Trauer ist das Glück, geliebt zu haben - Chimamanda Ngozi Adichie - E-Book

Trauer ist das Glück, geliebt zu haben E-Book

Chimamanda Ngozi Adichie

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Beschreibung

Eine der größten Autorinnen der Weltliteratur schreibt ein intimes Buch über den Tod ihres Vaters Chimamanda Ngozi Adichie schreibt zutiefst persönlich über den Verlust ihres Vaters und zugleich eine Beschreibung der Lücke, die die Pandemie in das Leben von Millionen gerissen hat. Eindringlich schildert Adichie, was geschieht, wenn man wochen-, ja monatelang in Washington warten muss, um nach Nigeria reisen zu können und dort Abschied zu nehmen. Was geschieht, wenn die Familie nur in Videocalls versuchen kann, den Verlust aufzufangen, und der Körper vom Weinen wund wird? In der Einsamkeit der Ferne werden die Erinnerungen ungenau und die Sehnsucht nach Trost wächst.  »Berührend, klug und intensiv schreibt Adichie über Verlust, Abschied, Trauer und ja – das Leben.« ARTE

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Seitenzahl: 54

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Chimamanda Ngozi Adichie

Trauer ist das Glück, geliebt zu haben

Aus dem Englischen von Anette Grube

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]123456789101112131415161718192021222324252627282930

In memoriam

James Nwoye Adichie

1932–2020

1

Mein Bruder in England organisierte jeden Sonntag unsere Zoom-Meetings, unser ausgelassenes Lockdown-Ritual, zwei Geschwister schalteten sich aus Lagos zu, drei aus den Vereinigten Staaten sowie meine Eltern, manchmal mit Hall und Rauschen, aus Abba, unserer (aus vier Dörfern bestehenden) Heimatstadt im Südosten Nigerias. Am 7. Juni war mein Vater dabei, wie üblich war nur seine Stirn auf dem Bildschirm zu sehen, weil er nie genau wusste, wie er das Handy während dieser Videoanrufe halten sollte. »Halt dein Handy ein bisschen tiefer, Daddy«, sagte stets einer von uns. Mein Vater machte sich wegen eines neuen Spitznamens über meinen Bruder Okey lustig, dann sagte er, dass es kein Abendessen gegeben habe, weil sie spät zu Mittag gegessen hatten, und schließlich sprach er von dem Milliardär in der nächsten Kleinstadt, der auf das angestammte Land unseres Dorfes Anspruch erhob. Er fühlte sich etwas unwohl, hatte schlecht geschlafen, doch wir sollten uns keine Sorgen machen. Am 8. Juni fuhr Okey nach Abba, um ihn zu besuchen, und sagte, dass er müde wirke. Am 9. Juni sprach ich nur kurz mit ihm, damit er sich ausruhen konnte. Er lachte leise, als ich wie üblich spielerisch einen Verwandten imitierte. »Ka chi fo«, sagte er. »Gute Nacht.« Es waren seine letzten Worte zu mir. Am 10. Juni war er nicht mehr da. Mein Bruder Chuks rief mich an, um es mir zu sagen, und ich brach zusammen.

