Die Hoffnungsfrohen - Alfred Goubran - E-Book

Die Hoffnungsfrohen E-Book

Alfred Goubran

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Beschreibung

In einem abgelegenen und von der Umwelt weitgehend abgeschnittenen Gebirgstal nahe der italienischen Grenze befinden sich der Familiensitz und die Ländereien der Schwarzkoglers. Die Bewohner des Tales leben, seit sie Zurückdenken können, in wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihnen, waren früher als Tagelöhner in den Kohlegruben tätig, sind es heute im Holzhandel, dem Sägewerk und der Forstwirtschaft. Elias, der sich bei seinem Versuch zu Fuß im Winter die Grenze nach Italien zu überqueren, in das Tal verirrt hat, wird von den Schwarzkoglers aufgenommen und nimmt das Angebot an, für sie zu arbeiten. Dabei wird er auch von dem völlig empathielosen Gutsherrn nach und nach in die Macht- und Beherrschungsmechanismen eingeweiht, die der Unterwerfung der "Hoffnungsfrohen", wie der alte Schwarzkogler die Bewohner nennt, dienen – und in das "Geheimnis langen Lebens".

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Seitenzahl: 94

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2023

© 2023 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Covergestaltung: Nicolas Mahler

Zitat S. 69, 71–72: Oscar Wilde: Der glückliche Prinz, the Happy Prince [Übersetzerin: Alice Seiffert]

Definition Engramm auf S. 124: Hoppe-Graff, S. & Keller, B.: Psychologie.

5. Auflage, Berlin: Springer-Verlag 1992. S. 298.

ISBN E-Book: 978-3-99200-322-8

Inhalt

Angang

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

You could still be here tomorrow / but your dreams may not.

Cat Stevens, Father and Son

Angang

Eine Handvoll weißer Rosenblüten, die der Wind durchs zerbrochene Fenster hereingeweht hat, leuchtet noch einmal im Lichtschatten auf, den die Abendsonne durch die offene Tür ins Zimmer wirft. Porzellantränen. Die Dielen kotig und abgetreten. Über dem Türstock ein schwarzes Emailschild. LABOR. Unten, im Parterre des alten Schulhauses, befand sich die Tötungsstation für streunende Hunde und in der einstigen Küche und dem angrenzenden Festsaal die Tierkadaververwertung der Stadt. Magistratsabteilungen. Elias’ Mutter hatte nach seiner Geburt eine Arbeit als Hilfskraft im Labor angenommen. Sie war siebzehn, alleinstehend, das Kind unehelich. Der Abteilungsleiter hatte ihr ausnahmsweise erlaubt, ihr Kind mitzubringen, „wenn es nicht stört“. Elias störte nicht. Zwei Jahre später lernte sie seinen Vater kennen, heiratete und gab die Arbeit im Labor auf.

Dem Freiherrn Franz Xaver von Schwarzkogler herzlich zugeeignet

Am nächsten Tag wachte Elias bei Tagesanbruch auf, kleidete sich im Halbdunkel an und ging in die Küche. Keine Spur von Franziska oder dem Jungen. Das Haus war verwaist, der Herd kalt. Er wusch sich über der Emailschüssel unter dem Fenster Gesicht und Nacken, spülte den Mund aus, zog die Schuhe an, nahm den Mantel vom Haken an der Tür und trat aus dem Dunkel des Hauses in den Dämmer der grauen Schneelandschaft hinaus. Ein Scherenschnitt-Elias. Durch den schmalen Spalt der Schlaftür in den trüben Tag gepreßt. So wacht man manchmal auf. Als halber Mensch. Als flache Erde. Ein Scheibenmensch. Atmet sich in das Gewohnte zurück, gähnt und streckt sich, rollt sich auf. Ganz langsam löst der Himmel seine Umarmung. Zärtlich. Fleisch. Haut. Holz. Der Schlaf sickert in das Ungewußte zurück. Ätherdämpfe. Nebelwasser. Eiszähne an den Dachrinnen. Rechts führt der Weg ins Dorf und weiter hinauf zum Schwarzen Schloß, zur anderen Seite verschwindet er unter dem Überhang verschneiter Nadelbäume in einem Wald. Dort lag irgendwo die Grenze. Er hatte Franziska nicht gefragt, welche oder wie weit es war. Gut möglich, daß er nach ein oder zwei Tagen wieder auf der Bundesstraße landete. Das war gestern noch eine Option gewesen, doch heute, nach den Strapazen der vergangenen Tage und in seiner augenblicklichen Verfassung, schien ihm ein solcher Gang völlig ausgeschlossen.

