Kipp, Schütt, Schüttel - Marcel Schmickerath - E-Book

Kipp, Schütt, Schüttel E-Book

Marcel Schmickerath

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Beschreibung

Schussel hat sein Leben nach dem Verlust seines Vaters den Lehren der Alchemie gewidmet. Der junge Lehrling, der allein bei seiner Großmutter im Armutsviertel von Drako lebt, hat nicht nur einen Lehrmeister, sondern gleich drei. Die drei großen Alchemisten aus Drako. Seine Lehrmeister sind mit den Jahren jedoch nicht nur alt geworden, sondern auch eigen. Doch als ein völlig neuer Alchemist in die Stadt zieht, ändert sich plötzlich alles. Eine vollkommen neue Forschung und ein neues Heilmittel lässt die Stadt der Wissenschaft neu erblühen. Lang lebe die Alchemie! In dieser humoristischen Fantasy brauen die Alchemisten von Drako etwas zusammen, dass die Welt von Tunuss für immer verändern könnte.

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Prolog
Arcanum Adeptum
Das Wesen das nicht denkt
Der Stein der rollen muss
Die ewige Leere
Epilog

Kipp, Schütt, Schüttel

Von Marcel Schmickerath

Buchbeschreibung:

Schussel hat sein Leben nach dem Verlust seines Vaters den Lehren der Alchemie gewidmet. Der junge Lehrling, der allein bei seiner Großmutter im Armutsviertel von Drako lebt, hat nicht nur einen Lehrmeister, sondern gleich drei. Die drei großen Alchemisten aus Drako. Seine Lehrmeister sind mit den Jahren jedoch nicht nur alt geworden, sondern auch eigen. Doch als ein völlig neuer Alchemist in die Stadt zieht, ändert sich plötzlich alles. Eine vollkommen neue Forschung und ein neues Heilmittel lässt die Stadt der Wissenschaft neu erblühen. Lang lebe die Alchemie!

Über den Autor:

Marcel Schmickerath, geboren 1988 in Düren, studierte Mathematik und Informatik an der RWTH Aachen. 2014 erschien sein erster Roman "Die Häldengilde" im Laufe seines Studiums. 2021 erschien sein Roman "Zahlen der Magie", in dem die Welt der Zahlen mit der Fantasywelt - genannt Tunuss - verschmolz.

Obwohl man annehmen könnte, sein Hintergrund sei "trocken" und "theoretisch", erschafft Marcel Schmickerath in seinen Büchern außergewöhnliche Charaktere, die in einer fantasievollen und humorvollen Welt leben. Die Reihe "Die Reisen des Phil", basieren auf Theologie, Mythologie und Dämonologie.

Kipp, Schütt, Schüttel

Von Marcel Schmickerath

Marcel Schmickerath

Im Jagdfeld 17

52353 Düren

[email protected]

www.tunuss-fantasy.de

4. Auflage, 2023

© 2022 Alle Rechte vorbehalten.

Marcel Schmickerath

Im Jagdfeld 17

52353 Düren

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Coverart by Insta: @Schmipsy

[email protected]

www.tunuss-fantasy.de

ISBN: 9783754966464

Prolog

Es begann mit einer Suche. Einer Suche nach etwas, das nicht fehlte oder vermisst wurde. Und doch suchte man danach. Alle Ecken und Winkel wurden durchstöbert, Bücher umhergewälzt, hochgehoben und weggelegt. Dinge wurden entdeckt, die darunter unbemerkt verschwunden waren. Manche Suchen sind kurz, andere Suchen sind lang und manche Suchen sind ewig. Nur vergebens, das sind die wenigsten unter ihnen. Am Ende war es nur in eine der Seitentaschen gerutscht.

Allegro zog eine Wurzel aus der Tasche.

Die Wurzel verschwand in einem Behälter voller blubbernder Flüssigkeit, die das Stück Natur bei Kontakt augenblicklich zersetzte. Den aufsteigenden Qualm fing er geschwind in einem Kolben auf und schraubte ihn ans untere Ende einer Apparatur auf seinem Schreibtisch fest. Der weiße Qualm stieg durch verwinkelte und ineinandergeschlungene Röhrchen auf und ab, drehte sich um die eigene Achse und kondensierte zu einem Tropfen, der am Ende der Apparatur in ein Reagenzglas perlte.

Den Blick starr auf die gewonnene Flüssigkeit gerichtet, vernahm er eine ihm nur allzu bekannte krächzende Stimme.

„Mehr rumms! Mehr rumms!“, rief Piero von seiner Stange. Piero hatte er für seine einsamen Stunden als Alchemist erschaffen. Der rote Papagei war eine Kreuzung aus einem Kakadu und dem legendären Phönix. Alchemie eröffnete ungeahnte Möglichkeiten. Obschon der legendäre Feuervogel ein magisches Wesen war. Magie galt unter den Alchemisten von Drako als verpönt. Dennoch war es praktisch, einen Vogel zu besitzen, der nach einer Explosion, was hin und wieder vorkam, wenn man wissensdurstig mit allerlei Materialien experimentierte und sie scheinbar willkürlich zusammenmischte, wie Phönix aus der Asche auferstand.

Viele seiner Kollegen in der Stadt beneideten ihn für seine Kreationen. Neben dem alten Franko gehörte Allegro zu dem alten Eisen der Alchemie. Er wusste, wie man an verbotene Reagenzien herankam und wie man die Feder eines Phönix nutzte, um eine Kreuzung wie Piero zu erschaffen.

„Mehr Rumms! Mehr Rumms!“, wiederholte Piero.

