Die Hälfte der Sonne - Chimamanda Ngozi Adichie - E-Book
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Die Hälfte der Sonne E-Book

Chimamanda Ngozi Adichie

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Beschreibung

Adichies preisgekrönter Afrika-Roman - schon jetzt ein Weltklassiker Eine Geschichte über Liebe und Verrat, Rassismus und Loyalität und das Leben im zerstörerischen Alltag des Krieges. Im Nigeria der Sechzigerjahre kommt der Dorfjunge Ugwu als Houseboy zu Odenigbo, einem linksintellektuellen Professor, bei dem er lesen und schreiben lernt. Als Odenigbos neue Liebe Olanna ihr privilegiertes Leben in Lagos verlässt, um mit ihm zu leben, wachsen die drei schnell zu einer kleinen Familie zusammen. Richard, ein englischer Journalist, der in Nigeria Inspiration für sein erstes Buchprojekt sucht, verliebt sich in Olannas ungleiche Schwester Kainene, die die Geschäfte der reichen, aber auch korrupten Familie leitet. Sie alle durchleben durch ihre je eigenen Kämpfe und Erfolge, doch teilen gemeinsam die große Hoffnung auf ein unabhängiges Biafra, das 1967 im Osten Nigerias, wo die Mehrheit der Igbo-Bevölkerung lebt, ausgerufen wird. Nur drei Jahre später versinkt das Land in einem blutigen Bürgerkrieg, der Olanna, Kainene und ihre Liebsten brutal aus ihren Leben reißt und alles Dagewesene ausradiert. »Chimamanda Adichie ist eine neue Autorin, die mit der Gabe der alten Geschichtenerzähler gesegnet ist.« Chinua Achebe

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Seitenzahl: 872

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Chimamanda Ngozi Adichie

Die Hälfte der Sonne

Roman

Aus dem Englischen von Judith Schwaab

FISCHER E-Books

Inhalt

Meine Großväter, Nwoye David [...]Erster Teil Die frühen Sechziger1231. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starben4562. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starbenZweiter Teil Die späten Sechziger7891011123. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starben1314151617184. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starbenDritter Teil Die frühen Sechziger1920215. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starben2223246. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starbenVierter Teil Die späten Sechziger2526272829307. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starben313233343536378. Das Buch: Die Welt schwieg, als wir starbenNachwort der AutorinLiteraturGlossar

Meine Großväter, Nwoye David Adichie und Aro-Nweke Felix Odigwe, die ich niemals kennenlernte, haben den Krieg nicht überlebt.

Meine Großmütter, Nwabuodu Regina Odigwe und Nwamgbafor Agnes Adichie, beides bemerkenswerte Frauen, kamen mit dem Leben davon.

Dieses Buch ist der Erinnerung an sie gewidmet;

ka fa nodu na ndokwa.

Und Mellitus, wo auch immer er ist.

Ich sehe ihn heute noch –

dürr, dünn wie Draht, in der Sonne und dem Staub

der trockenen Monate

Grundstein auf den winzigen Überresten der Leidenschaft und des Mutes.

 

Aus: Chinua Achebe, »Mango Seedling« in:

›Christmas in Biafra and Other Poems‹

Erster TeilDie frühen Sechziger

1

Der Master war ein wenig verrückt; er hatte zu viele Jahre damit verbracht, in Übersee Bücher zu lesen, sprach mit sich selbst, wenn er in seinem Arbeitszimmer war, grüßte nicht immer zurück und hatte zu viele Haare. Das sagte Ugwus Tante leise, als sie den Pfad entlanggingen. »Aber er ist ein guter Mensch«, fügte sie hinzu. »Und solange du gut arbeitest, wirst du auch gut essen. Sogar Fleisch wirst du jeden Tag bekommen.« Sie blieb stehen, um auszuspucken; der Speichel löste sich schmatzend von ihren Lippen und landete im Gras.

Ugwu konnte nicht glauben, dass irgendwer, nicht einmal der Master, bei dem er leben sollte, tatsächlich jeden Tag Fleisch aß. Dennoch widersprach er seiner Tante nicht, denn die Erwartung hatte ihn stumm gemacht, und er hatte genug damit zu tun, sich sein neues Leben fern des Dorfes vorzustellen. Sie waren schon eine Weile zu Fuß unterwegs, seit sie vom Lastwagen gestiegen waren, und die Nachmittagssonne brannte ihm in den Nacken. Aber es machte ihm nichts aus. Er wäre noch Stunden weitergegangen, selbst wenn die Sonne noch heißer geschienen hätte. So etwas wie die Straßen, die auftauchten, nachdem sie an den Toren der Universität vorbeigekommen waren, hatte er noch nie gesehen, Straßen, die so glattgeteert waren, dass er große Lust hatte, sich zu bücken und die Wange an sie zu legen. Niemals würde es ihm gelingen, seiner Schwester Anulika die Bungalows zu beschreiben, die in der Farbe des Himmels gestrichen waren und wie höfliche, gutgekleidete Männer nebeneinanderstanden, und die Hecken, die sie voneinander trennten und oben so flach gestutzt waren, dass sie aussahen wie in Blätter gehüllte Tische.

Seine Tante ging schneller, und ihre Slipper machten ein merkwürdiges Geräusch, das durch die stille Straße hallte. Ugwu fragte sich, ob sie durch ihre dünnen Sohlen hindurch auch spürte, wie der Steinkohleteer unter ihren Füßen heißer und heißer wurde. Sie kamen an einem Straßenschild vorbei, auf dem ODIM STREET stand, und Ugwu sprach das Wort Street leise vor sich hin, so wie er das immer tat, wenn er ein englisches Wort sah, das nicht allzu lang war. Als sie das Anwesen betraten, stieg ihm ein schwerer, süßlicher Geruch in die Nase, und er war sich sicher, dass er von den Büschen am Eingang herrührte, die über und über mit weißen Blüten bedeckt waren. Die Büsche hatten die Form von schmalen Hügeln. Der Rasen glitzerte. Darüber schwebten Schmetterlinge.

»Ich habe deinem Master gesagt, dass du alles rasch lernen wirst, osiso-osiso«, meinte seine Tante. Ugwu nickte eifrig, obwohl sie ihm das schon viele Male gesagt hatte, nämlich jedes Mal, wenn sie ihm die Geschichte erzählte, wie sein Glück zustande gekommen war: dass sie vor einer Woche im Mathematikinstitut den Flur gewischt hatte und den Master hatte sagen hören, er brauche einen Houseboy, der bei ihm saubermache, und dass sie sofort gesagt hatte, sie könne ihm helfen, noch bevor seine Sekretärin oder der Bürobote selbst anbieten konnten, ihm jemanden zu besorgen.

»Ich werde schnell lernen, Tante«, sagte Ugwu. Er schaute sich den Wagen an, der in der Garage geparkt war; ein silberner Metallstreifen lag wie eine Halskette rund um seinen blauen Körper.

»Denk daran, wenn er dich ruft, musst du immer ›Ja, Sah!‹ antworten!«

»Ja, Sah!«, wiederholte Ugwu.

Sie standen vor der Glastür. Fast hätte Ugwu die Zementwand berührt, um zu spüren, wie anders sie sich anfühlte als die Lehmmauern der Hütte seiner Mutter, in denen noch die Fingerabdrücke vom Bauen zu sehen waren, aber er beherrschte sich. Einen kurzen Moment lang wünschte er sich, wieder dort zu sein, in der Hütte seiner Mutter, unter der dämmrigen Kühle des Strohdaches; oder in der Hütte seiner Tante, der einzigen Hütte im Dorf, die mit einem Wellblechdach gedeckt war.

Seine Tante klopfte an das Glas. Ugwu sah die weißen Vorhänge hinter der Tür. Eine Stimme sagte auf Englisch: »Ja? Herein.«

Sie zogen ihre Schuhe aus, bevor sie hineingingen. Ugwu hatte noch nie ein so großes Zimmer gesehen. Trotz der braunen Sofas, die in einem Halbkreis aufgestellt waren, der Beistelltischchen daneben, der Regale, die mit Büchern vollgestopft waren, und dem Tisch in der Mitte mit einer Vase, in der rote und weiße Plastikblumen steckten, sah der Raum so aus, als wäre immer noch zu viel Platz darin. Der Master saß in einem Lehnstuhl und trug ein Unterhemd und ein Paar Shorts. Er hielt sich nicht aufrecht, sondern hing schräg im Sessel und hatte ein Buch auf dem Gesicht liegen, als hätte er vergessen, dass er gerade jemanden zu sich hereingebeten hatte.

»Guten Tag, Sah! Hier ist der Junge«, sagte Ugwus Tante.

Der Master schaute auf. Er hatte eine sehr dunkle Haut, wie alte Borke, und das Haar, das seine Brust und die Beine bedeckte, hatte einen glänzenden, noch dunkleren Schimmer. Er nahm seine Brille ab.

»Der Houseboy, Sah.«

»Ach ja, Sie haben mir den Houseboy gebracht. I kpotago ya.« Das Igbo des Masters hörte sich in Ugwus Ohren federleicht an. Es war ein Igbo, das von den geschmeidigen Klängen der englischen Sprache untermalt war, das Igbo eines Menschen, der oft Englisch sprach.

