Die Herzlichkeit der Vernunft - Ferdinand Schirach - E-Book

Die Herzlichkeit der Vernunft E-Book

Ferdinand Schirach

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Beschreibung

Sokrates oder das Glück der Bescheidenheit, Voltaire oder die Freiheit durch Toleranz, Kleist oder das Wissen um den Menschen, Terror oder die Klugheit des Rechts, Politik oder das Lob der Langsamkeit: Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge unterhalten sich über Grundfragen des Rechts und der Gesellschaft, über Theater und Literatur, über die Gefahren der direkten Demokratie und der sozialen Medien und darüber, was den Menschen im eigentlichen Sinn menschlich macht.

"Die Herzlichkeit der Vernunft" ist ein sehr persönlicher Dialog der beiden Schriftsteller.

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FERDINAND VON SCHIRACHALEXANDER KLUGE

Die Herzlichkeit der Vernunft

Die Autoren

Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Jurist, Dramatiker und Schriftsteller. Er lebt in Berlin. Seine letzten Bücher: das Theaterstück »Terror« und sein persönlichstes Buch »Kaffee und Zigaretten«.

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, Jurist, Filmemacher und Schriftsteller. Er lebt in München. Seine letzten Bücher: »Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs« und – mit Georg Baselitz – »Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern«.

Die beiden Autoren verbindet – außer dem anwaltlichen Interesse an rechtsstaatlicher Genauigkeit – ihre Zuneigung zu Thomas Mann und Heinrich von Kleist.

Über dieses Buch

Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge unterhalten sich über Grundfragen des Rechts und der Gesellschaft, über Theater und Literatur, über die Gefahren der direkten Demokratie und der sozialen Medien und darüber, was den Menschen im eigentlichen Sinn menschlich macht.

»Die Herzlichkeit der Vernunft« ist ein sehr persönlicher Dialog der beiden Schriftsteller.

Ferdinand von Schirach

Alexander Kluge

Die Herzlichkeitder Vernunft

Luchterhand

INHALT

Vorwort

Sokratesoder das Glück der Bescheidenheit

Voltaireoder die Freiheit durch Toleranz

Kleistoder das Wissen um den Menschen

Berliner Abendblätter

Terroroder die Klugheit des Rechts

Politikoder das Lob der Langsamkeit

VORWORT

Würde sich eine außerirdische Intelligenz unserem Erdkreis nähern, so sähe sie aus der Entfernung den Pale Blue Dot, einen blassblauen Punkt – unseren Planeten. In den Lücken zwischen den Wolkenbändern, wo der Blick bis zum Boden reicht, sähe diese neuerungsliebende Intelligenz die Zeichen elektronischen Smogs und die Zentren geballter Elektrizität, die nachts den Erdball charakterisieren. Ihr Blick würde aber außerdem auf winzigen Leuchtfeuern verharren, die durch Wolken und Wetter nicht verdunkelbar sind. Auch diese Funken zeigen irisierendes Blau. Das ist die Spur großer Geister wie Sokrates und Voltaire.

Solche Spuren, gleich ob tausende Jahre alt oder von heute, bilden eine konsistente Geistesgegenwart. Oft waren solche Geister als Anwälte des Menschengeschlechts praktisch tätig. Um die Stand-, Sitz- oder Liegeflächen solcher Personen – gesehen vom Kosmos sind sie winzig – bildet sich in blassblauer Farbe ein Licht. So sind sie trotz Winzigkeit für die anreisende kosmische Intelligenz gut wahrnehmbar.

Wir glauben, anders als manche Meteorologen, Stratosphärenforscher und Physiker, dass die unverwechselbare Farbe unseres Planeten von dieser Geistestätigkeit und nicht bloß vom Wetter und einer besonderen Zusammensetzung der Elemente herrührt.

Ferdinand von SchirachAlexander Kluge

SOKRATES oder das Glück der Bescheidenheit

KLUGE

399 vor Christus wurde Sokrates zum Tode verurteilt.

SCHIRACH

Philosophen, Künstler, Schriftsteller, Theologen, Historiker – fast jeder glaubt heute, der Prozess gegen Sokrates sei der erste Justizmord gewesen. Der Prozess gegen ihn wird mit dem Prozess gegen Jesus Christus verglichen, hier wie dort sei ein Unschuldiger zum Tode verurteilt worden und das nur, weil er nicht glauben wollte, was er glauben sollte. Die Athener seien Mörder, Sokrates ein Märtyrer für die Demokratie und das freie Denken. Aber vielleicht stimmt das nicht ganz und wir müssen uns Sokrates und Athen genauer ansehen.