„Hier wird nicht gerummst“, lehnte der alte Mann ab. Manchmal fragte sich Allegro, ob das ständige Auferstehen zu einer Art Sucht führte. „Du hattest genug Rumms für diese Woche.“

Auf einem der Regale stand eine Flasche mit einer gelben Etikette. Behutsam nahm er sie hervor und öffnete sie.

Dieses Mal musste es funktionieren. Es stand nichts weniger als alles auf dem Spiel.

Sämtliche Alchemisten des Königreich Dego wurden aufgerufen an der Lösung für das hoheitliche Problem zu forschen. Und es war nicht bloß die Guillotine auf Schloss Drachenzahn, die die Motivation weiter anheizte. Der Appell richtete sich auch an die Magier der magischen Universität. Unter keinen Umständen durften die Magier die Lösung aller Lösungen zuerst finden. Dieses Privileg gebührte einzig und allein den Alchemisten.

Allegro schüttete ein wenig der Flüssigkeit in das Reagenzglas. Sorgfältig versuchte er, die gelbe Flüssigkeit zu unterführen, ohne dass sie sich mit der zuvor gewonnenen vermischte.

„Rumms! Rumms!“, krächzte Piero.

Er konzentrierte sich. Eine falsche Bewegung und…

Die Tür flog auf, jemand trat herein. Er schlürfte ein wenig gebückt über den Boden, grüßte knapp und warf dann seine Jacke über einen der Haken an der Wand. Es geschah derart schnell, dass die Reagenzien auf dem Regal wackelten.

„Vorsicht“, mahnte Allegro seinen Lehrling. „Wie oft muss ich dir das noch sagen?“

„Rumms“, freute sich Piero, verdeckte eines seiner Augen mit einem Flügel und starrte mit dem anderen Auge auf die schwankenden Gläser.

„Entschuldigung“, entgegnete Schussel schwach. Er zog etwas aus seiner Tasche hervor. „Ich habe Hippochondus die Salbe gebracht.“ Er legte ein paar Münzen vor sich auf den Tisch. Die Flüssigkeit in den Händen seines Meisters begann hin und her zu schwappen, als er ihn dabei versehentlich anrempelte.

„Danke“, entfuhr es dem alten Mann, nachdem er kräftig in die Backen geblasen hatte, sein Augenmerk starr auf seiner Mixtur verharrt.

„Für ein Skelett sah sein Ausschlag ziemlich ernst aus.“ Eine der Münzen setzte sich in Bewegung. Der Junge versuchte, danach zu greifen, rempelte dabei erneut seinen Meister an.

„Rumms!“, krächzte Piero aus der Tiefe seiner Kehle. „Rumms!“

Die Münze kullerte auf den Dielen entlang, bis sich Schussel mit ganzem Einsatz entgegenwarf und sie so zwischen seinen Händen stoppte. Der Verkauf von Medizin und anderen Erzeugnissen war für seinen Meister und damit auch für ihn überlebenswichtig. Sie verdienten so nicht nur ihren Unterhalt, sondern konnten auch neue Reagenzien nachordern. Manchmal mussten alte Materialien nachgeordert oder besorgt werden, aber das hatte andere Gründe als reine Forschung.

Piero verbarg seinen Schnabel unter einem der Flügel. „Rumms“, nuschelte er in sein Federkleid.

Die Gläser auf dem Regal setzten sich in Bewegung. Sie beschlossen zunächst den Gesetzen der Physik Folge zu leisten, ehe sie gefallen an Chemie oder Alchemie fanden.

Schussel versuchte, ein paar der Gläser aufzufangen. Die meisten zerschellten am Boden. In seinem Elan stieß er erneut seinen Meister an, der es dieses Mal nicht kommen sah und ins Straucheln geriet. Die gelbe Flüssigkeit schwappte in großen Wellen in das Reagenzglas und darüber hinaus.

Was dann geschah, lässt sich auf der Ebene der Atome am besten veranschaulichen.

Die dicken blauen Atome mit einem auffälligen pinken Irokesenschnitt aus dem Behälter mit dem gelben Etikett warfen einen Blick voraus in das Reagenzglas unter ihnen, in dem verschiedene Atome einen Walzer tanzten.

„Da laus mich doch ein Proton.“ Eines der dicken Atome nickte nach unten zu den Tanzenden. „Sieh dir diese Flaschenkinder an, Oxid. Als haben sie einen Stock im A…“ Er unterbrach, als eine Naturgewalt ihn, seinen Freund Per und alle übrigen Oxide in Bewegung versetzte. „Ahh!“, hörte er seinen Freund schreien, dann riss die Strömung die beiden mit sich. Oxid versuchte, nach seinem Freund zu greifen, doch ihr Weg trennte sich, riss ihn in eine andere Richtung hinfort. Wenige Augenblicke später krachte er in ein Paar aus tanzenden Atomen.

„Es geziemt sich, sich für ein derart grobes Verhalten zu entschuldigen, der Herr“, tadelte ihn der Tänzer im Neutronenanzug. Er zog seine Begleitung näher an sich heran. Eine junge hübsche Atomin mit einem funkelnden Abendkleid aus Elektronen. „Ach“, seufzte er. „Meine Perle, was für ein herrlicher Ball, nicht wahr?“

Perle warf dem Neuankömmling einen neugierigen Blick zu. Er glaubte, ein Zwinkern darin gesehen zu haben.

Oxid schwoll die Brust an, stieß den Schnösel, der sein klägliches Dasein in einem Anzug aus Neutronen zu verschleiern versuchte, zur Seite und griff nach der hübschen Perle.

Ihre Protonen und Elektronen verfingen sich ineinander.