»Er wird hart arbeiten«, sagte seine Tante. »Er ist ein sehr guter Junge. Sagen Sie ihm einfach, was er tun soll. Danke, Sah!«

Der Master brummte, statt zu antworten, während er Ugwu und seine Tante mit leicht zerstreuter Miene betrachtete, als hielte ihre Anwesenheit ihn davon ab, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Ugwus Tante klopfte dem Jungen auf die Schulter, flüsterte ihm zu, er solle seine Sache gut machen, und drehte sich dann zur Tür. Nachdem sie gegangen war, setzte der Master seine Brille wieder auf und wandte sich seinem Buch zu, wobei er noch weiter auf die Seite sank und die Beine ausstreckte. Er wirkte entspannt. Selbst wenn er umblätterte, blieben seine Augen auf das Buch gerichtet. Ugwu stand an der Tür und wartete. Sonnenlicht strömte durch die Fenster herein, und von Zeit zu Zeit fuhr eine sanfte Brise in die Vorhänge und hob sie an. In dem Zimmer war es still, bis auf das Rascheln der Seiten, wenn der Master umblätterte. Eine Weile stand Ugwu da, bevor er sich langsam auf das Bücherregal zubewegte, als wollte er sich darin verstecken. Dann schließlich, nach einer Weile, ließ er sich zu Boden sinken, die Basttasche zwischen seinen Knien. Er blickte zur Zimmerdecke hoch, die so weit oben und so blendend weiß war. Er schloss die Augen und versuchte, sich das geräumige Zimmer mit den fremden Möbeln ins Gedächtnis zu rufen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Wieder überkam ihn Verwunderung, er öffnete die Augen und schaute umher, um ganz sicherzugehen, dass das alles Wirklichkeit war. Und dass er es war, der auf diesen Sofas sitzen, diesen glänzend-glatten Boden polieren und diese zarten Vorhänge waschen würde.

»Kedu afa gi? Wie heißt du?«, fragte der Master unvermittelt.

Ugwu stand auf.

»Wie heißt du?«, fragte der Master wieder und setzte sich gerade hin. Er füllte den Sessel ganz aus, sein dickes Haar türmte sich dicht auf seinem Kopf auf. Seine Arme waren muskulös, die Schultern breit. Ugwu hatte sich einen älteren Mann vorgestellt, jemand Gebrechlichen, und war plötzlich von der Furcht erfüllt, diesen Master, der so jugendlich und tüchtig aussah, wie jemand, der nichts brauchte, nicht zufriedenstellen zu können.

»Ugwu, Sah.«

»Ugwu. Und du kommst aus Obukpa?«

»Aus Opi, Sah.«

»Du könntest ebenso gut zwölf wie dreißig sein.« Der Master kniff die Augen zusammen. »Wahrscheinlich dreizehn.« Das Wort »dreizehn« sagte er auf Englisch.

»Ja, Sah.«

Der Master wandte sich wieder seinem Buch zu. Ugwu stand da. Der Master blätterte einige Seiten weiter und schaute dann auf. »Ngwa, geh in die Küche, im Kühlschrank müsste etwas zu essen für dich sein.«

»Ja, Sah.«

Ugwu betrat vorsichtig die Küche, setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Als er das weiße Ding sah, das fast so groß war wie er selbst, wusste er, dass das der Kühlschrank war. Seine Tante hatte ihm davon erzählt. Das sei eine Art kalter Schuppen, in dem man Lebensmittel aufbewahrte, damit sie nicht schlecht wurden. Er machte ihn auf und schnappte nach Luft, als ihm die Kälte entgegenströmte. Orangen, Brot, Bier, Erfrischungsgetränke, alle möglichen Dinge in Kartons und Dosen standen auf den verschiedenen Ebenen, und ganz obendrauf lag ein glänzendes gebratenes Hähnchen, dem nur ein Bein fehlte. Ugwu streckte die Hand aus und berührte es. Der Kühlschrank atmete schwer in seinen Ohren. Er berührte das Hähnchen noch einmal und leckte sich den Finger ab, dann drehte er das andere Bein ab und aß es auf, bis er schließlich nur noch die abgenagten Knochen in der Hand hatte. Als Nächstes brach er sich etwas Brot ab, ein dickes Stück, das er nur allzu gern mit seinen Geschwistern geteilt hätte, wäre ein Verwandter zu Besuch gekommen und hätte das Brot als Geschenk mitgebracht. Er aß schnell, bevor der Master hereinkam und es sich anders überlegte. Schließlich war er mit dem Essen fertig, stand am Spülbecken und versuchte gerade, sich ins Gedächtnis zu rufen, was seine Tante über Wasserhähne gesagt hatte, dass man sie öffnete, damit das Wasser herausströmte wie bei einer Quelle, als der Master hereinkam. Er hatte sich ein bedrucktes Hemd und eine Hose angezogen. Seine Zehen, die durch die Lederslipper schauten, sahen irgendwie weiblich aus, vielleicht weil sie so sauber waren. Sie gehörten zu Füßen, die immer in Schuhen steckten.

»Was ist?«, fragte der Master.

»Sah …« Ugwu wies auf das Spülbecken.

Der Master kam zu ihm herüber und drehte an dem metallenen Wasserhahn. »Du solltest dich erst einmal im Haus umschauen und deine Tasche in das erste Zimmer auf dem Gang bringen. Ich mache jetzt einen Spaziergang, um einen klaren Kopf zu bekommen, i nugo?«

»Ja, Sah.« Ugwu sah ihm nach, wie er durch die Hintertür hinausging. Er war nicht groß. Sein Gang war forsch, voller Energie, und er sah aus wie Ezeagu, der Mann, der in Ugwus Dorf den Rekord im Ringen hielt.

Ugwu drehte den Wasserhahn zu, wieder auf, dann zu. Auf und zu und auf und zu, bis er lachen musste über diesen Zauber fließenden Wassers und das Huhn und das Brot, die wie Balsam in seinem Magen lagen. Er ging am Wohnzimmer vorbei in den Flur. Überall in den drei Schlafzimmern, auf dem Waschbecken und den Schränkchen im Bad lagen Bücher, im Arbeitszimmer waren sie vom Boden bis zur Decke gestapelt, alte Zeitungen türmten sich neben den Cola-Kisten und den Kartons mit Premier Bier in der Speisekammer. Einige der Bücher lagen offen mit dem Gesicht nach unten, als hätte der Master sie noch nicht fertig gelesen, jedoch beschlossen, rasch mit einem anderen anzufangen. Ugwu versuchte, die Titel zu lesen, doch die meisten waren zu lang, zu schwierig. Nicht-parametrische Methoden. Eine afrikanische Studie. Die große Kette des Daseins. Der Angriff der Normannen auf England. Auf Zehenspitzen ging er von Zimmer zu Zimmer, weil er das Gefühl hatte, dass seine Füße schmutzig waren, und während er umherging, reifte in ihm der Entschluss, alles zu tun, um dem Master zu gefallen, damit er in diesem Haus des Fleisches und der kühlen Böden bleiben durfte. Gerade war er dabei, sich die Toilette anzuschauen, und strich mit der Hand über den schwarzen Plastiksitz, als er die Stimme des Masters hörte.

»Wo bist du, mein Guter?« Er sagte »mein Guter« auf Englisch.

Ugwu stürzte ins Wohnzimmer. »Ja, Sah!«

»Wie heißt du noch mal?«

»Ugwu, Sah.«

»Ja, Ugwu. Schau mal hier, nee anya, weißt du, was das ist?« Der Master zeigte auf etwas, und Ugwu betrachtete den Metallkasten, der über und über mit gefährlich aussehenden Knöpfen bedeckt war.

»Nein, Sah«, sagte Ugwu.

»Das ist eine Musiktruhe. Sie ist neu und sehr gut. Ganz anders als diese alten Grammophone, die man ewig aufziehen muss. Du musst damit sehr vorsichtig sein, besonders vorsichtig. Sie darf niemals mit Wasser in Berührung kommen.«

»Ja, Sah.«

»Ich bin jetzt weg zum Tennisspielen, und dann gehe ich in den Mitarbeiterclub.« Der Master nahm ein paar Bücher vom Tisch. »Vielleicht komme ich erst spät zurück. Richte dich also ein und ruh dich ein bisschen aus.«

»Ja, Sah.«

Nachdem Ugwu den Master hatte wegfahren sehen, stellte er sich neben die Musiktruhe und schaute sie sich genau an, ohne sie zu berühren. Dann machte er sich auf einen Rundgang durchs Haus, hinauf und hinab, berührte Bücher und Vorhänge und Möbel und Teller, und als es dunkel wurde, schaltete er das Licht an und staunte darüber, wie hell die Birne brannte, die von der Decke baumelte, und dass sie keine langen Schatten warf wie die Palmöllampen zu Hause. Dort war seine Mutter vermutlich gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten und im Mörser akpu zu zerkleinern, den Stößel fest mit beiden Händen gepackt. Chioke, die zweite Ehefrau, kümmerte sich um den Topf mit wässriger Suppe, der auf drei Steinen über dem Feuer stand. Die Kinder waren vom Fluss zurück und liefen um den Brotfruchtbaum, um sich gegenseitig zu necken und zu jagen. Vielleicht sah Anulika ihnen dabei zu. Sie war jetzt das älteste Kind im Haushalt, und wenn alle rund um das Feuer hockten und aßen, war sie diejenige, die kleine Streitigkeiten schlichtete, wenn die Jüngeren sich etwa um die Streifen Trockenfisch in der Suppe balgten. Sie wartete, bis das ganze akpu gegessen war, verteilte dann den Fisch, damit jedes Kind ein Stückchen abbekam, und behielt das größte für sich, so wie Ugwu es immer getan hatte.