KLUGE

500 Athener traten als Richter über Sokrates auf. Eine gewaltige Zahl.

SCHIRACH

Die Idee der Schöffen, der Laienrichter, ist sehr alt. Auch in Deutschland gab es bis 1924 noch Gerichte mit 12 Geschworenen. Dann hat ein sparsamer Justizminister das abgeschafft. Heute sind bei den höheren Gerichten jeweils zwei Schöffen beteiligt, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, sie dürfen keine juristische Vorbildung haben. Aber die Idee, dass die Bürger selbst Recht sprechen, kennen schon die Athener. Dort urteilen 300, 500, manchmal sogar 6000 Richter über einen Fall. Das ist keine Herrschaftselite, das sind die Menschen auf dem Markplatz.

KLUGE

Sokrates sagt, seine Ankläger werden den Schuldspruch noch bereuen.

SCHIRACH

Das ist natürlich nicht sehr klug. Richter zu bedrohen funktioniert fast nie.

KLUGE

Sokrates ist schon siebzig Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder, als ihm der Prozess gemacht wird.

SCHIRACH

Er ist der Sohn einer Hebamme und eines Steinmetzen. Er lernt das Handwerk des Vaters. In drei Schlachten kämpft er als Soldat für Athen. Als sein Vater stirbt, erbt er ein kleines Vermögen. Er steht fast dreißig Jahre auf dem Marktplatz und geht allen furchtbar auf die Nerven. Er befragt Handwerker, Politiker und Priester so lange, bis sie zugeben müssen, dass sie nichts wissen. Viele ärgern sich über ihn, er sei eine Zumutung, sagen sie, aber jeder weiß natürlich, wie klug dieser Mann ist. Die adligen Familien bitten ihn, dass er ihre Kinder erzieht. Sokrates nimmt kein Geld wie die anderen Philosophen, er will unabhängig bleiben. Das wenige, was er hat, reicht zum Leben, manchmal bekommt er ein paar Drachmen von reichen Freunden zugesteckt. Zu Hause sieht es nicht gerade erfreulich aus. Seine Frau, Xanthippe, ist mehr als anstrengend. Einer seiner Freunde fragt Sokrates, warum er ausgerechnet eine Frau geheiratet habe, die – so der Freund wörtlich – »unter allen lebenden, ja, unter allen die jemals gelebt haben und noch künftig leben werden, die Unerträglichste ist.« Sokrates antwortet, wie wohl nur ein sehr ausgeglichener Philosoph antworten kann. Er habe sich gedacht: »wenn ich sie ertrage, werde ich mich leicht in alle andere Menschen finden können.« Das ist seine grundsätzliche Einstellung zur Ehe. An anderer Stelle sagt er: »Heirate auf jeden Fall! Kriegst du eine gute Frau, wirst du glücklich. Kriegst du eine böse, dann wirst du ein Philosoph.«

KLUGE

Sokrates sah aus wie ein Silen.

SCHIRACH

Ein behaarter Waldgott mit Hängebauch und Pferdebeinen. Einmal tritt er bei einem Schönheitswettbewerb an. Sein Gegner ist der hübscheste Jüngling Athens.

KLUGE

Sokrates preist sich selbst ausnahmsweise.

SCHIRACH

Er erklärt dem Publikum, seine dicke Stulpnase sei perfekt, er könne damit viel besser riechen als der schöne Jüngling. Auch seine in verschiedene Richtungen schielenden Augen seien von Vorteil, er könne damit nämlich nicht nur geradeaus, sondern auch zur Seite sehen. Und sein großer Mund könne viel mehr abbeißen, seine dicken Wulstlippen weicher küssen. Natürlich bekommt der schöne Jüngling alle Stimmsteine. Der alte Philosoph sagt, man lerne daraus, dass Schönheit keine Frage der Argumentation ist.