Der Anzugträger versuchte Oxid von seiner Geliebten wegzuzerren, doch es gelang ihm nicht. Sie fanden einander zu anziehend. Er krempelte die Ärmel hoch und schlug Oxid ins Gesicht, dass er ein Elektron daraus verlor.

Ein Raunen fuhr durch die Menge. Alle sahen zu ihnen. Oxid, mit einer Hand Perle fest umschlungen, schlug zurück.

Es brach eine Prügelei zwischen den Tänzern und den dicken Blauen aus, der den Ball zu einem schnellen Ende kommen ließ.

Die Musik setzte aus, da auch die Musiker miteinstiegen. Ebenso die Blauen, welche zuvor am Ball vorbeigeschlittert waren. Sie stiegen aus ihrer Versenkung empor und griffen eifrig mit in das Getümmel ein. Elektronen flogen umher, verfingen sich in den Röcken der Tänzerinnen, deren Wut über die Verschandelung ihrer Abendgarderobe ihre Gesichter rot färbten. Mit ihnen erhitzte sich die Stimmung im Saal maßgeblich. Die Anzugträger traten von ihren Begleitungen zurück und hielten sich die Ohren bedeckt. Und dann passierte es. Der Saal platzte auseinander, Kleider und Atome rissen entzwei. Alles verschwand in einem lauten Knall aus gleißendem Licht.

Als sich der Rauch legte, fand sich der Tänzer auf einem harten Untergrund wieder. Überall lagen seine Freunde. Nur Perle, Perle war verschwunden.

„Oxid? Bist du das Oxid?“ Per glaubte, einen Teil seines Freundes vor sich zu sehen. „Du siehst ein wenig bedrückt aus.“

„Ach“, winkte sein Freund ab. „Das Leben kann so kompliziert sein. Erst lernst du wen kennen, den du attraktiv findest, dann nimmst du für sie ab und am Ende beleidigt sie dich als Wasserkopf und fliegt dann einfach davon.“

Arcanum Adeptum

Drako, die Stadt des grenzenlosen Wissens. Hier traf das grenzenlose Wissen des Einzelnen auf das grenzenlose Wissen der Übrigen. Wer keine Deckung besaß oder dem Wissen des Anderen nicht ausweichen konnte, der teilte selbst aus. Andernfalls konnte er zufrieden sein, wenn er mit einem blauen Auge davonkam. Grenzenloses Wissen war nicht immer rosig, es war grenzenlos. Derart grenzenlos, dass es über die Grenzen der Natur und allen bekannten Gesetzen hinausging. Sich in der Hauptstadt des Königreiches Dego mit der Wissenschaft zu befassen, war kein leichtes Unterfangen. Man wälzte sich durch Literatur, biss sich durch Absätze und Formeln und trainierte die Muskeln seines Verstandes, um es mit den Muskeln der Anderen aufzunehmen. Manche trainierten ihre Stimmbänder, um Dispute schneller zu einem Ende zu führen, andere hingegen studierten an der magischen Universität die Magie. Und dann gab es da die Alchemisten, die für einen Außenstehenden scheinbar wahllos Flüssigkeiten zusammenmischten und glaubten, so neue Erkenntnisse zu gewinnen. Doch genau das Gleiche dachte ein Alchemist über die Magie und die Magier der Universität. Sie mischten keine wahllosen Flüssigkeiten, wohl aber wahllose Zahlen und das, was sie als Magie bezeichneten. Dabei existierte für einen Alchemisten die Magie als solche überhaupt nicht. Oder besser gesagt, Magie war etwas, das man nicht erklären konnte. Und was man nicht erklären konnte, das existierte nicht.

Die Stadt Drako war gezeichnet von diversen Straßen und ihrer Liebe zur geschwungenen und verzierten Architektur. Es gab viele Gargoyles, die auf den Dächern saßen und die Passanten beobachteten. Je mehr man sich vom Zentrum der Stadt entfernte, desto weniger Gargoyles traf man an. Es gab dort weniger zu lachen, sagten sie. Auch die Bauwerke wurden kleiner, bescheidener. Besonders in dem Viertel, wo sich ein junger Mann in einem kleinen Häuschen den Lehren der Alchemie verschrieben hatte. Er war bereit, den Kampf in und um die Wissenschaft auf sich zu nehmen. Auch wenn er nicht so aussah und auch nicht darüber nachdachte.

Schussel saß mit einem verrußten Gesicht am Tisch und stocherte in einer Schüssel herum.

Er mochte die Gemüsesuppe seiner Großmutter, sehr sogar. Jedoch nicht alles davon. Vor allem die Brühe gelang ihr hervorragend. Nur das Gemüse, das Gemüse hätte man weglassen können. Eine Gemüsesuppe ohne Gemüse, das war eine Suppe. Und gegen Suppen hatte er nichts einzuwenden.

„Du bist heute aber früh daheim.“ Großmutter Gerda stellte einen großen Bottich auf den Tisch. Sie kochte immer für zehn, auch wenn die beiden alleine wohnten. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde sie das nicht nur vergessen wollen, sondern tatsächlich vergessen.

Abwesend trennte er mit einem hölzernen Löffel die Zutaten der Gemüsesuppe voneinander. Den Blumenkohl schob er auf den linken Rand seiner Schüssel, den Sellerie nach rechts. Die Möhren blieben in der Mitte. Möhren waren es gestattet, in der Brühe zu baden. Denn Möhren schmeckten ganz akzeptabel.

„Hast du wieder was angestellt?“

Schlimmer als der Sellerie war der Porree. Es war fast schon anmaßend, wie die schmierigen Fäden in der Suppe herumschwammen und sich an die übrigen Zutaten hefteten. Es war fast unmöglich ihn von den übrigen Bestandteilen zu lösen und selbst dann, dann war er noch immer so widerborstig und blieb nicht am Rand der Schüssel haften, sondern am Löffel. Die klebrigen Fäden musste er teilweise über den Rand hinauslegen, um sie dann daran zu verkleben.