So geht er Richtung Dorf, folgt den Fußspuren vom Vortag, eilt in Gedanken oft ein Stück weit voraus. Den Hügel hinauf, dann die Mauer, der Park … Die Vorstellung vom Weg ein Geisterhündchen, das ihm lautlos vorauslief.

Im Dorf reicht der Schnee bis unter die Fenster der klobigen Häuser. Die gefurchten Holzbalken schwarz wie Bahnschwellen. Teer. Eine Scheune. Ein Stall. Eine Schmiede … vielleicht. Er zieht den Kopf ein, schlägt den Mantelkragen hoch, drückt den linken Oberarm gegen die Brust. Paß und Geld. Beides nützt ihm hier wenig. Atmen. Nach einem kurzen Anstieg erreicht er die Steinmauer, keuchend und plötzlich kraftlos, ein Kribbeln am Haaransatz, das ihm unter die Schädeldecke kriecht, ein Zittern in den Waden, bleibt er stehen, dreht sich um, kippt nach hinten, lehnt sich mit den Schultern an die Mauer, schließt die Augen in Erwartung eines Anfalls. All die Schrecken jener Krankheit, die er noch vor einer Woche, unfähig, sein Zimmer zu verlassen, durchlebt hat, sind ihm mit einem Mal gegenwärtig, doch der Schüttelfrost bleibt aus, der kalte Schweiß, der Fieberschub, der nagende, pochende Schmerz an den Schläfen. Atmen. Er öffnet die Augen. Schaut die Furt der dunklen, rostroten Wälder, die sich auf den bewaldeten Hügeln hinter dem Dorf erheben, ausbleichen, während sie höher und höher steigen. Fahles orangefarbenes Röhricht, das an der Baumgrenze in eine Nebelwand mündet. Keine Sonne. Das Gewölbe grau. Unter der Kuppel treibt der Wind weiße Wolkenreste vor sich her. Elias richtet sich wieder auf. Ein Schauspieler. Wie alle Hysteriker. Und Hypochonder. Ein Schauspieler vor sich selbst. In einer menschenleeren Landschaft. Instinktlos … Er hat Lust zu rauchen. Nächste Pose: Den Kopf in den Himmel recken und so tun, als gäbe es etwas zu bedenken. Nein, nein. Es ist zu kalt, und die Schuhe, die Franziska ihm gegeben hat, sind nicht wasserdicht. Weiter: Er folgt den Fußspuren zum Mauerdurchlaß. Die Pforte steht halb offen. Dahinter der Park. Das Haus. Die Villa. Das Schwarze Schloß. Und was das andere betrifft: Ein Kaffee würde helfen …

Doch das Geisterhündchen weiß es besser. Wird es nicht gebraucht, rollt es sich am Fuß der Zirbeldrüse zu einem kleinen Ball zusammen und beobachtet das Lichtspiel der Synapsen. Und auch wenn Elias nun wieder durch den Schnee stapft, als gäbe es kein Morgen, und nichts denken will, stehen deshalb die Gedanken nicht auf Kommando still wie ein Bataillon preußischer Soldaten.