KLUGE

Luca Giuliani vom Wissenschaftskolleg zu Berlin, der Archäologe, den ich zum Aussehen des Sokrates befragte, verwies auf eine Statue des Sokrates. Es gibt vom lebendigen Sokrates keine Abbildung, nur Karikaturen und Masken. Das Gesicht des Sokrates mit der Knubbelnase ist nur durch diese Statue überliefert. Der Mann galt, sagt Giuliani, nach dem Prozess und seiner physischen Vernichtung als Staatsfeind. Das vermutliche Unrecht, das der Prozess enthielt, steigerte noch den Hass seiner Verfolger. Er war etwa so beliebt wie die Rote Armee Fraktion nach 1977 bei der Staatsführung der Bundesrepublik. Die Jünger des Sokrates haben dann, noch während der Verfolgungszeit, als eine Provokation und illegal eine Statue errichtet. Auch die ist nicht erhalten. Aber von ihr stammen alle Kopien, die wir kennen: der Typ Sokrates A und der Typ Sokrates B. Auf der Skulptur wurden Gestalt und Gesicht des Sokrates dem Satyr Marsyas nachgebildet. Dieser Satyr hatte es gewagt, als Musiker mit dem Gott Apoll zu rivalisieren. Auf Befehl des grausamen Gottes wurde ihm die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Ein Tod, grausamer als der Schierlingsbecher. Von diesem Satyr stammen die wulstigen Lippen, die spezielle Nase. In einer Welt der »Kalokagathia«, der Einheit von Wahrheit und Schönheit, ist Sokrates A der Gegenpol. Lavater fragt: Ist ein so hässlicher alter Mann nicht notwendig ein Lügner? Erst auf diese Statue beziehen sich die später verfassten Dialoge des Platon und der Bericht des Xenophon. Etwas Imaginäres, ein nachträgliches Bild, hat die Tradition bis heute geprägt. Auch Montaigne, Spinoza und (mit Behaarung) Nietzsche haben kein schönes Gesicht. Fast würde ich einem hübschen Mann oder einer gutaussehenden Frau keine philosophische Tiefe zutrauen. So fest sind Vorurteile – unter dem Siegel des Leidens des Marsyas – eingeprägt.

SCHIRACH

Polyklet war vielleicht der bedeutendste griechische Bildhauer. Er soll einen Kanon über die Schönheit verfasst haben, wir kennen seine Schriften nur aus indirekten Quellen. In diesem Kanon hat er den idealen menschlichen Körper beschrieben, eine auf Maßen basierende Symmetrie- und Proportionslehre. Also: In welchem Verhältnis steht die Länge des kleinen Fingers zur Länge des Unterarms, in welchem Verhältnis der Unterarm zum Oberarm und so weiter. Aber dann – und darauf kommt es an – müsse der Bildhauer »etwas wegnehmen und etwas hinzufügen«. Erst so entstehe Schönheit. Was dieses »etwas« ist, hat er natürlich nicht gesagt.

KLUGE

Das Schöne ist ein ganz komplizierter Begriff, auch bei Sokrates natürlich, und bei Platon. Die Schönheit ist eine eigene Macht. Aber was ist schön? Zum Beispiel ist das Gesicht der Mutter, die Dürer gemalt hat, deutlich interessanter als meinetwegen das eines Models, wo man die wesentlichen Informationen doch relativ rasch erfasst hat.

SCHIRACH

Dürer zeigt seine Mutter rau, voller Furchen, der Schmerz ist sichtbar, die Zeit. Platon unterscheidet noch nicht zwischen dem Erhabenen und dem Schönen – das Schöne gefällt nicht, es erschüttert. In der Neuzeit ändert sich das. Jetzt gilt nur das Glatte als schön, das Widerstandslose. Edmund Burke formuliert das zum ersten Mal im 18. Jahrhundert, das Schöne sei die glatte, die polierte Oberfläche. Heute haben Autos, Telefone, Fernseher keine Kanten mehr, keine steilen Winkel, keine Rauheit. Das Gesicht eines Models wird so lange mit Photoshop bearbeitet, bis es eben ist. Symmetrie gefällt uns, solche Gesichter ziehen uns an. Aber ich glaube, das alleine reicht eben nicht, es fehlt etwas. Der französische Parfumeur Jean-Claude Ellena mischt seinen sehr klaren Düften immer auch eine Irritation bei – sie sind nie nur glatt. Vielleicht ist das dieses »Etwas«, von dem Polyklet spricht.

KLUGE

Die drei Ankläger gegen Sokrates sind ein Dichter, ein Handwerker und ein Redner. Er habe gegen die Götter gefrevelt und er verderbe die Jugend, sagen sie. Der Frevel gegen die Götter wird Asebie genannt.

SCHIRACH

Geschütztes Rechtsgut der Asebie ist die Staatsreligion. Aber was genau dieser Frevel sein soll, wird nicht erklärt. Ist das ein Unrechtsgesetz? Für uns heute natürlich, auch wenn wir mit der Religionsfreiheit noch immer nicht sehr weit gekommen sind. Unser Recht heute sieht nämlich nur vor, dass der Staat sich nicht in die Religionen einmischen darf. Klüger wäre es, dass sich Religionen nicht in den Staat einmischen dürften.