Ugwu machte den Kühlschrank auf und aß noch etwas Brot und Huhn. Rasch stopfte er sich das Essen in den Mund, und dabei schlug sein Herz, als würde er laufen; dann pulte er weitere Stücke Fleisch heraus, zog an den Flügeln. Die Stücke steckte er in seine Shorts, bevor er in sein Schlafzimmer ging. Er würde sie behalten, bis seine Tante zu Besuch kam, und sie bitten, das Essen Anulika mitzubringen. Vielleicht konnte er sie ja auch bitten, etwas davon Nnesinachi zu geben. Vielleicht würde Nnesinachi dann ja endlich Notiz von ihm nehmen. Es war ihm nie ganz klar gewesen, wie er und Nnesinachi miteinander verwandt waren, aber er wusste, dass sie aus derselben umunna stammten und folglich niemals heiraten konnten. Trotzdem wünschte er, seine Mutter würde Nnesinachi nicht immer als seine Schwester bezeichnen, wenn sie solche Sachen sagte wie: »Nimm dieses Palmöl hier und bringe es Mama Nnesinachi, und wenn sie nicht zu Hause ist, lass es bei deiner Schwester.«

Nnesinachi klang immer unbestimmt, wenn sie mit ihm sprach, ihre Augen wanderten hin und her, als machte es für sie keinen Unterschied, ob er da war oder nicht. Manchmal nannte sie ihn Chiejina. So hieß sein Vetter, der jedoch überhaupt nicht so aussah wie er, und wenn er dann sagte: »Aber ich bin’s doch«, erwiderte sie: »Verzeih mir, Ugwu, mein Bruder«, mit einer abweisenden Förmlichkeit, die bedeutete, dass keine weitere Unterhaltung erwünscht war. Trotzdem mochte er die Botengänge zu ihrem Haus. Dann konnte er sie manchmal vornübergebeugt sehen, wenn sie etwa das Feuerholz fächelte oder wenn sie ugu-Blätter für den Suppentopf ihrer Mutter hackte oder einfach nur draußen auf ihre jüngeren Geschwister aufpasste, wobei ihr Wickeltuch manchmal so tief hing, dass er von oben einen Blick auf ihre Brüste erhaschen konnte. Seit sie zu wachsen begonnen hatten, diese spitzen Brüste, fragte er sich, ob sie sich wohl weich und geschmeidig anfühlten oder eher so hart wie die unreife Frucht des ube-Baums. Oft wünschte er sich, Anulika wäre nicht so flachbrüstig – überhaupt fragte er sich, warum sie so lange brauchte, obwohl Nnesinachi und sie gleich alt waren –, damit er ihre Brüste anfassen könnte. Natürlich würde Anulika ihm auf die Finger schlagen, vielleicht sogar ins Gesicht, aber er würde es ganz schnell machen, einmal drücken und dann weglaufen, dann hätte er wenigstens eine Vorstellung davon und würde wissen, was er zu erwarten hätte, wenn er endlich die von Nnesinachi berühren würde.

Es bekümmerte ihn, dass er vielleicht nie die Gelegenheit haben würde, sie zu berühren, weil ihr Onkel sie dazu aufgefordert hatte, zu ihm nach Kano zu kommen und einen Beruf zu erlernen. Ende des Jahres, wenn das letzte Kind ihrer Mutter, mit dem sie schwanger war, erst einmal laufen konnte, würde sie nach Norden aufbrechen. Ugwu wünschte, er hätte darüber ebenso viel Freude und Dankbarkeit empfunden wie der Rest der Familie; schließlich konnte man im Norden sein Glück machen, und er hatte von Leuten gehört, die zum Geldverdienen dorthin gegangen waren und bei ihrer Rückkehr die alten Hütten abgerissen und durch Häuser mit Wellblechdach ersetzt hatten. Allerdings fürchtete er, einer von den schmerbäuchigen Händlern im Norden könnte ein Auge auf sie werfen, und kaum hatte man sich’s versehen, würde jemand ihrem Vater Palmwein bringen, und es würde Ugwu nie mehr gelingen, jene Brüste zu berühren. Sie, diese Brüste, hob er sich meist bis zum Schluss auf in den Nächten, wenn er sich selbst berührte, zuerst langsam und dann immer heftiger, bis sich ein ersticktes Stöhnen seiner Kehle entrang. Er fing immer mit ihrem Gesicht an, mit ihren vollen Wangen und dem Elfenbeinton ihrer Zähne, und dann stellte er sich vor, wie sie die Arme um ihn legte und wie sich ihr Körper an ihn schmiegte. Dann schließlich nahmen ihre Brüste vor ihm Gestalt an, manchmal fühlten sie sich hart an und machten ihm Lust hineinzubeißen, ein anderes Mal jedoch waren sie so weich, dass er Angst hatte, ihr weh zu tun, wenn er sich auch nur vorstellte, sie zu drücken.

Einen Moment lang ging ihm durch den Kopf, ob er auch heute Nacht an sie denken sollte. Doch er beschloss, es nicht zu tun. Nicht in seiner ersten Nacht im Haus des Masters, auf diesem Bett, das so anders war als seine handgeflochtene Bastmatte zu Hause. Zuerst drückte er mit den Händen in die federnde Weichheit der Matratze. Dann untersuchte er die Stoffschichten darüber, weil er sich unsicher war, ob er darauf schlafen oder sie abnehmen sollte, bevor er sich hinlegte. Schließlich stieg er ins Bett und legte sich auf die Tücher, seinen Körper zu einem festen Ball zusammengerollt.

Er träumte, dass der Master ihn rief – Ugwu, mein Guter –, und als er aufwachte, stand der Master an der Tür und schaute ihn an. Vielleicht war es ja gar kein Traum gewesen. Er kroch aus dem Bett und schaute verwirrt zu den Fenstern mit den zugezogenen Vorhängen. War es spät? Hatte das weiche Bett ihn getäuscht und verschlafen lassen? Normalerweise wachte er beim ersten Hahnenschrei auf.

»Guten Morgen, Sah!«

»Hier drinnen riecht es stark nach Brathuhn.«

»Tut mir leid, Sah.«

»Wo ist das Huhn?«

Ugwu kramte in den Taschen seiner Shorts und zog die Hähnchenstücke hervor.

»Essen die Leute bei euch, während sie schlafen?«, fragte der Master. Er trug etwas, das aussah wie ein Frauenmantel, und zwirbelte geistesabwesend an der Kordel, die um seine Leibesmitte geschlungen war.

»Sah?«

»Wolltest du das Huhn im Bett essen?«

»Nein, Sah.«

»Essen bleibt entweder im Speisezimmer oder in der Küche.«

»Ja, Sah.«

»Heute müssen Küche und Bad geputzt werden.«

»Ja, Sah.«

Der Master drehte sich um und ging hinaus. Ugwu stand zitternd mitten im Zimmer, die Hühnerstückchen immer noch in der ausgestreckten Hand. Er wünschte, er hätte nicht am Speisezimmer vorbeigemusst, um in die Küche zu gehen. Schließlich steckte er das Huhn wieder in die Tasche, holte tief Luft und ging aus dem Zimmer. Der Master saß am Esstisch, die Teetasse stand vor ihm auf einem Stapel Bücher.

»Jetzt ist es endlich heraus«, sagte der Master. »Natürlich hat für mich nie ein Zweifel daran bestanden. Weißt du, wer Lumumba in Wirklichkeit umgebracht hat? Das waren die Amerikaner und die Belgier. Mit Katanga hatte das nichts zu tun.«

»Ja, Sah«, sagte Ugwu. Er wünschte sich, der Master würde weiterreden, damit er seiner tiefen Stimme lauschen könnte und dem wohlklingenden Singsang von englischen Wörtern in Igbo-Sätzen.

»Du bist mein Houseboy«, sagte der Master. »Wenn ich dir den Befehl gebe, hinauszugehen und eine Frau, die draußen auf der Straße vorbeigeht, mit einem Stock zu schlagen, und wenn du ihr eine blutige Wunde am Bein zufügst, wer ist dann verantwortlich für die Wunde, du oder ich?«

Ugwu starrte den Master an und schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob sein Master sich auf eine etwas verquere Weise immer noch auf die Hühnerstückchen bezog.

»Lumumba war Premierminister des Kongo. Weißt du, wo der Kongo liegt?«, fragte der Master.