Großmutter stellte eine zweite Schüssel neben seine. „Du versaust den ganzen Tisch“, sagte sie. „Gib mir, was du nicht magst. Es ist zu Schade immer alles wegzuwerfen.“

Es ploppte, als der Blumenkohl in ihre Suppe fiel. Auch der Sellerie fand sein Ziel. Nichts war vergebens. Nur den Porree, den Porree ließ er am Rand kleben. Das hatte er verdient.

Sie nahm mit dem Löffel den Porree von seinem Rand. „Sagst du mir, was du angestellt hast?“

„Das Übliche“, sagte er knapp.

Großmutter nickte. „Das ganze Labor?“

„Ja“, sagte Schussel knapp und schlurfte von der Brühe.

„Wann sollst du wieder kommen?“ Großmutter gehörte zu den Großmüttern, die im Gesicht ihres Enkels lesen konnten, um gleich ein oder zwei Fragen zu überspringen.

„Ich soll die nächsten Tage zu Fernando.“ Wenn die Möhren weich gekocht waren, dann konnte man sie ganz leicht mit dem Löffel teilen.

„Wird nicht dein Schaden sein. Fernando ist ein sehr begabter Alchemist.“

„Ja, Großmutter.“ Leider gehörte Großmutter auch zu den Großmüttern, die nicht im Gesicht ihres Enkels lesen konnten, wann es Zeit war, die eigene Suppe auszulöffeln. Stattdessen sagte sie: „Ich habe dein Zimmer aufgeräumt.“

Ein Stück Fleisch verbarg sich unter einer der Möhren. Behutsam nahm er es auf und kaute darauf. Es war zart und voller Brühe.

„Du gehst bald auf die Dreißig zu.“, streute Großmutter Salz in die Wunden. „Findest du nicht, es wird Zeit, die Mobile wegzulegen?“

„Ich bin vor ein paar Wochen erst einundzwanzig geworden, Großmutter.“

„Das meine ich ja. Bis zur Dreißig ist es nicht mehr lange.“

Schussel seufzte. „Es sind keine Mobile.“

„Was sind es dann? Sie drehen sich und klimpern. Das sind für mich Mobile. Dein Vater hat damals mit kleinen Kutschen aus Holz gespielt, die dein Großvater ihm geschnitzt hatte. Irgendwo müssen die noch rumliegen. Ich sehe morgen mal im Keller nach.“

„Es sind Modelle.“ Er versuchte die Bemerkung über Vater zu ignorieren, doch der Gedanke blieb in der Luft wie Dampf, der aus einem blubbernden Kolben aufstieg. Nur war dieser Kolben Großmutter. Und sie blubberte nicht. Jedenfalls nicht wie eine Flüssigkeit. Vermutlich vertrug sie die Mischung aus Blumenkohl und Sellerie nicht. So etwas konnte nicht gesund sein. Oder es war doch der Porree. Porree konnte sehr gefährlich sein. Denkbar, dass der Verzehr von zu viel Porree ins Nigredo führte. Er beschloss, Fernando danach zu fragen und machte sich innerlich eine Notiz dazu. Geistesabwesend stieß er die Schüssel um. Die Brühe floss über den Tisch.

Als hätte Großmutter es geahnt, sprang sie auf, griff nach einem der Lappen in der Küche und wischte damit über den Tisch. Sie wollte etwas sagen, doch Schussel winkte ab. Er zog es vor, einfach stumm auf sein Zimmer zu gehen.

Eines der Fenster stand offen. Er bemerkte einen kühlen Luftzug, während er seine Zimmertüre hinter sich schloss.

Die Dielen fühlten sich genau so kalt unter seinen Sohlen an, wie der Rest seines Zimmers. Noch dazu roch es feucht. So sollte ein Zimmer nicht riechen.

Es war in Ordnung, wenn sich Großmutter um ihn sorgte. Sie war alles, was ihm geblieben war. Doch manchmal, manchmal würde er gerne nach Hause kommen und sein Zimmer so vorfinden, wie er es verlassen hatte. Auch, wenn Großmutter es unordentlich nannte.

Er schloss das Fenster, um nicht zu erfrieren. Auch wenn das nicht half, den Geruch aus seinem Zimmer zu locken.

Nino lugte unter seinem Felsen hervor. Aufmerksam beobachtete die kleine Echse, wie sein Herrchen den Stuhl vor dem Schreibtisch zurechtrückte und darauf Platz nahm. Er schien etwas zu suchen.

Allein der Schreibtisch wirkte ungemütlich. Irgendwie riesig. So riesig, dass er nichts darauf wiederfand. Nicht einmal seine Schreibfeder. Schließlich entdeckte er das Tintenfass. Die Feder lag ordentlich und sauber dahinter. Großmutter war immer gründlich. Wenn man dachte, etwas sei verloren, tauchte es plötzlich an irgendeiner Stelle wieder auf. Großmutter nannte das Ordnung. Er widersprach ihr nicht. Doch Ordnung war etwas, in dem man alles und zu jeder Zeit wiederfand. Es musste praktisch, strukturiert und griffbereit sein. Schreibpapier etwa. Wieso lag es hinter den Kolben und nicht direkt mitten auf dem Tisch, wo es benutzte wurde?

Nino zuckte zusammen, als einer der Glaskolben vom Tisch fiel. Die rosa Flüssigkeit rannte zwischen den Rillen im Boden entlang.