KLUGE

Das Asebie-Gesetz war nie populär. Unglaube, Gotteslästerung, Glaubensverrat, Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Numen (»göttliches Geheimnis«), auf das die Mitbürger sich verlassen, strafbare Querköpfigkeit. Alkibiades und seine Genossen sind total besoffen vor der Abfahrt nach Sizilien auf den Feldzug. Sie bemalen die Stadtgottheiten. Das war Asebie. Alkibiades wurde während seiner Abwesenheit angeklagt.

SCHIRACH

Trotzdem ist Athen nicht Nordkorea. Es existiert keine Gedankenpolizei, das passt nicht zu der freien Stadt. Es gibt dafür auch zu viele Götter, zu viele Kulturen und zu viele Einwanderer mit fremden Bräuchen. Ich zweifle, ob die drei Ankläger überhaupt glaubten, mit dem Asebie-Vorwurf durchzudringen. 24 Jahre vor dem Prozess wurde ein Theaterstück aufgeführt. Sokrates tritt dort als ewiger Zweifler auf, er ist eine Karikatur.

KLUGE

Eine Komödie des Aristophanes, »Die Wolken«.

SCHIRACH

Theater in Athen ist Fernsehen, Kino, Radio und Internet in einem, es gibt keine andere Unterhaltung. Wenn man abends ausgehen will, bleibt nur die Bühne. Die Athener lieben ihr Theater, jeder kennt jedes Stück, und vermutlich lacht Sokrates am lautesten über sich selbst. Es widerspricht dem Geist der freien Athener, sich erst über jemanden in einer Komödie zu amüsieren und ihn ein paar Jahre später für genau diese Vorwürfe zum Tode zu verurteilen. Ich glaube also, der Asebie-Vorwurf war zweitrangig. In dem Prozess sagt Sokrates, es sei völliger Unsinn, man hätte ihn doch sehen können, wie er die geforderten Riten eingehalten habe. Das ist ein guter Einwand. Die Religion Athens ist eine Kultreligion, gefordert ist also lediglich der Kult, ein bestimmtes äußeres Verhalten. Mehr verlangt Athen nicht, es interessiert den Staat nicht, was der Bürger denkt. Sokrates hat keine Gottesbilder verstümmelt, keine Altäre geschändet, keine neue Religion gegründet. Und er zweifelt nicht an der Existenz der Götter.

KLUGE

Es geht um den zweiten Vorwurf, das Verderben der Jugend. Wissen wir, was damit gemeint ist?

SCHIRACH

Auch das scheint nicht ganz klar zu sein. Die Erziehung zum Ungehorsam vielleicht. Oder den Familienverband aufzulösen. Oder die Jugend von der Arbeit abzuhalten, weil nach Wahrheit zu forschen wichtiger sei, als Geld zu verdienen.

KLUGE

War diese Anklage nur ein Vorwand?

SCHIRACH

Politische Prozesse sind nur in ihrer Zeit zu verstehen. Wir müssen zurücksehen. Jahrhunderte waren Homers Erzählungen die Erzieher Griechenlands, der Kampf um Troja, die Fahrten des Odysseus. In der »Ilias« wird der Schild des Achilles beschrieben. Er ist das Symbol ewiger Ordnung, der ganze Kosmos ist auf ihm abgebildet, alles hat noch seinen Platz: das Meer, der Himmel, die Erde, die Menschen und die Götter. Tatsächlich ist das Leben in Athen aber schon lange nicht mehr so einfach. Großgrundbesitzer haben die Macht an sich gerissen. Die Bevölkerung ist zwar frei, aber in jeder Weise abhängig und daher praktisch rechtlos. Solon erlässt die erste Verfassung, er weiß, dass sie am Anfang jeder Gemeinschaft stehen muss. Wir haben das ja versäumt, unsere Politiker waren nicht in der Lage, uns eine europäische Verfassung zu geben. Die Folgen erleben wir gerade jeden Tag. Auch in Athen sind die Parteien zerstritten. Die Reichen glauben zu viel verloren, die Armen zu wenig gewonnen zu haben. Im Chaos setzt sich ein neuer Tyrann durch, und erst als er stirbt, begann sich alles zu ändern.