»Nein, Sah.«

Der Master stand rasch auf und ging ins Arbeitszimmer hinüber. Ugwu war so verwirrt und voller Angst, dass seine Augenlider zitterten: Würde der Master ihn nach Hause schicken, weil er nicht gut Englisch sprach, weil er Hühnerstückchen in seine Tasche gesteckt hatte oder weil er die seltsamen Orte nicht kannte, die der Master genannt hatte? Der Master kam mit einem großen Stück Papier zurück, das er auseinanderfaltete und auf dem Esstisch ausbreitete, nachdem er die Bücher und Zeitschriften beiseitegeschoben hatte. Er zeigte mit seinem Füllfederhalter darauf. »Das ist unsere Welt, obwohl die Leute, die diese Karte gezeichnet haben, beschlossen hatten, ihr Land über unseres zu stellen. Siehst du, es gibt weder oben noch unten.« Der Master hob das Papier auf und legte es so zusammen, dass die Kanten sich berührten und ein Hohlraum in der Mitte entstand. »Unsere Welt ist rund, sie hört nie auf. Nee anya, das hier ist alles Wasser, die Meere und Ozeane, hier ist Europa, und da ist unser Kontinent, Afrika, und der Kongo befindet sich etwa hier. Weiter oben liegt Nigeria, und Nsukka ist da, im Südosten. Dort sind wir.« Er tippte mit seinem Füller auf die Stelle.

»Ja, Sah.«

»Bist du in die Schule gegangen?«

»Zweite Klasse Grundschule, Sah. Aber ich lerne alles schnell.«

»Zweite Klasse? Wie lange ist das her?«

»Viele Jahre schon, Sah. Aber ich lerne alles sehr schnell!«

»Warum hast du mit der Schule aufgehört?«

»Mein Vater hat eine ganze Ernte verloren, Sah.«

Der Master nickte langsam. »Warum hat dein Vater niemanden gesucht, der ihm das Schulgeld leiht?«

»Sah?«

»Dein Vater hätte sich etwas borgen sollen!«, erwiderte der Master barsch und fügte dann hinzu: »Bildung geht vor! Wie können wir der Ausbeutung Widerstand leisten, wenn wir nicht einmal das Werkzeug haben, um sie zu begreifen?«

»Ja, Sah!« Ugwu nickte eifrig. Er war entschlossen, so aufgeweckt wie möglich zu erscheinen, seit er den leidenschaftlichen Glanz in den Augen seines Masters gesehen hatte.

»Ich werde dich an der Grundschule für die Kinder des Lehrpersonals einschreiben lassen«, sagte der Master. Er klopfte immer noch mit seinem Stift auf das Stück Papier.

Ugwus Tante hatte ihm gesagt, wenn er einige Jahre gute Dienste leistete, würde ihn der Master auf die Handelsschule schicken, wo er Maschineschreiben und Kurzschrift lernen könnte. Die Grundschule für das Lehrpersonal hatte sie erwähnt, aber nur, um zu erzählen, dass die Dozentenkinder dorthin gingen, in blauen Uniformen und weißen Socken, die mit so feiner Spitze besetzt waren, dass man sich fragte, warum jemand so viel Zeit auf einfache Socken verwandt hatte.

»Ja, Sah«, sagte er. »Danke, Sah.«

»Ich nehme an, du wirst der Älteste in deiner Klasse sein, wenn du in deinem Alter mit der dritten anfängst«, sagte der Master. »Und ihren Respekt wirst du dir nur verschaffen, wenn du der Beste bist. Hast du verstanden?«

»Ja, Sah!«

»Setz dich, mein Guter.«

Ugwu suchte sich den Stuhl aus, der am weitesten vom Master entfernt war, und stellte die Füße unbeholfen nebeneinander. Eigentlich stand er lieber.

»Es gibt immer zwei Antworten auf die Dinge, die man dir über unser Land beibringen wird: die eigentliche Antwort und die Antwort, die du in der Schule geben musst, um zu bestehen. Du musst Bücher lesen und beide Antworten lernen. Bücher werde ich dir geben, ausgezeichnete Bücher.« Der Master unterbrach sich und nahm einen Schluck Tee. »Sie werden dir beibringen, dass ein Weißer namens Mungo Park den Niger entdeckt hat. Das ist Blödsinn. Unsere Leute haben schon im Niger gefischt, lange bevor Mungos Großvater auf die Welt kam. Aber in deiner Prüfung schreib, dass es Mungo Park war.«

»Ja, Sah.« Ugwu wünschte, dieser Mensch namens Mungo Park hätte den Master nicht so beleidigt.

»Kannst du nicht mal was anderes sagen?«

»Sah?«

»Sing mir ein Lied vor.«

»Sah?«

»Sing ein Lied für mich. Was für Lieder kennst du? Sing!« Der Master nahm seine Brille ab. Seine Augenbrauen sahen streng und zerzaust aus. Ugwu fing an, ein altes Lied zu singen, das er auf dem Hof seines Vaters gelernt hatte. Das Herz schlug schmerzhaft in seiner Brust. »Nzogbo nzogbu enyimba, enyi …«

Zuerst sang er leise, aber der Master klopfte mit seinem Stift auf den Tisch und sagte: »Lauter!«, und so hob er die Stimme, doch der Master sagte immer noch: »Lauter!«, bis Ugwu schrie. Nachdem er das Lied mehrere Male wiederholt hatte, bat ihn der Master aufzuhören. »Gut, gut!«, sagte er. »Kannst du Tee machen?«

»Nein, Sah. Aber ich lerne schnell«, sagte Ugwu. Das Singen hatte etwas in ihm gelöst, er atmete leichter, und sein Herz schlug nicht mehr so heftig. Und er war überzeugt davon, dass der Master verrückt war.

»Ich esse meistens im Mitarbeiterclub. Vermutlich muss ich jetzt, wo du da bist, mehr einkaufen.«

»Sah, ich kann kochen.«

»Du kochst?«

Ugwu nickte. Er hatte viele Abende damit verbracht, seiner Mutter beim Kochen zuzuschauen. Er hatte für sie das Feuer angezündet oder die Glut entfacht, wenn sie auszugehen drohte. Er hatte Yamswurzeln und Maniok für sie geschält, hatte Spelzen aus dem Reis gepustet, die Bohnen nach Käfern abgesucht, Zwiebeln geschält und Pfeffer gemahlen. Oft, wenn seine Mutter ihren Husten hatte und krank war, hatte er sich gewünscht, er und nicht Anulika würde kochen. Das hatte er nie jemandem verraten, nicht einmal Anulika; die hatte sowieso schon zu ihm gesagt, er verbringe zu viel Zeit mit kochenden Frauen und dass ihm vielleicht nie ein Bart wachse, wenn er so weitermache.

»Na gut, dann kannst du dir dein eigenes Essen zubereiten«, sagte der Master. »Schreib einfach eine Liste, was du brauchst.«

»Ja, Sah.«

»Du weißt wahrscheinlich nicht, wie man zum Markt kommt, oder? Ich werde Jomo bitten, dir den Weg zu zeigen.«

»Jomo, Sah?«

»Jomo kümmert sich um das Anwesen. Er kommt dreimal die Woche. Ein seltsamer Kauz, ich habe gesehen, wie er mit einem Wunderstrauch gesprochen hat.« Der Master hielt inne. »Jedenfalls kommt er morgen.«

Später schrieb Ugwu eine Liste mit Lebensmitteln und gab sie dem Master.

Der Master schaute sich die Liste eine Weile an. »Bemerkenswerte Mischung«, sagte er auf Englisch. »Ich denke, in der Schule werden sie dir beibringen, mehr Vokale zu verwenden.«

Ugwu missfiel der amüsierte Ausdruck im Gesicht des Masters. »Wir brauchen Holz, Sah«, sagte er.

»Holz?«

»Für Ihre Bücher, Sah. Damit ich sie aufräumen kann.«

»Ach, du meinst Regale. Ich denke, ein paar mehr könnten wir schon noch irgendwo aufbauen, vielleicht im Flur. Ich werde mit jemandem von der Hausverwaltung sprechen.«

»Ja, Sah.«

»Odenigbo. Nenn mich Odenigbo.«

Ugwu schaute ihn zweifelnd an. »Sah?«

»Ich heiße nicht Sah. Nenn mich Odenigbo.«

»Ja, Sah.«

»Odenigbo werde ich immer heißen. Sir ist beliebig. Ebenso gut könntest morgen du der Sir sein.«

»Ja, Sah … Odenigbo.«

Ugwu war »Sah« wirklich lieber; er mochte die frische Kraft, die in dem Wort steckte, und als ein paar Tage später zwei Männer von der Hausverwaltung kamen, um auf dem Flur Regale aufzubauen, sagte er ihnen, sie müssten warten, bis Sah nach Hause komme; er selber könne das weiße Blatt Papier mit den maschinegeschriebenen Wörtern nicht unterzeichnen. Das Wort »Sah« sagte er voller Stolz.

»Das ist so ein Houseboy aus dem Dorf«, sagte einer der Männer abfällig, und Ugwu schaute dem Mann ins Gesicht und murmelte einen Fluch über akuten Durchfall, der ihn und seine ganze Nachkommenschaft sein Leben lang heimsuchen solle. Während er die Bücher seines Masters einräumte, nahm er sich vor zu lernen, wie man offizielle Dokumente unterschrieb, und fast hätte er seinen Vorsatz laut ausgesprochen.