Die globuläre Form der Gedankenwelt wird von der Rundung des Kopfes nur teilweise ausgefüllt, dessen Form im übrigen – den Phrenologen zum Trotz – keinerlei Rückschlüsse auf die Imaginations- und Denkkraft eines Menschen zuläßt. Vielmehr ist es die Gedankenwelt, die unseren Kopf umschließt, deren Widerschein oft in Visionen als Mandorla, Aureole, Glorie, Heiligenschein oder simpler Strahlenkranz geschaut wurde; sie beherbergt die Gedanken – und alles, was die Fähigkeit, Gedanke zu sein, besitzt.

Jede Gedankenwelt ist ein Kosmos, der über seine eigene Atmosphäre und Gravitation verfügt, sein Wetter und seine Temperaturzonen, seinen Himmel und seine Sterne, Kontinente und Ozeane, deren Regionen von den Gedanken wie von Lebewesen bewohnt werden. Sogenannte Denkbilder, Theorien und Philosopheme beschreiben uns die Landschaften und Lebensräume der Gedanken. Philosophische Systeme vermessen und kartographieren ihren Aufbau, ihre Architektur, Dimension und Beschaffenheit. Die großen Denkwüsten und Meinungsurwälder sind uns durch Überlieferung, Literatur, Religion und die Geisteswissenschaften vertraut, die Mantrameere und Wortgebirge, die Begriffsuntiefen, Beschwörungsebenen, Gebete, Schad- und Wetterzauber, die knöchernen Hirngespinste, Schädelberge und güldenen Gedankenfäden, mit denen das Garn der Geschichten, Märchen und Mythen gesponnen wird. Dort sind Linnés binäre Nomenklatur und alle davon abgeleiteten Taxonomien kunstvolle Erzählungen, Nietzsches einsame Wallfahrten Abenteuergeschichten. Hölderlins Gesänge, Gullivers Reisen, Sindbads Fahrten, die pythagoreischen Harmonien oder Schwitters’ Ursonate künden uns vom Aufenthalt in jener Welt, einem Reichtum und Überfluß, der unauslotbar bleibt, trotz der zahllosen Versuche engherziger Seelen, sich ihrer mit den unterschiedlichsten Hypothesen, Lehren und Ideologien zu bemächtigen und sie in die Begrenztheit ihrer Vorstellung zu zwingen.

All die Analogien und Ebenbilder, die als Anschauungen aus der sinnlich erfahrbaren Welt geschöpft werden, sind nur Mimikry und reichen nicht hin, die Vielfalt der Gedanken in ihren unzähligen Erscheinungsformen zu beschreiben. Dort hausen Wesen und Gestalten, die nie die Grenze des Bildhaften überschreiten, Gedankenbilder, Phänomene und Phantome, Hundertarmige, mythische Archonten, Zwitterwesen, Ungestalten. Die Zeitzonen, die sie bevölkern, erinnern an die Menschenödnis der Titanen, Boschs Phantasmagorien, Ensors Maskenbälle, bizarre Unterwasserwelten, die trostlosen Gefilde des Hades oder die freudlosen Werkstätten des Hephaistos im Bauch der Erde, die heute als Industrien und Fabriken in die Welt hinausgedacht werden. Gerüstgedanken gibt es, atmende Gelenke, Gedankensplitter, Salzbrücken, winzige Dendriten, Mitbilder und Mitgedanken, Kollektivneurosen, die wie Heuschreckenschwärme ganze Landstriche verheeren. Der Gedankenstoff kann jede Form annehmen, eine materia prima, die sich zu lebendigen, wesenden Organismen ausgestaltet, die dem, was wir Organismen nennen, nur insofern vergleichbar sind, als wir sie denken können. Ontologisch bleiben sie uns fremd. Das Wesen der Gedankenwelt läßt sich nicht mit Gedanken fassen. Das ist die Grenze, die nicht überschritten werden kann.

