

Von da an verbrachte er jede Nacht damit, die Sterne über seinem Kopf zu beobachten.

Viele Dinge hatte er auf diese Weise aus den Sternen gelesen. Sie zeigten ihm, wann und wo er die saftigsten Honigkuchenpferdbienenlarven fand. Wann die Lachfalterraupen schlüpften oder sich in ihre Kokons einwickelten. Wann die Elefantenstechmücken schrecklich ausgehungert waren. Oder in welchen Pfützen sich Kaulquappen des Schenkelfrosches befanden. Doch sie zeigten ihm auch andere Dinge. Dinge, die er nicht verstand. Wie die Krönung eines Mannes. Mönche ohne Haare. Eine Frau mit grünen Haaren. Nur Haare. Oder die Tageskarte eines Barbiers aus einem Dorf in seiner Nähe.

Animus strich sich durch einen Teil seines langen grauen Bartes. Er reichte bis weit über den Boden, glänzte im Schein des Mondes. Es gab Dinge, die er nie verstehen würde. Auch als Dunkelseher nicht.

Animus lehnte sich zurück, ließ seinen geschulten Blick durch die Reihe der Sterne wandern.

Zwischen den beiden Sternen Polar und Starleit glimmte der Stern Express blass vor sich her. Das war ein gutes Zeichen, fand Animus. »Dann gibt es morgen wieder leckere Honigkuchenpferdbienenlarven. Das wurde aber auch Zeit. Immer diese Elefantenstechmückenlarven…  Sind nicht gerade das Gelbe vom Ei«, brabbelte er vor sich her.

Sein Blick schweifte zur Formation der fetten Henne. »Ahh«, freute er sich. »Dazu gibts einen leckeren Cocktail Wasserflöhe. Welch ein Glück…«

Zufrieden reckte er sich, stützte den Kopf auf seine Arme. Es war die perfekte Sternstunde. Ja er konnte sogar sagen, die Sterne standen gut für ihn.

Er war fast eingedöst, als die rote Zora direkt neben dem Mond aufleuchtete. Animus richtete sich auf. »Oh. Da kommt eine Nachricht rein.«

Das war nichts Außergewöhnliches. Die rote Zora blinkte immer dann auf, wenn neben den alltäglichen Mitteilungen eine neue Vision für den Dunkelseher bereitstand und darauf wartete abgerufen zu werden.

Animus starrte in den Himmel. Nichts geschah.

Irgendwann erlosch die rote Zora wieder, ohne dass er etwas gesehen hatte.

»Eigenartig…  Das passiert doch sonst nie…«

Eine Wolke schob sich vor den Mond. Es wurde schlagartig dunkel. Die Augen des Dunkelsehers suchten im schwarzen Schleier der Nacht nach Luna. Der Mond war kaum noch zu erkennen. Ein pechschwarzer Schleier schob sich vor ihn. Ein Schleier, wie ein Schatten. Ein Schatten, der wie eine Fratze aussah. Eine Fratze, die aussah wie…

Animus schrak zusammen. »Ist das etwa…?«

Was immer das  etwa  gewesen sein mag, es bereitete dem selbsternannten Seher sichtliche Sorgen. Hastiger und immer schneller werdend strich er sich durch den Bart.

Die Fratze riss ihr Maul auf, verschlang den Mond. »Nein…! Das darf nicht!«

Animus geriet in Panik. Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste etwas unternehmen. Etwas. Irgendetwas. Ehe alles zu spät war. Aber was? Es war ihm kaum möglich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Gesehene zu verarbeiten. Seine Handlungen zu planen. Seine Reaktion zu kontrollieren. Er hyperventilierte. Schien jeden Augenblick sein Bewusstsein zu verlieren. Ja, er dachte sogar für einen kurzen Augenblick daran, seinen Bart schneiden zu lassen. Doch nur für einen Moment.

Ein kleines Glühwürmchen erregte seine Aufmerksamkeit. Riss ihn aus der Trance, wie ein Fingerschnippen. Gierig streckte er seine Hand nach ihm aus. Fing es und stopfte es in den Mund.

Als er wieder aufsah, war die Fratze verschwunden.

In dem fast endlosen Dickicht, tief im Wald von Rockwutt, befand sich das Dorf der Banoki.

Schon aus der Ferne erkannte man einen der hochgewachsenen Banoki an seiner wäldlichen braun-grünen Kleidung und den spitzen Ohren. Sie entstammten aus dem Volk der Elfen. Sie verbrachten einige hundert Jahre in dem von der Natur reichlich gesegneten Wald. Andere Waldbewohner wie Nymphen, die Satyrn oder Feen akzeptierten sie als ein neutrales Volk des Waldgebiets. Als dieses lebten sie in ausgehöhlten Baumstämmen und ernährten sich von all dem, was der Wald ihnen darbot.

Vor längst vergangener Zeit hatten sie jeder Form von Technik, Wirtschaft und Politik abgeschworen. Selbst Magie gegenüber waren sie abgeneigt, sofern diese nicht von ihrem Oberhaupt, einem uralten Pflaumenbaum, stammte. Sie nannten ihn den heiligen Flitzeboom.

Sie hüteten den Baum wie ihren Augapfel. Beteten ihn täglich bei Sonnenuntergang an und befolgten stets seine Worte. Da der Pflaumenbaum nicht sonderlich viel sprach, lebten sie letztlich einfach ihr ruhiges Leben vor sich hin. Dazu gehörte zum einen das Beten und zum anderen das Sammeln und Verarbeiten aller Produkte, die ihnen der Wald hergab.

Zum Ausgleich schenkte der große weise Flitzeboom jedem Banoki, der seine Worte stets befolgte, ein Mittel gegen Verstopfung und die Gabe seine innere Ruhe zu bewahren. Ferner segnete der Wald die Elfen, indem sich eine der Feen des Waldes einem jeden der schlichten und naturnahen Banoki anschloss. Diese Feen fanden scheinbar zufällig einen Weg zu dem betroffenem Banoki und geleitete ihn sicher durch sein Leben. Man sagt, die Fee eines Banoki würde das tiefe Innere seines Besitzers widerspiegeln. Andere glaubten, dass eine solche Fee sich einem der Elfen anschloss, um so leichter an Nahrung zu gelangen. Für einen Banoki war seine Fee jedoch ein Teil seiner Seele.

Seltsamerweise besaßen drei der Banoki weder spitze Ohren noch eine Fee. Und zufällig waren sie alle drei Waisenkinder.

Einer von ihnen war Tak. Tak war ein schmächtiger junger Mann, der bereits mit seiner Volljährigkeit eine Halbglatze erhalten hatte. Die noch verbliebenen braunen Haare formten einen Lorbeerkranz ähnlichen Hut. Es wirkte mehr wie ein umzäuntes Ei, als eine Frisur.

Er kniete im kühlen Gras und betete zu Flitzeboom. In einem Nebensatz schloss er alle Götter, die ihren Platz im See des Otymps - Heimstätte aller Götter - hatten, mit ein.

Die Banoki erzählten ihm, dass er keine eigene Fee erhalten habe, weil er überzeugt davon war, dass es mindestens einen Gott gab, der neben dem allmächtigen Flitzeboom oder sogar über diesem stand. Sie nannten es Hirngespinst. Unfug, den er aus seinen Büchern aufgeschnappt hatte. Bücher, die über einen See im Himmel berichteten. Ein See, in dem die Götter wohnten. Von dort oben lenkten sie das Schicksal der Sterblichen. Und das, während sie bloß würfelten und Monopoly spielten. Viele Götter, Sagen und Mythen beinhalteten diese Bücher. Bücher, die er gar nicht besitzen durfte.

»Und wenn es möglich wäre, mir die restlichen Haare zu erhalten, großer Flitzeboom, der neben eventuell weiteren Göttern steht, dann wäre ich dir, ich meine eventuell euch, wirklich dankbar.«

Wie immer ließ ihn der große Flitzeboom mit all seinem Schweigen kaum zu Worte kommen.