Es war wichtig, seine Gedanken zu notieren. Allegro nannte es wissenschaftliches Arbeiten. Beobachten, Hypothese aufstellen, beobachten, Ergebnisse notieren. Manchmal auch die Bestätigung der Hypothese notieren. Oder die Hypothese verwerfen und von vorne beginnen. Es passierte auch, dass eine verworfene Hypothese doch richtig war. Daher war ordentliches Notieren, der erste Schritt in den Weiten der Alchemie. Und dazu gehörte das Ordnen der notwendigen Utensilien. Strukturiert nach Gebrauch und Effizienz. Bei Gelegenheit würde er das Großmutter noch einmal erklären. Irgendwann musste sie das verstehen.

Auf dem Papier erschienen die Worte Porree und Nigredo. Er schrieb sie dicht aneinander, setzte dahinter ein Fragezeichen.

„Ist was passiert?“ Großmutter stand wie aus dem Nichts plötzlich hinter ihm, völlig außer Atem. Die schmalen und steilen Stufen fielen ihr mit jedem Tag schwerer, dennoch nahm sie stets die Strapazen auf sich, um nach ihrem Enkel zu sehen. Es war nicht selten, dass etwas zu Bruch ging. Vor allem immer dann, wenn Scherben schepperten, schlug ihr Herz höher. Für Großmutter grenzte es an ein Wunder, warum sich ihr Enkel nicht bei seinen Missgeschicken verletzte. Für sie war das ein Zeichen von Bruch, Herr über alles, was zu Bruch gegangen war. Großmutter war sehr religiös. Sie wusste, wenn es einen Herrn über alles Zerbrochene gab, dann musste er ihren Enkel für all seine Opfergaben innig lieben.

„Mach ich gleich weg.“ Sein Blick verließ bei diesen Worten das Stück Papier nicht. Wie angewurzelt blieb er gekrümmt über den kleinen Tisch gebeugt, die Gedanken tief versunken in den Weiten der Alchemie.

Eine Hand fuhr über seinen Rücken. „Du sollst doch grade sitzen“, sprach Großmutter. „Dein Buckel wird noch größer als meiner.“ Sie zog die Brille zurecht. „Bist du wieder am Malen?“

„Ich notiere“, protestierte der Junge. „Malen tue ich schon lange nicht mehr.“

„Porree“, entzifferte sie. Dann weiteten sich ihre Augen. Sie lächelte. „Soll ich dir morgen wieder Porree machen?“

Schussel überlegte kurz. Er entschloss sich, zu nicken.

„Du solltest Nino füttern.“ Der Feuersalamander hob erwartungsvoll den Kopf, als er seinen Namen hörte.

„Gleich“, winkte Schussel ab.

„Du weißt, ich kann das mit den Grillen nicht. Die haben so lange Beinchen.“

Nino ließ den Kopf wieder hängen. Im Laufe seines Lebens im Glas hatte er verschiedene Bedeutungen von gleich erfahren. Sein Herrchen unterschied dabei zwischen jetzt gleich, was nur wenige Momente bedeutete, gleich jetzt, was genervt war und irgendwann war, ein kurzes gleich, was wie ein Später war oder ein langes gleich, das nachher bedeutete. Die Zuordnung war nicht immer eindeutig, dennoch wusste Nino, es würde eine Weile dauern, bis er seinen Hunger stillen konnte.

Großmutter begann mit dem Aufräumen. Sie keuchte, während sie die Scherben aufkehrte und in einen Eimer warf.

„Ich sagte doch, ich mache das“, entfuhr es Schussel. Großmutter lächelte nur. Er wusste, Großmutter sammelte die Scherben, die einmal wöchentlich von einem der Pfarrer abgeholt wurden. Immer wieder vergaß er seinen Namen. Irgendwas mit Pastor Deppert oder so.

„Pastor Preppert wird sich freuen“, verabschiedete sich Großmutter von ihm. Sie ließ ihn und seine Gedanken wieder allein. Dann drehte sie sich um und streckte noch einmal den Kopf ins Zimmer. „Fast hätte ich es vergessen“, sagte Großmutter. „Der alte Mauserl kommt heute zum Karten. Möchtest du mit uns spielen?“ Die Scherben klirrten im Eimer.

Der alte Mauserl war nicht bloß irgendein Nachbar, der sich damit begnügte, Nachbar zu sein. Nein. Es geschah, nicht selten, dass er Großmutter zum Kartenspielen aufsuchte. Schussel wusste, er wollte ihn dabei haben, damit jemand mit gesunden Händen die Karten mischte. Doch der alte Mauserl war ein griesgrämiger alter Kauz. Und das, obwohl er mit seinen großen Hasenzähnen und der spitzen Nase mehr wie eine Maus aussah. Sein Kopf zuckte hin und her, sein Blick blieb starr. Wenn er ein gutes Blatt hatte, legte er den Kopf nicht bloß zur Seite, wie eine lauernde Eule, er drehte ihn förmlich. Und dann noch sein Murren. Ständig murrte er, über alles und jeden. Er murrte selbst dann, wenn Schussel für ihn einkaufte oder den Rasen mähte. Sein Murren und Knuttern war das Letzte, was er an diesem Abend gebrauchen konnte. Der Alte hatte nichts für ihn und auch nichts für die Alchemie übrig. Er verstand nicht, weshalb Großmutter den alten Mauserl stets gewinnen ließ. So oder so murrte er, wenn ein Spiel endete.

„Nein, danke“, lehnte Schussel ab. „Ich werde heute etwas früher zu Bett gehen.“

Großmutter wendete sich ausdruckslos ab. Sie hinterließ ein „Aber vergiss Nino nicht.“ im Raum, ehe sie die Treppe hinabstieg. Die Scherben rappelten im Eimer.