In den folgenden Wochen, in denen er jeden Winkel des Bungalows untersuchte, in denen er auch entdeckte, dass Bienen im Cashewbaum ein Nest gebaut hatten und die Schmetterlinge sich im Hof versammelten, wenn die Sonne am hellsten schien, war er ebenso darauf bedacht, sich den Tagesablauf seines Masters anzueignen. Jeden Morgen holte er die Daily Times und die Renaissance, die der Zeitungsverkäufer an die Tür brachte, und legte sie dem Master gefaltet auf den Tisch neben den Tee und das Brot. Bevor der Master mit seinem Frühstück fertig war, hatte Ugwu seinen Opel gewaschen, und wenn der Master von der Arbeit nach Hause kam und ein Mittagsschläfchen hielt, wischte er nochmals den Staub von dem Wagen, bevor sein Master sich auf den Weg zum Tennisplatz machte. An den Tagen, an denen sich der Master stundenlang in sein Arbeitszimmer zurückzog, bemühte er sich, leise zu sein. Sollte der Master auf dem Korridor auf und ab gehen und mit lauter Stimme sprechen, sorgte er dafür, dass immer heißes Wasser für Tee bereitstand. Jeden Tag schrubbte er die Fußböden. Er wischte die Lamellen der Jalousien, bis sie im Nachmittagslicht funkelten, kümmerte sich um die winzigen Risse in der Badewanne und polierte die Unterteller, auf denen er den Freunden des Masters Kolanüsse servierte. Jeden Tag kamen mindestens zwei Menschen zu Besuch, und aus der Musiktruhe im Wohnzimmer tönte dann leise, seltsam flötenartige Musik, so leise, dass Ugwu in der Küche oder auf dem Flur, wo er die Kleidung seines Masters bügelte, das Reden und Lachen und Gläserklirren hören konnte.

Er wollte noch viel mehr tun, wollte dem Master allen Grund geben, ihn zu behalten, und so kam es, dass er eines Morgens die Socken des Masters bügelte. Eigentlich sahen sie gar nicht zerknittert aus, die schwarzen gerippten Socken, aber er dachte, sie würden noch besser aussehen, wenn sie noch glatter waren. Das heiße Bügeleisen zischte, und als er es in die Höhe hob, sah er, dass die Hälfte der Socke daran festklebte. Er erstarrte. Der Master saß am Esstisch, war fast mit dem Frühstück fertig und würde jeden Moment hereinkommen, um Socken und Schuhe anzuziehen, die Ordner vom Regal zu nehmen und zur Arbeit zu fahren. Ugwu wollte die Socke unter dem Stuhl verstecken und rasch zur Schublade laufen, um ein frisches Paar zu holen, aber seine Beine wollten sich nicht bewegen. Er stand mit der verbrannten Socke da und wusste, dass der Master ihn genau so antreffen würde, wenn er hereinkam.

»Du hast meine Socken gebügelt, richtig?«, fragte der Master. »Du dummer Ignorant!« »Ignorant« klang aus seinem Munde wie Musik.

»Tut mir leid, Sah. Tut mir leid, Sah!«

»Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht Sir nennen.« Der Master nahm einen Aktenordner vom Regal. »Ich bin spät dran.«

»Sah? Soll ich ein anderes Paar bringen?«, fragte Ugwu. Der Master war schon ohne Socken in seine Schuhe geschlüpft und eilte hinaus. Ugwu hörte, wie er die Tür zuknallte und wegfuhr. Ein schweres Gewicht lastete auf seiner Brust; er wusste nicht, warum er die Socken gebügelt hatte, warum er es nicht bei dem Safarianzug belassen hatte. Böse Geister, das war es. Die bösen Geister hatten ihn dazu gebracht. Immerhin lauerten sie überall, und wann immer er am Fieber erkrankt oder als er einmal von einem ube-Baum gefallen war, hatte seine Mutter seinen Körper mit okwuma eingerieben und dabei die Worte gemurmelt: »Wir werden sie bekämpfen, niemals werden sie siegen.«

Er ging auf den vorderen Hof hinaus, vorbei an den Steinen, die sich in Reih und Glied um den getrimmten Rasen zogen. Die bösen Geister würden nicht siegen. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn besiegten. In der Mitte des Rasens befand sich wie eine Insel im grünen Meer ein runder, grasloser Fleck, auf dem eine dünne Palme wuchs. Eine so kurze Palme hatte Ugwu noch nie gesehen, auch keine, deren Blätter auf so vollkommene Weise in alle Richtungen standen. Der Baum sah so aus, als wäre er nicht stark genug, um Früchte zu tragen, überhaupt sah er nicht sehr nützlich aus, wie die meisten Pflanzen hier. Ugwu hob einen Stein auf und warf ihn, so weit er konnte. So viel ungenutzter Platz. In seinem Dorf nutzten die Leute sogar die winzigsten Stellen rund um ihre Häuser, um sie mit nützlichem Gemüse und Kräutern zu bepflanzen. Ihr Lieblingskraut arigbe hatte seine Großmutter nicht anpflanzen müssen, weil es überall wild wuchs. Arigbe mache das Herz eines Menschen weich, pflegte sie zu sagen. Sie war die zweite von drei Ehefrauen gewesen und hatte nicht die besondere Stellung innegehabt, die der ersten oder der letzten Frau gebührte, weshalb sie ihrem Mann jedes Mal eine würzige Yamsgrütze mit arigbe zubereitet hatte, bevor sie mit einer Bitte an ihn herangetreten war. Das hatte sie Ugwu erzählt; es habe immer gewirkt. Vielleicht würde es auch bei seinem Master wirken.

Ugwu lief umher und suchte nach arigbe. Er schaute zwischen den rosa Blumen, unter dem Cashewbaum mit dem löchrigen Bienenstock, der in einer Astgabel hing, unter dem Zitronenbaum, an dessen Stamm schwarze Ameisensoldaten auf und ab krabbelten, und unter den Papayabäumen, deren reifende Früchte dort, wo die Vögel an ihnen gepickt hatten, von dicken Löchern zerfurcht waren. Doch der Boden war sauber, keine Kräuter; Jomo jätete gründlich und sorgfältig, nichts, was nicht erwünscht war, blieb hier stehen.

Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Ugwu Jomo gegrüßt, und Jomo hatte genickt und, ohne etwas zu sagen, mit seiner Arbeit weitergemacht. Er war ein kleiner Mann mit einem zähen, verschrumpelten Körper, der, wie Ugwu fand, das Gießen nötiger gehabt hätte als die Pflanzen, auf die er mit der Tülle seiner Metallkanne zielte. Schließlich schaute Jomo zu Ugwu auf. »Afa m bu Jomo«, verkündete er, als wüsste Ugwu seinen Namen nicht. »Manche Leute nennen mich Kenyatta, nach dem großen Mann in Kenia. Ich bin Jäger.«

Ugwu wusste nicht, was er erwidern sollte, weil Jomo ihm direkt in die Augen schaute, als erwartete er, dass auch Ugwu von einer bemerkenswerten Tätigkeit berichtete.

»Was für Tiere tötest du denn?«, fragte Ugwu. Jomo strahlte, als sei dies genau die Frage, die er sich gewünscht hatte, und begann, über sein Leben als Jäger zu berichten. Ugwu saß auf der Treppe, die in den Hinterhof führte, und hörte ihm zu. Schon vom ersten Tag an glaubte er kein Wort von Jomos Geschichten – wie er sich zum Beispiel mit bloßen Händen gegen einen Leoparden verteidigt oder wie er zwei Paviane mit einem einzigen Schuss erlegt hatte –, aber er hörte ihm gerne zu und verschob das Waschen der Kleider des Masters auf die Tage, an denen Jomo kam, damit er draußen sitzen konnte, während Jomo arbeitete. Dies tat Jomo mit langsamer Besonnenheit. All sein Rechen, Gießen und Pflanzen schien von einer feierlichen Weisheit erfüllt zu sein. Manchmal blickte er mitten im Stutzen einer Hecke auf, sagte: »Das ist gutes Fleisch«, und ging dann zu der Ziegenledertasche, die hinten auf sein Fahrrad gebunden war, um darin nach seiner Schleuder zu suchen. Einmal holte er mit einem kleinen Stein eine Buschtaube vom Cashewbaum herunter, wickelte das Tier in Blätter ein und steckte es in seine Tasche.

»Geh ja nicht in die Nähe dieser Tasche, wenn ich nicht dabei bin«, sagte er zu Ugwu. »Sonst findest du vielleicht einen Menschenkopf darin.«

Ugwu lachte, aber für ganz unwahrscheinlich hielt er das nicht. Er wünschte sich so sehr, Jomo wäre heute zur Arbeit gekommen. Jomo wäre die ideale Person gewesen, um sich nach arigbe zu erkundigen, ja vielleicht auch für einen Rat, wie man den Master am besten versöhnlich stimmen könne.