Er zog eines seiner Bücher aus seinem Ärmel. Der Titel lautete  Sacre- Die Stadt der Göttin. Es war eines der wenigen Bücher, die er retten konnte. Eines, das noch von keinem anderen Banoki entdeckt wurde. Sie würden es ihm auf der Stelle entreißen. Noch schlimmer. Sie würden es verbrennen. Und warum? Weil es von einer Göttin berichtet. Weya, nennen sie die Bürger von Sacre. Sie schenkten ihr ihre Stadt und ihr ganzes Königreich. Weya segnete sie dafür mit ihrem Weizen.

Tak schlug die Seite mit dem Bild einer jungen Frau gekleidet in einer langen Tunika auf. Sie schwebte über einem Feld voller Getreide. Getreide. Ja, das Buch berichtete nicht nur von der Göttin selbst, sondern auch von ihrem Getreide.

Tak war von dem Gemälde hin und weg. Geradezu Feuer und Flamme. Er streichelte behutsam mit der Hand über das Papier. So als wäre er es nicht Wert es zu berühren. Er sah wieder zu dem Pflaumenbaum und fuhr fort: »Du weißt, dass diese Bücher große Geheimnisse bergen. Warum sollte es verboten sein, es zu besitzen? Und was soll so schlimm an Getreide sein?«

Eine leichte Brise ließ die Äste aneinanderknarren.

Er blickte hinauf. Die ersten Knospen zeigten sich. Die kalte Jahreszeit neigte sich ihrem Ende zu. Und das bedeutete Arbeit. Im Frühjahrsputz wurden die Baumstämme ausgefegt, weil man es das ganze Jahr über nicht tat. Wenn dann die letzten Reserven der Vorratskammer aufgebraucht waren, mussten sie alle mit anpacken und neue Güter des Waldes besorgen. Er bekam Bauchschmerzen, wenn er nur daran dachte. Den ganzen Tag ist er dann auf den Beinen. Läuft von Baum zu Baum. Dreht jeden Stein um. Viel lieber würde er in seiner Holzschale liegen und seine Bücher lesen.

Der laue Luftzug brachte die Äste des weisen Flitzebooms immer heftiger in Bewegung. Ein brach ein Ast ab, fiel ihm auf den Kopf.

»Autsch! Ich dachte an ein Zeichen im übertragenen Sinne, eines das etwas weniger schmerzt.«

Die Brise verschwand so abrupt, wie sie aufgetaucht war. Das Rascheln verstummte. Der allmächtige Flitzeboom schien die rechten Worte zu suchen.

»Nun gut. Ich verstehe«, sagte Tak. Er klappte sein Buch wieder zu.

Er wollte es wieder einpacken, als er eine zornige Stimme hörte: »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.«

»Senegra?«  Das Buch verschwand hastig im Ärmel. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

Eine attraktive Elfe kam hinter dem Stamm hervor. Anziehend war sie. Anziehend, wie eine Zwanzigjährige. Aber in diesem Alter war sie schon lange nicht mehr. Wie alt sie war, das wusste niemand. Vermutlich nicht einmal sie selbst. Einzig ihre kratzige Stimme und ihr silbernes Haar deuteten auf ein erheblich höheres Alter hin, als es die äußere Erscheinung zuließ. Hinzu kam ihre kleine Fee, welche sie stets auf ihrer Schulter trug. Sie leuchtete in einem matten Grau. Kaum noch ein Leuchten, vielmehr ein fahles Glimmen. Allein ihre kleine Fee musste hunderte von Jahren alt sein. Obschon niemand der Banoki Senegras Fee je hat fliegen sehen und ein jeder von ihrer so gar nicht zu ihrer Figur passenden Stimme irritiert war, traute sich niemand, sie weder auf das eine, noch auf das andere anzusprechen. Sie war das Oberhaupt. Ihr Wort war Gesetz. Selbst wenn sie sagte, sie wäre erst zwanzig Jahre jung, dann war sie es. Ihr Wort war das Wort des Baumes. Und das Wort des Baumes war weise und unumstritten.

Ihr silbriges Haar wehte im Wind. Es ließ den Blick auf ihre spitzen Ohren zu. Sie schien verärgert. Die runzlige Stirn und die gesenkten Augenbrauen verrieten ihm, dass sie ihn gehört hatte.

»Dafür habe ich dich gehört«, bestätigte sie seine Befürchtung. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es keine Götter gibt? Und was war das gerade eben in deinen Händen?«

Er gab ihr das Buch. Er musste. Sie hatte es bereits gesehen.

Senegra las den Titel. »Sacre?«  Sie wirkte abwesend. »Von all den Büchern auf Tunuss, muss es ausgerechnet dieses sein…«, sagte sie vor sich hin. »Tak. Ich habe dir das Lesen beigebracht, damit du in dieser Welt zurechtkommst, wenn es darauf ankommt. Und nicht, damit du dir solch einen Unsinn reinziehst. Woher hast du das überhaupt?«

»Das habe ich gefunden«, log er. »Es hatte jemand im Wald verloren.«

»Das tust du immer. Es ist schon bemerkenswert, wie häufig die Leute in den Wald marschieren, nur um hier ihre Bücher zu verlieren. Nicht wahr?«

»Ja, das ist wahrlich bemerkenswert…«

»Hast du noch weitere Bücher, die du mir verheimlichst?«

»Nein. Das war das Letzte.«

»Genau das hast du auch beim letzten Mal zu mir gesagt.«

»Es war wirklich das Letzte, Senegra.«

»Gut.«  Sie holte tief Luft, ehe sie weitersprach. »Du weißt, was damit geschieht?«

Natürlich wusste er das. Aber warum? Warum sein Lieblingsbuch? »Warum müssen sie alle verbrannt werden? Was ist so schlimm, sie zu lesen?«

»Tak. Du stellst zu viele Fragen.«

»Einige von ihnen sollten bloß Wissen vermitteln.«

»Glaub mir. Zu viel Wissen ist nicht gut. Weder für dich, noch für uns alle.«

»Und glauben? Was spricht gegen den Glauben?«

»Du hast bereits zu viel gelesen. Und du hast genug Fragen gestellt«, wich sie aus. »Es gibt keine Götter. Nur diesen Pflaumenbaum. Akzeptiere das.«

»Der allmächtige Flitzeboom? Unser Schutzpatron? Hüter des Waldes und Heiligtum der Nymphen? Seine Wurzeln reichen von hier bis in die Tiefen des Otymp. Dort wo die Götter hausen.«

»Tak!«, fuhr sie ihn an. »Es gibt nur ihn. Und er steht hier. Und jetzt geh zu deinem Bruder und hilf ihm bei den Vorbereitungen.«

»Und mein Buch?«

»Ist nicht länger deins!«  Sie blickte auf den Kodex. »Dieses Buch wird niemandem mehr gehören. Und jetzt geh mir aus den Augen, Tak! Wie du weißt, habe ich etwas zu erledigen.«

Wenige Baumhäuser entfernt waren die ersten Vorkehrungen für das einbrechende Frühjahr im vollen Gange.

Eine junge Frau mit blattgrünem Haar fegte ihre Wohnung aus. Der Rutenbesen - feinste Handarbeit - kratzte über den hölzernen Boden.

Schrabb. Schrabb.

Sie seufzte. »Ich bin den Hüpf jetzt schon leid.«

Hüpf, das war die Zeit des Jahres, in der die Knospen sprossen, die Bienen zum ersten Mal wieder umhersummten und der Wald seine grüne Farbe, sowie seine lebensfrohen Bewohner zurückerlangte. Ob Reh, Hirsch, Bär oder Wolf. Ob Rotkehlchen, Lerche, Falke oder Uhu. Ob Maikäfer, Marienkäfer, Gottesanbeterin oder Schwarze Witwe. Jeder genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen des Hüpf.

Schrabb. Schrabb.

Naja, fast jeder. Denn für die Banoki begann mit dem Ende des Schnees die Zeit der Arbeit.