KLUGE

Kleisthenes wird zum Archon, zum höchsten Beamten. Er stammt aus der Familie der Alkmeoniden und gehört damit zu den Eupatridai, den attischen Adelsgeschlechtern.

SCHIRACH

Er ordnet den Staat neu. Viele der alten Strukturen hebt er auf, er teilt Attika in drei Großregionen ein und gründet den Rat der 500. Die einzelnen Regionen sind dort durch ihre Bürger vertreten, die Menschen werden selbstbewusster. Das ist das Tor zur Demokratie. Aber jetzt droht eine ganz andere Gefahr: Die Perser greifen nach Griechenland, sie wollen ihr Reich ausdehnen. Ein furchtbarer Krieg beginnt, alles gerät aus den Fugen, die Welt Homers ist jetzt endgültig nur noch eine Sehnsucht. Der geheimnisvolle Heraklit formuliert es zum ersten Mal: »Alles ist im Fluss.« Aber er sagt es auch drastischer, nämlich die Welt sei ein »wüst hingeschütteter Misthaufen«. In unglaublicher Kraftanstrengung gewinnen die Griechen die letzten Schlachten, kein persisches Heer setzt danach wieder nach Europa über. Sie siegen, weil das ganze Volk kämpft. Es ist keine bezahlte Armee, es sind die Bürger selbst. Und wieder Heraklit: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.« Das Volk ist durch den Sieg selbstbewusst geworden, die Menschen wollen jetzt endgültig über ihren Staat bestimmen. Das ist etwas völlig Neues. Eine Volksversammlung soll entscheiden, ein Volksgerichtshof tagen.

KLUGE

Die Athener haben ein System erfunden, um sich vor einem neuen Tyrannen zu schützen: das Scherbengericht.

SCHIRACH

Einmal im Jahr kann jeder den Namen des Mannes, von dem er glaubt, er bedrohe die Freiheit, auf eine Tonscherbe schreiben. Das Scherbengericht ist weit wirksamer als jeder Shitstorm auf Twitter, Facebook und Instagram: Der Meistgenannte wird für zehn Jahre aus der Stadt verbannt. Die Athener machen die Stadt zu ihrer Stadt. Und weil sie gelernt haben, dass eine Stadt durch Recht gestaltet wird, erfinden sie ihr eigenes Recht und ihre eigene Rechtsprechung. Sie wollen nur den Gesetzen gehorchen, die sie sich selbst gegeben haben. Die Freiheit in dieser Stadt ist größer als irgendwo sonst. Die Menschen leben, wie sie es für richtig halten, sie dürfen alles tun und denken, solange sie den jungen Staat nicht gefährden. Ihre Gesellschaft ist überschaubar, der Einzelne weiß, wo die Grenzen liegen, und wenn es darüber Streit gibt, ficht man ihn vor Gericht aus. Es gibt keine Rechtswissenschaft, keine Staatsanwälte und keine Verteidiger, die Bürger selbst stehen sich gegenüber. Im Streit geht es nicht um die Auslegung von Gesetzen, sondern um das bessere Argument. Die Bürgerrichter sollen die Demokratie schützen. Es funktioniert. Es war das einzige Mal in der Geschichte, dass ein Volk von seiner eigenen Rechtsprechung regelrecht begeistert ist. Die Athener lieben ihre Prozesse.

KLUGE

Perikles wird damals Jahr für Jahr wieder gewählt.

SCHIRACH

Er ist der überragende Staatsmann, ein brillanter Redner. Seine besonnene Politik überzeugt die Volksversammlung. Aber dann wird er alt und führt sinnlose Feldzüge, Parteikämpfe brechen aus, Demagogen – die antike Form der Lobbyisten – gewinnen an Einfluss, es ist das ganze hässliche, eitle und dumme Streben nach Macht. Athen unterdrückt die anderen Städte Griechenlands, die ehemaligen Gefährten im Kampf gegen die Perser. Als Perikles stirbt, ist Sokrates 40 Jahre alt. Damals wird er zum Philosophen. Ganz Griechenland erhebt sich gegen Athen, ein irrsinniger Krieg beginnt, er dauert 27 Jahre. Der Umgang mit Feinden und Gefangenen ist brutal, die Kriegsführung ohne Mitleid, und allmählich verdunkelt sich das helle Athen und sein Glanz wird stumpf. Am Ende unterliegt die stolze Stadt, ihre Mauern werden geschliffen, sie verliert beinahe alles, was sie besitzt.

KLUGE

Der Sieger ist Sparta.

SCHIRACH