Reagenzgläser und Kolben waren nicht nur für Flüssigkeiten und herkömmliche Chemikalien wirksam. Schussel hob eines seiner wertvollsten Stücke hoch, drehte es im Kerzenlicht. Ein winzig kleiner Baum wuchs darin. Unmöglich, dass er durch den dünnen Flaschenhals passte, und doch ... Und doch war die Natur schon etwas Wundersames. Mit ein wenig Erde und dem richtigen Dünger konnte man im Inneren eines Kolbens eine Pflanze aus einem Samen sprießen lassen, die in freier Natur mehrere Meter hoch wuchs. Wichtig war neben dem Düngen und dem Tränken das Trimmen. Wenn die Zweige zu arg wucherten, dann wurde irgendwann der Kolben gesprengt. Befolgte man diese naturnahen Regeln, dann konnte man ein Stück Naturgewalt in einem Glas heranzüchten.

Nino kletterte am Glas empor, machte einen Salto rückwärts und schlug zurück auf den sandigen Boden. Er wiederholte es einige Male, bis Schussel ihn bemerkte.

Schussel stand auf, griff in einen Behälter voller Grillen und holte eine Handvoll daraus hervor, ehe er sie dem Feuersalamander ins Glas warf. Augenblicklich verstummte das Zirpen, sie wussten, was die Stunde geschlagen hatte. Sie verschwanden im feurigen Schlund der Echse.

Nino warf sich auf den Rücken, ließ sich glucksend von dem Jungen kraulen. Bis der Junge plötzlich innehielt und auf einen der Schränke zu marschierte.

Die Modelle. Sie hatten nicht nur ihren Platz verlassen, sie waren verschoben, Elemente vertauscht, abgefallen. An erster Stelle stand die Erde, wie oft hatte er es ihr erklärt. Die Erde mit ihrer heilenden Wirkung und all den Metallen in ihrem Inneren. Für Großmutter stand das Wasser an vorderster Stelle, wobei er nicht sicher sagen konnte, ob für sie Wasser das war, was es für die Alchemie war. Wasser war essentiell um Stoffe wie Metalle darin aufzulösen, doch manche, wie etwa Natrium mussten erst das Feurige durchschreiten, um sich mit dem Wasser zu binden. Für Großmutter war Wasser eher etwas, womit sie putzte. Da gab es nichts Feuriges für sie. Außer sie putzte bei Herrn Mauserl und stieß dabei eine seiner Auszeichnungen um, dann wurde die Sache mehr als feurig. Doch irgendwie fanden die beiden immer wieder zusammen. Er hörte den alten Mäuserich lachen. Es war ein quietschendes Lachen. Fast schon ein Fiepen. War Großmutter ihm wieder auf den Schwanz getreten?

Die Modelle hatte er selbst geklebt. Nach den Lehren von Allegro und Fernando. Manchmal half er auch dem alten Franko aus, aber der war ihm mit seiner Lehre über die Säfte ziemlich unheimlich. Doch wenn man in die Tiefe der Alchemie eintauchen wollte, dann durfte man sich vor keinem Wissen auf Tunuss verschränken. Selbst wenn es die Säfte betraf. So schmierig und eklig sie auch waren, für den alten Franko waren sie voller Geheimnisse und Wissen, das den Zustand des Körpers, aus dem sie entnommen worden waren, offenbarte.

Die Metalle und Edelsteine sahen nicht realistisch aus, aber darum ging es in der Alchemie gar nicht. Nichts musste reell aussehen, um zu existieren. Es ging um Regeln und Schemata. Vermutlich hätte ein Kleinkind einen besseren Smaragd gezeichnet, aber darum ging es nicht. Schlimmer war, dass dieses buntbemalte Stück Papier nicht mehr an seiner Stelle klebte. Und genau darum ging es.

Schussel schritt zurück an den Schreibtisch, trat dabei in die Flüssigkeit, die noch immer stolz am Boden glitzerte. Sie begann ihr temperamentvolles flüssiges Dasein in ein schmieriges klebriges Dasein zu verwandeln. Einen Fluch war es nicht wert. Flüche waren zwar keine Magie, aber auch keine Alchemie. Fluchen war etwas, was keinen Sinn innehielt. Und darum ging es in der Alchemie. Nicht um durchnässte Socken.

Nino behielt sein Herrchen weiter fest im Auge, wie er Kolben und Gläser auf dem Schreibtisch verschob. Er suchte etwas, was er nicht fand. Dann schritt er aus dem Zimmer und verschwand nach unten, wo noch immer der alte Herr Mauserl fiepte.

Das Knarzen der Stufen verriet ihn. Die beiden sahen mit ihren Karten in der Hand erwartungsvoll auf.

„Da bist du ja“, strahlte Großmutter. Der Blick von Herrn Mauserl blieb grimmig. Er hatte nur diesen einen Blick.

Schussel geriet auf den letzten Stufen ins Schlittern. Die nasse Socke forderte ihren Tribut. Er rutschte nach unten, schlug mit dem Schädel auf und keuchte.

Großmutter legte die Karten auf den Tisch und half ihm auf die Beine.

„Drei Wiesel!“, kommentierte Herr Mauserl die Karten auf dem Tisch und rümpfte dabei die spitze Nase.

Nachdem sie sich bei ihrem Enkel versichert hatte, dass alles in Ordnung war, erwiderte sie: „Wir beginnen von vorne.“

Der alte Mauserl schob einen Stuhl zwischen sich und dem Jungen. Er versuchte, etwas zu sagen, musste jedoch kräftig husten.