Schnee, so nannte man auf Tunuss die kalte Jahreszeit. Die Zeit, in der Väterchen Frost die karge Landschaft mit Eis und Schnee bedeckte. Eine Zeit, die Spaß machen konnte, wenn man nicht immer darum bangen musste, ob die Vorräte noch ausreichten.

Schrabb. Schrabb.

Wie gerne wäre sie mit den Kindern Schlitten gefahren. Oder wäre gerne in Sacre, wenn sie dort mitten im Schnee die Jahreswende feierten. Mit Feuerwerk und viel Spektakel. Unsummen an Geld gab jeder Einwohner zu dieser Feier aus. Aber sie hatten sichtlich Spaß daran zuzusehen, wie es in Form einer Rakete im Nachthimmel verpuffte. So etwas kannten die Banoki nicht. Oder besser gesagt, sie durften es nicht kennen.

Schrabb. Schrabb.

Es stand alles in dem Buch, von dem Tak ihr immer wieder erzählte. Darin war dieses Bild einer angeblichen Göttin namens Weya.

Weya, dachte sie,  es wäre immerhin besser, als zu einem Baum zubeten.  Sie verstand zwar nicht, was so schlimm daran sein sollte, aber von den Göttern in dem Buch war sie nicht annähern so ergriffen wie Tak. Er konnte kaum von etwas anderem reden, wenn die drei alleine waren.

Schrabb. Schrabb.

»Hier ist dein Wasser, Mia«, unterbrach ein junger Mann ihr Schrabben. Ein blonder, eher schmächtiger Banoki. Deutlich waren seine nichtspitzen Ohren zu sehen, als er in die Behausung trat.

Mia ließ den Besen zu Boden fallen und nahm ihm den Köcher mit Wasser ab. »Das wurde aber auch Zeit, Mark«, sagte sie.

»Was heißt hier Zeit? Ich bin nicht dein Packesel.«

»Ach? Ihr beiden macht doch den ganzen Dreck hier.«

»Wieso wir? Du wohnst auch hier.«

»Aber ich bin eine Frau. Die machen keinen Dreck.«

»Verstehe«, antwortete Mark. Etwas anderes war nicht möglich.

»Nur dass du es weißt«, begann Mia. »Ich bin es auch langsam satt.«

»Das Putzen?«

»Nein. Das Alles hier«, sagte sie. »Ich frage mich manchmal, ob es in diesem Sacre besser ist.«

»Sacre? Du meinst das Königreich, von dem mein Bruder immer schwärmt? Mit dem Tempel und dem gewaltigen Schloss in der Stadt?«

»Ja, genau da«, entgegnete sie. »Sie dürfen dort sicher nur das tun, was ihnen gefällt. Und glauben dürfen sie auch, an wen sie wollen. Nicht bloß an einen Baum. Und Pflaumen! Pflaumen kann ich auch keine mehr sehen.«

»Hast du heute schon zu dem Baum gebetet?«

»Natürlich. Aber du weißt, ich halte davon ebenso wenig wie du. Nur Tak scheint davon angetan. Wie er immer vom Otymp spricht. Der Heimat der Götter. Seine Augen funkeln regelrecht, wenn er davon anfängt.«

»Wo ist er überhaupt? Sollte er nicht mit anpacken?«

»Er wird sich sicher wieder davor drücken. Er hat seinen ganz eigenen Kopf.«

Die Tür schwang auf. Jemand trat herein. Sein Gesicht schlürfte über den Boden. Die Gestalt wirkte traurig, geradezu am Boden zerstört. Dennoch sah Mia etwas Positives darin: Dort wo die Mundwinkel über den Boden streiften, musste nicht mehr gekehrt werden.

»Bruder«, begrüßte ihn Mark. »Da bist du ja. Wo hast du dich getrieben? Wir brauchen hier jede Hand.«

»Nirgends«, schluchzte Tak.

»Hey. Was ist los mit dir?«

»Sie hat es verbrannt…«

»Was hat wer verbrannt?«

»Senegra. Sie hat das Buch verbrannt.«

»Du meinst das über Sacre?«, fragte Mia.

Er nickte entmachtet. Zu mehr war er nicht im Stande.

»Das war doch nur ein Buch«, sagte Mark. »Sieh es positiv. Du hast jetzt keine Bücher mehr, die sie verbrennen könnte.«

»Mark. Du weißt, wie sensibel er ist. Es war sein Lieblingsbuch.«  Mia zog einen Stuhl heran. »Tak. Komm. Setz dich.«

»Er stellt sich nur an. Ich meine, wie viele Bücher hast du schon verloren?«

»Genau zweiundneunzig«, schluchzte er.

»Siehst du«, lachte sein Bruder. »Langsam sollte es für dich zur Gewohnheit werden.«

»Sehr witzig…«

»Nun zieh keine Miene und hör auf zu flennen.«

»Tue ich aber.«

»Mark. Du weißt wirklich, wie man jemanden aufheitert«, sagte Mia. Sie strich Tak über den Kopf. »Ich weiß, wie viel dir dieses Buch bedeutet hat. Mach dir keine Sorgen. Du hast es immerhin lesen können. Und dieses Wissen kann dir keiner mehr nehmen.«

»Sie würde es, wenn sie es könnte…«

»Ja, vielleicht. Aber sie kann es nicht. Und du wirst sehen, heute Abend auf der großen Waldfeier wirst du es vergessen haben.«

»Die Waldfeier?«, fragte er. »Da dürfen wir doch nicht hin.«

»Hat uns das je davon abgehalten?«, entgegnete Mark.

»Ihr wollt da wirklich wieder hin?«

»Du warst doch bisher immer gerne dort«, sagte Mia. »Und vielleicht findest du dort ein neues Buch?«

»Ja…«  Er schien wenig überzeugt. »Aber ihr wurdet auch nicht letztes Jahr von einem Rehkitz und seiner Mutter gejagt.«

Mark lachte. »Dann solltest du diesmal niemandem von deinem Otymp vorschwärmen.«

»Das Kleine hat mir anfangs aufmerksam zugehört«, wunderte er sich.

»Jaha. Bis seine Mutter dachte, du würdest ihm etwas antun wollen.«

»Und es sah so süß aus«, schwelgte Mia in Gedanken.

»Also gut«, sagte Tak. »Aber ich kann nicht versprechen niemandem vom Otymp zu erzählen.«

Wie jedes Jahr fand auch in diesem Jahr die große Waldfeier inmitten von Rockwutt statt. Es war die Feier zur Jahreswende für die Bewohner des Waldes. Für sie endete das Jahr, im Gegensatz zum Rest der Bewohner von Tunuss, erst mit dem Beginn des Hüpf.

Das Jahr der tollwütigen Spinne ging zur Neige und das neue Jahr im Zeichen des schielenden Drachen sollte an diesem Abend ordentlich gefeiert werden. Ordentlich gefeiert heißt in Rockwutt, die Sau rauszulassen. Sie nannten sie Miss Piggels. Eine alte Wildschweindame, die sie zum Ende der Nacht aus ihrem Käfig ließen. Es war mehr eine Angewohnheit, als eine Tradition und nur mäßig spaßig. Vor allem dann, wenn die freigelassene alte Sau wie ein tollwütiger Berserker mit ihren Hauern in die über Tage aufgebaute Showbühne donnerte und binnen Sekunden Dekoration und Instrumente zertrümmerte.

Abgesehen von der Waldband und ihren Groupies, sowie kleineren Wurf-, Schieß- und Essbuden, gab es kaum weitere Attraktionen dort. Doch das war auch nicht nötig.

Das Treffen mit den anderen Waldbewohnern und vor allem das Gespräch mit Handelsreisenden, die sich keine Gelegenheit entgehen ließen, sich eine goldene Nase zu verdienen, war für die drei Banoki mehr als eine Genugtuung. Vor allem der kleine Buchladen hatte es Tak angetan.

Er durchstöberte die Kartons voller Bücher in der Hoffnung, eine weitere Abschrift seines Lieblingswerks zu finden, während Mark und Mia gemeinsam den Bühnenauftritt der Waldband genossen.