Und wenn Elias nichts denken will, obwohl ihn etwas an diesem Licht, an diesem Tag, der nicht anbrechen will, zutiefst beunruhigt, an den Schatten zu Füßen der Wälder, die bei jedem Blick zurück länger und undurchdringlicher zu werden scheinen, dann, weil er nicht will, daß diese Schatten in seine Gedankenwelt hineinreichen, wo sie, vergoren mit seiner Unruhe und Unausgeschlafenheit, zu etwas anderem werden, als sie es in der gedankenlosen Anschauung sind. – Andererseits: Auch ich bin so ein Geisterhündchen, das ein anderer ausgeschickt hat. Oder, um mit dem Dichter Mirza Abdullah zu sprechen:

Deine Augen atmen Licht.

Und mit dem Licht reisen die Gedanken.

Liest Du dies,

hörst Du Deine Stimme,

die mit meinem Atem

lautlos

in Dir

meine Worte spricht.

*

Der Anblick der erleuchteten Fenster beruhigte ihn. Er folgt dem ausgetretenen Weg zum Haus, klopft, wartet, tritt sich die Schuhe ab, klopft, dann wird die Tür geöffnet, und es ist zu seiner Überraschung nicht Franziska, sondern Isabel selbst, die Tochter des Hauses, mit der er gestern gesprochen und die ihm die Arbeit in der Bibliothek angeboten hat, die ihn hereinbittet.

„Mit Ihnen habe ich heute nicht mehr gerechnet …“, sagt sie, während er sich noch einmal die Schuhe abtritt (ein Schauspieler) und wortlos an ihr (ein übermütiges „Ich auch nicht“ auf der Zunge) vorbeidrückt.

Das elektrische Licht blendet.

„Bitte!“

Er zieht den Mantel aus, gibt ihn ihr. Linkisch.

„Soll ich die Schuhe ausziehen?“

Sie geht um den Tisch herum zum Herd, hantiert mit einer Pfanne. „Setzen Sie sich. Ich muß nur aufpassen, daß mir nichts anbrennt … – Wollen Sie auch etwas essen? Sind Sie hungrig? – Nein? Wasser …“

Kaffee. Aber er sagt nichts. Warum kocht sie um diese Uhrzeit? Der Bratengeruch ist ihm unangenehm.

„Wir gehen dann nach oben. Ich esse nicht so gern in der Küche.“

„Ist Franziska nicht da?“

„Franziska, nein. War sie nicht bei Ihnen …“

Isabel hört seine Antwort nicht, reißt die Küchenkästen auf, klappert mit den Tellern. Huhn. Reis. Eine Schüssel Salat. Sie packt alles auf ein Tablett. Geschirr. Besteck. Die Küche ist überheizt. Er fühlt leichte Übelkeit, nimmt einen Schluck von dem Wasser.

„Können Sie das nehmen?“

Meint den Krug. Wasserträger. Er folgt ihr durch den kalten Flur, den Krug und sein Wasserglas in den Händen, die Treppe hinauf zum Salon. Vor der Tür stellt Isabel das Tablett auf einen Servierwagen, rollt ihn zu dem kleinen Empiretischchen mit den zwei Stühlen neben dem Kachelofen, deckt den Tisch, setzt sich, lehnt sich zurück, breitet die Serviette über den Schoß, wartet, bis er den Krug abgestellt und Platz genommen hat. Er füllt ihr Glas, während sie aus der großen Schüssel etwas grünen Salat auf einen kleinen Teller drapiert.

„Schön, daß Sie mir Gesellschaft leisten. Es gibt nichts Langweiligeres, als für sich selbst zu kochen und dann allein zu essen.“

„Ja.“ Er hob das Glas: „Mahlzeit!“

„Danke!“

Guten Appetit! Es fiel ihm zu spät ein. Oder er hatte es sie denken hören. Gute Manieren, gute Erziehung oder ein gepflegter Umgangston, das waren bisher für Elias nur leere Worte gewesen, Bücherworte und Bücherwissen, Teil des Edlen und Guten, der Verfeinerung, die er vom Hörensagen und als Lektüre der Nikomachischen Ethik