„Ich suche den Kleber“, sagte der Junge knapp.

„Der ist mir versehentlich gefallen“, entschuldigte sich Großmutter. „Ich gebe dir morgen etwas Geld mit, dann kannst du einen Neuen auf dem Weg zu Fernando kaufen.“

„Er spielt mit!“, beschloss Herr Mauserl. Wer ihn nicht kannte, der hielt den Alten für schroff und respektlos. Er sprach mit lauter und fester Stimme, die seinen Kehlkopf mit der Zeit angeraut hatte. Daher musste auch sein Husten kommen, vermutete Schussel. Anfangs hielt er seinen Nachbarn für einen gefühllosen und stellenweise sogar bissigen Rattenmenschen. Aber mit der Zeit lernte Schussel Herrn Mauserl besser kennen. Nicht so gut wie Großmutter, aber gut genug, um das meiste Knuttern von ihm deuten zu können. Viele Schmerzen und Leiden plagten den einsamen Alten. In seinem langen Leben waren mit den Jahren alle verschwunden, die ihm nahe gestanden hatten. Kinder oder Enkel hatte er keine. Auch wenn er oft gemein war, er mochte den Jungen. Nur die Alchemie, die mochte der Alte nicht. Für ihn waren Salben und Kräuter Hirngespinste. Eine schmerzlindernde Salbe war nur dann in Ordnung, wenn Großmutter sie besorgte und ihn damit einrieb. Schussel wusste, er tat es wegen Großmutter, die ihr letztes Erspartes aufbrachte, um dem alten Mauserl so gut wie möglich helfen zu können. Herr Mauserl war in seinem tiefsten Inneren eben doch nur ein Mensch mit Schnurrhaaren und Schwanz.

„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sprach Großmutter, während er sich auf den Stuhl setzte.

„Schon gut“, sagte er. „Aber nur eine Runde.“ Er glaubte, in dem haarigen Gesicht des Alten ein Lächeln zu sehen. Redete es sich dann jedoch als Einbildung ein.

„Du mischst!“, murrte der Alte.

Behutsam nahm er die restlichen Karten aus den Händen des Alten. Dabei waren die Nägel besonders zu beachten, denn sie bohrten sich wie Klauen ins Fleisch, wenn man nicht damit rechnete. Zwar besaß der alte Mäuserich weder Körperspannung noch richtige Muskeln, doch die waren bei solchen Krallen gar nicht notwendig, um Verletzungen zu verursachen.

Die Regeln beim Kartenspielen waren simpel. Jeder Spieler erhielt fünf Karten verdeckt und zwei offen. Wobei jeder selbst entschied, welche beiden Karten er für die übrigen Spieler öffnete.

Murrend legte der alte Kauz zwei Karten vor sich ab, während er mit einem Auge die Karten der übrigen Spieler im Auge behielt. Als Großmutter ein rotes Wiesel und eine schwarze Hexe auf den Tisch legte, zog Herr Mauserl seine beiden Karten geschwind zurück und tauschte sie durch zwei andere aus, die er erst zeigte, nachdem er die Karten von Schussel gesehen hatte. Eigentlich war es verboten, so zu spielen. Einmal abgelegte Karten waren abgelegt und durften den Regeln nach nicht mehr ausgetauscht werden. Aber wer wollte das schon dem alten Kauz sagen?

Wieder murrte der Alte, als Schussel einen roten Drachen und ein schwarzes Wiesel vor sich offenlegte. Dabei entfiel ihm nicht, dass der Alte geschwind eine der beiden Karten austauschte. Dann erst legte er zwei Wiesel auf den Tisch. Ein Blaues und ein Grünes.

Damit lagen alle verfügbaren Wiesel aus dem Kartendeck auf dem Tisch. Und es war klar, welche Karte nicht gewinnen würde. Das Wiesel.

Es gewann derjenige, der drei gleiche Karten besaß. Bei einem Unentschieden konnte man mit vier gleichen Karten trumpfen oder es zählte die Abfolge der Karten. Wobei das Wiesel den geringsten Wert und der Drache den höchsten Wert besaß.

Großmutter fing an und zog eine der Karten von ihrem Enkel. Dann grinste sie.

Schussel war an der Reihe. Missmutig sah er auf die Hände des alten Kauzes. Er musste eine ziehen, so waren die Regeln. Wieder fiel sein Blick auf die scharfen Krallen des Alten. Er hoffte, er würde sie dieses Mal nicht wieder einsetzen, wenn er nach einer falschen Karte griff. Diesmal murrte der Alte nur. Dann lachte er und nahm sich das Wiesel, welches Großmutter vor sich hingelegt hatte.

„Das ist gegen die Regeln“, protestierte Schussel. Großmutter winkte ab. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Herr Mauserl nahm sich stolz, was ihm nach gebührte und legte die Karte vor sich auf den Tisch. „Drei Wiesel!“, rief er stolz. „Wer hätte das gedacht?“

Er wollte etwas entgegnen, doch Großmutter fiel ihm ins Wort. Sie legte ihre Karten auf den Tisch. „Drei Hexen, mein Guter.“

Ein leichter Schauer fuhr ihm über den Rücken.

„Du hast geschummelt“, knurrte der Alte.

Schussel stand auf und legte die Karten demonstrativ auf den Tisch. „Ich sollte wieder nach oben“, sagte er knapp.

„Aber warum?“, wunderte sich Großmutter. „Sieh doch nur, du hast vier Drachen. Wieso hast du das nicht eher gesagt?“

„Macht es einen Unterschied?“

„Nein“, murrte der Alte. „Weil drei Wiesel immer gewinnen.“

Er schnaufte laut, lauter als er beabsichtigt hatte. Es war sinnlos, mit dem Alten zu spielen. Wozu gab es Regeln, wenn niemand sie einhielt, und wozu spielte man, wenn man den alten Kauz doch gewinnen ließ?