Die Waldband war eine berühmte Rockband - genannt die Pluschrocker. Sie bestand aus einem Dachs am Bass, einem Fuchs an der E-Gitarre, einem Eichhörnchen am Schlagzeug und einem Kaninchen als Sänger. Er war der Favorit unter den Pluschrockern und wies die meisten Groupies auf. Er bezeichnete sich daher selbst häufig als das berühmteste und glücklichste Kaninchen in ganz Rockwutt. Und das heißt schon etwas. Schließlich sind Kaninchen dafür bekannt, häufig glücklich zu sein.

Sie spielten ihren neuen Song  Klopf, klopf, klopf aufAhornholz. Es fuhr einem durch Mark und Bein, bis in die Knochen.

Natürlich fand sich kein Banoki auf der Feier, bis auf Mark, Mia und Tak, denn für sie und vor allem für Senegra war diese Zusammenkunft der Untergang ihres bescheidenen und geborgenen Daseins. Mehr als nur ein Dorn im Auge. Niemand aus dem Dorf durfte diese Feier besuchen.

Bisher hatten die drei es stets geschafft, sich heimlich zur großen Waldfeier zu schleichen. Dort empfing man sie mit offenen Armen. Oder besser gesagt: unter all den Feen, Nymphen, Zentauren und allen Tierarten, die der Wald beherbergte, fielen sie kaum auf. Die Handelsreisenden fassten sie daher gern mit unter den Sammelbegriff  potentielle Kundschaft.

Die Band beendete ihren Song und legte eine kurze Verschnaufpause ein. Auch Kaninchen brauchten so etwas. Das Kreischen der Groupies schraubte sich ein wenig herunter. Dafür flogen Kleidungsstücke und Igel auf die Bühne, die die Fans ihren Stars entgegenwarfen.

»Ob Tak sein Buch gefunden hat?«, fragte Mia. »Vielleicht sollten wir kurz zu ihm gehen und nach dem Rechten sehen.«

»Nicht nötig. Er wird sich schon von Rehen fernhalten«, sagte Mark. »Da kommt er ja schon.«

»Hast du es gefunden?«

»Nein«, ließ er seiner Enttäuschung freien Lauf. »Er meinte, vielleicht habe er nächstes Jahr wieder eines in seinem Sortiment.«

»Das tut mir leid für dich«, tröstete ihn Mia. »Aber weißt du, was mir immer hilft, wenn ich nicht gut drauf bin?«

»Putzen?«, fragte Mark.

»Nein! Olgars Schießbude. Da gibt es immer so niedliche Hauptgewinne«, strahlte sie.

In einer solchen Situation akzeptierte Mia kein  Wenn  und kein  Aber. Das wussten die beiden. Daher ging es ohne Widerrede und weiteren Zwischenstopps zu besagtem Stand. Im Gegensatz zum letzten Mal fanden sie dort andere Gewinne vor.

»Oh, sieh nur Mark, was für ein niedliches Plüschtier«, entfuhr es Mia. Sie deutete auf einen Hamster.

»Tut mir leid, die Dame«, sagte Olgar. Ein dürrer Mann, der plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und vor ihr stand. »Das ist Jeck. Er hilft mir hier aus. Er ist nicht halb so flauschig, wie er aussieht. Nichts als Dummheiten hat er im Kopf.«

Jeck rümpfte die Nase.

»Oh, entschuldige, aber du siehst echt knuddelig aus.«

Der Hamster grinste, wie auch immer er das anstellte.

»Wenn ich der Dame den heutigen Hauptgewinn präsentieren darf…«

»Oh, ein Plüsch-Rehkitz! Mark sieh nur, wie niedlich.«

Mark beschloss, lieber nicht darauf zu reagieren.

»Also, wenn ich ein solches Stofftier hätte, dann würde ich es Sir Bambili nennen und ganz doll liebhaben.«

Wie gerufen, zog ein junges Rehkitz an der kleinen Gruppe vorbei und sagte: »Das ist nicht witzig.«

Tak schrak zusammen. »Da ist es wieder! Das Monster!«

»Bruder«, beruhigte ihn Mark. »Das ist nur ein harmloses Reh.«

»Nur ein harmloses Reh? Du weißt, was es letztes Jahr getan hat?«

»Habt ihr meine Mutter gesehen?«, fragte das Kleine.

»Nein! Zum Glück nicht«, erwiderte Tak. »Aber du solltest sie suchen gehen.«

»Also gut, ich versuche es.«, brach Mark die anschließende Stille. Er bezahlte drei Schüsse.

Jeck sprang von seinem Platz und legte drei Pfeile in den Köcher neben ihm. Dabei grinste er noch immer Mia an. Es war nicht zu verkennen, wie sich der kleine Nager bei dem jungen Mädchen sein großes Los in der Liebe erhoffte.

Mark nahm einen Pfeil, spannte den Bogen und visierte die Zielscheibe an. Sie besaß eine merkwürdige Punkteverteilung. Auf dem dicken äußeren Rand stand  halber-Pungt. Die inneren Kreise waren schmal und gaben ein bis drei  Pungte. In der Mitte befand sich ein knopfgroßer schwarzer Punkt.

»Die Mitte gibt hundert Pungte, junger Mann. Für den Hauptgewinn sind dreihundert Pungte zu erzielen.«

»Du weißt, dass es Punkte heißt und nicht Pungte?«, wies ihn Tak zurecht.

»Das sagtest du letztes Jahr auch. Aber ich bin mir sicher, dass es Pungte heißt«, winkte Olgar ab. Der junge Mann vor ihm hatte bezahlt und nun das Recht, seine erstandenen Pfeile abzuschießen. Es war nicht die Zeit, über Derartiges zu streiten.

Der erste Pfeil sauste los, bohrte sich dicht neben der Scheibe in die Wand.

»Nunja, der erste Schuss ist immer der Schwierigste, junger Mann.«

Der zweite Pfeil bohrte sich auf der anderen Seite der Scheibe in die Wand.

»Ähm, vielleicht solltest du auf den äußeren Rand zielen«, schlug sein Bruder ihm vor.

»Und wenn du noch lange mein Bruder sein möchtest, solltest du jetzt vielleicht lieber ruhig sein«, knurrte er.

Mark spannte den Bogen. Er wollte schießen, als…

»Ich dachte nur, weil …«

Der Pfeil sauste Richtung Decke, prallte ab, traf auf einen Topf und flog mit einem  Klong  begleitet aus der Bude heraus, dicht an Tak vorbei. Er landete schließlich in einem der Schilder des gegenüberstehenden Standes. Es trug die Aufschrift Wyr machen einen Hälden aus dyr!

»Schade, das schöne Rehkitz«, kommentierte Mia den Fehlversuch.

Tak sah seinen Bruder an und meinte ein leises Brummen von ihm zu hören.

»Eh… das ist, eh …«, versuchte Olgar die Lage zu retten. »Könntet ihr vielleicht den Pfeil wiederholen? Es gibt auch diesen Lemminganhänger als Trostpreis.«

»Der Stand scheint neu zu sein«, wunderte sich Tak, während sie die Inschrift lasen. »Oder war der letztes Jahr schon hier?«

»Oh, welch bezauberndes grünes Haar«, begrüßte sie der Inhaber des Standes mit den vielen Schildern. Jedes von ihnen trug mindestens zwei Rechtschreibfehler und das selbst dann, wenn sich nur ein einzelnes Wort darauf befand. Wie etwa  Häldengylde  oder  hyrhär. Ohne Zweifel schien der Inhaber über mehrere Jahre eine Phobie gegen Rechtschreibung entwickelt zu haben.

Ein in Schwarz gekleideter Mann im mittleren Alter kroch hinter einem der Schilder hervor.

Mia empfand ihn sogleich als attraktiv. Seine Worte ließen sie erröten. »Vielen Dank, der Herr«, sagte sie.

»Mein Name ist Von Ausbildung«, stellte sich der edle Mann mit der weniger edlen Rechtschreibschwäche vor.

Er hauchte Mia einen Kuss auf die Hand. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr jeden Augenblick der Kopf platzen. Erst danach schien er die beiden Brüder zu bemerken. Flüchtig reichte er einem nach den anderen die Hand. Taks lascher Händedruck erntete dabei einen ungemein herablassenden Blick.