Er verließ das Anwesen und ging auf die Straße hinaus, um zwischen den Pflanzen am Straßenrand zu schauen, bis er die zerknitterten Blätter in der Nähe einer Kasuarinenwurzel sah. So etwas wie die würzige Schärfe der arigbe hatte er in dem eintönigen Essen, das der Master aus dem Mitarbeiterclub nach Hause brachte, nie gerochen; er würde einen Eintopf damit würzen, dem Master etwas davon mit Reis anbieten und ihn danach um Nachsicht anflehen. Bitte schicken Sie mich nicht nach Hause, Sah. Ich werde für die verbrannte Socke zusätzlich arbeiten. Ich werde das Geld verdienen, damit ich sie ersetzen kann. Genau wusste er nicht, wie er das Geld verdienen sollte, das er für die Socke brauchte, aber trotzdem wollte er es dem Master anbieten.

Wenn die arigbe das Herz des Masters erweichte, würde er das Kraut vielleicht im Hinterhof anpflanzen und noch ein paar andere Kräuter dazu. Er würde dem Master sagen, dass er sich um den Garten kümmern könne, bevor er mit der Schule anfing, denn die Direktorin hatte dem Master mitgeteilt, er könne erst Mitte des Semesters mit dem Unterricht beginnen. Vielleicht machte er sich auch zu viele Hoffnungen. Was hatte es für einen Sinn, über einen Kräutergarten nachzudenken, wenn der Master ihn sowieso entließ, wenn er ihm nicht verzeihen würde, dass er die Socke verbrannt hatte? Er ging rasch in die Küche, legte die arigbe auf den Tisch und maß etwas Reis ab.

Stunden später hörte er mit einem dumpfen Gefühl der Vorahnung das Auto des Masters, das Knirschen des Kieses in der Auffahrt, das Summen des Motors, dann kam der Wagen in der Garage zum Stehen. Er stand vor dem Eintopf und rührte darin herum, wobei sich seine Faust mit derselben Kraft um die Schöpfkelle verkrampfte, wie sich sein Magen zusammenzog. Würde ihn der Master entlassen, bevor er die Gelegenheit hatte, ihm etwas von dem Essen anzubieten? Und was würde er seiner Familie sagen?

»Guten Nachmittag, Sah – Odenigbo«, rief er, noch bevor der Master in die Küche getreten war.

»Ja, ja«, sagte der Master. Er hielt mit der einen Hand ein paar Bücher an die Brust gedrückt und in der anderen seine Aktentasche. Ugwu eilte zu ihm, um ihm mit den Büchern zu helfen. »Sah? Werden Sie essen?«, fragte er auf Englisch.

»Was denn essen?«

Ugwus Magen verkrampfte sich noch mehr. Er fürchtete, er könnte platzen, als er sich bückte, um die Bücher auf den Esstisch zu legen. »Eintopf, Sah.«

»Eintopf?«

»Ja, Sah. Sehr guten Eintopf, Sah.«

»Dann probiere ich ein wenig davon.«

»Ja, Sah.«

»Nenn mich Odenigbo!«, fuhr ihn der Master an, bevor er hinausging, um sein nachmittägliches Bad zu nehmen.

Nachdem Ugwu das Essen serviert hatte, blieb er an der Küchentür stehen und schaute dem Master zu, wie er eine Gabel voll Eintopf und Reis nahm, dann noch eine. Schließlich rief er: »Ausgezeichnet, mein Guter.«

Ugwu trat hinter der Tür hervor. »Sah? Ich kann die Kräuter in einem kleinen Garten anbauen. Dann kann ich noch mehr Eintöpfe wie diesen kochen.«

»In einem Garten?« Der Master hielt inne, um einen Schluck Wasser zu trinken und in seiner Zeitschrift eine Seite umzublättern. »Nein, nein, nein. Draußen ist Jomos Revier und drinnen deins. Arbeitsteilung, mein Guter. Wenn wir Kräuter brauchen, bitten wir Jomo, sich darum zu kümmern.« Ugwu liebte den Klang der Worte »Arbeitsteilung«, »mein Guter«, auf Englisch gesprochen.

»Ja, Sah«, sagte er, obwohl ihm bereits eine Idee gekommen war, welcher Platz sich wohl am besten als Kräutergarten eignen würde: in der Nähe des Dienstbotenquartiers, wo der Master nie hinkam. Jomo konnte er den Kräutergarten nicht anvertrauen, und so würde er sich selbst darum kümmern, wenn der Master ausgegangen war. Auf diese Weise würde ihm arigbe, das Kraut der Vergebung, niemals ausgehen. Erst später an diesem Abend wurde ihm bewusst, dass der Master die verbrannte Socke längst vergessen haben musste, bevor er nach Hause gekommen war.

Auch andere Dinge wurden Ugwu bewusst. Er war kein normaler Houseboy; Doktor Okekes Houseboy nebenan schlief nicht in einem Bett in einem Zimmer, er schlief auf dem Küchenboden. Der Houseboy am Ende der Straße, mit dem Ugwu auf den Markt ging, entschied nicht selbst, was gekocht werden würde, er kochte, was immer man ihm sagte. Und sie alle hatten keinen Master oder keine Madam, die ihnen Bücher gaben und sagten: »Das hier ist ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet.«

Ugwu verstand die meisten Sätze in den Büchern nicht, aber er tat trotzdem so, als läse er. Auch die Gespräche zwischen dem Master und seinen Freunden verstand er nicht zur Gänze, aber er lauschte dennoch und hörte, dass die Welt mehr dagegen tun könne, wenn in Sharpeville Schwarze umgebracht wurden, dass es den Amerikanern recht geschehe, wenn man in Russland ihr Spionageflugzeug abgeschossen hatte, dass de Gaulle sich in Algerien ungeschickt verhalte und dass die Vereinten Nationen Tshombe in der Provinz Katanga niemals loswerden würden. Ab und zu stand der Master auf, hob seine Stimme und sein Glas – »Auf den tapferen schwarzen Amerikaner, der an der Universität von Mississippi zugelassen wurde!« – »Auf Ceylon und die erste weibliche Premierministerin der Welt!« – »Auf Kuba, das die Amerikaner mit ihren eigenen Waffen geschlagen hat!« –, und dann hörte Ugwu das Klirren von Bierflaschen gegen Gläser, von Gläsern gegen Gläser, von Flaschen gegen Flaschen.

An den Wochenenden kamen mehr Freunde zu Besuch, und wenn er Getränke servierte, stellte ihn der Master manchmal vor, auf Englisch natürlich. »Ugwu hilft mir hier im Haus. Ein sehr gescheiter Bursche.« Dann fuhr Ugwu mit dem Öffnen der Bier- und Colaflaschen fort und spürte, wie sich eine Welle von Stolz von den Zehenspitzen her in seinem ganzen Körper ausbreitete. Besonders gefiel es ihm, wenn der Master ihn Ausländern vorstellte wie Mr Johnson, der aus der Karibik kam und stotterte, oder Professor Lehman, dem näselnden Weißen aus Amerika, dessen Augen das durchdringende Grün eines frischen Blattes hatten. Als Ugwu ihn das erste Mal gesehen hatte, war er etwas verängstigt gewesen, weil in seiner Vorstellung nur böse Geister grasgrüne Augen hatten.

Bald merkte er sich die Gäste, die regelmäßig kamen, und brachte ihnen ihre Getränke, bevor der Master ihn darum bat. Da war Doktor Patel, der Inder, der Golden Guinea Bier mit Cola trank. Der Master nannte ihn »Doc«. Wann immer Ugwu Kolanüsse brachte, sagte der Master: »Doc, Sie wissen ja, dass die Kolanuss kein Englisch versteht«, und sprach auf Igbo einen Segen über die Nuss. Doktor Patel lachte jedes Mal mit großem Vergnügen, lehnte sich im Sofa zurück und warf seine kurzen Beine in die Luft, als hätte er diesen Witz noch nie gehört. Wenn der Master die Kolanuss dann aufgebrochen hatte und den Unterteller herumreichte, nahm Doktor Patel immer ein Stückchen und steckte es sich in die Hemdentasche; niemals sah Ugwu ihn etwas davon essen.

Da war der große, hagere Professor Ezeka mit einer Stimme, die so heiser war, als flüsterte er. Immer hob er sein Glas in die Höhe und hielt es gegen das Licht, um zu prüfen, ob Ugwu es richtig gespült hatte. Manchmal brachte er seine eigene Flasche Gin mit. Bei anderen Gelegenheiten bat er um Tee, untersuchte auf die übliche Weise die Zuckerdose und die Kondensmilchbüchse und murmelte: »Bakterien sind zu ganz erstaunlichen Dingen fähig.«

Da war Okeoma, der am häufigsten kam und am längsten blieb. Er sah jünger aus als die anderen Gäste, trug immer kurze Hosen und hatte buschiges, gescheiteltes Haar, das noch höher abstand als das des Masters. Im Gegensatz zum Haar des Masters sah es jedoch struppig und verfilzt aus, als würde Okeoma es nie kämmen. Okeoma trank Fanta. An manchen Abenden las er aus seinen Gedichten vor, in der Hand einen Stapel Papier, und Ugwu linste durch die Küchentür und sah all die Gäste, die zuhörten, ihre Gesichter halb erstarrt, als wagten sie nicht zu atmen. Danach klatschte der Master und sagte mit seiner lauten Stimme: »Das Sprachrohr unserer Generation!«, und dann ging das Klatschen weiter, bis Okeoma mit barscher Stimme rief: »Genug!«