Großmutter nickte knapp. „Bitte misch uns noch einmal die Karten, bevor du wieder in dein Zimmer gehst.“

Ein modriger Geruch lag in der Luft. Wie altes nasses Leder, welches man aus dem Regen geholt hatte und es irgendwo im Zimmer zum Trocknen auslegte. Nur, dass es in diesem Zimmer nichts gab, was man hätte trocknen können. Egal wie oft Schussel den alten Fernando in seinem Keller besuchte, an den Geruch würde er sich niemals gewöhnen. Auch nicht an das Tropfen von Decke und Wänden.

Der Ursprung all des Wassers, war dem alten Lehrmeister egal, auch das stetige eintönige Tropfen, wenn es von dem feuchten Gemäuer abperlte. Nicht etwa, weil die Lehren der Alchemie wichtiger waren als ein Rohrbruch in den eigenen vier Wänden, sondern weil der Alte das perlende Wasser schon lange nicht mehr hörte.

„Was hast du gesagt?“, rief der Alte.

Schussel bemühte sich, laut in die Muschel zu sprechen, welche sich der Alte ans Ohr klemmte, um ihn besser zu verstehen. „Ich habe nichts gesagt“, gestand der Junge. Das Gesicht seines Lehrmeisters blieb unverändert. Er wiederholte das Gesagte, bis sich der Alte über den borstigen weißen Kopf kratzte. Das Alter, so nannte es der Alte, nahm sich mit der Zeit mehr und mehr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Alchemist gar nichts mehr hörte. Er hoffte, dass dieser Tag noch eine Weile dauern würde. Nicht, weil er noch viel von ihm zu lernen hatte, sondern weil er den Alten mochte. Er war nicht wie Herr Mauserl, auch wenn er manches Mal genauso laut sprach. Nein, er war jemand, den das Leben gezeichnet hatte. Zwar konnte man das auch von Allegro oder dem alten Franko behaupten, aber Fernando war schon etwas ausgefallen. Selbst seine Forschung war einzigartig. Natürlich war jeder Alchemist dazu verpflichtet und gleichsam danach bestrebt, die Lösung aller Lösungen zu entwickeln, aber das war nicht das oberste Ziel, welches Fernando verfolgte. Fernando glaubte, dass die Alchemie es ermöglichte Dinge zu erschaffen. Wie etwa einen Baum in einem Kolben heranzuziehen, so wie es sein Vater praktiziert hatte. Nur das Fernando nicht an Pflanzen oder Bäumen interessiert war, sondern am Leben selbst. Fernando war überzeugt, dass es einen kleinstmöglichen Apparat gab, der eigenständig denken und handeln konnte. Damit war es dann keine Apparatur mehr, sondern ein Wesen. Und dieses Wesen steckte nicht nur in jedem Einzelnen, es war aus Fernandos Sicht sogar möglich ein solches Wesen aus Fleisch und Blut, oder was immer benötigt wurde, herzustellen. Dieses Wesen nannte er den Homunkulus. Das Menschlein. Sein eigenes Leben hatte er der Erforschung des Homunkulus verschrieben. Die Meisten seiner Entwickelungen waren dabei nicht sehr erfolgreich gewesen. Seinen Aufzeichnungen zufolge begann er zu Beginn mit Fröschen und Kaulquappen, die er in kleinen Aquarien herangezogen und versucht hatte, ihre Entwicklung durch Chemikalien zu beeinflussen. Oftmals hatten diese Chemikalien nur das Wasser getrübt oder zu einem schnellen Ende der Studien geführt. Dennoch waren die Ergebnisse wichtig genug gewesen, um sie aufzuzeichnen. Das für Schussel bemerkenswerteste war, dass Fernando damals mit Allegro zusammengearbeitet hatte. Gemeinsam hatten sie das Nigredo und das Albedo an den Amphibien unter Einwirkung verschiedenster Chemikalien erforscht. Obschon es nicht das eigentliche Ziel des Alten war, betonte er immer wieder, dass sich sein ehemaliger Freund nie von dem Gedanken Flüssigkeiten mit Stoffen wie Smaragden oder Nickel, Quecksilber oder Ähnlichem anzureichern, um das Wohlbefinden und das planetarische Miteinander des Menschen, seines Geistes und dem Universum zu beeinflussen, losgesagt hatte. Für Fernando waren diese Studien uninteressant, denn so würde in seinen Augen kein Homunkulus entstehen.

Ein roter Fels schob sich in die Kammer. „EtWaS KaFfEe?“, raunte eine hohle Stimme.

Schussel zuckte kurz zusammen bei dem Anblick des Golems. Zwar kannte er die freundliche und hilfsbereite Liesel nur zu gut, doch wenn sie plötzlich neben ihm stand und ihre laute klangvolle Stimme erhob, erschreckte er sich jedes Mal vor ihr.

Liesel zog irritiert ihr Kleid zurecht und schenkte ihrem Herrn etwas der schwarzen Substanz in eine bunte Tasse aus Porzellan.

Fernando liebte Kaffee, das wusste Liesel. Sie versuchte zu lächeln, während der Alte austrank. Dann wandte er sich wieder seinen Kolben zu.

Schussel wusste nicht, wie lange Liesel bereits bei ihm wohnte. Er wusste jedoch, dass sich der Alte den Golems verschrieben hatte. Er empfand sie als faszinierend. Bis er sie eines Tages ausreichend studiert hatte und sie von da an weniger faszinierend auf ihn wirkten.