Mia stellte sie vor. Zuerst nannte sie ihren Namen. Dann Mark. Und schließlich Tak.

»Sie bilden Helden aus?«, fragte ihn Mark.

»Ah, ich sehe, der Herr hat Interesse? Und ja, in der Tat. Ich leite in Sacre die Heldengilde.«

Tak konnte sich nicht länger zurückhalten:»Eine Heldengilde? Davon habe ich noch nie etwas gehört.«

»Nun irgendwo müssen doch Helden lernen, heldisch zu sein, nicht wahr?«  Er sah Tak bei diesen Worten nicht einmal an.

»Außerdem muss eine solche Ausbildungsstätte geheim sein«, erklärte der Mann. »Stellt euch nur vor, die Bösewichter wüssten davon. Sie würden doch all die Helden noch während ihrer Ausbildung beseitigen.«

»Oder sie gründen eine Bösewichtgilde«, spottete Tak, der von all dem nicht viel zu halten schien.

Mia, ihren Verstand umnebelt von all dem Charme des Mannes, zeigte ihre Zustimmung durch ein knappes Nicken. Sie glaubte ihm alles. Solch ein Mann würde niemals lügen. Sicherlich konnte er das Wort  Lüge  nicht einmal schreiben. Zufällig dachte Tak gerade genau dasselbe.  Genau wie ’Helden’, dachte er.

»Eine der ersten Lektionen ist übrigens der Umgang mit Pfeil und Bogen«, fügte der Inhaber der Gilde nach einer kurzen Pause hinzu. Er sah dabei Mark an.

»Öhm, ich denke, das kann ich bereits. Ich war…«, suchte er nach einer Erklärung für seinen leicht entglittenen Schuss, »nur etwas abgelenkt.«

»Oh, gewiss«, pflichtete Von Ausbildung ihm bei. »Dennoch schadet eine Heldenausbildung sicherlich nicht, nicht wahr? Und vielleicht findet die Prinzessin ja ihren Traumprinzen in Sacre. Vielleicht sogar in der Gilde?«

Mia begann zu zerfließen. Hatte er sie gerade Prinzessin genannt?

In Sacre?  Tak konnte seinen Ohren nicht trauen. Wenn es da neben dem fragwürdigen Mann, mit der noch fragwürdigeren Gilde und der fragwürdigsten Rechtschreibung, die er je gesehen hatte, nicht noch ein weiteres Problem gegeben hätte. »Verzeihung, der Herr«, wandte Tak ein, ehe Mark antworten konnte. »Aber wir haben nicht so viel Geld, um uns eine solche Ausbildung leisten zu können.«

»Oh nein. Die Schulung zum Helden ist natürlich kostenlos. Schließlich sind doch die meisten armen Bauernsöhne geborene Helden, nicht wahr? Und wie sollten sie dann ausgebildet werden, so ganz ohne Bares?«

»Also ich wäre dafür«, warf Mia in die Runde.

»Und ich komme nur mit, wenn Tak auch mitkommt«, sagte Mark.

Tak hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Und es waren nicht nur die Schreibfehler, die ihm Kopfschmerzen bereiteten. »Mark, ich weiß nicht, irgendetwas ist …«

»Selbstverständlich kann dein Bruder uns begleiten«, versuchte der Mann, Herr der Lage zu werden. »Hinten im Wagen zwischen all dem Stroh sollte noch etwas Platz sein.«

Tak bemerkte eine gewisse Anspielung nicht. Hinten im Wagen, bedeutete einen Ehrenplatz zwischen Werkzeug, all den Schildern und weiteren Dingen, an die er nicht einmal im Traum denken würde. Noch dazu kratzig ummantelt von einem Haufen Stroh.

Stroh? Das bedeutet doch Getreide, dachte er. »Ähm, gibt es in Sacre viel Stroh und vielleicht Getreide?«

»Junger Mann«, lachte Von Ausbildung. »Sacre ist weltberühmt für seinen Weizenanbau. Habt ihr etwa noch nie von dem Tempel der Weya, Göttin des Weizens gehört? Dort opfern sie ihr Unmengen an Weizen.«

Weizen?! Und ein Tempel? Noch dazu eine Göttin des Weizens?, schoss es ihm durch den Kopf.  Ist also wahr, was in dem Buch stand?Sacre - die Stadt der Göttin?  Und er konnte dorthin.

Alle warteten auf Taks Antwort.

»Eh natürlich…. Vielleicht könnten wir ja für ein paar Tage mitkommen.«

»Fein! Morgen früh bei Sonnenaufgang fahren wir los«, strahlte der Mann. »Seid pünktlich.«

»Keine Sorge«, sagte Mark. »Wir werden hier gleich noch die Sau rauslassen und danach werden wir uns auf die Abreise vorbereiten.«

»Und wenn Senegra es merkt?«, wandte Tak ein.

»Das wird sie nicht«, antwortete Mia. »Wir werden uns davonschleichen.«

»So wie heute Nacht.«

»Genau. Oder hält dich noch etwas hier?«

Eigentlich war Stroh recht bequem. Das dachte Tak zumindest immer. Aber, wenn man es in einem zu engen Wagen mit einer Kuh teilte, war es doch eher unangenehm. Das lag nicht an dem ungewohnten Kratzen. Eher an dem ungewohnten Duft, der von ihr ausging.

Klink-Klonk

Dazu kam die laute Glocke, die sie um den Hals trug. War es zu anfangs eine nette Abwechslung zum Traben der Pferde, wurde es nun zur Plage. Er hob den Stoff ein wenig an und wandte sich an Herrn Von Ausbildung:»Was ist das eigentlich für eine Kuh, Herr Ausbildung?«

»Es heißt Von Ausbildung«, wies er ihn zurecht. »So viel Zeit muss sein.«

»Verzeihung, Herr Von Ausbildung.«

»Und diese Kuh heißt Chantalle, die legendäre Kuh.«

Klink-Klonk

»Nunja, sie wird einmal legendär. Sie träumt nämlich davon, eines Tages über den Mond zu springen.«

»Achso.«  Tak schien wenig beeindruckt. Er wollte gar nicht erst wissen, woher er wusste, was die Kuh träumte. Stattdessen wandte er sich dem Wiederkäuer zu. »Du heißt also Chantalle?«

»Muhh«, machte die Kuh.

Klink-Klonk

»Und… Chantalle, seit wann hast du diesen Traum?«

»Muh.«

»Ah, verstehe… Hast du denn schon einmal geübt? Ich meine das Springen?«

Die Kuh sah ihn verblüfft an. Er schien entweder alles zu glauben oder nahm sie nicht ernst. Sie beschloss, ihm lieber nicht zu antworten.

Klink-Klonk

Er konnte es selbst nicht glauben. Er redete mit einer Kuh. So tief war er gesunken? Wenn nur nicht immer diese Glocke bimmeln würde. »Eh«, versuchte er es erneut. »Könntest du vielleicht diese Glocke ausziehen? Ich meine, nur solange bis wir in Sacre angekommen sind?«

Chantalle wackelte eifrig mit dem Kopf. Das ließ die Glocke schneller und lauter bimmeln.

Klink-Klonk, Klink-Klonk

»Oh, okay«, sagte er. »War nur so eine Idee…« Er lehnte sich zurück. Versuchte, bei all dem Gerüttel und all dem Lärm, die Augen zu schließen. Jedes Wort konnte er hören, was sein Bruder und Mia mit diesem Von Ausbildung wechselten. Und er glaubte kein Einziges davon.

»Und wie sieht diese Gilde aus?«, wollte Mia wissen.

»Umwerfend«, entgegnete Von Ausbildung. »Sie ist eine unglaubliche Villa. Riesig. Und das beeindruckendste Gebäude in der ganzen Stadt. Neben dem Schloss natürlich. Sie ist…«, suchte er nach den richtigen Worten, »mein ganzer Stolz.«

»Dann muss sie wirklich bezaubernd sein«, schwärmte Mia.