Und dann war da Miss Adebayo, die wie der Master Brandy trank und überhaupt nicht dem entsprach, wie sich Ugwu eine Frau von der Universität vorgestellt hatte. Seine Tante hatte ihm ein wenig über Frauen von der Universität erzählt. Sie kannte sich aus, denn bei Tage arbeitete sie als Putzfrau an der wissenschaftlichen Fakultät und am Abend als Kellnerin im Mitarbeiterclub; manchmal bezahlten sie Dozenten auch dafür, dass sie zu ihnen nach Hause kam und saubermachte. Sie berichtete, dass die Dozenten oft gerahmte Fotos aus ihrer Studentenzeit in Ibadan und Großbritannien und Amerika auf dem Regal stehen hatten. Zum Frühstück aßen sie Eier, die nicht richtig gar waren, so dass das Eigelb auf dem Teller herumrutschte, und die Frauen trugen Perücken aus glattem, elastischem Haar und Maxikleider, die ihnen bis zu den Fußknöcheln reichten. Einmal erzählte sie die Geschichte von einem Paar, das zu einer Cocktailparty in den Mitarbeiterclub ging. Die beiden stiegen aus einem schmucken Peugeot 404, der Mann in einem eleganten cremefarbenen Anzug, die Frau in einem grünen Kleid. Alle drehten sich nach ihnen um, wie sie Hand in Hand die Straße überquerten, und dann blies der Wind der Frau die Perücke vom Kopf. Sie hatte eine Glatze. Das komme von den heißen Kämmen, sagte seine Tante, mit denen sie ihre Haare glätteten, weil sie aussehen wollten wie die Weißen, obwohl sie sich dabei nur die Haare versengten. Ugwu hatte sich die kahlköpfige Frau vorgestellt: schön, mit einer geraden Nase, die sich nach oben richtete, nicht wie die plattgedrückten flachen Nasen, an die er gewöhnt war. Er stellte sich Ruhe vor, Zerbrechlichkeit, eine Frau, deren Niesen, deren Lachen und Reden so weich waren wie die zarten Federn unter dem Kinn eines Huhns. Doch die Frauen, die den Master besuchten, diejenigen, die er im Supermarkt und auf den Straßen traf, waren anders. Die meisten trugen tatsächlich Perücken (nur ein paar hatten ihr Haar zu Zöpfchen geflochten, teils mit Fäden durchwirkt), aber sie alle waren keine zarten Grashälmchen. Sie waren laut. Die lauteste war Miss Adebayo. Sie war keine Igbo; das hätte Ugwu schon aus ihrem Namen geschlossen, selbst wenn er sie und ihr Hausmädchen nicht eines Tages auf dem Markt getroffen und das schnelle, unverständliche Yoruba hätte sprechen hören. Damals hatte sie ihn aufgefordert zu warten, damit sie ihn zurück auf das Campusgelände mitnehmen könne, aber er hatte gedankt und gesagt, er würde ein Taxi nehmen, weil er noch so viele Sachen besorgen müsse; dabei war er mit dem Einkaufen fertig gewesen. Er wollte nicht in ihrem Auto mitfahren, er mochte es nicht, wie sich ihre Stimme im Wohnzimmer über die des Masters erhob, wenn sie ihre Meinung vertrat und diskutierte. Oft kämpfte er gegen sein Verlangen an, hinter der Küchentür die Stimme zu erheben und ihr zu sagen, sie solle den Mund halten, besonders wenn sie den Master einen Sophisten nannte. Er wusste nicht, was »Sophist« bedeutete, aber er mochte es nicht, wenn sie den Master so nannte. Auch die Art, wie sie den Master anschaute, gefiel ihm nicht. Selbst wenn jemand anders redete und sich ihre Aufmerksamkeit auf diese Person hätte richten sollen, lag ihr Blick immer auf Ugwus Herrn. Eines Samstagabends ließ Okeoma ein Glas fallen, und Ugwu kam ins Zimmer, um die Scherben einzusammeln, die auf dem Boden lagen. Er ließ sich Zeit mit dem Saubermachen. Von hier aus konnte man dem Gespräch besser folgen, und es war leichter zu verstehen, was Professor Ezeka sagte. Von der Küche aus war der Mann kaum zu hören.

»Wir sollten auf das, was in den Südstaaten der USA passiert, wirklich eine entschiedene panafrikanische Antwort geben«, sagte Professor Ezeka.

Der Master schnitt ihm das Wort ab. »Du weißt doch, dass die panafrikanische Bewegung im Grunde ein europäischer Gedanke ist.«

»Du lenkst ab«, sagte Professor Ezeka und schüttelte in seiner überheblichen Art den Kopf.

»Vielleicht ist sie ein europäischer Gedanke«, sagte Miss Adebayo. »Aber bei globaler Betrachtung gehören wir alle derselben Rasse an.«

»Was für eine globale Betrachtung?«, fragte der Master. »Die globale Betrachtung des weißen Mannes! Begreifst du denn nicht, dass wir uns nur in den Augen der Weißen ähnlich sind?« Es kam durchaus vor, dass sich die Stimme des Masters erhob, das hatte Ugwu schon bemerkt, und bei seinem dritten Brandy begann er meistens, mit dem Glas in der Hand zu gestikulieren, wobei er sich so weit nach vorne beugte, dass er fast nur noch auf der Kante seines Sessels saß. Spät in der Nacht, nachdem der Master zu Bett gegangen war, setzte sich Ugwu oft in diesen Sessel und stellte sich vor, wie er selber so schnell Englisch sprach, wie er mit imaginären Gästen leidenschaftliche Diskussionen führte und Worte benutzte wie »dekolonialisieren« und »panafrikanisch«, wobei er den Klang der Stimme seines Masters nachahmte und immer weiter und weiter nach vorne rutschte, bis er auf der Kante saß.

»Natürlich sind wir alle gleich, wir alle haben die Unterdrückung durch die Weißen gemeinsam«, sagte Miss Adebayo trocken. »Der Panafrikanismus ist einfach nur die vernünftigste Antwort darauf.«

»Natürlich, natürlich, aber ich behaupte, die authentische Identität eines Afrikaners verdankt sich einzig seinem Stamm«, sagte der Master. »Ich bin Nigerianer, weil ein weißer Mann Nigeria geschaffen und mir diese Identität gegeben hat. Ich bin schwarz, weil die Weißen das Schwarze als größtmöglichen Gegenpol zu ihrem Weiß konstruiert haben. Aber ich war ein Igbo, bevor der weiße Mann kam.«

Professor Ezeka schnaubte und schüttelte den Kopf, die dünnen Beine gekreuzt. »Aber du bist dir doch erst wegen des weißen Mannes bewusst geworden, dass du ein Igbo bist. Der Pan-Igbo-Gedanke entstand erst unter weißer Vorherrschaft. Du musst doch begreifen, dass der Stamm als solcher heute ein ebenso koloniales Produkt ist wie die Nation und die Rasse.« Professor Ezeka schlug erneut die Beine übereinander.

»Der Pan-Igbo-Gedanke hat lange vor dem weißen Mann existiert!«, rief der Master. »Frag nur die Ältesten deines Dorfes nach eurer Geschichte.«

»Das Problem ist, dass Odenigbo ein hoffnungsloser Anhänger des Stammesgedankens ist. Wir müssen ihn zum Verstummen bringen«, sagte Miss Adebayo.

Und dann tat sie etwas, das Ugwu erschreckte: Sie stand lachend auf, ging zum Master hinüber und presste seine Lippen zusammen. Lange stand sie so da, die Hand an seinem Mund. Ugwu stellte sich vor, wie der mit Brandy durchsetzte Speichel des Masters ihre Finger benetzte, und er erstarrte, während er die Glasscherben einsammelte. Er wünschte, der Master hätte nicht dort gesessen und den Kopf geschüttelt, als wäre die Sache einfach nur furchtbar lustig.

Danach wurde Miss Adebayo zu einer Bedrohung. Sie sah mehr und mehr wie ein Flughund aus, mit ihrem verkniffenen Gesicht, ihrer fleckigen Haut und den Kleidern aus bedrucktem Stoff, die sich um ihren Körper bauschten wie Flügel. Ugwu reichte ihr immer zuletzt etwas zu trinken und brachte, wenn sie klingelte, lange Minuten damit zu, sich die Hände an einem Geschirrtuch abzutrocknen, bevor er die Tür aufmachte, um sie einzulassen. Er fürchtete, sie könnte den Master heiraten und ihr Hausmädchen, das nur Yoruba sprach, mitbringen, und dann würde sie seinen Kräutergarten kaputt machen und ihm sagen, was er kochen solle und was nicht. Bis er das Gespräch zwischen dem Master und Okeoma mit anhörte.