2

Meine vier Jahre alte Tochter sagt, dass ich ihr Angst einjagte. Sie geht auf die Knie, die kleinen geballten Fäuste heben und senken sich, um es mir zu demonstrieren, und während sie mich nachahmt, sehe ich mich selbst, wie vollkommen aufgelöst ich war, wie ich schrie und auf den Boden trommelte. Die Nachricht ist wie eine grausame Entwurzelung. Ich werde aus der Welt gerissen, die ich seit meiner Kindheit gekannt habe. Und ich leiste Widerstand: Mein Vater hat nachmittags die Zeitung gelesen; mit Okey über das Rasieren vor seinem Termin mit dem Nierenspezialisten in Onitsha am nächsten Tag gescherzt, am Telefon mit meiner Schwester Ijeoma, die Ärztin ist, über die Untersuchungsergebnisse aus dem Krankhaus gesprochen, wie also kann es sein? Aber da ist er. Okey hält meinem Vater das Handy vors Gesicht, und mein Vater sieht aus, als würde er schlafen, die Züge entspannt, ruhig und schön. Unser Zoom-Gespräch ist jenseits von surreal, wir weinen und weinen und weinen, in unterschiedlichen Teilen der Welt, blicken ungläubig auf den Vater, den wir lieben, der jetzt reglos in einem Krankenhausbett liegt. Es geschah ein paar Minuten vor Mitternacht nigerianischer Zeit, Okey an seiner Seite und Chuks am Telefon, mit eingeschaltetem Lautsprecher. Ich starre auf meinen Vater. Das Atmen fällt mir schwer. Ist es das, was man Schock nennt, dass sich die Luft in Klebstoff verwandelt? Meine Schwester Uche sagt, dass sie es einem Freund der Familie gerade als Nachricht mitgeteilt hat, und beinahe schreie ich: »Nein! Sag es niemandem, denn wenn wir es den Leuten sagen, wird es wahr.« Mein Mann versucht mich zu beruhigen: »Atme langsam, trink Wasser.« Mein Morgenmantel, mein Hauptkleidungsstück während des Lockdowns, liegt als Haufen am Boden. Später wird mein Bruder Kene im Scherz sagen: »Hoffentlich erfährst du schlechte Nachrichten nie in der Öffentlichkeit, wenn du dir im Schock die Kleider vom Leib reißt.«

3

Trauer ist ein grausamer Unterricht. Man lernt, wie hart Trauern sein kann, wie viel Wut darin steckt. Man lernt, wie nichtssagend Beileidsbekundungen sein können. Man lernt, wie sehr es bei Trauer um Sprache geht, um das Versagen der Sprache und die Suche nach den richtigen Worten. Warum sind meine Flanken so empfindlich und tun weh? Das kommt vom Weinen, wird mir erklärt. Ich wusste nicht, dass wir mit unseren Muskeln weinen. Der Schmerz ist keine Überraschung, aber seine Körperlichkeit ist es, meine Zunge schmeckt unerträglich bitter, als hätte ich etwas Widerliches gegessen und vergessen, mir die Zähne zu putzen, auf meiner Brust lastet ein schweres, schreckliches Gewicht, und in meinem Inneren fühlt es sich an, als löse sich mein Körper auf. Mein Herz – mein physisches Herz, nicht in übertragenem Sinn hier – rennt vor mir davon, schlägt zu schnell, sein Rhythmus hadert mit meinem eigenen. Es ist ein Leiden nicht nur der Seele, sondern des Körpers. Fleisch, Muskeln, Organe, alles ist in Mitleidenschaft gezogen. Keine Körperhaltung ist bequem. Mein Magen ist wochenlang in Aufruhr, verkrampft und angespannt von einer Vorahnung, der allgegenwärtigen Gewissheit, dass noch jemand anderes sterben wird, dass mehr verloren sein wird. Eines Morgens ruft Okey ein bisschen früher an als üblich, und ich denke: Sag es mir, sag mir sofort, wer gestorben ist. Ist es Mummy?

4

In meinem amerikanischen Zuhause lasse ich als Hintergrundgeräusch immer National Public Radio laufen, und wann immer mein Vater da war, schaltete er das Radio aus, wenn niemand zuhörte.

»Ich habe gerade daran gedacht, wie Daddy immer das Radio ausgeschaltet hat und ich es immer wieder eingeschaltet habe. Wahrscheinlich hat er es für eine Art von Verschwendung gehalten«, sage ich zu Okey.

»So wie er in Abba immer den Generator zu früh ausschalten wollte. Jetzt würde ich ihn gern einfach machen lassen, wenn er nur wieder da wäre«, sagt Okey, und wir lachen.

»Und ich würde früh aufstehen und garri essen und jeden Sonntag in die Kirche gehen«, sage ich, und wir lachen.

Und ich erzähle noch einmal die Geschichte von meinen Eltern, als sie mich in meiner Studentenwohnung in Yale besuchten und ich ihn fragte: »Daddy, möchtest du Granatapfelsaft? Und er sagt: Nein danke, was immer das ist.«

Granatapfelsaft wurde zu einer Anekdote. Die