»Sind wir die ersten Helden, die Sie ausbilden?«, fragte Mark.

»Nicht ganz«, entgegnete Von Ausbildung. »Die Gilde gibt es erst offiziell seit diesem Jahr. Aber es sind bereits ein paar junge Auszubildende eingetroffen. Ich werde sie euch vorstellen. «

»Sind sie nett?«, fragte Mia.

»Ihr werdet sie mögen. Seid aber nicht enttäuscht, wenn dort niemand derart ergreifend ist, wie ihr es seid.«

Tak kam einfach nicht zur Ruhe. Das Alles hörte sich für ihn so unglaubwürdig an. Aufgesetzt und irgendwie gespielt. Er würde sicher nicht allzu lange in der Gilde bleiben. Ein dumpfes »Halt!«  drang zu ihm in den Wagen vor. Abrupt hielten die Pferde mit lautem Wiehern an. Er flog nach vorne. »Was beim heiligen Flitzeboom war denn das?«, stemmte er sich auf. Er hob erneut den Stoff und spähte nach draußen.

Ein junger Mann in grünen Strumpfhosen stand vor der Kutsche. »Halt, sage ich!«, rief der Strumpfhosenträger. »Ich bin Robin Loot, Rächer der Vererbten. Retter der Witwen und nicht allzu junger Jungfrauen!«

»Was wollt Ihr?«, fragte Von Ausbildung. »Falls Ihr Geld wollt, wir haben nichts bei uns, was einen Überfall wert wäre.«

»Ich überfalle euch nicht«, sagte Robin. »Aber ich habe euch gesucht.«

»Uns gesucht?«, entfuhr es Mia.

»Ja, holde Maid. Euch und den Führer dieser Kutsche.«

»Und weshalb suchtet ihr uns?«, wollte Von Ausbildung wissen.

»Diese holde Maid, deren Glanz ich erst gewahr werde, habe ich überall gesucht. Sie ist die schönste aller Frauen. Wie könnte ich, Robin Loot, Retter der Jungfrauen, eine derartige Augenweide nicht gesucht haben?«

»Nun kommt zu Eurem eigentlichen Anliegen«, sagte Von Ausbildung. Diese Art des Daherredens kannte er nur zu gut.

»Also gut. Ihr seid der, den sie Von Ausbildung nennen, nicht wahr?«

»Das ist wohl wahr.«

»Wisst Ihr, mir kam von Eurer Gilde in Sacre zu hören.«

»Wir sind auf dem Weg dorthin, wenn Ihr uns ziehen lasst.«

»Gut«, entgegnete Robin. »Dann nehmt mich mit.«

»Euch?«, wunderte sich Von Ausbildung. »Weshalb?«

»Ich würde mich gern der Reihe der Helden anschließen. Und lernen wie man sich gegen all die erbosten Ehemänner verteidigt. Wenn Ihr versteht?«

»Eh… Ich denke, ja«, antwortete Von Ausbildung. »Dann steigt ein. Hinten ist etwas Platz frei.«

»Wollt Ihr ihn einfach so mitnehmen?«, flüsterte Mark Von Ausbildung zu. »Kennt Ihr diesen Mann etwa?«  Er schien den Neuankömmling nicht besonders leiden zu können. Und das lag nicht an den engen Strumpfhosen. Da war sich Tak sicher.

»Nein«, erwiderte sein Lehrmeister. »Wer kennt schon einen Helden, bevor er seine Heldentaten vollzogen hat? Das ist ja das Schwierige an dieser Sache. Jeder könnte ein potenzieller Held sein.«

»Auch Chantalle?«  Sein Bruder schien nicht überzeugt.

»Natürlich«, versicherte Von Ausbildung. »Nichts und niemand verbietet einer Kuh, ein Held zu werden. Außerdem soll es sogar Kühe geben, die sich für einen Hirsch oder ein Pferd halten.«

Mark wirkte noch immer wenig begeistert, aber Mia nickte eifrig.

Mit noch weniger Platz und noch weniger Ruhe ging die Fahrt weiter. Tak wunderte sich, wie viel man trotz einer Strumpfhose erzählen konnte.

Robin erzählte von Baronen und deren Töchtern. Wie er sie beraubt hatte. Von reichen Scheichen, deren Frauen sich mit Schleiern umhüllten. Und dennoch begnadete Bauchtänzerinnen waren. Viele Liebschaften hatte er in seinem kurzen Leben erlebt. Sein Traum war es, eines Tages mit einer Prinzessin oder besser einer Königin durchzubrennen.

Tak fragte sich, ob er gar nicht bemerkte, dass er ihm nicht zuhörte und einfach nur nickte?  Einfach immer nur ja sagen undnicken, dachte er.  Irgendwann muss er ja aufhören.

Weder funktionierte es, noch hörte er auf zu reden. Ganz im Gegenteil, nachdem er nach Mias Namen gefragt hatte, begann er nur noch mehr zu reden.

Neben dem Gebrabbel und dem Knattern der Räder gab es zu allem Überfluss noch immer Chantalle mit ihrer Glocke. Am liebsten wäre er aus der Kutsche gesprungen und zurück ins Dorf gerannt. Doch die dicke Kuh versperrte den Weg nach draußen.

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Sacre.

Das Königreich Sacre, war im Vergleich zu anderen Königreichen eher klein und wirkte nicht minder bescheiden. Zum größten Teil bestand es aus Feldern und kleinen Ansammlungen von Bauernhöfen. Nicht einmal wert sie als Dörfer zu bezeichnen. Im Wesentlichen bestand es aus Weizen. Nicht ohne Grund. War es doch einst der Göttin Weya, Göttin des Weizens, gewidmet worden.

Sacre, die Hauptstadt des Königreichs Sacre, war der einzige Fleck des gleichnamigen Königreiches, der deutliche Abwechslung versprach. Nicht zuletzt, weil es die einzige Stadt des gesamten Reiches war. So konnte man durchaus das Königreich mit der Stadt identifizieren und auch umgekehrt die Stadt auf das Königreich reduzieren.

Der ehemalige zentrale Platz der Göttin hatte eine Wandlung hinter sich. Jene Bürger aus alter Zeit würden ihn kaum wiedererkennen. Der Tempel der Weya wurde abgerissen und an einer anderen Stelle der Stadt wieder aufgebaut. Sein Platz im Zentrum hinter der Stadtmauer wurde anderweitig benötigt. Außerdem war er schon längst nicht mehr der einzige Tempel in der Stadt.

Sacre war zur Hauptstadt der Tempel geworden. Tempel in allen Formen und Größen. Tempel, die von einem zusammengestürzten Steinbruch bis hin zu einer gewaltigen, begehbaren Quietscheente reichten. Alles war buntgemischt. Jeder Gott und jede Gottheit hatte einen Tempel. Umgekehrt blieb die Frage allerdings offen.

Und so sah die Stadt aus. Wie ein großer bunter Flickenteppich, umgeben von goldenen Feldern. Im Zentrum befand sich das Schloss Sacre.

Jahre der Einwanderung, Entwicklung und das Erbauen riesiger Glaubenseinrichtungen, hatten die Mauern der Stadt schnell zu klein werden lassen. Einer der frühen Könige erkannte das Problem frühzeitig und reagierte rasch. Er ließ Schloss und Hof ausbauen, bis sich einzig und allein sein Schloss innerhalb der Mauern befand. Während die eigentliche Stadt wie eine zweite Schutzmauer dieses einschloss.

Beherrscht wurde dieses Spektakel seit einigen Jahren von König Athus. Ein schlichter Mann. Mit schlichten Worten. Und schlichtem Selbstwertgefühl.

Einst war er der Sohn eines Bauern gewesen. Nie wollte er König oder Herrscher werden. Doch wie es so oft im Leben geschieht, kommt es meistens anders, als man es erwartet.

Alles fing damit an, als er eines Tages einem Troll begegnet war.