»Sie sah nicht so aus, als wollte sie heute nach Hause gehen«, sagte Okeoma. »Nwoke m, bist du sicher, dass du nicht irgendwelche Absichten hast?«

»Red keinen Blödsinn.«

»Selbst wenn, würde niemand in London es erfahren.«

»Jetzt hör mir mal zu …«

»Ich weiß, dass du nicht auf diese Weise an ihr interessiert bist, aber was mich immer verblüfft, ist, was die Frauen an dir finden.«

Okeoma lachte, und Ugwu war erleichtert. Er wollte Miss Adebayo nicht, er wollte überhaupt keine Frau, die bei ihnen eindrang und ihr Leben in Unordnung brachte. An manchen Abenden, wenn die Besucher früh gegangen waren, saß er im Wohnzimmer auf dem Boden und hörte dem Master zu. Meistens sprach der Master über Dinge, die Ugwu nicht verstand, als hätte der Brandy ihn vergessen lassen, dass Ugwu keiner von seinen Besuchern war. Aber das machte nichts. Alles, was Ugwu brauchte, war seine tiefe Stimme, war die Melodie seines mit englischen Wendungen durchsetzten Igbo, das Schimmern seiner dicken Brillengläser.

 

Er war schon vier Monate bei dem Master, als der zu ihm sagte: »Übers Wochenende kommt eine besondere Frau zu uns. Eine ganz besondere Frau. Du musst dafür sorgen, dass das Haus sauber ist. Ich werde Essen aus dem Mitarbeiterclub bestellen.«

»Aber, Sah, ich kann kochen«, sagte Ugwu mit einer traurigen Vorahnung.

»Sie ist gerade erst aus London zurück, mein Guter, und mag ihren Reis auf eine bestimmte Weise zubereitet. Gebraten, glaube ich. Ich bin mir nicht sicher, ob du etwas Entsprechendes machen kannst.« Der Master wandte sich zum Gehen.

»Das kann ich sehr gut, Sah«, sagte Ugwu schnell, obwohl er keine Ahnung hatte, was gebratener Reis war. »Lassen Sie mich den Reis machen, und Sie besorgen das Huhn aus dem Mitarbeiterclub.«

»Geschickte Verhandlungstechnik«, sagte der Master auf Englisch. »Also gut. Du machst den Reis.«

»Ja, Sah«, sagte Ugwu. Später putzte er die Zimmer und schrubbte sorgfältig die Toilette, wie er das immer tat, aber danach schaute sich der Master alles an und sagte, es sei nicht sauber genug, und dann ging er fort und brachte eine neue Dose Vim-Scheuerpulver und fragte mit barscher Stimme, warum Ugwu nicht zwischen den Fliesen saubergemacht habe. Ugwu putzte sie noch einmal. Er schrubbte, bis ihm der Schweiß zu beiden Seiten des Gesichts herunterlief und sein Arm weh tat. Als er am Samstag kochte, hatte er Wut im Bauch. Der Master hatte sich noch nie über seine Arbeit beschwert. Das war alles die Schuld dieser Frau, dieser Frau, die in den Augen des Masters so besonders war, dass Ugwu nicht einmal für sie kochen sollte. Eben direkt aus London zurückgekehrt.

Als es an der Tür klingelte, murmelte er einen Fluch, ihr Bauch möge vom Kotessen anschwellen. Er hörte die erhobene Stimme des Masters, aufgeregt und kindlich, gefolgt von einer langen Stille, und Ugwu stellte sich vor, wie sie sich umarmten und wie sie ihren hässlichen Körper an den des Masters drückte. Dann hörte er ihre Stimme. Er blieb stocksteif stehen. Immer hatte er gedacht, das Englisch des Masters sei mit nichts zu vergleichen, weder mit dem von Professor Ezeka, dessen Englisch man kaum hören konnte, noch mit dem von Okeoma, der Englisch sprach wie Igbo, mit denselben Kadenzen und Pausen, oder mit dem von Patel, dessen Englisch wie ein schwächliches Trällern war. Nicht einmal der Weiße, Mister Lehman, der die Worte durch seine Nase zu pressen schien, klang so gediegen wie der Master. Das Englisch des Masters war Musik, aber was Ugwu jetzt von dieser Frau hörte, das war Magie. Es war eine höhere Sprache, eine Sprache voller Licht, die Art von Englisch, die Ugwu im Radio des Masters hörte und die mit knapper Präzision gesprochen wurde. Sie erinnerte daran, wie man mit einem frisch geschärften Messer eine Yamswurzel aufschnitt, jede Scheibe ein Stück glatte, geschmeidige Perfektion.

»Ugwu!«, rief der Master. »Bring Cola!«

Ugwu ging ins Wohnzimmer. Sie roch nach Kokosnuss. Er begrüßte sie, murmelte ein »Guten Tag«, die Augen auf den Boden gerichtet.

»Kedu?«, fragte sie.

»Mir geht es gut, Mah.« Er schaute sie immer noch nicht an. Als er die Flasche öffnete, lachte sie über etwas, das der Master gesagt hatte. Gerade wollte Ugwu die kalte Cola in ihr Glas gießen, als sie seine Hand berührte und sagte: »Rapuba, kümmere dich nicht darum.«

Ihre Hand war etwas feucht. »Ja, Mah.«

»Dein Master hat mir erzählt, wie gut du für ihn sorgst, Ugwu«, sagte sie. Auf Igbo klangen die Worte bei ihr weicher als auf Englisch, und es enttäuschte ihn, wie leicht sie ihr von den Lippen gingen. Er hatte sich gewünscht, ihr Igbo sei holprig; dass ihr so perfektes Englisch mit einem so perfekten Igbo vereinbar war, hatte er nicht erwartet.

»Ja, Mah«, murmelte er. Seine Augen waren immer noch auf den Boden gerichtet.

»Was hast du denn für uns gekocht, mein Guter?«, fragte der Master, als wüsste er es nicht. Er klang nervtötend munter.

»Ich serviere jetzt, Sah«, sagte Ugwu auf Englisch und wünschte im selben Moment, er hätte gesagt Ich werde dann jetzt servieren, weil das besser klang und mehr Eindruck auf sie gemacht hätte. Während er den Tisch deckte, bemühte er sich, nicht ins Wohnzimmer hinüberzuschauen, obwohl er ihr Lachen hörte und die Stimme des Masters mit ihrer irritierenden neuen Klangfarbe.

Als sie und der Master am Tisch Platz nahmen, schaute er sie endlich an. Ihr ovales Gesicht war glatt wie ein Ei und hatte die satte Farbe regendurchtränkter Erde, und ihre Augen waren groß und schräg. Sie sah aus, als wäre es einfach nicht vorgesehen, dass sie wie alle anderen Menschen ging und sprach; am besten, man setzte sie in ein Glaskästchen wie das im Arbeitszimmer des Masters, wo die Leute ihren kurvenreichen, fleischigen Körper bewundern könnten und wo sie unbeschadet die Zeit überdauern würde. Ihr Haar war lang, und die beiden Zöpfe, die ihr bis zum Hals hinunterhingen, endeten in einem weichen Büschel. Sie lächelte gern; ihre Zähne waren von demselben strahlenden Weiß wie ihre Augäpfel. Er wusste nicht, wie lange er sie angestarrt hatte, bis der Master sagte: »Das kann Ugwu eigentlich viel besser. Er macht einen ausgezeichneten Eintopf.«

»Er schmeckt nach nicht viel, was natürlich besser ist, als wenn er schlecht schmecken würde«, sagte sie und lächelte den Master an, bevor sie sich an Ugwu wandte. »Ich zeige dir, wie man Reis richtig zubereitet, Ugwu, und du solltest auch nicht so viel Öl nehmen.«

»Ja, Mah«, sagte Ugwu. Er hatte sich das Rezept für gebratenen Reis selbst ausgedacht und den Reis in Erdnussöl geschwenkt, und dabei hatte er halb gehofft, dass beide dann im Eiltempo auf die Toilette müssten. Mittlerweile jedoch wollte er eine vollendete Mahlzeit kochen, zum Beispiel einen schmackhaften Jollof-Reis oder seinen Spezialeintopf mit arigbe, um ihr zu zeigen, wie gut er kochen konnte. Den Abwasch verschob er auf später, damit das laufende Wasser ihre Stimme nicht übertönte. Als er ihnen Tee servierte, ordnete er die Plätzchen immer wieder neu auf dem Teller an, um noch eine Weile bleiben und ihrer Stimme lauschen zu können, bis der Master schließlich sagte: »Das ist dann jetzt in Ordnung, mein Guter.« Sie hieß Olanna. Aber der Master sagte ihren Namen nur ein Mal; meistens nannte er sie nkem, meine Frau. Sie sprachen über die Auseinandersetzung zwischen dem Sardauna und dem Premier der Westregion, und dann sagte der Master noch, sie würden warten, bis sie nach Nsukka zog, und dass es schließlich nur noch ein paar Wochen seien. Ugwu hielt den Atem an, um sicherzugehen, dass er richtig verstanden hatte. Gerade lachte der Master und sagte: »Aber wir werden hier zusammenleben, nkem, und das Apartment in der Elias Avenue kannst du auch behalten.«

Sie würde also nach Nsukka ziehen. Sie würde in diesem Haus leben. Ugwu ging von der Tür weg und schaute den Topf an, der auf dem Herd stand. Sein Leben würde sich verändern. Er würde lernen, wie man Reis briet, er würde weniger Öl verwenden, und er würde ihren Anordnungen folgen. Er war traurig, und doch war seine Traurigkeit unvollständig, denn er war auch voller Erwartung und erfüllt von einer Aufregung, die er nicht gänzlich verstehen konnte.