Trolle sind etwa zwei Meter hohe wandelnde Schränke aus Stein. Eisernen Muskeln. Und einem IQ knapp unter null. Wer das nicht glauben kann, sollte schlichtweg einen Troll fragen, ob er etwas Kleingeld in den Hosentaschen hat. Es wird verblüffend sein, was er alles antworten wird. Dabei sei angemerkt, Trolle tragen gar keine Hosen. Das muss ihnen allerdings erst einmal jemand sagen.

Wichtig zu erwähnen sei hier ebenfalls, dass der IQ, der sogenannte Intelligenzquotient, auf Tunuss etwas anders berechnet wird, als es bei uns der Fall ist. Die Messung findet dort folgendermaßen statt: Man stellt sich hinter eine aufgezeichnete Linie, kneift sein rechtes Auge zu, hebt das linke Bein in die Luft, summt dabei die jeweilige Nationalhymne und wirft einen Stein, der so groß ist wie die eigene Faust. Dann misst man die Entfernung, die der Stein zurückgelegt hat, und dividiert dies durch das Produkt aus Masse und Körpergröße des Werfers. Die Entfernung wird dabei in Metern und die Körpermaße in Gramm und Zentimetern gemessen. Wenn man bedenkt, dass Trolle nicht multitaskingfähig sind, kann man sich gut vorstellen, wie sie den Stein versehentlich hinter sich werfen, statt nach vorn. Das erklärt den negativen IQ. Erstaunlich an dieser Messung ist, dass der so ermittelte Intelligenzquotient mit dem Unseren in den allermeisten Fällen übereinstimmt.

Aber gut. Kommen wir zurück zu König Athus. Er begegnete also eines Tages einem Troll.

Dieser Troll war nicht ganz so dumm wie seine Artgenossen. Er hatte ein Schwert als Zahnstocher verwenden wollen, bis es zwischen den steinigen Hauern stecken blieb. Wieso er nicht ganz so dumm war? Weil er wusste, wozu man einen Zahnstocher verwenden konnte. Jedenfalls steckte von da an das Schwert in seinem Mund. Es einfach herauszuziehen war nicht möglich. Viele Bürger Sacres hoben sich einen Bruch bei dem Versuch, den jammernden Troll von seiner Pein zu erlösen. Von Haus zu Haus lief er. Flehte jeden an, es wenigstens einmal zu versuchen. Doch nichts und niemand konnte ihm helfen. Tagsüber lief er stöhnend durch die Straßen, nachts lungerte er vor Schmerz sich krümmend in den Gassen. Die Bürger, welche er um den Schlaf und um den Verstand gebracht hatte, waren bereit, alles zu geben, nur damit er endlich aufhörte zu jammern. Viele Tage und Nächte dauerte das Schauspiel an. Mit unzähligen Fehlversuchen und Hexenschüssen. Bis an einem warmen Tag, in der heißen Jahreszeit, die man auf Tunuss Hitze nannte, der junge Athus in die Stadt kam. Wollte er doch bloß die Gurken seines Vaters auf dem Markt loswerden, sprach der Troll den Neuankömmling abrupt an. Er gab nicht eher Frieden, bis der schmächtige junge Mann es schließlich versuchte. Und siehe da, er zog die Klinge ohne große Mühe heraus. Als er als Einziger das Schwert aus dem Troll gezogen hatte, wurde er von der dankbaren und gequälten Bevölkerung als Auserwählter aller Götter angesehen und musste zum König gekrönt werden. Da gab es keine Widerworte und nichts, was dagegen sprach. Es war DAS Zeichen gewesen. Für ihn war es eher ein Versehen als eine Vorhersehung. Wenn er doch bloß an dem Troll vorbeigegangen wäre…

Nunja. Nun war er der König. Und mit der Zeit gewöhnte man sich an so vieles. Was heißt, dass er seine neue Stellung, auch wenn er sie nicht beherrschte, dennoch zu akzeptieren lernte.

Wäre das Volk nicht von Vorhersehung geblendet gewesen, so hätte es eingesehen, dass es schon fähigere Herrscher als Athus in Sacre gegeben hatte. Konnte er sich doch nicht einmal am Morgen für eine seiner Hosen entscheiden. Ganz abgesehen von dem Umschlag, den er zuerst öffnen sollte.

Doch wozu gab es schließlich Berater.

Die Meisten verließen Sacre völlig entnervt nach nur wenigen Tagen in ihrem Amt. Es konnte ziemlich entmutigend sein seinem König jeden Tag aufs Neue sagen zu müssen, was er zu tun und was zu lassen hatte. Und Hosen waren da das geringste Problem.

Sein neuester Berater war Karl. Er hatte bereits eine Woche mit ihm ausgehalten und gewann dafür sein vollstes Vertrauen. Er durfte ihm selbst im Dunkeln die schrillste Hose aus dem Schrank reichen. Seine Untertanen waren anderer Meinung. Also zumindest, was seinen Berater betraf. Dazu trug sicherlich das sehr kantige Gesicht, die pechschwarzen Haare, der spitze Ziegenbart und die fiesen Koteletten seines Beraters bei. Es waren wahrhaft fiese Koteletten. In sich gedreht und verfettete Bartstummel.

»Nun, mein guter Karl«, begann Athus die stündliche Beratungsstunde.

Karl schluckte schwer bei diesen Worten.

»Was gedenkt Ihr? Sollte ich den Bau eines Tempels zu Ehren des Gottes Bruch gestatten?«

Bruch war der Gott des zerbrochenen Glases sowie alles Zerbrochenes. Wann immer einem jungen Gläubigen ein Stück Porzellan aus der Hand fiel, musste er beide Hände gen Himmel richten und rufen: »Oh, nein! Schon wieder ist mir etwas zu Bruch gegangen!«, um Bruch lauthals zu preisen. Bruch war der Gott, dem die Bürger Sacres den eingestürzten Steinbruch geweiht hatten. Ob es Zufall oder Absicht war, dass die Stätte müder Bergbauern einstürzte, blieb offen.

»Mein Gebieter«,  entgegnete sein Berater. »Ich denke, Ihr sssolltet diessser Bitte nachgehen. Denkt nur an die neuen SSSteuern, die sssich darausss ergeben.« Karl sprach wie eine Schlange. Immer wieder zischten und schnappten seine Worte vor wie eine Natter. Auf Dauer konnte es abstoßender wirken als seine Koteletten.

»Ja, Ihr habt wohl recht. Ich werde darüber nachdenken.« Athus erhob sich von seinem Thron und näherte sich Karl. »Karl, mein Bester…«

Sein Berater schüttelte sich. Er mochte es überhaupt nicht so genannt zu werden.

»…habt Ihr gehört? Es gab zwei weitere Todesfälle in meiner Stadt.«

»Nein, Herr.«  Karls Augen funkelten. »Ich habe heute noch keinem der Herolde zzzugehört, mein Herr. Wen hat esss diesssmal erlegt?«

»Diesmal war es ein Diener der Göttin Weya. Einer der Mönche aus dem Tempel. Und einen jungen Mann aus dieser neuen Gilde«, gab Athus die Information seines eigenen Herolds wieder. »Wie hieß sie gleich? Heldengilde oder so. Jedenfalls fanden sich bei beiden Opfern merkwürdige Stichwunden. Was sagt Ihr dazu, Karlchen?«

Der Berater rollte die Augen, ehe er antwortete: »Eine sssehr interessssssante Gilde, mein Herr.«

»Ohja, zweifelsohne«, winkte Athus ab. »Aber ich meine, wer würde so etwas Grausames tun?«

»Herr, lasssssst dasss die SSSorge Eurer Wachen sssein«, beruhigte ihn sein Berater. »Ihr müsssssst Euch wichtigeren Dingen zzzuwenden.«

Athus setzte sich wieder auf seinen Thron. »Fürwahr«, sprach er nach einiger Zeit. »Ihr habt recht. Und sicherlich wollt Ihr mir beruhigend sagen, dass man hinter diesen Mauern sicher ist, nicht wahr?«

Karl, der eigentlich der böse Karl hieß und heimtückischer sein konnte als ein Teller voller Linsensuppe, faltete die Hände zusammen und zischte: »Dasss könnte man ssso denken, Herr.«

Doch Athus gab sich damit nicht zur Ruhe. »Und was, wenn Ihr im Unrecht seid?«, fragte er. »Es geht mir auch um die Sicherheit meines Volkes. Und als ihr König bin ich doch genötigt bei solchen Vorfällen zu handeln, nicht wahr?«

»Und woran denkt Ihr, Herr?«

Athus dachte kurz nach. »Kennt Ihr das ehemalige wache Auge unserer Stadt?«

»Meint Ihr einen gewissssssen Kolomb?«

»In der Tat, Karl.«

»Ich habe bereitsss von ihm gehört. Er sssoll sssehr trinkfessst sssein und rauchen wie kein ZZZweiter.«

»Ja«, entgegnete der König. »Jetzt wo ich darüber nachdenke, scheint er wie geschaffen für diesen Job, nicht wahr?«

»Herr?«

»Es gibt da nur ein kleines Problem.«

»Ihr meint ssseinen ssselbsssternannten Ruhessstand?«

»Genau. Er ist nicht mehr ganz der Alte, wisst Ihr? Ich fürchte, wir werden ihn nur schwerlich überzeugen können. Sofern es uns überhaupt gelingen mag.«

»Vielleicht«, zischte der böse Karl. »Aber vielleicht auch nicht, Herr.« Karl schien nachzudenken. Er zog dabei an seinem Bart. Es sah aus, als würde er ihn melken. Was, wenn er wirklich nicht sicher war? Wenn der Mörder auch im Schloss sein Unwesen trieb? »Wasss genau wissst Ihr über ihn, Herr?«, fragte er schließlich.

Seit Menschengedenken gab es schon immer von allem Zwei. Der eine mit dem anderen oder häufiger der eine gegen den anderen. Wie links und rechts. Glück und Pech. Kalt und warm. Liebe und Hass. Obsthändler und Apfeldieb. Oder Kantinenessen und gesunde geschmacksbetonte Ernährung.

Auch Ordnung und Chaos waren zwei erbitterte Rivalen. So sollte man meinen.

Mal herrschte Ordnung. Mal Chaos. Ständig wechselten sie einander ab. Wie lang die Herrschaft des jeweils Einzelnen war, stand nicht fest. Aber der Wechsel - wenn denn auch in unbestimmter Zeit - war mehr als sicher. Denn ohne Chaos gab es keine Ordnung und ohne Ordnung kein Chaos. Das eine konnte nie vollends über das andere existieren, wenn es weiterhin selbst existieren wollte. Manche behaupten, es gäbe ein Miteinander, die Ordnung im Chaos. Sie nennen es das strukturierte, durchdachte Chaos. Man könne dann in den Unmengen zufälliger Anordnungen gewisser Dinge eine Art Gesetzmäßigkeit erkennen. So gäbe es ungeordnete Ballungen oder Anhäufungen die untereinander in einer Ordnung stehen, selbst aber vom Chaos beherrscht werden. Nun, ob es dies gab oder nicht und in welchen konkreten Bereichen des Lebens und Irdischen es zutreffen mag, sei einmal dahingestellt. Der Schreibtisch von Feldwebel Kolomb offenbarte da ohnehin eine ganz andere Sicht der Dinge. Mit viel Wohlwollen hätte man es vielleicht noch als chaotische Ordnung bezeichnen können, was dort zwischen all den Papieren herrschte.

Man stelle sich einen Tisch mit hohen, aber fein säuberlich strukturierten Papierstapeln vor, die ordentlich aneinandergereiht und gleichmäßig bis knapp unter die Decke gestapelt wurden. Nun stelle man sich vor, wie der Schreibtisch aussehen würde, wenn man zwei Elefanten und eine Maus für etwa eine Woche in den schon für einen Elefanten zu kleinen Raum gesperrt hätte. Und nun stelle man sich noch vor, dass das gesamte Zimmer zu eben diesem Schreibtisch geworden sei. Genau das schien hier der Fall zu sein. Die Unordnung hatte ein eigenes Bewusstsein entwickelt, hatte kurzerhand beschlossen, den Tisch auf das gesamte Zimmer auszudehnen. Nur die Tür und das geschlossene Fenster retteten den Rest von Tunuss vor einer chaotisch strukturierten Überflutung. Dazu kam ein leicht beißender Geruch, als habe man eines der Tiere vor einem guten Jahr in dem geschlossen Raum zurückgelassen. Und es war nicht die Maus. Auch Licht schien den trüben Raum zu meiden. Ein schmaler Sonnenstrahl glitt durch das Fenster herein. Warf ein wenig seines Glanzes auf ein Geweih, welches an der Wand hing und unter all den Papieren hervorragte.

Unter all den weißen und nichtweißen - vielleicht ehemals weißen - Papieren befand sich der Schöpfer dieses einzigartigen Phänomens. Feldwebel Kolomb. Besser gesagt, das, was noch von ihm übrig war.

Er schlief auf einem Stuhl, der mit dem Schreibtisch irgendwann einmal in das Zimmer gestellt worden war. Wahrscheinlich mit bester Absicht und schön ordentlich in einem rechten Winkel zum Schreibtisch. Ordnung war einst das große A und O in der Wache.

Aber wie konnte es zu so etwas kommen? Wie konnte ein Mensch derart tief sinken? Nunja, es gab mehrere Gründe. Zumindest für Kolomb.

Natürlich hätte er all die Briefe, Beschwerden, Anfragen und Aufträge lesen können. Anschließend sortieren oder entsorgen. Ausführen oder ablehnen können. Doch hatte Kolomb eines gelernt. Die wirklich wichtigen Schriften, jene die er bearbeiten musste, fielen nach einiger Zeit von allein in seine Hände. Und wenn sie in einem Umschlag gehüllt waren, so öffnete sich dieser auch von allein.

In der Tat fiel ihm eines Morgens ein rosa Schreiben in den Schoß. Die auffällige Farbe und der Geruch, der vom Papier ausging - der zu der Zeit bereits im völligen Kontrast zu dem Geruch stand, der von ihm ausging - machten ihn doch so neugierig, dass er ihn versehentlich las. Er war von seiner Nachbarin, der etwas älteren Hannelore, wie er unschwer an der Anrede  Meingeliebter Charles  erkannte. Sie bat darin, um Beihilfe, ihren mühselig gebackenen Käsekuchen aufzuessen. Sie erwartete daher einen hilfsbereiten attraktiven Mann mittlerer Reife am selbigen Abend vor seiner Haustür. Ja, sie hatte geschrieben vor seiner Türe. Nicht bloß vor Ihrer. Nein. Nicht einmal zu Hause war er vor ihr sicher. Sie war mehr als aufdringlich. Und das von Natur aus.

Die alte Hannelore war nicht hässlich. Also nicht viel hässlicher als die Ganoven, mit denen er es in seiner Vergangenheit zu tun hatte. Aber attraktiv war sie bei Weitem nicht. Wäre sie ein Tier, so sagte er immer, dann wäre sie etwas wie eine Breitarschantilope. Erscheinung und Bartwuchs kamen dem recht nahe. Der signifikante Unterschied war, dass man selbst die Flucht ergreifen musste, wenn man ihr begegnete und nicht wie gewohnt, die Antilope schreckhaft davonsprang. Springen konnte sie vermutlich noch nie. Es sei denn, man nannte es einen Sprung, wenn man aufgrund des Eigengewichts nicht mehr als ein oder zwei Millimeter den Boden verlassen konnte.

Und so bewahrte ihn das Schicksal - er nannte es die Macht der Briefe - vor einer weiteren Tragödie, indem er kurzer Hand beschloss, seinen Job auf vierundzwanzig Stunden auszudehnen. Schließlich musste man für das nächste wichtige Schreiben stets bereit sein.

Was die Hygiene anbelangte. Das war eine Tätigkeit, der man nur schwerlich während der Arbeitszeit nachgehen konnte.

Wann hatte dieses Dahinvegetieren begonnen? Es begann alles nach einer Nacht. Er nannte sie  jene Nacht